I. Die dritte Gewalt im System der Gewaltenteilung
a) Die herrschende Meinung Die vom Volk ausgehende Staatsgewalt wird in drei Funktionsbereiche aufgeteilt, nämlich in Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung. Der Gewaltenteilungsgrundsatz kann weiterhin auch derart modifiziert werden, daß die vollziehende Gewalt (Exekutive) noch in Regierung und Verwaltung untergliedert wird. Der Zweck der Gewaltenteilung soll in der Machtkontrolle und in der Verhütung des Machtmißbrauchs liegen: Die einheitliche Staatsgewalt wird aufgeteilt und gemäßigt, indem die Gewalten sich gegenseitig zum Schutz der Freiheit des einzelnen kontrollieren und hemmen
Auf der anderen Seite nimmt das Parlament auch exekutive Aufgaben wahr: Viele Gesetze haben den Charakter von Maßnahmegesetzen, die detaillierte Einzelfragen regeln und der Regierung bei der Ausführung kaum Spielraum für eigene Verantwortung lassen.
Die herrschende Lehre sieht die enge Verschränkung dieser beiden Gewalten und versucht, den klassischen Begriff der Gewaltenteilung dadurch zu retten, daß sie jeder Gewalt einen „Kernbereich" zuordnet, der sozusagen ihr ureigenstes Aufgabengebiet ist und aus diesem Grund nicht angetastet werden darf. Übergriffe der einen Gewalt in den Kernbereich der anderen Gewalt sind also verboten
Der Streit darüber, welches dieser Gewaltenteilungsmodelle der staatlichen Wirklichkeit und vor allem den Intentionen des Grundgesetzes eher entspricht, kann hier unentschieden bleiben. Einigkeit herrscht darüber, daß im Gegensatz zu den vielfältigen Verknüpfun. gen zwischen Legislative und Exekutive die dritte Gewalt — die Rechtsprechung — prinz. piell von den übrigen staatlichen Funktionen gesondert ist. Das kommt schon in den Art. 92 und 97 GG zum Ausdruck: Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut, diese sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen „Unter Rechtsprechung ist der Ausspruch von unabhängigen Gerichten zu verstehen, was in Anwendung des geltenden Rechts für einen Sachverhalt im Einzelfall rechtens ist“
II. Gewaltenteilung zwischen Politik und Recht?
Abkürzungen
Abkürzungen
Die Kontrollfunktion der dritten Gewalt soll also u. a. dadurch möglich werden, daß sie „unpolitisch" ist. Ob man in einem modernen Staat, der weitgehende soziale Gestaltungsfunktionen übernommen hat und in dem organisierte Interessen auf staatliche Entscheidungen Einfluß nehmen, überhaupt noch vo; „po-litikfreien Räumen" sprechen kann, scheint fraglich. Politik ist als „Streben nach Macht-anteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung"
Die von den Politikern im engeren Sinne, also von den Mitgliedern der Regierungen und Volksvertretungen — nicht ohne erheblichen Einfluß der Interessengruppen — gefaßten Be-
schlüsse sind in der Regel in Gesetze gefaßtes Recht. Dieses Recht „ist die technisch (nicht immer politisch) vollkommenste Form der politischen Herrschaft, weil es durchschnittlich und auf die Dauer die präziseste und praktikabelste Orientierung und Ordnung des politischen Handelns, d. h. die sicherste Berechnung und Zurechnung des die Staatsgewalt konstituierenden und aktivierenden Verhaltens ermöglicht"
Die von Gerber und Laband begründete Schule, die mit einer logischen Methode die Juristen zwingen wollte, den Sinn von Gesetzen nur im Wortlaut aufzusuchen und in der Abstinenz von allen philosophischen und politischen Überlegungen die alleinige Gewähr für die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung sah, hatte zur Voraussetzung, daß das Recht ein in sich geschlossenes oder zumindest widerspruchsfreies System bilde. Recht, ursprünglich eine politische Entscheidung, dann juristisch verbindlich fixiert als Gesetz, ist aber nun nicht plötzlich eine „Inkarnation der sittVerfassungsgerichtsbarkeit dient — auf die kürzeste Formel gebracht — „der Wahrung der Verfassung" 15). Die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts sind in Art. 93 GG und in §
Fraglich aber ist, ob sie darüber hinaus durch ihre rechtsprechende Tätigkeit nicht auch selbst „Politik produziert". Am naheliegendsten ist dies bei der Verfassungsgerichtsbarkeit, deren enge Berührung mit den Funktionen politischer Leitung und Gestaltung schon in ihrem in der Verfassung normierten Aufgabenkatalog deutlich wird.
