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B. die philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips | APuZ 36/1971 | bpb.de

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APuZ 36/1971 Föderalismus B. die philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips

B. die philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips

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1. Die geschichtliche und politische Vorbestimmung

Der Begriff Föderalismus ist, wie seine geschichtliche Entwicklung beweist, vielschichtig und deshalb schillernd. Er erscheint später als die Sache, die er meint, weshalb die Freilegung seiner geschichtlichen Ursprünge Schwierigkeiten bedeutet. Seine Erscheinungen wandeln sich mit der Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Gemeinsam ist ihnen das Bestreben, als Form-oder Strukturelement die kleinere Einheit vor der übergeordneten größeren abzusichern und zu schützen, ohne dieser die von ihr zur Bewältigung ihrer Aufgaben benötigten Unterstützungen und Kräfte zu versagen. Entscheidend dabei ist die Betrachtungsweise: Föderalismus sieht wie das Individuum von unten nach oben — vom Ich zum Wir, vom Individuum zur Gemeinschaft, vom einzelnen zur Gesellschaft; Zentralismus schaut von oben nach unten — wie es vor allem der Fürst von Gottes Gnaden, elitäre Gesellschaftsschichten, Diktatoren und Tyrannen zu tun pflegen. Föderalismus heißt Förderung der größeren Einheit durch die kleinere Einheit aufgrund von Einsicht und Bereitschaft; Zentralismus bedeutet Unterwerfung der kleineren Einheit unter die größere, die aufgrund der Quantität Präponderanz beansprucht. Das Prinzip Föderalismus ist ein Form-und Strukturelement, das die Unüberschaubarkeit der Zusammenballungen von Menschen in Gruppen, Gesellungen, Völkern und Staaten zu überwinden bestrebt und auch befähigt ist. Insoweit es dieser Grundforderung Rechnung trägt, paßt es sich den sich wandelnden Verhältnissen menschlicher Entwicklung an. Es gibt keine normative Form des Prinzips Föderalismus, denn es ist nicht der Sache, wohl aber der Methode nach flexibel. Jeder Versuch, es auf eine bestimmte Form festzulegen, geht von einem Mißverständnis seiner Funktionsfähigkeiten und -möglichkeiten aus und führt zwangsläufig zu einem schiefen bzw. falschen Verständnis. Ihm ist eine hohe Beweglichkeit immanent. Viele Deutungen übersehen diese Fähigkeit, die auch von indoktrinierten Anhängern des föderativen Prinzips bisweilen nicht gesehen oder nicht anerkannt wird. Es gibt keine Norm Föderalismus, die den Verwandlungen, die in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft unaufhaltsam vor sich gehen, entgegensteht. Soweit seine Grundkriterien gewahrt bleiben, kann sich der Föderalismus allen Veränderungen assimilieren — er unterwirft sich Wandlungen äußerer und innerer Art.

Diese Feststellung ist notwendig angesichts der vordergründigen Bestrebungen, Föderalismus nur als ein Element der Staatsstrukturen zu verstehen und zu deuten. Die Präponderanz des Politischen im Erscheinungsbild des Föderalismus ist unbestreitbar; doch schöpft das Politische, auch im weitesten Sinn seines Verständnisses, das föderative Prinzip nicht aus, denn dieses greift auf die Bereiche Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur über. Es ist von so allgemeiner Bedeutung, daß seine Einengung auf Staatsstrukturen die Gefahr eines Mißverständnisses birgt. Erst eine fortschreitende Erkenntnis der Infrastruktur der sich wandelnden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse dürfte in der Läge sein, überzeugend bewußt zu machen, daß das Prinzip Föderalismus nicht ein fixiertes Element der Staatsstrukturen ist, auch wenn diese es in besonderer Weise beansprucht haben und beanspruchen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die Entwicklung staatlicher Ordnungen hat zwangsläufig zur Ausbildung politischer Prinzipien geführt, die die Spannungen bestimmen, die sich aus dem Verhältnis von staatlicher Grundeinheit und Gesamtstaat ergehen.

Einsichten in den individualgefährdenden Charakter der ökonomischen Strukturen des Industriellen Zeitalters haben dazu beigetragen, daß die Analyse der Gesellschaft auf Strukturen, die in den staatlichen Ordnungen zur Anwendung kommen, aufmerksam geworden ist und sich ihrer bemächtigt hat. Das Prinzip Föderalismus ist dabei als ein Form-oder Strukturelement erkannt worden, das nicht nur im Staatlichen in der Lage ist, das Übergewicht von Großordnungen über Kleinordnungen zu beseitigen, und der kleinen Einheit, angefangen vom Individuum, eine Lebenschanceeinzuräumen, überall, wo Großordnungen lebensfähige Kleinordnungen zu unterdrücken drohen, wo der einzelne auf nicht zumutbare und nicht berechtigte Kosten der Masse benachteiligt wird, wo die einzelne Provinz ihre ausfüllbare Eigentätigkeit dem Gesamtstaat überlassen muß, wo der Kleinbetrieb einer rationell nicht bedingten Konzentration geopfert wird — bietet sich das Prinzip Föderalismus als Form-oder Strukturelement an, wenn eine, nicht nur die Freiheit, sondern auch die Kreativität des Menschen auslöschende Nivellierung unterbleiben soll.

Die Phobie vor der erdrückenden Präponderanz von Großordnungen führt, ohne daß immer die Bezeichnung Föderalismus gewählt oder auch nur assoziiert wird, zu Formen, die einen Aufbau von Strukturen in Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur begründen und gewährleisten, in denen die nachgeordneten Bereiche nicht der widerspruchslosen Befehls-gewalt der Zentrale ausgeliefert sind. Zentralismus ist die Durchsetzung eines von einer Zentrale ausgehenden Willens ohne Anhörung und ohne Berücksichtigung der davon betroffenen Gesellungen und Gruppierungen; Föderalismus ist der Aufstieg der Verantwortung vom Individuum bis zur Menschheit, wobei durch Anwendung des Subsidiaritätsprinzips jeweils nur soviel Verantwortung der nächsthöheren Stufe überlassen wird, wie diese zur Erfüllung ihres Aufgabenbereiches benötigt. Die höhere Einheit ist gehalten, Aufgaben und Aufgabenbereiche den kleineren Einheiten zu überlassen, wenn diese dazu in der Lage und auch willens sind. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, auf die Ansammlung von Macht in jeder Form zu verzichten und die Verantwortung der kleineren Einheiten zu stärken.

Die Kenntnisse über die inneren Strukturen der frühen Reiche geben keine erschöpfenden Auskünfte darüber, inwieweit die Gewalt zwischen dem Zentralstaat und den Teilbereichen geteilt worden war. Der Individualität der griechischen Stämme entsprach die Ausbildung der staatlichen Ordnung der Polis, die sich für die Entwicklung der Staatsform nicht nur in Europa als beispielgebendes Vorbild erwiesen hat. Die Ausprägung der griechischen Staats-strukturen blieb, wie ausführlich dargelegt, nicht bei der Polis stehen; sie entwickelte, als politische Gegebenheiten einen Zusammenschluß der Stadtstaaten notwendig machten, den Koinon, den Bund oder Bundesstaat, der mit unterschiedlicher Differenzierung eine Gemeinschaft der Poleis schuf.

Während die Polis als das Bild des Staates schlechthin (obwohl es nur das Bild eines ge. bietsmäßig beschränkten Stadtstaates ist) von Philosophen und Geschichtsschreibern eingehend beschrieben wurde, fehlen literarisch gleichrangige Darstellungen des Koinon -ein Umstand, der dessen ungenügende Kenntnis verursacht hat. Während deshalb die Ordnung der Polis verbal und assoziativ in allen Vorstellungen über politische Strukturen durchschlägt, werden die Affinitäten zwischen den griechischen Bünden, die Bundesstaaten, nicht Bündnisse waren, und den Bundesstaaten moderner Observanz nicht zur Kenntnis genommen. Dem dominierenden Einfluß der Polis auf das politische Denken entspricht die Roma, bestimmende Wirkung des Imperium num auf die Formung der Vorstellungen über Großreiche.

Politische und literarische Gegebenheiten tragen dazu bei, daß nicht der Koinon, der Bundesstaat, sondern das Imperium als der Gegensatz zur Polis empfunden wird. Durch diesen bisher unbeachteten Vorgang blieb der Koinon ohne Standort und Konturen. Als Urbild des Staates erscheint die Polis — der eine und einheitliche Staat, der ein in sozietärer Hinsicht hierarchisch strukturierter Stadtstaat gewesen ist. Als Urbild einer Staaten übergreifenden Struktur gilt das Imperium Romanum, dessen differenzierte innere Ordnung ohne Beachtung bleibt. Die Tatsache, daß es zwischen der Polis und dem Imperium eine Staatsform gegeben hat, nämlich den Koinon, ist nicht in das geschichtliche und politische Bewußtsein eingegangen. Dieser Ausfall hat für den Stellenwert des Föderalismus einen kaum zu überschätzenden Nachteil, denn er wird als eine politische Gesellung neuerer Zeit empfunden, die einen Vergleich mit der Polis in keiner Weise verträgt. Die Unterschiede zwischen den stark individualisierten Poleis und den dirigistischen Massenstaaten der neueren Geschichte bleiben dabei völlig unberücksichtigt, denn die Polis hat die bis in die Gegenwart hinein bestimmende Vorstellung vom Staat geprägt.

Der griechische Bundesstaat, wie auch immer er strukturiert war, hat unter den Staatsformen einen festen, nicht bestreitbaren Platz. Da ihm keine Panegyriker entstanden sind, hat er nicht in gleicher Weise das politische Denken beeinflußt wie der griechische Stadtstaat. Die Hervorhebung des Letztgenannten entspringt einer unhistorischen, eindimensionalen Betrachtungsweise, denn in den griechischen Bündnissen ist eine Vor-und Urform des Bundesstaates entwickelt worden, auf die sich die staatswissenschaftlichen Publizisten erst besannen, als sie sich um eine geschichtliehe Abstützung des modernen Bundesstaates bemühten.

Die vor allem, aber nicht ausschließlich, unter den germanischen Stämmen erfolgten Zusammenschlüsse einzelner Großfamilien zu Genossenschaften sind der gleichen Notwendigkeit wie die Bildung von Bundesstaaten in Griechenland entsprungen. Da die einzelne Großfamilie nicht in der Lage war, Aufgaben, die auch die benachbarten Großfamilien betrafen, vor allem den Schutz aller im gleichen Raum siedelnden Großfamilien, zu übernehmen, kam es zu Zusammenschlüssen, in denen ein Ausgleich zwischen Individualität und Gemeinschaft angestrebt wurde. Ihre Mitglieder verstanden sich als gleichberechtigte Genossen; sie nannten ihre Zusammenschlüsse Genossenschaften. Die Erhaltung der Eigenständigkeit war die Voraussetzung für den Beitritt zur Genossenschaft, die nur in dem Maße handlungsberechtigt war, in dem sie von den Genossen ermächtigt und unterstützt wurde. Darüber kam es, wie in den griechischen Poleis, zur Ausbildung einer unmittelbaren Demokratie, da alle, die Genossenschaft gemeinsam betreffenden Maßnahmen die Billigung der Mehrheit der Genossen erhalten mußten.

Die genossenschaftliche Idee erhielt sich bis zum gegenwärtigen Augenblick in den Strukturen der Schweizer Kantone. In den außer-schweizerischen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation gingen die vorhandenen genossenschaftlichen Ordnungen teilweise sehr früh unter; an ihre Stelle traten Herrschaftsformen, die für genossenschaftliche Vorstellungen keinen Raum ließen. Wie Otto von Gierke nachgewiesen hat, behaupteten sich genossenschaftliche Strukturen fragmentarisch in einzelnen Teilen Deutschlands, in Handelsorganisationen und auch in revolutionären Bewegungen. In der Organisation sowohl der „Hanse“ als auch der „Großen Ravensburger Gesellschaft" waren genossenschaftliche Elemente bestimmend; sie bewegten sich auf wirtschaftlicher Ebene und präjudizierten die wirtschaftlichen „Genossenschaften" auch des 19. und 20. Jahrhunderts. In den hinsichtlich ihrer Strukturen und Strukturvorstellungen noch ungenügend untersuchten revolutionären Bewegungen sowohl in den Reichsstädten als vor allem in der Bauernschaft erfolgten bei der Auseinandersetzung mit dem Obrigkeitsstaat der erblichen und gewählten Landesfürsten Rückgriffe auf genossenschaftliche Vorstellungen.