III. Bundesverfassungsgericht und Politik
mit dem Grundgesetz, über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder und über Verfassungsbeschwerden. Schon diese Übersicht zeigt, daß das Bundesverfassungericht häufiger Fragen von politischer Tragweite zu entscheiden hat als andere Gerichte.
Bevor auf das sich daraus ergebende Problem einer „politischen Rechtsprechung" eingegangen wird, sollen einige Fälle in Erinnerung gerufen werden, bei denen die enge Verflechtung der Verfassungsgerichtsbarkeit mit den gesetzgebenden und ausführenden Organen besonders deutlich wird: a) Die verfassungsrechtlichen Streitigkeiten zu Beginn der fünfziger Jahre um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik „können als klassisches Beispiel dafür bezeichnet werden, wie parlamentarische Mehrheit und Minderheit eine fundamentale politische Auseinander-Setzung unter Berufung auf Verfassungsrechts-normen durch Einschaltung des Verfassungsgerichts jeweils zu ihren Gunsten entscheiden lassen wollten"
Am 31. Januar 1952 hatten die Fraktionen der SPD und der DFU beim Bundesverfassungsgericht beantragt, festzustellen, daß die Beteiligung Deutscher an einem Wehrdienst ohne eine Abänderung des Grundgesetzes nicht zulässig sei
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Senate, die für verschiedene Aufgaben zuständig sind (§ 14 BVerfGG). Da bei der Klage der SPD sowohl der erste als auch der zweite Senat zu-ständig sein konnte, entschied das Plenum des Gerichts, daß die Klage vom ersten Senat entschieden werden solle. Nach dieser Entschei. düng gerieten die Regierungsparteien in Sorge weil im ersten Senat die von der Opposition nominierten Verfassungsrichter in der Mehrzahl waren, denn die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt (§§ 5 g BVerfGG). Konrad Adenauer prägte damals das Schlagwort vom „roten Senat" (dem ersten Senat) und vom „schwarzen Senat" (dem zweiten Senat, in dem die von den Regierungsparteien benannten Richter in der Mehrzah waren).
Mit dieser Äußerung kam ganz klar zum Ausdruck, daß man zumindest im Lager der Regierung davon ausging, daß die Verfassungsrichter sich bei ihrer Entscheidung nicht nur von verfassungsrechtlichen, sondern auch von parteipolitischen Gesichtspunkten würden leiten lassen. Die letztere Befürchtung aber erwies sich im Laufe des Verfahrens als unbegründet. Die Verträge wurden am 26. /27. Mai 1952 unterzeichnet, die Verhandlung über die Klage der SPD fand am 10. und 18. Juli statt. Dabei wurde lediglich die Vereinbarkeit der Verträge mit dem Grundgesetz unter prozessualen, völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Gesichtspunkten erörtert, die politischen Auseinandersetzungen wurden ausgeklammert
Aus diesem Grunde beriet das Plenum des Gerichtes zunächst darüber, ob es ein solches Gutachten erstatten solle. Es kam zu dem Schluß, daß ein Gutachten mehr als eine Meinungsäußerung der Richter sei und von der Autorität des Bundesverfassungsgerichts getragen werde. Deshalb erwartete das Gericht, daß sich Bundestag und Bundesregierung an ein solches Gutachten gebunden fühlten
Der Präsident des Gerichts gab eine Erklärung ab, in der er alle Verdächtigungen, daß das Gericht eine politische Entscheidung fällen wolle, zurückwies
Sie wurde auch von den Beteiligten so aufgefaßt: Am 10. Dezember 1952 nahm Bundespräsident Heuss seinen Antrag auf Erstattung des Gutachtens zurück
Das Gericht sammelte zunächst nur die eingereichten Schriftsätze und wartete die für den 6. September 1953 anberaumten Wahlen zum zweiten deutschen Bundestag ab. „Ob diese Verzögerung des Tätigwerdens der Richter mit deren Verpflichtung aus dem Eid nach § 11 des BVerfGG
Zu untersuchen wäre allerdings, welches Demokratieverständnis und welche Einschätzung ihrer eigenen Rolle im politischen Prozeß die Richter zu ihrem Vorgehen bewogen hat. Sicher darf man ihre Aufgabe, „die Verfassung zu wahren", nicht dahingehend verstehen, daß sie ohne jede Rücksicht auf die politischen Folgen ihre Entscheidung zu treffen hätten. Eine (rechtlich einwandfreie) Entscheidung, die unübersehbare politische Konsequenzen hätte, würde möglicherweise wegen ihrer Undurchsetzbarkeit völlig wirkungslos bleiben und damit auch die Stellung des Verfassungsgerichts erheblich schwächen. Das darf aber nicht dazu führen, daß das Gericht in jedem Fall jeder politischen Entscheidung (hier: der Wahl) den Vorrang einzuräumen hat. Ein Urteil des Gerichts, in dem die Gesetze für verfassungswidrig erklärt worden wären, hätte möglicherweise auch den Ausgang der Bundestagswahlen (die Wahlkämpfe wurden ausschließlich unter dem Thema „Wiederbewaffnung der Bundesrepublik" geführt) nicht unwesentlich beeinflußt. Die gegenteilige Entscheidung hätte den Regierungsparteien noch bessere Argumente für ihren Wahlkampf geliefert. Auf jeden Fall hat das Schweigen des Gerichts den Regierungsfraktionen geholfen. Falls die Richter (was sich nicht feststellen läßt) in ihrer Mehrzahl von der Verfassungswidrigkeit der Gesetze überzeugt gewesen wären, hätten sie durch ihre Abstinenz dem verfassungswidrigen Vorgehen einer Partei Vorschub geleistet 35a). b) Auch in jüngster Zeit ist das Bundesverfassungsgericht in einem anderen Fall den politischen Instanzen durch Nichttätigwerden entgegengekommen :
Erstmals seit Bestehen hat das Gericht im März 1969 ein Verfahren eingestellt, weil die Antragstellerin von sich aus ihren Antrag zurückgezogen hatte. Es handelte sich um den 1965 gestellten Antrag der SPD, die Grenzen zwischen erlaubter Regierungsinformation und verschleierter Parteipropaganda aus öffentlichen Mitteln verfassungsgerichtlich feststellen zu lassen. Die SPD zog diesen Antrag zurück, als sie in der Großen Koalition selbst Regierungspartei geworden war. Das Gericht entsprach diesem Wunsch, obwohl es 1952 selbst präjudiziert hatte, daß ein einmal in Gang gesetztes Normenkontrollverfahren in seinem weiteren Verlauf der Verfügung des Antragstellers entzogen sei. Für die Durchführung des Verfahrens seien dann ausschließlich öffentliche Interessen maßgebend
Seit Gründung der Bundesrepublik war die Bundesregierung daran interessiert, auf dem Rundfunk-und Fernsehsektor tätig zu werden Mehrere Versuche in dieser Richtung schlugen jedoch fehl
Die Landesregierungen von Hamburg, Niedersachsen, Bremen und Hessen stellten beim Bundesverfassungsgericht den Antrag, festzustellen, daß die Bundesregierung mit dieser Gründung gegen Art. 30 GG, der die grundsätzliche Zuständigkeit der Länder vorschreibt, sowie gegen die sich aus dem Grundgesetz ergebende Pflicht zu länderfreundlichem Verhalten verstoßen hätte.
Wegen des bald geplanten Sendebeginns erließ das Gericht zunächst eine einstweilige Verfügung, in der es der Bundesregierung untersagte, bis zu einer Entscheidung Sendungen auszustrahlen
Nicht zuletzt diese massive Kritik nötigt dazu, dem Bundesverfassungsgericht in diesem Fall ein großes Maß an Unabhängigkeit und Autorität zu bescheinigen, „das insofern erstaunlich war, als die Mehrheit der Richter des erkennenden Senats als der Regierungspartei nahestehend gelten konnten"
Als Folgerungen aus den dargestellten Beispielen lassen sich vorläufige Thesen aufstellen:
— Das BVerfG übt politischem Geschehen gegenüber starke Zurückhaltung; wenn eben möglich vermeidet es, zu politischen Streitfragen Stellung zu nehmen.
— Das BVerfG wehrt sich entschieden dagegen, in politische Streitigkeiten hineingezogen und als Instrument von der einen oder anderen Partei im politischen Kampf mißbraucht zu werden.
— Das BVerfG betont seine Unabhängigkeit, Würde und Autorität, weil seine Macht nur auf seinem Ansehen und der Überzeugungskraft seiner Argumente beruht.