Der der genossenschaftlichen Idee eigene Gedanke des Ausgleichs zwischen Individuum und Sozietät erlosch niemals völlig. Die Vorstellungen des Eberlin von Günzburg sind mehr als Rudimente des Prinzips Föderalismus und des Subsidiaritätsprinzips; sie müssen als exemplarische Zeugnisse einer vermutlich weit verbreiteten genossenschaftlichen Auffassung beurteilt werden.

Die Intensivierung der „Bund-Theologie" durch die Reformatoren des 16. Jahrhunderts führte, wie ihr Einfluß auf Althusius beweist, zu einer entscheidenden Vitalisierung des Prinzips Bund — foedus — im Sinne eines Bundes nicht nur zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Gott und den Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Mensch, zwischen Fürst und Untertan. Durch die Transferierung theologischer Auffassungen auf politische Vorstellungen, die Bezug nahmen nicht auf den griechischen Koinon, der im politischen Bewußtsein keinen Stellenwert besaß, wohl aber auf Fragmente genossenschaftlichen Denkens und genossenschaftlicher Organisationsformen, die sich in einzelnen Teilen Europas und in einzelnen Bereichen des öffentlichen Lebens erhalten hatten, artikulierte sich das Prinzip Föderalismus. Der dadurch eingeleitete Prozeß ist eine in ihren Einzelheiten noch nicht untersuchte Stufe der Entwicklung des modernen Staatsdenkens.

Die durch Jean Bodin ausgelöste Beschäftigung mit dem Begriff Souveränität führte zwangsläufig zu der Suche nach einem rechtlichen Ausgleichselement. Johannes Althusius nahm in seine Vorstellung von der inneren Struktur des Staates sowohl genossenschaftliche Ansichten als auch Anregungen der Föderaltheologie auf, um sich in dem von ihm entwickelten Leitbild des modernen Staates dem Föderalismus und dem von ihm subsumierten Subsidiaritätsprinzip zu nähern. Der Durchbruch der föderalen Idee im politischen Denken des deutschen Volkes wurde von Althusius vollzogen. Er hat, wie die wiederbelebten Forschungen über ihn nachgewiesen haben, das föderative Prinzip und das Subsidiaritätsprinzip in seinen politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen voll erfaßt und anwendbar formuliert. Seine Empfehlungen übertreffen die späteren Vorstellungen und Forderungen, da sie beide Prinzipien entwickeln, darstellen und begründen. Die Behauptung, wie sie im kleindeutschen National-45 staat erhoben worden ist, der Föderalismus sei ein Alibi der Reichsfeinde, ist angesichts der intellektuellen Leistung von Althusius nicht haltbar. Seine Aussagen haben das politische und staatliche Denken der nachfolgenden Jahrhunderte beeinflußt, ohne daß dieses schließlich noch in der Lage gewesen wäre, sich über seinen Ursprung Rechenschaft zu geben.

Die exemplarische Gestaltung eines Bundes-staates ist das Werk der Gründer der Vereinigten Staaten von Amerika. Vor die Notwendigkeit gestellt, die dreizehn Kolonien, die sich gegen Großbritannien erhoben, zu vereinigen, ohne sie zu einen, entwickelten sie ein föderatives System, das den Aufstieg einer Weltmacht ermöglicht hat. Wie immer der amerikanische Föderalismus beurteilt wird, seine beispielhafte Bedeutung kann nicht bestritten werden. Indem die Staatsgewalt zwischen Gliedstaaten und Bundesgewalt aufgeteilt wurde, entstand ein Gemeinwesen, das nicht nur lebensfähig ist, sondern nur in dieser Form seine Vitalität entfalten kann. Voraussetzung dafür war die Nichtexistenz von Wahl-und Erbfürsten, die mit allen Mitteln eine Erweiterung ihres Gebietsbestandes anstrebten. Die Überzeugung von der Gleichheit des Menschen prägte den amerikanischen Föderalismus. Seine Vorzüge sind oft genug gerühmt worden, so daß seine auch vorhandenen Nachteile nicht in Erscheinung getreten sind. Der amerikanische Föderalismus ist die Gliederung eines Subkontinents, dessen Vielfalt nur durch eine seinen Gegebenheiten, Bedürfnissen und Möglichkeiten entsprechende Struktur erhalten werden kann.

Den amerikanischen Föderalismus in Europa bekannt gemacht zu haben, ist das Verdienst von Alexis de Tocqueville, der ihn in seinem klassischen Werk „über die Demokratie in Amerika" eingehend untersucht hat. Dabei hat er seine gesellschaftlichen Imponderabilien weder bestritten noch übergangen, seinen politischen Funktionen jedoch den Vorrang gegeben. Diese Tendenz hat der Deutschamerikaner Franz L. Neumann in seinem sehr bemerkenswerten Aufsatz „Federalism and Freedom. A Critic“ verstärkt, indem er ausgeführt hat: „Haben die Ausdrücke . Föderalismus', . föderative Regierung'oder „föderativer Staat'bestimmbare Bedeutungen? . .. Sogar eine äußerst oberflächliche Unters hung der verschiedenen Arten bundesstaatlicher Regierung ... scheitert dabei, das Element, das allen gemeinsam ist, aufzuzeigen, außer einem, nämlich dem juristischen. Das gemeinsame Element ist dieser Sachverhalt: In jedem der Bundesstaaten ist der Bürger Subjekt zweier Rechtssetzungen: der des Bundesstaates und der der einzelnen Staaten."

Diese Auffassung hat vor allem in Deutschland dazu geführt, daß der Föderalismus als ein den jeweiligen Verfassungssituationen angepaßtes System verstanden wird. Da sowohl der zwischen 1815 und 1866 bestehende Staatenbund als auch der 1867 bzw. 1870/71 geschaffene Bundesstaat als föderativ apostrophiert wurde, erfolgte zwangsläufig eine inhaltliche Verkürzung und rechtspositivistische Festlegung, wodurch die Bandbreite föderativer Gestaltungen entscheidend verringert wurde. Da die deutsche Nationalbewegung einen Einheitsstaat im Sinne nicht des von der amerikanischen Revolution geschaffenen Bundesstaates, sondern im Sinne des von der Französischen Revolution verkündeten und verwirklichten Einheitsstaates anstrebte, geriet sie zwangsläufig in Gegensatz sowohl zu der föderativen Ordnung von 1815 bis 1866 als auch zu der föderativen Struktur nach 1871. Als ihren Gegner erkannte sie den Föderalismus schlechthin, weshalb es ihr nicht gelang, zu einem sachlichen Föderalismus-Verständnis zu gelangen.

Die Vorurteile gegen das föderative System scheinen mit dem kleindeutschen Nationalstaat nicht untergegangen zu sein, obwohl in der ersten Stunde nach seiner Zerstörung bei den meisten Politikern und Publizisten die Erkenntnis vorhanden gewesen ist, daß nur eine flexible föderative Ordnung eine Wiederkehr der Machtsituationen verhindern kann, die den Ausbruch des Ersten Weltkrieges entscheidend begünstigt und die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges herbeigeführt haben. Durch die Einschränkung des Föderalismus auf das Verfassungsrecht wurde seine jeweilige Situation zwar überschaubar, sein allgemeines Verständnis jedoch eingeengt.

Gegen diese Begrenzung drangen die Befürworter eines weitgefaßten Föderalismus-Verständnisses nicht durch. Sie gerieten vielmehr in ? inen bis heute nicht beseitigten Ideologie-verdacht. Diese Feststellung trifft gerade für Konstantin Frantz zu, obwohl er in seinen nicht widerspruchsfreien Ausführungen die Überzeugung vertrat: „Ein System ist der Föderalismus nicht, sondern er ist ein lebendiges Prinzip und wird nur als solches recht begriffen ... Er soll uns vielmehr von der Herrschaft eines Systems und Formenwesens befreien, indem er alles geistig durchdringt." Frantz, der den Föderalismus weder „das Gegenteil des Partikularismus noch des Zentralismus, sondern zu beiden das höhere Dritte" nannte, betonte mit großem Nachdruck:

„Der Föderalismus ist das Prinzip der Vergesellschaftung schlechthin, von den kleinsten Gruppen zur größten fortschreitend. Vom Ehe-und Freundschaftsbund zum Völkerbund.“ Er interpretierte diese Auffassung, indem er erklärte: „Der Föderalismus ist , die Synthese der Synthese', er ist das Prinzip der gewaltlosen Ausdehnung." Als seinen Grundsatz formulierte er: „Kein Recht ohne Frieden, kein Frieden ohne Bund und ohne diese drei auch keine Freiheit." Der amerikanische Sozialphilosoph Robert M. Hutchins sprach von einem Janusgesicht des Föderalismus, von dem das eine auf Sicherung der Staatsgemeinschaft, das andere, das dem Beschauer weniger häufig zugeneigt wird, auf besseres Funktionieren des Regierungssystems hinweist Diese Erwägungen, die sowohl auf Erweiterung als auch auf Vertiefung des Begriffes Föderalismus ausgehen, bestimmten Franz J. Jerusalem, das Streben nach ständiger Ausweitung als das eigentliche Lebensprinzip des Föderalismus zu bezeichnen

Seine Bestimmung wurde zu einem allgemeinen Anliegen. Die deutschen Staatsrechtslehrer diskutierten auf ihrer Tagung vom 3. bis 6. Oktober 1962 in Münster unter bewußter Anknüpfung an die Aussprache von 1924 über . Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip“ 531). Hartwig Bülck sprach über „Föderalismus als internationales Ordnungsprinzip', Peter Lerche behandelte den „Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip'.

An den Beginn seiner Ausführungen stellte Bülck die historische Bemerkung: „Als internationales Ordnungsprinzip wird der Föderalismus in der Gegenwart durch funktionale Föderation bestimmt. Weder die dynastische Föderation wie im 18. Jahrhundert, noch die nationale wie im 19., deren Leitbild der Bundesstaat war, geben den Staatenverbindungen im 20. Jahrhundert das Maß. Heute geht die Entwicklung auf die funktionale Föderation, d. h. auf internationale und übernationale Organisationen mit jeweils besonderen Aufgaben, die sich mit der hergebrachten Ordnung der Staaten überlagern und mit ihr zusammen Frieden und Gerechtigkeit in jenen Formen sichern, die der modernen Industriegesellschaft gemäß sind.“

Als Kennzeichen des Föderalismus des 18. Jahrhunderts verstand Bülck den casus foederis, den Bündnisfall, und die Waffenhilfe in der Art, daß jeder Teil in der Entscheidung weithin frei blieb, denn dadurch sei immer wieder eine Ordnung, mehr zwischendynastisch als zwischenstaatlich, gestiftet worden, die er als ein Zeichen für die hündische Kraft des alten europäischen Staatensystems verstand. Als föderatives Leitbild des 19. Jahrhunderts führte er den Bundesstaat an, wobei er abschließend zu bedenken gab: „Trotz aller gegenläufigen Unterströmungen, für die in Deutschland Konstantin Frantz und in Frankreich Proudhon repräsentativ sind, gilt deshalb der Bundesstaat bis heute als die , einzige gesunde und normale Form’ der Staatenverbindungen, als der Typ des Föderalismus." Er fügte hinzu: „Mit dieser zentralistischen Entwicklung wurde der Begriff des Föderalismus verengt und zusammen mit dem Unitarismus zum bloßen Moment in dem . Oberbegriff des Bundesstaates'(Anschütz) herabgesetzt, eine Begrifflichkeit und Terminologie, der die deutsche Staatsrechtslehre, weil sie damit im national-territorialen Primärsystem wurzelt, im Unterschied etwa zur französischen bis in die heutige Epoche funktional-organisatorischer Staatsbildung und -Wandlung verpflichtet ist."