— Das BVerfG berücksichtigt die politischen Folgen seiner Entscheidungen und läßt sich auch von Zweckmäßigkeitserwägungen leiten. Es ist bezüglich der letzten These die Frage zu stellen, ob dieses Vorgehen dem Wesen der Verfassungsrechtsprechung gerecht wird und ob es aus irgendwelchen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten heraus legitimiert werden kann.
In der Weimarer Republik wurde vor allem von Carl Schmitt die Auffassung vertreten, daß Handeln im Bereich der Verfassung stets politisches Handeln sei. Ein Verfassungsgericht könne deshalb nicht als echtes Gericht angesehen werden, sondern eher als eine politische Instanz. Well die Verfassung ihrem Wesen nach eine politische Entscheidung sei, bedeute eine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit eine unerträgliche Juridifizierung der Politik und eine Politisierung der Justiz
Die Gegenposition, vertreten von Kelsen, wies darauf hin, daß politische Handlungen des Staates grundsätzlich auch einen rechtlichen Aspekt hätten. Deshalb könnten alle Handlungen des Staates an der Verfassung gemessen werden. Dabei sei allein die rechtliche Seite relevant und die politische nicht zu berücksichtigen
Das Bundesverfassungsgericht selbst vertritt eine vermittelnde Theorie, die Gerhard Leib-holz zuerst in der Status-Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts
Der Verfassungsrichter sei im Bereich des Verfassungsrechts als dem Bereich des politischen Rechts geradezu gezwungen, die Norm auf die politische Wirklichkeit zu beziehen: „Ein Verfassungsgericht kann einfach nicht sich der politischen Lebensordnung gegenüber, in die seine Entscheidung regulierend eingreifen soll, unbeteiligt verhalten."
Unbestritten ist, daß das Gericht die politischen Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, als gegeben hinnimmt, daß es also die bereits geschaffenen politischen Umstände berücksichtigt. Die Frage, ob bei der Urteilsfindung die politischen Folgen einer Entscheidung mit zu berücksichtigen sind, ist hingegen umstritten. Das Gericht selbst hatte in seinem Urteil über den EVG-Vertrag ausgeführt: „Ob und welche politischen Konsequenzen sich daraus ergeben, daß die Anträge ... als unzulässig verworfen werden, darf für das BVerfG keine Rolle spielen. Es hat allein nach dem Recht zu entscheiden."
— 1966 stellte das BVerfG fest, daß das geltende Umsatzsteuergesetz im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz schweren Bedenken begegne. Trotzdem wurde das Gesetz nicht für ungültig erklärt, da die Folgen chaotische finanzielle Zustände gewesen wären. Dem Gesetzgeber wurde wegen der Schwierigkeit der Materie eine großzügig bemessene Frist für die Einführung eines neuen Steuersystems zugebilligt
Wenn auch das Gericht in diesen Entscheidungen nicht explizit sagte, daß auf die politischen Folgen der Entscheidung Rücksicht genommen sei, so lagen die Erwägungen der Folgen doch den Urteilen zugrunde und führten zu „sachadäquaten Ergebnissen". Immerhin wurde von H. H. Klein kritisiert, daß das Bundesverfassungsgericht von den allgemeinen Auslegungsregeln abgewichen sei, um konkrete Fälle zu entscheiden
IV. Der Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung
Sehr schwierig wird die Entscheidung für das Bundesverfassungsgericht, wenn für einen Streitfall in der Verfassung keine Normen vorhanden sind, die darauf angewandt werden können. Das ist durchaus keine Ausnahmesituation, weil die Verfassung unmöglich für alle politischen Ereignisse im voraus Normen bereithalten kann. Ein solcher Fall war das Saar-Urteil:
Das Ergebnis der deutsch-französischen Verhandlungen über das Saargebiet war das Saar-Statut
In diesem Fall gab das Grundgesetz dem Gericht einen großen Spielraum, weil es keine eindeutigen Beurteilungsmaßstäbe für das Regierungshandeln lieferte. Das Gericht hätte das Gesetz ebenso für mit dem Grundgesetz vereinbar wie auch für verfassungswidrig erklären können oder es hätte eine Entscheidung ablehnen können mit der Begründung, daß es sich um eine politische und keine rechtliche Frage handle.