Für die Entwicklung im 20. Jahrhundert bezeichnete Bülck eine doppelte Föderalisierung als typisch'als neue föderalistische Einheiten führte er die zwischen-und überstaatlichen Organisationen an, betonte jedoch den Fortbestand ihrer bundesstaatlichen Glieder. Es sei, so bemerkte er, ein neues Föderativ-system im Entstehen — „ein funktionales Konzert universaler oder regionaler Geltung". Uber die Ausgangssituation des 20. Jahrhun- derts sagte er: „Was das 19. Jahrhundert an föderativen Ideen und Institutionen vorgebildet hatte, versuchte die Weltstaatengemeinschaft im 20. Jahrhundert nach dem großen, alle Nationen verstrickenden Völkerkrieg in einer neuen Gesamtorganisation zusammenzufassen und fortzubilden. Das war der Völkerbund, der als Friedensgemeinschaft die territoriale Neuordnung Mitteleuropas sichern sollte, wie sie mit der Errichtung neuer Nationalstaaten und der Arrondierung alter durch die Pariser Friedensverträge von 1919 geschaffen worden war. Das maßgebende Prinzip war das nationale Selbstbestimmungsrecht, wenn auch beschränkt durch das , great game of the balance of Power', das Wilson für immer diskreditiert glaubte . . . Blieb der Völkerbund im wesentlichen eine europäische Organisation, so hat 1945 die siegreiche Allianz der neuen großen Fünf und der mit ihnen vereinten Nationen aus dem Weltstaatensystem nicht nur dem Anspruch nach, sondern in Wahrheit eine universale Organisation gemacht. Den Vereinten Nationen gehören, von den traditionellen Ausnahmen wie der Schweiz und den neuen Ausnahmen, ... alle Staaten der Welt an. Die neue Weltorganisation zeigt ähnliche, wenn auch weiterentwickelte Strukturen wie der alte Völkerbund. Die föderative Gleichberechtigung aller Mitglieder bringt die Vollversammlung zum Ausdruck. Die hegemoniale Führung zur Erhaltung des Friedens obliegt dem Sicherheitsrat der fünf Großmächte, denen sechs andere Mitgliedstaaten zum föderativen Macht-ausgleich beigeordnet werden."

Bülck verwies darauf, daß die Wirksamkeit des föderativen Weltsystems beschränkt wird durch ein unterschiedliches, ja gegensätzliches Verständnis der Rechte des Menschen durch die beiden Weltmächte, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Er machte gleichzeitig auf die Teilungen von Staaten, die auf der Grenze der Einflußsphären der beiden Weltmächte liegen, aufmerksam. Auch betonte er, daß über der alten Territorialordnung der Nationen mit zunehmender Kraft die neue Funktionalordnung der Industriegesellschaften sich erhebt. Im einzelnen ging er auf die föderativen und zentralistischen Tendenzen in den beiden Weltsystemen ein, die er in einer Konfrontation betrachtete In seinen „Leitsätzen" wiederholte er, daß der Föderalismus als internationales Ordnungsprinzip in der Gegenwart durch funktionale Föderation bestimmt wird. Die Entwicklung gehe im 20. Jahrhundert auf die funktionale Föderation, d. h. auf internationale und supranationale Organisationen mit jeweils besonderen Aufgaben aus

Mit bewußter Anknüpfung an die Diskussion der deutschen Staatsrechtslehrer im Jahre 1924 begann Lerche seine Analyse über den „Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip“. Er verwies zunächst auf zwei Tendenzen der Indoktrinierung des Föderalismus: „Die erste geht dahin, eine Art naturrechtlich beseligten Bundesmythos zu entwerfen und zu betreiben. Eingebettet in breite geistige Strömungen weicht sie doch härteren Konflikten aus. Von hier aus kann kein Blick in das Innere der föderativen Form gelingen. Eine zweite Tendenz verstellt nicht minder den Weg, ist aber weit gefährlicher, weil scharf und klar. Sie zielt dahin — in jüngeren Bundesstaaten besonders bemerkbar —, den föderalen Beziehungsreichtum in starre Fächer zu zerlegen und von hierher zu interpretieren, als befände man sich noch in der schönsten Harmonie des Positivismus. Man erwartet sozusagen, daß sich die föderalen Konflikte entlang dieser Fächer emporranken werden."

Nach Darlegungen von Entwicklungen in Australien und in der Schweiz traf Lerche zwei Feststellungen: „ 1. Die unitarisch-konzentrischen Kräfte sind stärkstens angewachsen, die Gliedstaaten fügen sich bisweilen nur noch in die Rolle bloßer Kontrapunkte oder gar mehr bürokratischer Bastionen; das alles freilich in vielfältiger Brechung je nach dem Entwicklungsstand der einzelnen Staaten. 2. Als häufig reale Reaktion oder doch als Postulat: Umstellung der Gewichte, Einflußstärkung der Glieder bei der Gesamtwillensbildung als eine der Spezialitäten des cooperative federalism; und zwar bemerkenswerterweise vielfach in jenen Bundesstaaten, die nicht dem mitteleurop eben Typ angehören." Eingehend beschäftigte er sich mit der Legitimation heutiger Bundesstaatlichkeit, wobei er in Übereinstimmung der Tradition des staatspolitischen Denkens in Deutschland erklärte: „Die Prinzipien des gesellschaft-föderalen Denkens haben gewiß eine erstklassige ideengeschichtliche Mächtigkeit erlangt, aber sie sind auf staatlichen Föderalismus nicht übertragbar." Angesichts der Konflikte bundesstaatlicher Ordnungen versicherte er, die föderale Verfassung gebe den Schlichtungsinstanzen eine beherrschende Stellung und betone die Suprematie des Ver-fassungsrechts. In diesem Zusammenhang schlug er vor, die in Bundesstaaten übliche Bezeichnung „Bundestreue“ durch „Bundessinn" zu ersetzen, weil damit das Verständnis der bundesstaatlichen Struktur erleichtert werde.

In seinen „Leitsätzen" artikulierte Lerche seine breit ausgeführten Vorstellungen

Er begann sie, indem er die an die Spitze seiner Ausführungen gestellten Postulate wiederholte: „ 1. Der föderalen Wirklichkeit können weder eine beharrend-statische Konstruktion noch ein materieller Bundesmythos Herr werden; weit eher eine bewegliche Einstellung auf typische Konfliktsituationen. 2. Erneuerter föderaler Doktrinarismus bildet eng auf die gegebene Kompetenzfächerung. Die entscheidenden Konflikte entwickeln sich nach eigenen Gesetzen quer unter diesen Fächern hindurch und verlangen nach formgerechter Begriffsbildung."

In der sich anschließenden Diskussion wurden die beiden Ausführungen, die das Föderalismus-Verständnis der deutschen Staatsrechtslehrer zu Beginn der sechziger Jahre reflektieren, eingehend erörtert. Joseph H. Kaiser brachte vor, Föderalismus als ein Prinzip lerrilorial bestimmter Gliederung eines politischen Ganzen sei in beiden Referaten zurückgetreten zugunsten der Möglichkeit, Föderalismus als ein Strukturprinzip eines funktional gegliederten Ganzen zu verstehen

Gegen die Ausuferung des Begriffs wandte sich Fritz Münch, indem er kritisierte, es sei vom Föderalismus gesprochen worden, ohne den Gegenstand genau zu umreißen: „Jedenfalls sollten wir uns hier auf die staatlichen Aspekte begrenzen und nicht von dem Föderalismus der Gesellschaft im allgemeinen sprechen." Damit bestätigte er, daß es nicht nur einen politischen, sondern auch einen gesellschaftlichen Föderalismus gibt. Er warnte zugleich vor einer Überdehnung des Begriffes des politischen Föderalismus: „Wenn wir im internationalen Bereich von jeder Kooperation der Staaten als vom Föderalismus sprechen und im innerstaatlichen Bereich von jeder Teilnahme irgendwelcher politischer Potenz an der Staatswillensbildung desgleichen, dann sprechen wir vom Föderalismus in einem sehr weiten Sinne, aber das sollten wir m. E. nicht."

Herbert Krüger betonte, „daß der Föderalismus nicht als ein Prinzip mißverstanden werden darf, das auf die Bewältigung organisatorischer Probleme gemünzt ist. Organisatorische Überlegungen können nicht weiterführen als bis zum dezentralisierten Einheitsstaat. Der Bundesstaat hingegen ist mehr und etwas anderes als bloß eine perfekte Lösung von Organisationsfragen: Ihm kommt es darauf an, trotz Verschiedenheiten aller Art, ja gerade aus ihnen staatliche Einheit und staatliche Kraft entstehen zu lassen. Der dezentralisierte Einheitsstaat ist ein Versuch, eine vorgegebene Einheit zweckmäßig zu gliedern und zu verfassen. Der Bundesstaat hingegen unternimmt es, unter sehr komplexen Umständen eine staatliche Einheit erst zustandezubringen. Nicht der dezentralisierte Einheitsstaat, sondern allein der Bundesstaat darf somit dem föderalistischen Prinzip zugerechnet werden."

Da die Diskussion die Frage nach der territorialen oder funktionalen Wirksamkeit des Föderalismus aufgriff, erklärte Ulrich Scheuner: „Das Phänomen des Föderalismus kann niemals allein vom Gesamtstaat her erklärt werden. Eine Auffassung, die ihn nur als eine zweckmäßige Einrichtung vom Standpunkt des Ganzen her ansieht, verletzt bereits das Grundprinzip des Föderalismus. Sie entzieht ihm die historische Legitimation, die er aus dem Bestand der Einzelglieder zieht. Das entscheidende Moment des Föderalismus ist ein historisch-politischer Tatbestand, in dem die Verschiedenheit der Entscheidungszentren vorgegeben — noch gegeben oder schon gegeben — ist.“ Scheuner erklärte im weiteren Verlauf seines Diskussionsbeitrages: „Der Gedanke eines nur funktional zu rechtfertigenden Föderalismus erscheint mir nicht vollziehbar." Zur Begründung sagte er: „Der Sinn des Föderalismus liegt darin, daß er eine gegebene territoriale Gliederung staatsrechtlich zum Ausdruck bringt." Er fügte hinzu: „Für ein föderales Gebilde genügt nicht eine Einheit des Verfahrens, ein Zusammenbleibenwollen, sondern es muß ein gemeinsames nationales Erlebnis, ein historischer Vorgang des Zusammenwachsens hinzutreten. Wo dies Erlebnis noch nicht eingetreten ist, kann man noch nicht von einem föderalen Gebilde sprechen. Das gilt heute etwa im europäischen Bereich, wo dieser Schritt noch nicht vollzogen ist." Scheuner betonte in einer späteren Einlassung: „Das territoriale Element muß sowohl beim Glied wie beim Ganzen gegeben sein. Die Entwicklung in einem Bundesstaat wird in der Regel die sein, daß zunächst das Schwergewicht in der unteren Stufe liegt und erst allmählich auf die höhere Ebene sich verlagert."

Im Laufe der Erörterungen stellte Friedrich Klein die Frage nach den Gründen für die Wahl des Themas. Ihm antwortete Herbert Krüger: „Zweierlei war hierfür bestimmend. Einmal wird . Föderalismus'immer mehr in anderen Kontinenten und für das Völker-leben als eine Lösung empfohlen, die selbst unter zerrissensten und gegensätzlichsten Verhältnissen noch Einheit zu stiften vermag, ohne daß man allerdings dieses Prinzip definierte oder etwas über seine Wirkungsweise sagte. Zum Zweiten haben wir gemeint, daß man in das Wesen eines so wenig greifbaren Gegenstandes nur dann einzudringen vermag, wenn man ihn in seinem ganzen Umfang, d. h. als nationales und als internationales Phänomen in Untersuchung nimmt, und zwar um so mehr, als es sich hierbei offenbar nur um zwei Seiten ein und derselben Sache handelt. Wir sind auch nicht die ersten, die den Föderalismus in solchen Zusammenhängen sehen. Für K. Frantz ist der Föderalismus das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation."

Während Eberhard Menzel sich mit dem Föderalismus als einer Art zweiter Gewaltenteilung beschäftigte und ihn gleichzeitig gegenüber dem Regionalismus abgrenzte, befaßte sich Hans Zacher mit der Rechtfertigung des Föderalismus. Er versicherte, es wäre nicht richtig, den Föderalismus von der Subsidiarität und von der Gewaltenteilung zu lösen: „Der Föderalismus steht im Dienste beider Prinzipien, nur kommt für den Föderalismus, wenn wir nicht jede Gliederung, jede hündische Aufteilung darunter verstehen wollen, etwas Spezifisches hinzu. Dieses Spezifikum ist, daß die Aufteilung sich im Bereich der Staatsmacht bewegt. D. h. also im Vergleich zur sonstigen Gewaltenteilung: Nicht Aufteilung der Organe auf ein und desselben ungeteilten Staatswesens, sondern Aufteilung auf Organe verschiedener Staatseinheiten. Im Vergleich zur sonstigen Subsidiarität: Nicht Aufteilung auf Gemeinschaften schlechthin, sondern Aufteilung auf Gemeinschaften, die Staatscharakter haben. *

In ihren Schlußbemerkungen versuchten die beiden Referenten, Lerche und Bülck, die von ihnen vorgetragenen Thesen zu bekräftigen und zu ergänzen. Lerche erläuterte seine Behandlung des ihm gestellten Themas, wobei er betonte, daß er nicht von einem irgendwie vorgefaßten Föderalismus-Begriff ausgegangen sei Bülck setzte sich mit der in der Diskussion geäußerten Meinung auseinander, daß Föderalismus als internationales Ordnungsprinzip überhaupt nicht existiere. Er vertrat die Auffassung, Klarheit werde man nur dann gewinnen können, „wenn man den Föderalismus als wechselbezügliches System von Einheit Und Vielheit in seiner jeweiligen historischen Verwirklichung sieht“. Die Mißverständnisse führte er darauf zurück, daß die Diskussion in einer spezifischen Abhängigkeit vom staatsrechtlichen Begriff des Föderalismus gestanden habe, und zwar in doppelter Beziehung: „Die deutsche föderalistisch Entwicklung ... war auf den nationalen Bundesstaat ausgerichtet; sie hat die zentralisierende Tendenz gehabt, jenes . zweite Entscheidungszentrum'zu schaffen,... das aus der Idee der nationalen Gemeinschaft seine Kraft und Verfassung gewann. Diese ist offenbar das hier vielfach beschworene regionale Moment, das notwendig sei, damit man von einer hündischen Gemeinsamkeit vom Föderalismus sprechen könne. Die zweite Richtung, in der die Diskussion ... vom Staatsrecht abhängig war, geht auf Proudhon und Konstantin Frantz zurück. Beide sind gegen die Tendenz des Nationalstaates zur Zentralisierung aufgetreten, die bekanntlich in der Französischen Revolution jene Form des nationalen Zentralismus hervorgebracht hat, für den selbst der schwache Föderalismus der Gemäßigten etwas Verwerfliches war, so daß der Name federaliste in Frankreich ein Schimpfwort wurde. Gegen diesen Zentralismus haben sich Proudhon ebenso wie in Deutschland Konstantin Frantz gewandt, um eine Aufgliederung in der Verschiedenheit gegen alle zentralistische Unterdrückung und Gleichmacherei durchzusetzen."

Die Diskussion von 1962 zeigte gegenüber der Debatte von 1924 einen durch substantielle Vertiefung veranlaßten Wandel der Vorstellungen der deutschen Staatsrechtslehrer übet den Föderalismus. In beiden Diskussionen wurde er allein unter staatsrechtlichen Gesichtspunkten betrachtet. 1924 wurde eine an-dere Anwendung des Begriffes in Frage gestellt, 1962 zwar eingeräumt, jedoch nicht behandelt Hartwig Bülck betonte, daß der „Föderalismus geschichtlich gewachsen" sei, und fügte hinzu, so werde man ihn auch in seiner neuen Gestalt begreifen müssen Peter Lerche wies jeden Versuch, den föderativen Gedanken soziologisch zu motivieren und zu interpretieren zurück: „Entgegenzutreten ist aber den Auffüllungen dieses Gedankens aus dem gesellschaftsorganischen Ideengut, etwa in Gestalt des Subsidiaritätsprinzips, oder aus sonstigen Vorstellungen des Primats der kleineren Einheit, die — ideengeschichtlich weit ausgreifend — auch im anglo-amerikanischen, besonders anglikanischen Bereich beheimatet sind.“

Diese Auffassung versteht den Föderalismus eindimensional — politisch und staatsrechtlich. Das föderative Prinzip ist, wie allgemein anerkannt, ein Form-und Strukturelement staatlicher Gesellungen; aber es ist nicht nur dieses allein. Seine Anwendung in den frühen Genossenschaften, seine Erhöhung durch die Föderaltheologie und seine zusammengefaßte Deutung durch Johannes Althusius weisen über das Politische weit hinaus. Es gelangt nicht nur im Politischen wie vor allem die deutschen Staatsrechtslehrer meinen, sondern auch im Gesellschaftlichen zur Anwendung, weil es einer Grundtatsache menschlicher Existenz gerecht zu werden versucht — dem Wunsch nach Einheit und dem Drang nach Freiheit.

2. Die personale Motivation

An den Anfang des die „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft“ behandelnden ersten Bandes seines vierbändigen Werkes „Das deutsche Genossenschaftsrecht" stellte Otto von Gierke die Bemerkung: „Was der Mensch ist, verdankt er der Vereinigung von Mensch und Mensch. Die Möglichkeit, Assoziationen hervorzubringen, die nicht nur die Kraft der gleichzeitig Lebenden erhöhen, sondern vor allem durch ihren die Persönlichkeit des einzelnen überdauernden Bestand die vergangenen Geschlechter mit den kommenden verbinden, gab uns die Möglichkeit der Entwicklung, der Geschichte. Wie sich der Fortschritt der Weltgeschichte unwandelbar vollzieht, so erhebt sich in ununterbrochen aufsteigender Wölbung der erhabene Bau jener organischen Verbände, welche in immer größeren und umfassenderen Kreisen den Zusammenhang alles menschlichen Seins, die Einheit in seiner bunten Mannigfaltigkeit, zur äußeren Erscheinung und Wirksamkeit bringen. Aus der höchsten der das Einzelleben nicht überdauernden Verbindungen, der Ehe, wachsen Familien, Geschlechter, Stämme und Völkerschaften, Gemeinden, Staaten und Staatenverbände in reichhaltiger Abstufung hervor, und für diese Entwicklung läßt sich keine andere Grenze denken, als wenn sich in ferner Zukunft einmal die ganze Menschheit zu einem einzigen organisierten Gemeinwesen zusammenschließen und der Tatsache, daß sie nur die Glieder eines großen Ganzen umfaßt, einen sichtbaren Ausdruck verleihen sollte."

Im Anschluß bemerkte von Gierke, daß der Entwicklung zur Einheit, die er als die eine Seite des gesellschaftlichen Fortschritts bezeichnete, der Gedanke der Freiheit, der Wunsch „des Rechts und der Selbständigkeit aller in der höheren Einheit zusammenströmenden geringeren Einheiten bis herab zum einzelnen Individuum", gegenüberstehe. Den Kampf dieser beiden großen Prinzipien, den Zwang zur Einheit und den Drang zur Freiheit, nannte er „eine der mächtigsten Bewegungen in der Geschichte“. Er fügte — das Ergebnis seiner Untersuchungen vorwegnehmend — hinzu: „Und gleich wie bisher noch alle jene glänzenden Weltreiche zusammengestürzt sind, welche die Einheit über der Freiheit vergaßen, so hat auch kein Volk den Stürmen der Geschichte zu trotzen vermocht, das die Selbständigkeit der Glieder nicht zu Gunsten eines höheren Ganzen zu beschränken verstand." Als Mittel zur Überwindung der Spannungen zwischen der existentiell notwendigen Einheit der Menschen und der in gleicher Weise existentiellen Freiheit des Individuums empfahl von Gierke das Prinzip Föderalismus, dessen Wesen er damit gleichzeitig bestimmte. Vorbehaltlos bejahte er die Zuordnungen des Menschen in Gesellungen und Gruppierungen, die von Natur aus gegeben und notwendig sind, um den Menschen zu erhalten und ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu entfalten. Entschieden verwarf er den Gedanken einer Aufhebung der individuellen Identität, weshalb er der Forderung nach Einheit die Forderung nach Freiheit gegenüberstellte.

Weil der einzelne Mensch seit seinem Auftreten in der Spannung zwischen der Bewahrung seiner Individualität und der Zuordnung zu einer Gemeinschaft, sei sie natürlicher oder freigewählter Form, steht, bedarf er, zum Ausgleich der vorgegebenen Spannungen, eines Form-oder Strukturelements, das seinem immanenten Wunsch nach individueller Identität und seiner gesellschaftlich bedingten Leistung für die Ordnung, in die er hineingeboren wird oder der er sich anschließt, die Waage hält. Der oft zitierte Satz von Aristoteles, der Mensch sei ein politisches Wesen, hat, wie dargelegt, heute doppelte Bedeutung: Die Bemerkung bringt zunächst zum Ausdruck, daß der Mensch, der freie Mensch, der Bürger von Athen Mitglied der Polis war, da der Stadtstaat zunächst ein Personenverbandsstaat war, der alle Einwohner, die die vollberechtigte Mitgliedschaft der Polis besaßen, der Stadt, die zugleich Staat war. Nur wer Bürger einer Stadt war, war ein politisches Lebewesen. Der Stadtstaat und der Polite hatten wechselseitig Rechte und Pflichten. Der Polite, der Bürger der Stadt, hatte sich für die Stadt einzusetzen — in der letzten Vollendung durch Kriegsdienst. Die Stadt wiederum hatte für die Eudaemonia des Politen, für das Glück des Bürgers, bemüht zu sein. Die Beziehungen zwischen dem Bürger und dem Stadtstaat regelte das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Polis. Die Letztgenannte war noch nicht so groß, um nicht überschaubar zu sein, weshalb sie keine Infrastruktur ausbildete. Die Bemerkung meint, staatsphilosophisch interpretiert, daß der Mensch politisch angelegt ist, was bedeutet, daß er sich nicht der Interdependenz zwischen seinem persönlichen Schicksal und dem Schicksal der Gemeinschaft, in die er hineingeboren wurde oder der er sich angeschlossen hat, entziehen kann. Diese Situation besteht nicht nur im autoritären oder totalitären Obrigkeitsstaat, in dem der einzelne der Obrigkeit einen in der deutschen Geschichte unter Bezug auf Römer 13, 1— 6 religiös motivierten Gehorsam schuldig gewesen ist. Auch in der parlamentarischen Demokratie kann der einzelne, trotz seiner politischen Gleichstellung mit allen Bürgern, nicht die Einzelheiten, sondern nur die Richtungen der politischen Entwicklung bestimmen. Das Votum des Wählers ist keine Mitbestimmung an politischen Einzelfragen, die sich in der mittelbaren. Demokratie der Bestimmung durch den Wähler entziehen, weil sie der Entscheidung der von ihm durch Wahl Beauftragten, der Mandatare, überantwortet sind. Die politische Tätigkeit des einzelnen in der mittelbaren Demokratie bleibt, von Mitwirkungen auf den unteren und mittleren Ebenen abgesehen, auf die Abgabe seines Stimmzettels beschränkt. Nur in diesem Augenblick tritt er als Polite, d. h. als verantwortlicher und entscheidungsberechtigter Bürger, in Erscheinung. Dieses Rechtes ist er beraubt in totalitären Staaten, die von der Minderheit einer Herrschaftsschicht, einer Klasse, einer Partei oder einer Gruppe oder von einem einzelnen, einem Diktator oder Tyrannen, regiert werden. In feudalen und totalitären Staaten ist der einzelne politisch entmündigt. Stimmabgaben haben den Charakter formaler Akklamationen. Das Individuum verliert darüber seine politische Identität. Die Massendemokratie neigt mit ihrer systemimmanenten Kollektivierung dazu, das Individuum einem Prozeß der Verallgemeinerung zu unterwerfen, die eine antipersonale Amorphität entscheidend fördert. Dieser Tendenz tritt der Föderalismus mit der Überzeugung entgegen, daß der einzelne Mensch, ungeachtet seiner Herkunft, seines Bildungsgrades und seiner sozialen Stellung, Anspruch hat nicht nur auf materielle und intellektuelle Förderung durch die Gesellschaft, der er seinerseits nützlich werden soll, sondern auch auf die Bewahrung seiner Personalität, der Grundlage seiner individuellen und intellektuellen Entfaltung.