Das Bundesverfassungsgericht entschied am 4. Mai 1955, daß das Saar-Statut nicht gegen das Grundgesetz verstoße
Damit hatte das Gericht den Grundsatz der verfassungskonformen Interpretation entwickelt, das heißt also, daß bei mehreren möglichen Auslegungen eines Gesetzes diejenige vorzuziehen ist, die mit der Verfassung im Einklang steht. Ein Gesetz ist also erst dann verfassungswidrig, wenn überhaupt keine Möglichkeit mehr besteht, es verfassungskonform aus-zulegen. Die Tendenz des Urteils geht also dahin, daß das Gericht gegenüber allem außenpolitischen Handeln der Regierung grundsätzlich zunächst Wohlwollen zeigt. Die verfassungsrechtlichen Grenzen außenpolitischen Handelns liegen nur dort, wo unverzichtbare Grundprinzipien des Grundgesetzes klar verletzt würden, also etwa Art. 79 III
Eine gegenteilige Entscheidung des Gerichts hätte die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnis gefährdet und möglicherweise auch die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag. Daß auch für die Verfassungsrichter „solche Erwägungen eine Rolle spielten, dürfte evident sein"
Die Entscheidung des Gerichts ist trotzdem von erheblicher Bedeutung, weil sie eine Leitlinie geschaffen hat, an die sich das Gericht auch bei nachfolgenden Entscheidungen gehalten hat. Die oben zitierten Grundsätze könnten auch für das vom Grundgesetz aufgestellte Wiedervereinigungsgebot von Bedeutung sein
V. Verfassung und Verfassungsinterpretation
Schon bei der Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts hatte sein erster Präsident, Höpker-Aschoff, erklärt, daß es sich der politischen Folgen seiner Entscheidungen bewußt sein müsse, daß es vor allem der Frage nicht ausweichen dürfe, ob nicht durch seine Entscheidungen ein gesetzloser Zustand herbeigeführt werden könne, der eine Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung des Staates bedeute
Auch für Leibholz gehört es „geradezu zu den Pflichten eines Verfassungsrichters, die politischen Folgen seiner Entscheidung in den Bereich seiner Erwägungen mit einzubeziehen“
Wenn also abzusehen ist, daß eine formal richtige Entscheidung unerträgliche politische Folgen hat, dann soll das Gericht sich über „formelle oder gar formalistisch erscheinende Bedenken" hinwegsetzen. Das sei „Aufgabe einer teleologischen Rechtsprechung, die sich gerade das Bundesverfassungsgericht angelegen lassen sein sollte, weil es das pulsierende Leben der verfassungsrechtlich miteinander verbundenen Gemeinschaft regeln soll“
Im einzelnen soll diese Art der Rechtsfindung so vonstatten gehen
Daß dabei die Grenze zwischen dem Auffinden und dem Erfinden von Rechtssätzen mitunter nicht leicht zu ziehen sei, wird zugegeben. Nicht zugegeben wird hingegen, daß der Richter doch bei einer solchen Methode wohl vom Ergebnis her argumentiert und diesem politisch gewünschten Ergebnis dann nachträglich eine mehr oder minder gewaltsame juristische Konstruktion unterlegt. So verstandene Rechtsprechung kann gegenüber den Institutionen der Gesetzgebung und Regierung kaum noch Kontrollfunktionen wahrnehmen. Nach welchen Kriterien bestimmt sich, ob ein Ergebnis „paßt“ oder nicht? Bei dieser Methode ergeben sie sich doch wohl nur aus der politischen Einstellung des Richters.
Verfassungsrichter werden von Bundestag und Bundesrat gewählt. Bei dieser Wahl versuchen die verschiedenen Parteien, ihnen genehme Richter zu wählen
Als vorläufige These kann daher behauptet werden, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit — gesamtgesellschaftlich gesehen — keine Kontroll-, sondern eher eine Stabilisierungsiunk-tion hat. Um diese These auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, ist die Frage zu stellen, nach welchen Regeln Verfassungsinterpretation oder überhaupt Gesetzesinterpretation vorge-nommen werden und welche politische Funktion ein solche Interpretation hat.