Das Prinzip Föderalismus ist ein Damm gegen die in der pluralistischen Gesellschaft übergroße Gefahr der Egalisierung; es entspringt dem immanenten Wunsch jedes einzelnen Menschen nach Identität und Individualität. So verstanden ist es nicht nur eine Angelegenheit der Staats-, sondern auch der Gesellschaftsordnung, weil es Freiheit und Vielfalt abschirmt und schützt vor den nivellierenden Kräften einer Egalität, die beständig in Gefahr ist, zur Uniformität zu werden. Weil es in erster Linie als eine Staatsstruktur verstanden wird, bleiben seine Schutzfunktionen gegenüber dem Individuum unbeachtet, obwohl sie seinen Wert in Wirtschafts-und Gesellschaftsstrukturen, die aufgrund technisch bedingter Konzentration zur Entindividualisierung neigen, bestimmen. Der Mensch als einzelner kann sich gegenüber und in der Masse nur beB haupten, wenn Institutionen vorhanden und so geordnet sind, daß sie ihn vor einer Gleichschaltung, einer personalen Gesichtslosigkeit, bewahren. Dem Föderalismus ist diese Fähigkeit eigen, weshalb er sowohl dem Drang des einzelnen nach Behauptung seiner Person als auch dem Bedürfnis der Gemeinschaft nach Einordnung des Individuums gerecht wird. Diese Ausgleichsfunktion in den interaktionären Beziehungen ist bisher nicht oder nur zu wenig gesehen worden, da alle Bemühungen um einen philosophischen Unter-oder überbau des politischen Elements Föderalismus als sachlich nicht bedingte Ideologisierung betrachtet worden sind.

Die im Föderalismus vorhandenen ausgleichenden Kräfte sind für gesellschaftliche Integrationen bisher noch nicht voll erkannt worden. In dem Maße der Vergesellschaftung des Staates dürfte ihnen jedoch wachsende Bedeutung zukommen, da sie fähig sind, die Spannungen zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft zwar nicht zu beseitigen, wohl aber abzuschwächen, so daß ein ständiger independaler Ausgleich möglich ist, an dem Individuum und Gesellschaft in gleicher Weise partizipieren. Diese Eigenschaft stellt die unterschiedlich beantwortete Frage nach dem Verhältnis des Föderalismus zum Subsidiaritätsprinzip.

3. Subsidiaritätsprinzip und föderatives Prinzip

Föderalismus lebt aus Subsidiarität. Die Formulierung eines eigenen Subsidiaritätsprinzips entsprang der Unkenntnis oder dem mangelhaften Verständnis des Föderalismus. Zahlreiche Überlegungen über die Beziehungen zwischen Föderalismus und Subsidiarität gehen deshalb von der Vorstellung aus, daß Subsidiarität ein autonomes Prinzip ist, das als solches in eine Relation zu dem auf den politischen Bereich beschränkten Prinzip Föderalismus tritt.

Das Subsidiaritätsprinzip hat Papst Pius XI. 1931 in seiner Enzyklika „Quadragesimo anno“ in allgemein gültiger Weise formuliert. Die entsprechende Stelle lautet: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozial-körpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen."

In der Formulierung fällt auf, daß vom Einzel-mensch und von der Gesellschaft, nicht aber vom Bürger und vom Staat die Rede ist. Diese Unterscheidung wird von denen, die das Subsidiaritätsprinzip zur ideologischen Abstützung des politischen Föderalismus in Anspruch nehmen, verwischt; sie vertreten die Auffassung, die Forderungen an die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft gelten in gleicher Weise für die Beziehungen zwischen Individuum und Staat. Die darüber aufgekommene Meinungsverschiedenheit ist bisher nicht ausgetragen worden. Staatsrechtslehrer und Politiker lehnen, wie dargelegt, die Inanspruchnahme des Subsidiaritätsprinzips für den Föderalismus ab; ideologisch bestimmte Föderalisten vertreten sie z. T. leidenschaftlich.

Die Formulierung des Subsidiaritätsprinzips erfolgte in einer päpstlichen Kundgebung, die sich mit den Problemen der Massengesellschaft in einem Augenblick ihrer tiefen Erschütterung im wirtschaftlichen Katastrophenjahr 1931 befaßte. Sie wollte angesichts der immer deutlicher in Erscheinung tretenden Vermasssung den einzelnen in Schutz nehmen.

Das Subsidiaritätsprinzip ist seinem Ursprung, seiner Absicht und seiner Zielsetzung nach ein Prinzip der Gesellschaftsordnung. Es stellt, wie H. E. Hengstenberg in seiner Studie „Philosophische Begründung des Subsidiaritätsprinzips" ausführt, „eine Forderung auf, nach der die Gesellschaft aufgebaut werden soll. Es trägt normativen Charakter. Als solches setzt es bei seiner Durchführung die personale Freiheit des Gesellschaftsträgers voraus und unterscheidet sich somit wesentlich vom Naturgesetz, das notwendig und zwingend wirkt. Normen bedürfen der Begründung, wenn sie nicht leere Imperative und subjektive Setzungen bleiben sollen. Die Begründung aber kann im letzten nur eine metaphysische sein: das heißt, es muß nadigewiesen werden, daß die Norm evidenter Weise aus dem Sein dessen abgeleitet werden kann, auf das sie angewandt werden soll. Das Sein ist... das Sein des Sozialen, der sozialen Gesamtwirklichkeit". Von dieser Überlegung ausgehend erklärt Hengstenberg, das Subsidiaritätsprinzip besage, „daß jeder Lebens-und Rechtskreis alle Aufgaben in eigener Vollmacht und Initiative leisten soll, die er aus seinem Wesen und Wirklichsein zu leisten fähig ist, daß aber der jeweils (verwaltungsmäßig) übergeordnete Lebens-und Rechtskreis nur da einzugreifen hat, wo der (verwaltungsmäßig) untergeordnete Kreis die betreffende Aufgabe nicht lösen kann oder will. Das Prinzip der Subsidiarität ist also ein Prinzip der Zuständigkeit und verweist damit eindeutig in die Sphäre des Rechts, und zwar des Naturrechts, das seinerseits wieder metaphysischen Ursprungs ist."

In seinen nachfolgenden Ausführungen behandelt Hengstenberg 1. die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft, 2. die Rangordnung der öffentlich-rechtlich bedeutsamen Gesellung und 3. das Subsidiäritätsprinzip als Ausdruck der Rangordnung unter den Gesellungen. Bei der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft bezieht er sich auf die entsprechende Distinktion von Ferdinand Tönnies. Gemeinschaft bestimmt er als „die dauernde Verbundenheit von Personen in einem gemeinsamen Werte, in welchem zugleich die einzelnen Personen ihre Vollendung erfahren". Gesellschaft definiert er als „die dauernde Verbundenheit von Personen zu einem gemeinsamen Ziele, das relativ indifferent zur Vollkommenheit der beteiligten Personen ist". Er unterscheidet zwischen reinen Gemeinschaften, reinen Gesellschaften und gemischten Gesellungen. Bei dem Versuch, eine Rangordnung der öffentlich-rechtlich bedeutsamen Gesellungen aufzustellen, geht er von folgender Prämisse aus: „Die Gesellungen mit dem größten gemeinschaftlichen Bauplan haben den höchsten, die mit dem geringsten Gemeinschaftseinschlag den niedersten Rang." Eine Erörterung des Problems der Rangordnung hält er nicht für angezeigt, den Vorrang der Gemeinschaft vor der Gesellschaft versteht er metaphysisch begründet, versichert jedoch, daß die Rangordnung nicht als Wert-ordnung verstanden werden kann. Auf der Grundlage dieses Verständnisses von Gemeinschäft und Gesellschaft interpretiert er das Subsidiaritätsprinzip, das Gesetz der Rang. Ordnungen in den Gesellungen, die sich 2 nach seiner Überzeugung — aus dem Vorrang der Gemeinschaft vor der Gesellschaft ableiten.

Als Resultat konstatiert er die Auffassung daß das Verhältnis der verwaltungsmäßig übergeordneten Instanz zu der jeweils untergeordneten Instanz immer nur subsidiär ist Die übergeordnete Instanz hat nach Hengsten-berg Hilfe zu leisten im doppelten Sinn: » 1. Sie übernimmt die Funktion, die die untergeordnete gemeinschaftlichere Instanz wesensmäßig nicht erfüllen kann (z. B.der Staat im Hinblick auf die Außenpolitik gegenüber den Ländern). 2. Sie hat dafür zu sorgen, daß die untergeordnete Instanz in Lage bleibt oder wieder in die Lage versetzt wird, wesenseigene Funktionen zu erfüllen.“ Mit Nachdruck fügt er hinzu: „Der zweite Gesichtspunkt ist der grundsätzlichere, denn er zeigt, daß die übergeordnete Instanz nur dann ihren Sinn erfüllt, wenn sie dafür sorgt, daß die untergeordnete zu vollem Selbststand, Leben und zu voller Funktion gelangt."

Als Ergebnis seiner Darlegung formuliert er: „Das Subsidiaritätsprinzip gründet also letztlich auf dem metaphysischen Vorrang der Gemeinschaft vor der Gesellschaft. In der Gemeinschaft allein erfüllt sich die Wesensnatur des Menschen. Die Gesellschaft ist nur subsidiär. Sie hat dafür zu sorgen, daß die Gemeinschaft Leben und ihr Wesensgesetz erfüllen kann. Sie hat Umwelt und Terrain für die Gemeinschaft zu klären und zu sichern, so wie in pflanzlichen Organismus die Borke die eigentlich lebenführenden Schichten schützt. Diese Rangordnung ist absolut."

Da er das Subsidiaritätsprinzip als naturrecht-lieh gegeben betrachtet, lehnt er ab, es als eine bloß opportunistische Verwaltungsmaßnahme zu definieren. In diesem Verständnis sieht er den Grund dafür, daß Papst Pius XI. in seiner Enzyklika „Quadragesimo anno'sagt, es sei gegen die Gerechtigkeit, wenn eine übergeordnete Instanz Funktionen übernehme, die die untergeordnete leisten könnte. Dieses Verständnis des Subsidiaritätsprinzips vergleicht er anschließend mit den anderen Leitsätzen der Sozialordnung, wobei er die Beziehungen zwischen dem Subsidiaritätsprinzip und dem Föderalismus anspricht: „Ähnlich wie das Subsidiaritätsprinzip über die naturrecht liehe Zuständigkeit der Gesellungen im Auf bau von unten nach oben, also in der Vertikalen, herrscht, so auch das föderative Prinzip.

Das föderative Prinzip unterscheidet sich aber dadurch von erstgenanntem, daß es mehr die Genese, die Bildung der Gesellungen und ihrer sozialen Gefüge untereinander bestimmt.

Föderation bedeutet Bund. Was sich verbündet, das sind, unten angefangen, die einzelnen Glieder und dann die Gesellungen untereinander. Das Ergebnis eines solchen Bundes ist die Wahl eines übergeordneten Organes, das dann den Kristallisationskern der neuen, (verwaltungsmäßig) übergeordneten Gesellung gibt. Organe gibt es nur in solchen Gesellungen, die zumindest ein Minimum von gesellschaftlichem Einschlag haben, die reine Gemeinschaft bedarf keiner repräsentativen Organe und Autoritätspersonen. Bei der Föderation werden solche Organe beim konstitutiven freien Zusammentritt der Glieder oder Gliedgesellungen gewählt, so daß auch hier der Aufbau von unten nach oben deutlich wird.

Das föderative Prinzip besagt also . konstitutive freiwillige Bindung der Glieder oder Gliedgesellungen'und zugleich , Wahl des Organes im Hinblick auf die Glieder oder Gliedgesellungen'.“ Hengstenberg fügt hinzu, daß das föderative Prinzip nur anwendbar ist bei Gesellungen von einer Stufe der Gesellschaftlichkeit, die Wahl zuläßt. In der Familie sei es z. B. unmöglich, davon zu reden. Das föderative Prinzip könne daher nicht allein, sondern nur in Verbindung mit anderen Sozialprinzipien zum Aufbau der gesunden Sozialordnung verwendet werden. Wegen der von ihm vorgenommenen Abgrenzungen erklärt er: „In unserem Zusammenhang ist es wesentlich, daß das föderative Prinzip bereits das Subsidiaritätsprinzip einschließt und voraussetzt. Das erstere ist das materialere, das zweite das formalere Prinzip. Das Subsidiaritätsprinzip läßt sich auf das Verhältnis jedweder Gesellungen, die im Rang unterschieden sind, anwenden. Das föderative Prinzip gilt nur für einen bestimmten Ausschnitt.“

Innerhalb des föderativen Prinzips nimmt er eine Unterscheidung vor, indem er vom föderativen Prinzip im strengen und im erweiterten Sinn spricht. Das föderative Prinzip im strengen Sinn sieht er nur innerhalb der homogenen Stufenbauten Stand und Land, also dort, wo die verhältnismäßig niedere Einheit tatsächlich von der verwaltungsmäßig höheren umschlossen ist, „wo ein Einschlußverhältnis vorliegt". Innerhalb des Staates bzw.der Staatsgründung könne aber schon nur noch in einem abgewandelten Sinn von Föderation gesprochen werden. Das erweiterte Verständnis des föderativen Elements sieht er in zwei Bereichen, in der homogenen Staatsordnung und in einem heterogenen Zusammenschluß. Unausgesprochen versteht er den Bundesstaat als die homogene Föderation, während er eine Europa-Föderation oder eine Welt-Föderation als eine heterogene Vereinigung betrachtet. Er ist der Auffassung, daß überall, wo das föderative Prinzip zur Anwendung gelangt, das Subsidiaritätsprinzip praktiziert wird. Diese Voraussetzung ist nach seiner Auffassung nicht wechselseitig bedingt: „Wo das föderative Prinzip in Auswirkung steht, da tut es a fortiori das Subsidiaritätsprinzip. Aber wo das Subsidiaritätsprinzip herrscht, braucht es noch längst nicht das föderative Prinzip zu tun."

Diese für eine bestimmte Beurteilung der Wechselbeziehungen zwischen beiden Prinzipien beispielhafte Auffassung bedeutet, daß das Subsidiaritätsprinzip im föderativen Prinzip immanent ist, der Föderalismus jedoch keine zwingende Konsequenz des Subsidiaritätsprinzips ist. Diese Unterscheidung ist notwendig, weil das philosophische Föderalismus-Verständnis die Beziehungen zum Subsidiaritätsprinzip bisweilen manipuliert; im Föderalismus werde immer, ob bewußt oder unbewußt, ausgesprochen oder nicht ausgesprochen, interpretiert oder nicht interpretiert, das Element der Subsidiarität wirksam; dieses wiederum führe nicht zwangsläufig zum politisch-verfassungsrechtlichen Föderalismus.

Die Tatsache, daß das in der Natur des Menschen und in der Rangordnung der Gemeinschaft vor der Gesellschaft angelegte Subsidiaritätsprinzip naturrechtlich begründet wird, hat seine allgemeine Durchsetzung nicht nur bei Gegnern und Kritikern des Naturrechts erschwert. Diese weiten, vor allem wenn sie darauf verzichten, sich über den Charakter der Beziehungen zwischen dem Subsidiaritätsprinzip und dem föderativen Prinzip Rechenschaft zu geben, ihre Aversion gegen das Naturrecht aus — sowohl auf das Subsidiaritätsprinzip als auch auf das föderative Prinzip.

Die Diskussion über das Verhältnis zwischen dem Subsidiaritätsprinzip und dem föderativen Prinzip ist noch nicht abgeschlossen. Os-wald von Nell-Breuning, ein katholischer Theologe, verwirft die Ansicht, daß die katholische Staatsrechtslehre, die auf das Subsidiaritäts-prinzip festgelegt ist, den Föderalismus als staatsrechtliche Grundsatzforderung postulieren muß, weil, wie er betont „das, worum es geht, nämlich die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips, als des . obersten sozialphilosophischen Grundsatzes, an dem nicht zu rütteln ist', sich auch auf den anderen verfassungsund gesetzestechnischen Wegen bewerkstelligen läßt. Auch im Einheitsstaat kann durch volle Entfaltung der gemeindlichen (gemeindeverbandlichen und zweckverbandlichen) Selbstverwaltung und durch Ausbau einer echten leistungsgemeinschaftlichen (berufsständischen) Ordnung das Lebensrecht der kleineren Lebenskreise als voll und ganz gewährleistet sein".

In seinen weiteren Ausführungen bemerkt Nell-Breuning: „Föderalismus im staatsrechtlichen Sinn erfordert die sorgfältige Einhaltung der Grenzen, bei deren Erreichung die echte Staatlichkeit entweder des Oberstaates oder der Gliedstaaten verloren geht, womit der Staat unitarisch geworden wäre. Für den Föderalismus im gesellschaftswissenschaftlichen Sinn ist dieser Punkt mehr oder weniger belanglos, denn für ihn hat der Begriff , Staat'gar nicht jene scharfe Prägung, in der die neuere Staatsrechtswissenschaft ihn zu verwenden gewohnt ist. Für diese neuere Staats-rechtswissenschaft ist die zwei-oder mehrstöckige Staatlichkeit föderalistischer Staaten schwer zu verarbeiten. Es bedeutet für sie keine geringe begriffliche Schwierigkeit, Ober-staat oder Gliedstaaten an der begrifflich unteilbaren Staatlichkeit teilnehmen zu lassen.“

Dieser Ansicht stellt Nell-Breuning eine Analyse der zweiten Form des föderativen Prinzips gegenüber: „Für den gesellschaftswissenschaftlichen Föderalismus dagegen liegt darin nicht die allermindeste Schwierigkeit. Im Gegenteil, ihm ist es gerade natürlich, die Staatlichkeit vielstufig zu sehen. Von den vielfältig übereinander geschichteten öffentlichen Gemeinwesen mag eines sich durch besondere Verdichtung seiner rechtlichen Machtfülle herausheben; dieses wäre dann im vorzüglichen Sinn , Staat'. Aber auch die unmittelbar niederen und höheren Stufen ermangeln darum nicht der Staatlichkeit. Sie eignet ihnen nur in anderer, darum nicht notwendig niederer Weise.“

Zusammenfassend erklärt Nell-Breuning: „Der Föderalismus im sozialphilosophischen Sinn ist der Gegenspieler und Widersacher des überspannten Bodinschen Souveränitätsbegriffs und damit zugleich der Staatsraison, ebensosehr aber des staatlichen Rechtsmonopolismus und damit praktisch des Rechtsposi. tivismus schlechthin. Indem er auf der ganzen Ebene restlos ernst machen will mit dem Recht der kleineren Lebenskreise aus echt genossenschaftlichem Denken heraus, ebensosehr aber mit dem Rechtsgedanken der Einheit des Menschengeschlechts, steht er im Gegensatz nicht so sehr zum staatlichen Unitarismus, der ihm nur der ungeordneten Hinneigung zum Zentralismus verdächtig ist, als vielmehr zum Kollektivismus, Totalitarismus und Zentralismus, wo und wie immer sie sich zeigen mögen, an erster Stelle zum staatlichen Kollektivismus, Totalitarismus und Zentralismus."

Während Oswald von Nell-Breuning nachdrücklich zwischen Föderalismus im staatsrechtlichen Sinn und Föderalismus im sozial-philosophischen Sinn unterscheidet, befürwortet Emil Brunner, ein reformierter Theologe, in seiner 1943 veröffentlichten Studie „Gerechtigkeit. Eine Lehre von den Grundgesetzen der Gesellschaftsordnung" die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips im Staatsaufbau: „Je weiter der Kreis, desto unpersönlicher ist die Gemeinschaft, desto abstrakter, desto entfernter vom persönlichen Sinn des Lebens seine . Sache'. Jeder weitere Kreis wird gebildet, weil der engere einer bestimmten sich aufdrängenden Aufgabe nicht gewachsen ist. Die Erweiterung ist immer das Zuhilfenehmen anderer für ein Werk, das die Kraft des einzelnen und der kleinen Gruppe übersteigt. Die Erweiterung erfolgt also nach Maßgabe der umfassenderen sachlichen und zugleich äußerlicheren, personenfremderen Aufgabe. Nur beim Staat kommt zur Weite noch ein anderes Moment hinzu: das Monopol der Gewalt bis zum Grenzfall der Tötungsgewalt. Das gefährliche Element: Gewalt, Machtmittel, wird gleichsam aus den inneren Gemeinschaftskreisen ausgetrieben und im äußersten Kreis gesammelt. Der Staat ist der mit dem Gewalt-monopol versehene weiteste, umfassendste Organisationskreis. Seine legitime Funktion ist darum einzig in diesen beiden Merkmalen, die ihn von den anderen Gemeinschaftsformen unterscheiden, begründet: in der Umfassung aller anderen und in der Zwangsgewalt. Der Staat soll nur das tun, was er allein tun kann vermöge dessen, daß er die umfassendste und die mit Zwangsgewalt ausgestattete Organisationsform ist. Je lebendiger das menschliche Leben, je kräftiger die Personen und die engeren, persönlicheren Gemeinschaften sind, desto weniger Aufgaben müssen dem Staat übertragen werden, desto mehr von diesen Aufgaben erfüllen die vorstaatlichen Gemeinschaften selbst. Es bleiben dem Staat nur die Aufgaben übrig, für die die anderen Gemeinschaften zu klein sind, und diejenigen, die sich aus der mangelnden Freiwilligkeit und aus den lebenstörenden, gemeinschaftsfeindlichen, anarchistischen Tendenzen, die im Menschen vorhanden sind, ergeben."

Brunner stellt dem „föderativen, organischen Bild der Ordnung der Ordnungen" den „totalen Staat“ entgegen, über dessen Entwicklung er bemerkt: „Der totale Staat ist nicht erst 1917 oder 1922 oder 1933 entstanden; er ist langsam aus dem modernen Begriff der Staatssouveränität und aus dem Versagen der einzelnen und der Gemeinschaften geworden, das seinerseits im Schwinden der christlichen Substanz seinen tiefsten Grund hat. Je mehr die Familien und Gemeinden versagen, desto mehr muß der Staat tun. Der Staat wird zum . Mädchen für alles'. Für alles wird er zu Hilfe gerufen, weil nicht freiwillig getan wird, was getan werden sollte. Die Überlastung des Staates mit Aufgaben entspricht genau dem Zerfall der vorstaatlichen Gemeinschaftsordnungen, der Strukturlosigkeit der menschlichen Gesellschaft. An die Stelle der natürlichen, gewachsenen, freiwilligen Struktur tritt dann, notwendig, die künstliche, mit Zwang durchsetzte Struktur des Staates, die von oben nach unten, vom umfassendsten zum kleinsten Kreis und zum einzelnen geht. Es entsteht der zentralistische Staat der Neuzeit, der mit seinen künstlichen Organisationsformen, mit seinen Departementen, Distrikten und Scheingemeinden den leeren Raum zwischen der zentralen Staatsgewalt und dem einzelnen Menschen ausfüllt — mit Gebilden, die kein Eigenleben haben, die nur Verwaltungseinheiten des Staates sind. Es entsteht der Staat, welcher der Ersatz für die verlorene Volksgemeinschaft und als solcher die letzte, unmittelbare Vorstufe des totalen Staates ist. Der Schritt von diesem zentralistischen zum totalen Staat entsteht durch die Abschaffung der Selbständigkeit des einzelnen, durch die Nichtanerkennung von ursprünglichen Menschenrechten, nachdem schon vorher die vorstaatlichen Gemeinschaften ihr Leben und ihre Würde verloren haben."