a) Nadi der in Rechtsprechung und Lehre bisher herrschenden Ansicht wird durch die Interpretation der Verfassung der in ihr enthaltene Sinn erforscht. Dabei soll der objektive Sinn der Verfassung ermittelt werden, also wie die einzelnen Sätze der Verfassung objektiv verstanden werden müssen, nicht wie sie von ihren Urhebern verstanden worden sind. Der Wille des Verfassunggebers (oder des verfassungsändernden Gesetzgebers) soll für die Erforschung nur einen Anhaltspunkt unter anderen bieten. Weil nach dieser Ansicht die Vorstellungen des Verfassunggebers nur eine geringe Rolle spielen, kann u. U.der Auslegende „die Verfassung besser verstehen, als die Entwerfer der Texte sie verstanden haben"
Praktisch verläuft die Verfassungsinterpretation so, daß vom Wortlaut des Textes ausgegangen wird, dann der Sinnzusammenhang und die systematische Stellung des Satzes erforscht werden und schließlich nach der Zielsetzung des Satzes gefragt wird. Hierbei soll der Wille des Gesetzes ausschlaggebend sein, nicht der Wille des Gesetzgebers. Ganz offensichtlich bewegt sich eine so vorgenommene Interpretation im Kreis: Der Wille des Gesetzes, der ja erst gefunden werden soll, kann nicht gleichzeitig Richtlinie für die Auslegung sein. So ist es möglich, daß ein bereits vor der Interpretation gewünschtes Ergebnis als „der Wille des Gesetzes" unkontrolliert Eingang in den Interpretationsvorgang findet.
Zu den hier dargestellten Interpretationsregeln hat sich das Bundesverfassungsgericht zwar bekannt
In einer neueren Entscheidung schließlich hat es die Möglichkeit der „systemimmanenten Modifizierung" elementarer Verfassungsgrundsätze eingefügt: Es ging dabei um die Auslegung des Art.
Die Ursache für das Abweichen des Gerichts von seiner eigenen Methode wird von Hesse in dem häufigen Versagen der herkömmlichen Interpretationsregeln gesehen, die eine sachund problemgebundene Auslegung nicht ermöglichen. „Die herkömmlichen Auslegungsregeln, zu denen sich das BVerfG ausdrücklich bekennt, geben damit nur begrenzten Aufschluß über die Art und Weise, in der das Gericht zu seinen Entscheidungen gelangt."
Konkretisierung der Verfassung ist weiterhin nur auf ein konkretes Problem hin möglich, „es gibt keine von konkreten Problemen unabhängige Verfassungsinterpretation"
Für die hier dargestellte Lehre ist die Aufgabe der Verfassung primär die Herstellung und Erhaltung politischer Einheit. Ein wesentliches Prinzip der Verfassungsinterpretation ist deshalb auch der Maßstab integrierender Wirkung: Bei der Lösung verfassungsrechtlicher Probleme ist eben den Gesichtspunkten der Vorzug zu geben, die einheitstiftend und erhaltend wirken. Ein weiteres Prinzip ist das der „Einheit der Verfassung": Es darf bei der Interpretation nicht nur die einzelne Norm, sondern es muß der Gesamtzusammenhang berücksichtigt werden. Widersprüche zu anderen Verfassungsnormen müssen vermieden werden.
Dieser Interpretationsansatz macht deutlich, daß Rechtsprechung nicht nur Auslegung bereits vorhandener Normen ist, sondern, indem sie durch „problembezogene" Interpretation „Lücken" füllt, an der Fortbildung des Rechts mitarbeitet, rechtsschöpferisch tätig ist. „Es darf heute als bekannt und anerkannt vorausgesetzt werden, daß der Richter Macht ausübt ... im politischen Kräftespiel gegenüber den anderen beiden Gewaltenträgern. Er tut das mit jeder rechtsschöpferischen Interpretation und Fortbildung des Rechts.“
VI. Das Problem des Vorverständnisses
Dieser Interpretationsansatz kann, konsequent angewandt, auch zu einer offeneren, begründeteren Rechtsprechung führen, weil das Gericht Auskunft über sein Vorverständnis geben muß. Indessen ist damit allein nichts gewonnen: eine konservativ-autoritäre Rechtsprechung ist ebenso möglich wie eine freiheitlich-demokratische Rechtsprechung. Die GretchenFrage
Mit der Einführung dieses sehr ausfüllungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriffes, der stark an das „gesunde Volksempfinden“ erinnert, wird in den rationalisierten Interpretationsvorgang wieder ein Element eingeführt, das einer willkürlichen Rechtsprechung Tür und Tor öffnet. Auch dieses Problem wird gesehen, aber die darauf gegebene Antwort ist unbefriedigend: „Man mag fragen: wenn sich die Vernünftig und Gerecht-Denkenden'nun aber — Irren ist menschlich — von etwas Unrichtigem überzeugen lassen? Darauf kann man nur antworten: dann läuft die Sache eben schief.“
Eine auf dem „Konsens aller Vernünftig und Gerecht-Denkenden" basierende Interpretationsmethode, die „schieflaufen“ kann, wenn das Volksempfinden irrt, kann aber keine sinnvolle Alternative zu der bisher geübten teleologischen Interpretationspraxis sein. Ob nun praktisch-politische Erwägungen den Interpretationsvorgang vom Ergebnis her bestimmen (so die erste Methode) oder ob die Basis der Interpretation ein nicht empirisch faßbarer, nicht kontrollierbarer Konsens ist, der nicht hinterfragt werden kann (so die zweite Methode), macht dann letztlich keinen Unterschied. Eine wirkliche Alternative zur herkömmlichen Interpretation kann nur eine Methode sein, die das Vorverständnis als soziale Kategorie begreift und soweit wie möglich legitimiert.
Zwischen dem erkennenden Subjekt (dem Interpreten) und dem Erkenntnisobjekt (der sozialen Wirklichkeit) besteht ein dialektisches Spannungsverhältnis. Auch der Interpret ist ein Teil der Gesellschaft, deren Wirklichkeit er beim Interpretationsvorgang erkennt und gestalten will. Er erkennt also auch sidi selbst und gestaltet seine eigenen Lebensverhältnisse. Das Erkenntnisobjekt (die Gesellschaft, das Zusammenleben mit anderen Menschen) übt ständig einen Einfluß auf das Erkenntnis-subjekt (den Interpreten) aus und wirkt daher mitbestimmend auf seinen Erkenntnisvorgang (hier: die Interpretation) ein.
Damit diese Einflüsse nicht unkontrolliert seinen Erkenntnisvorgang beeinflussen, muß der Interpret sich seine eigene Stellung im Erkenntnisobjekt, das heißt seine Stellung in der Gesellschaft, bewußt machen. Er muß sich darüber bewußt werden, inwieweit die ihn umgebende soziale Wirklichkeit seine Erkenntnisse beeinflußt. Dazu muß er den Versuch machen, seine eigene Stellung in der Gesellschaft zu bestimmen. Er muß sich die Erfahrungen vor Augen führen, die er mit dem (durch die Interpretation) zu gestaltenden Problem gemacht hat, er muß herausfinden, welche Interessen ihn bei seinem Erkenntnisvorgang (der Interpretation) hauptsächlich leiten. „Wenn aber mit Notwendigkeit situationsgebundene Erfahrungen auch in den streng wissenschaftlichen Erkenntnisansatz mit eingehen, müssen die erkenntnisleitenden Interessen unter Kontrolle gebracht, als objektive Interessen legitimiert werden, es sei denn, man wolle den Prozeß der Rationalisierung willkürlich abbrechen.“
Eine so verstandene Verfassungsinterpretation kann nicht von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abstrahiert werden. Vielmehr muß das Verhältnis der Verfassung zur Gesellschaft, zur Wirtschaft, zum Recht (das nicht immer mit dem Gesetz identisch ist), zu den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen oder zur öffentlichen Meinung mit einbezogen werden. Der Interpret muß sich bewußt sein, daß die Verfassung immer nur Teilinhalt der komplexen Lebenswirklichkeit bleibt, aus der die Verfassungstheorie sie notwendig isoliert hat. Einen Wert haben ihre Erkenntnisse nur dann, „wenn diese Isolierungen immer wieder rückbezogen werden auf das Wirklichkeitsganze, in dem sie allein Leben und Wahrheit haben“
Eine so verstandene Verfassungsinterpretation fragt hinter die Entstehung der Verfassung zurück; sie fragt u. a., warum die konkrete Verfassung so und nicht anders ist. Das Grundgesetz wird so als ein politisch-sozialer Kompromiß der an seiner Entstehung beteiligten Gruppen verstanden. Es ist deshalb „für die rechtliche Interpretation seiner Normen entscheidend, die Willensbildung der deutschen politisch-sozialen Gruppierungen festzustellen, die sich im Kompromiß zur Annahme des GG ge-troffen, haben"
Eine so verstandene Verfassungsinterpretation hat u. a. auch die Aufgabe, diese Kompromißsituation zu erhalten. Die Verfassungsrechtsprechung muß also alles in ihrem Bereich Mögliche tun, um zu verhindern, daß eine oder mehrere soziale Gruppen auf Kosten anderer Gruppen zu stark werden und die in der Verfassung garantierten Rechte der nun durch eine schlechte Verfassungswirklichkeit benachteiligten Gruppen nach und nach aushöhlen oder beseitigen. Deshalb kann auch die bestehende Verfassungswirklichkeit niemals ausschlaggebendes Interpretationskriterium sein.
VII. Das Bundesverfassungsgericht und der Volkssouverän
Wenn das Bundesverfassungsgericht aber von den politischen Gegebenheiten ausgeht und mit Hilfe teleologischer Interpretation politische Rücksichten nimmt, kann es diese Aufgabe nicht erfüllen. Die vom Bundesverfassungsgericht praktizierte Art der Rechtsprechung muß stets auf Versöhnung der sich von der Verfassung fortentwickelnden Verfassungswirklichkeit mit dieser Verfassung ausgerichtet sein. Dieser Rechtsprechung geht es nicht um die Forderung, die in der Verfassung festgelegten Programmsätze notfalls auch gegen die Interessen bestehender Machtgruppen zu realisieren, sondern darum, „den radikalen Bruch zwischen starren Sicherheitsbedürfnissen und umstürzlerischem Reformwillen, beides gesellschaftlich bedingte Faktoren, zu vermeiden"
Daß das Bundesverfassungsgericht so und nicht anders Recht spricht, mag auch seine Ursache darin haben, daß es für seine Entscheidungen keine praktischen Durchsetzungsmöglichkeiten besitzt und daß seine Autorität allein auf seinem Ansehen beruht. Das Gericht könnte nur gegen die Interessen der herrschenden Kräfte urteilen, wenn es ihm gelänge, im Eventualfall den Souverän des Staates, nämlich das Volk zu mobilisieren, um eine Verfestigung oder überhaupt Ausbreitung verfassungsfeindlicher Positionen zu verhindern. Doch das Bundesverfassungsgericht hat ein zwiespältiges Verhältnis zum demokratischen Souverän: Als die atomare Bewaffnung der Bundeswehr und die Stationierung von Atomwaffen auf westdeutschem Boden zur Diskussion standen, stellte die SPD im Bundestag einen Antrag auf eine Volksbefragung zu diesem Problem, der aber abgelehnt wurde
An einer entscheidenden Stelle in der deutschen Verfassungsentwicklung hatte sich das Bundesverfassungsgericht gegen das Wagnis der direkten Demokratie und für die Erhaltung und Sicherung der bestehenden Ordnung ausgesprochen. Dabei hätte eine Entscheidung für die Zulässigkeit der Volksbefragungen durchaus nicht im Widerspruch zur Verfassung gestanden: Art. 20 II GG schreibt vor, daß das Volk seine Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen ausübt. Wahrscheinlich aber waren dem Gericht die politischen Folgen einer solchen Entscheidung nicht genügend überschaubar. Eine bei einer Volksbefragung sich ergebende Entscheidung der Mehrheit des Volkes gegen die Mehrheit im Parlament hätte das Problem der parlamentarischen Repräsentation und die Frage nach der Verantwortlictkeit der Abgeordneten aufgeworfen. Nachfolgende Volksbefragungen hätten eine Bewegung in das sich verfestigende Gefüge der politischen Institutionen gebracht, die das Gericht in allen Konsequenzen nicht überschauen konnte und deshalb von vornherein verhindern wollte.
Die „auffällige Enthaltsamkeit bei der verfassungsgerichtlichen Auslegung und Ausgestaltung des Verfassungsgrundsatzes der Volks Souveränität"
Da das Bundesverfassungsgericht einerseits den demokratischen Souverän an die politischen Institutionen verwiesen hat und zum anderen sich selbst den die Verfassung und Verfassungswirklichkeit gestaltenden Aktivitäten dieser Institutionen durch eine harmonisierende und politisch rücksichtsvolle Rechtsprechung mehr oder weniger unterordnet, kann es unter dem Aspekt der Gewaltenteilung nicht mehr vorwiegend als Organ der Balance und Kontrolle gesehen werden. Es ist vielmehr ein Organ, das durch seine Interpretationsmethode und Rechtsprechungspolitik wesentlich zur Stabilisierung der gegenwärtig bestehenden Verfassungswirklichkeit beiträgt.