Warnend beschließt Brunner sein Plädoyer mit einem Hinweis auf eine Alternative: „Totalstaat oder Aufbau, Föderalismus — das ist das Zentralproblem der Gerechtigkeit für unsere Tage. Es ist aber notwendig, daß man es in seiner Tiefe verstehe, und das heißt so, daß man imstande ist, die Entwicklung zum totalen Staat auch in den Staaten und Völkern zu erkennen, die sich als Demokratien gegen die Krankheit des totalen Staates immun glauben. Keine Staatsform macht gegen den totalen Staat immun; denn der totale Staat hat mit Staatsform nichts zu tun. Er ist die Allstaatlichkeif, die Verstaatlichung des Lebens, die nur durch Entmächtigung der vorstaatlichen Lebensformen und der einzelnen möglich ist." Diese Auffassungen erklären, warum Brunner an den Anfang seines Kapitels „Der gerechte Aufbau der Ordnungen" die Überzeugung stellt: „Der Föderalismus ist der gerechte Aufbau der Ordnungen, nämlich der Aufbau von unten. Das ist die Schöpfungsordnung. Alle Ordnungen sind um des Menschen willen, und nie ist der Mensch um der Ordnungen willen. Beim einzelnen Menschen ist darum anzufangen."

Die Auffassung Brunners stellt die Unterscheidung, die Nell-Breuning getroffen hat, nicht in Frage: Subsidiaritätsprinzip und föderatives Prinzip sind keine austauschbaren Bezeichnungen, sie stehen in einem unterschiedlich interpretierbaren und interpretierten Verhältnis zueinander. Zu dieser Auffassung gelangt auch Hans Stadler in seiner Untersuchung „Subsidiaritätsprinzip und Föderalismus. Ein Beitrag zum schweizerischen Staatsrecht", in der er vor allem auf das Verhältnis des aus dem genossenschaftlichen Prinzip heraus entwickelten Schweizer Föderalismus zum Subsidiaritätsprinzip eingeht. Er macht zwar auf die grundsätzlich verschiedenen Ausgangspunkte aufmerksam, räumt jedoch ein, daß bei einem Versuch der Einordnung der schweizerischen föderalistischen Idee in das naturrechtliche Denken sich eine sinnvolle Ergänzung der Lehre vom Subsidiaritätsprinzip anbietet: „Zum ersten muß die Geschichte berücksichtigt werden, sie kann eine materielle Determination der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips bewirken. Der in der hündischen Staatsgestaltung tätige politische Wille dagegen vermag in formeller Hinsicht die Gemeinschaften und ihren Wirkungsbereich näher zu bestimmen. Die politische Begründung des Föderalismus hinwieder läßt sich auf den naturrechtlichen Gedanken des Gemeinwohles als Norm der Politik zurückführen. Auch hier ist also auf indirektem Weg eine Legitimierung der Kantone vom Naturrecht her möglich. Der staats-theoretische Föderalismus besitzt die engste Berührung mit der Subsidiaritätslehre, ergibt aber zugleich die stärkste Relativierung der Stellung der Kantone.“

Bei einer Konfrontation des föderativen Prinzips und des Subsidiaritätsprinzips kommt Stadler zu dem Ergebnis: „Aufs Ganze gesehen bringt die föderalistische Gedankenwelt eine wertvolle Bereicherung für die Subsidiaritätslehre. Ihr Wesen liegt auf dem Gebiet der Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips. Sie liefert gewissermaßen sekundäre Anwendungsnormen.“ In bezug auf die Schweiz bemerkt er: „Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet seinerseits eine Bereicherung der föderalistischen Idee. Es schenkt ihr eine philosophische Vertiefung, indem es das schweizerische Staatsdenken mit einer jahrhundertealten Lehrtradition in Verbindung bringt."

Die meisten wissenschaftlichen Autoren anerkennen zwar Beziehungen und Zuordnungen zwischen Subsidiaritätslehre und Föderalismus, lehnen jedoch eine Identifikation von beiden ab. Grundsätzlich stellen sie die Interdependenz zwischen Subsidiaritätsprinzip und Föderalismus nicht in Frage, vertreten jedoch unterschiedliche Auffassungen über die Graduierungen. Johannes Messner ist der Ansicht daß die Subsidiaritätslehre als eine mögliche Grundlage einer Philosophie des Föderalismus angesehen werden kann. Indem das Subsidiaritätsprinzip die Kompetenz von unten nach oben als ein Postulat der Gerechtigkeit erhebe errichte es Barrieren zum Schutz nicht nur des Individuums, sondern auch der unteren Einheit, weil es deren Priorität als eine unabdingbare Voraussetzung des Staatsaufbaues bezeichne. Das Urteil darüber sei nicht nur eine Frage des Standpunktes gegenüber dem Föderalismus

Wer das föderative Prinzip primär historisch versteht, wird seine Begründung aus der dargelegten geschichtlichen Entwicklung heraus für ausreichend erachten, weil sie auch seine philosophische Begründung einschließt. Wer es als eine philosophische Prämisse gesellschaftlicher Existenz betrachtet, wird den von ihm gewährleisteten Schutz des Individuums vor einer Vermassung in den Vordergrund stellen. Wer es als Ausfluß des Naturrechts begreift, wird es als eine Konsequenz des Subsidiaritätsprinzips ansehen. Die Auffassungen haben noch nicht den Grad der Annäherung erreicht, der von einer Übereinstimmung sprechen läßt, denn dazu ist die wissenschaftliche und publizistische Beschäftigung mit dem Föderalismus bisher zu einseitig gewesen.

4. Voraussetzungen und Möglichkeiten des Föderalismus in der Gesellschaft

Der Mensch verdankt, wie Otto von Gierke ausgeführt hat, das, was er ist, der Vereinigung von Mensch und Mensch. Das Individuum bedarf jedoch, will es bei der Vereinigung mit anderen Individuen nicht untergehen, einer Sicherung, die durch die Struktur der Gesellschaft gegeben werden muß. Diese kann, wie der Ablauf der Geschichte beweist, sehr unterschiedlicher Natur sein. Hegel hat die allseitige Bedingtheit der geistigen Entfaltung des Einzelmenschen durch sein Eingewurzeltsein in die gesellschaftliche Geistigkeit sichtbar gemacht, womit er die Auffassung des philosophischen Rationalismus der Aufklärung widerlegt hat, daß der Mensch ganz auf sich selbst und seine Vernunft gestellt ist. Inzwischen bestehen keine Mei-nungsverschiedenheiten mehr darüber, wie weitgehend der Mensch intellektuell bestimmt wird durch die „gesellschaftliche Tradition, die überlieferte Erfahrungs-und Wissenswelt, die Vorstellungs-und Denkweisen, Welt-und Rechtsüberzeugungen, Sitten und Handlungen, die in ihrer Gesamtheit in der Kultur einer Gesellschaft als Lebensform wirksam sind.“

Der Mensch wird nur in der und durch die Gesellschaft zum Menschen, weil er nur durch die gesellschaftliche Ergänzung zur vollen Entfaltung seines Wesens gelangen kann. Die Bewahrung der Individualität des Menschen hängt von der Struktur der Gesellschaft ab. Die individualistische Gesellschaftslehre bestimmt die Gesellschaft als Organisation für selbst-gewählte Zwecke, vor allem zur Sicherung des Bereiches von Freiheit für den einzelnen, der mit der Freiheit aller vereinbar ist. Die kollektivistische Gesellschaftslehre sieht die Gesellschaft von bürokratisch evolutionären oder ökonomisch revolutionären Formkräften bestimmt; der Mensch kann als Individuum an Selbstbestimmung nur beanspruchen, was die Gesellschaft ihm zugesteht.

Mit diesen Definitionen werden noch keine Aussagen, wohl aber Vorentscheidungen über den Aufbau und die Gliederung der Gesellschaft getroffen. Bereits in der Bezeichnung Aufbau kommt zum Ausdruck, daß die Struktur der Gesellschaft unter unterschiedlichen Blickrichtungen betrachtet werden kann. Die eine versteht die Gesellschaft als die Verbindung oder das Bündnis kleinerer gesellschaftlicher Einheiten und als eine Vereinigung zu einem größeren Ganzen unter Beibehaltung relativer Autonomie; sie wird als föderativ bezeichnet. Die andere geht von den übergeordneten größeren gesellschaftlichen Einheiten zu den kleineren; sie wird als korporativ bestimmt, weil sie die Verzweigung der Gesellschaft in kleinere Gesellschaftskörper nachweist.

Beiden Prinzipien gemeinsam ist die Über-zeugung, daß die Gesellschaft keine einfache, sondern eine zusammengesetzte Einheit ist. Sie unterscheiden sich dadurch von der kollektivistischen Gesellschaftsauffassung, die die Gesellschaft als eine ungeteilte und unteilbare Einheit versteht, die den Wert des Individuums nach einem ökonomisch sozietären Beitrag bewertet. Auf die Bedeutung der Gesellschaftsstrukturen hat der Rechtslehrer Rudolf von Ihering hingewiesen, indem er zu bedenken gegeben hat: „Die Gesellschaft ist die tatsächliche Organisation des Lebens für und durch andere und -— da der einzelne, was er ist, nur durch andere ist — die Form des menschlichen Lebens überhaupt."

So unbestritten es ist, daß nur ein Gesellschaftsaufbau von unten nach oben dem Prinzip Föderalismus gerecht wird, so anfechtbar ist der immer wieder unternommene Versuch, den Föderalismus für den Universalismus zu reklamieren, wie es in Fortsetzung der politischen Romantik in den zwanziger Jahren — zum Schaden des Föderalismus — geschehen ist. Der historische Universalismus versteht den Staat als ein Höchstes über einem Gan-zen, nämlich dem lebendigen Volke thronend: „Das Ganze, dessen höchste Form der Zusammenfassung der Staat ist, beruht auf einer geistigen Gemeinschaft, die ihrerseits wieder ihre blutsmäßige und geschichtliche Grundlage hat. Boden, Blut und Schicksal sind der Schmelztiegel, aus welchem das geistig geformte Volk heraussteigt. Fichte nennt ein Volk , das ganze der in der Gesellschaft miteinander fortlebenden und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besonderen Gesetz der Entwicklung des möglichen aus ihm steht'. Volk ist also die stärkste methaphysische Gebundenheit des einzelnen auf Erden."

Der so interpretierte Universalismus ist durch die Entwicklung des 20. Jahrhunderts nicht nur in Frage gestellt, sondern widerlegt worden. Niemand kann deshalb den sozietären Föderalismus als Ausdruck des Universalismus erklären — niemand kann auch nicht den so bestimmten Universalismus und den Föderalismus zu einer Identifikation zwingen.

Dem Universalismus stellen seine Anhänger den Individualismus gegenüber. Nach der Charakteristik von Othmar Spann betrachten sie den Staat nur als Anhängsel des einzelnen. Sie räumen zwar ein, daß der Individualismus dem einzelnen die größtmöglichste Entfaltung erlaube, sehen darin jedoch eine Benachteiligung der ihm übergeordneten Gemeinschaft, vornehmlich des Staates, weshalb sie ihn ablehnen. Die Konsequenz dieser Beurteilung ist die Verwerfung des Gleichheitsgrundsatzes, durch den sie jede Gliederung und jedes Gefüge des Staates in Frage gestellt sehen. Da in der Kontroverse zwischen mechanischer und organischer Staatauffassungen die Verfechter der organischen Staatslehre, die sich fast ausnahmslos zum Universalismus bekennen, den Föderalismus für sich in Anspruch nehmen, ist dieser nicht nur ideologisch verdächtig geworden, er hat darüber auch seine Wert-freiheit, die Voraussetzung seiner Anwendung als Form-und Strukturprinzip, verloren.

Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, die von Staatsrechtslehrern in der Regel nicht aufgegriffen wird, weil sie den Föderalismus ausschließlich staatsrechtlich verstehen, ob der Föderalismus ein Element der Gesellschaftsordnung ist oder sein kann. Die Antwort darauf muß über zahlreiche ideologische Barrieren hinwegsehen und vom Wesen des Föderalismus ausgehen. Seine dargelegte geschichtliche Determination weist ihn vor allem, jedoch nicht ausschließlich, dem politischen Bereich zu — ein Umstand, der seinen Gebrauch in der Gesellschaftslehre jedoch nicht ausschließt. Deren Hauptthema ist das Verhältnis zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft, das durch drei Grundformen geregelt werden kann: Durch das Übergewicht des Individuums, durch das Übergewicht der Gesellschaft oder durch einen beständigen Ausgleich zwischen Individuum und Gesellschaft. Wie im Staatsrecht der Föderalismus nicht die Präponderanz des Teiles vor dem Ganzen fordert, jedoch auch die bedingungslose Subordination des Teiles unter die Zentrale ablehnt, so begünstigt der Föderalismus in der Gesellschaftsstruktur die Bewahrung des einzelnen, ohne die Interessen der Gesellschaft zu verneinen. Er kann, im Politischen wie im Gesellschaftlichen, Form-und Strukturelement sein, eine Scharnierfunktion zwischen den Extremen der Organisationsformen und der Betrachtungsweisen ausüben.

Die Struktur der Gesellschaft ist ebenso starken Wandlungen unterworfen wie die Struktur des Staates. Ihre Veränderungen bestimmen auch die Gegebenheiten des Föderalismus, der deshalb sowohl in ständisch geordneten als auch in vom Gleichheitsprinzip bestimmten Gesellschaften möglich und nachweisbar ist. Das allgemein gültige Kriterium ist — wie im staatsrechtlichen Bereich — die Frage, ob zwischen Individuum und Gesellschaft ein ständiger Ausgleich erfolgt, der durch die Interdependenz zwischen beiden bedingt und bewegt wird. Ein Übergewicht sowohl des Individuums über die Gesellschaft als auch der Gesellschaft über das Individuum widerspricht sozietärem Föderalismus. Seine Forderungen sind die Erhaltung des Lebens-bereiches des einzelnen und der Gesellschaft, weil eben der einzelne das, was er ist, nur durch die Gesellschaft und in der Gesellschaft werden kann, deren Substanz von der Substanz des einzelnen bestimmt wird.

Das Prinzip der Gleichheit ist keine durch die Revolutionen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ausgelöste Fehlentwicklung, wie die Vertreter der sogenannten organischen Staatsauffassung, die mit den Vertretern des Universalismus identisch sind, behaupten. Indem sie den Grundsatz, daß alle Menschen gleich sind, als eine Gefährdung ihrer Vorstellungen, die sie mit dem Föderalismus in Verbindung bringen oder als Konsequenzen des Föderalismus ausgeben, bezeichnen, diffamieren sie den Föderalismus als Element gesellschaftlichen Ausgleichs. In jeder Gesellschaft, in der in Respektierung des Rechtes des Individuums und des Anspruches der Gesellschaft ein Ausgleich erfolgt, wird gesellschaftlicher Föderalismus vollzogen. Die Strukturen, die dafür und dabei entwickelt werden, sind von untergeordneter Bedeutung, wenn ihre Funktionsfähigkeit den Ausgleich gewährleistet. .

Diese Erkenntnisse waren solange verstellt, als das Element Föderalismus in der Gesellschaftslehre bestimmten ideologisch ausgerichteten Auffassungen zugeordnet wurde. Wird jedoch auf die Inanspruchnahme des Föderalismus für diese oder jene Ideologie verzichtet, erweist der Föderalismus sich auch gegenüber dem gesellschaftlichen Bereich als ein Form-und Strukturelement mit einer breiten Differenzierungsskala. Seine Variabilität findet dort ihre Grenze, wo eine den Partner, Individuum oder Gesellschaft, beherrschende Präponderanz in Erscheinung tritt. Geringfügige Schwankungen, teilweise zeitbedingt, können dabei unberücksichtigt bleiben, wenn sie nicht auf die Dauer eine neue Situation schaffen. Solange das Individuum sich nicht von der Gesellschaft emanzipiert (was es nur unter eigener Existenzgefährdung kann), indem es deren totalen und totalitären Anspruch in Zweifel zieht, und solange nicht die Gemeinschaft den nach dem Grundsatz personaler Subsidiarität so weit wie möglich gezogenen Entfaltungsbereich des Individuums einschränkt oder liquidiert, solange ist sozietärer Föderalismus möglich.

5. Was ist Föderalismus?

Die Darlegung der historischen Entwicklung, des politischen Verständnisses und der philosophischen Interpretation des Prinzips Föderalismus beweist, daß dieses nicht nur ideologieverdächtig ist, sondern von Befürwortern und Gegnern als gesellschaftliche, politische oder staatsrechtliche Ideologie verstanden wird. Hier wirken sowohl historische als auch soziologische Gegebenheiten mit. Föderalisten sind in der Mehrzahl konservativ orientiert oder werden als konservativ gesinnt betrachtet. Sie lassen in der Regel Aversionen gegen die Massengesellschaft erkennen, vor allem, wenn sie in Überdehnung des föderativen Prinzips ständischen Vorstellungen anhängen. Ihre gesellschaftspolitische Auffassung ist häufig an Leitbildern nicht der Gegenwart, sondern der Vergangenheit ausgerichtet. Sie mißbrauchen den Föderalismus, indem sie ihn zu einer Doktrin erheben, deren Annahme nach ihrer Meinung zwingend ist. Sie machen aus dem Prinzip Föderalismus eine Weltanschauung, die sie mit Vorstellungen und Forderungen anreichern, die den Föderalismus in seinen Beziehungen zu Ordnungen und Strukturen fixieren. Ihr Eifer gereicht dem Föderalismus zum Nachteil, weil er, so definiert, nicht als ein in seiner Anwendungsbreite variables Element, sondern als ein in seinem Gebrauch festgelegter Begriff in Erscheinung tritt. Diese ideologische Bestimmung des Föderalismus ist in Deutschland verschärft worden durch die Konfrontation zwischen Föderalismus und Nationalismus. Die deutsche Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts stand in einer ständigen Auseinandersetzung mit der politischen Ordnung des deutschen Volkes, die der Wiener Kongreß 1814/15 geschaffen hatte, d. h. mit dem Deutschen Bund, der nicht als eine, sondern als die Form des Föderalismus verstanden wurde. Die Abneigung gegen den Deutschen Bund wurde zur Abneigung gegen den Föderalismus. Weder die Bemühungen der ersten Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main 1848/49 noch die Interpretation durch Georg Waitz fanden die ihnen zukommenden Berücksichtigungen, weshalb, wie dargelegt, die Auseinandersetzung über die Form der national-staatlichen Einheit Deutschlands zu einer Kontroverse zwischen Föderalismus und Zentralismus wurde. Föderalismus wurde dabei assoziiert mit dem in seiner Handlungsfähigkeit behinderten Deutschen Bund, Zentralismus wurde gleichgesetzt mit einem in jeder Beziehung mächtigen Einheitsstaat. Diese Entwicklung wurde unterstützt durch die Mehrheit der Geschichtswissenschaft, die in einem Nationalstaat den Höhepunkt der geschichtlichen Entwickung des deutschen Volkes sah.

Der britische Geschichtsphilosoph Christopher Dawson stellt in seiner Studie „Die Revolution der Weltgeschichte" fest: „Der moderne Nationalismus wäre niemals so erschreckend groß geworden, wäre er nicht durch den Geist der großen nationalen Historiker des 19. Jahrhunderts aufgebläht worden, und ebenso wäre Stalins Parodie auf die sozialistische Geschichte niemals möglich gewesen, ohne das Werk Karl Marx', eines Geistes, dessen echte historische Begabung durch sein Talent zum Haß verkehrt und vergiftet wurde."

Der Panegyriker des deutschen Nationalstaates, Heinrich von Treitschke, war folgerichtig ein entschiedener Gegner, ja leidenschaftlicher Hasser selbst des hegemonialen Bundesstaates, wie er 1867 im Nordeutschen Bund und 1871 im Deutschen Reich konstituiert wurde, weil er nach seiner Überzeugung den angeblichen Wunsch des deutschen Volkes nach einem von föderalistischen Fragmenten gereinigten Zentralstaat nicht erfüllte und deshalb die geeinte Nation um die von ihr artikulierbare Macht brachte. Dieser die öffentliche Meinung Deutschlands teilweise bis zum heutigen Tag bestimmenden Ansicht entsprachen Verachtung und Verurteilung des föderativen Prinzips. Weil seine Anhänger dem Föderalismus des hegemonialen Bundesstaates, wie er im Norddeutschen Bund und im Deutschen Reich bestand, Bedenken entgegenbrachten, wurde ihre nationale Zuverlässigkeit in Zweifel gezogen. Unter der summarischen Firmierung „Reichsfeinde" galten sie in den Augen der Anhänger des Nationalismus als Schädlinge des Nationalstaates, die aus Gruppeninteressen die volle Entfaltung des Nationalstaates verhinderten.

Die von Historikern, Politikern und Publizisten manipulierte Gegnerschaft von Nationalstaat und Föderalismus hatte eine lang anhaltende Wirkung auf das Föderalismus-Verständnis in Deutschland. Die Weimarer Nationalversammlung glaubte die sich daraus ergebenden Konsequenzen ziehen zu müssen, indem sie einen dezentralisierten Einheitsstaat schuf, der in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zu einer perfekten Unität wurde, die ihre eigene Effektivität beschränkte. Die Gegenbewegungen waren nach 1919 so gut wie gar nicht, nach 1945 zwar länger, aber nicht beständig in der Lage, ein neues Verständnis für den Föderalismus, das von der Konfrontation Nationalismus-Föderalismus losgelöst war, zu wecken. In dem Wechselspiel von Bewegung und Gegenbewegung dominierte der Hang zum Zentralismus länger als die Hinwendung zum Föderalismus. Erst die allmähliche Einsicht sowohl in die Umstände, die die Gründung des deutschen Nationalstaates ermöglichten, als auch in die Auswirkungen, die der in drei Phasen sich entwickelnde deutsche Nationalstaat für Europa hatte, weckte ein freilich beschränktes Verständnis für den Föderalismus, das jedoch sehr rasch unterlaufen wurde von dem angeblichen Zwang, alle politischen und administrativen Maßnahmen nicht nur in dem gesellschaftlich geforderten Ausmaß zu harmonisieren, sondern von ihrem Anfang an zu reglementieren. Der Kampf gegen den Föderalismus wurde in Deutschland von 1815 bis 1945 im Namen der angeblich in der nivellierenden Einheit der Nation begründeten Macht, von 1945 an im Namen der von der Gesellschaft postulierten Infrastruktur geführt. Beiden antiföderalen Bewegungen gemeinsam ist das Mißverständnis des Föderalismus, der einerseits nicht den konstellationskonformen Machtgebrauch, wohl aber den konstellationsverändernden Machtmißbrauch verhindern wollte, andererseits nicht die Koordinierung, sondern nur die Reglementierung der Bedürfnisse der Gesellschaft verhüten will. In der wieder aufgeflammten Gegnerschaft zum Föderalismus kommen abermals die ihm im 19. Jahhundert entgegengebrachten Aversionen zum Vorschein, obwohl Erfahrungen und Erkenntnisse die hohe Bedeutung des Föderalismus gerade für Deutschland, aber auch für Europa bezeugen.

Da es bisher nicht gelungen ist, weder die Festlegung des Föderalismus auf das Staatsrecht zu überwinden, noch seine Verzerrung durch ideologische Inanspruchnahmen zu verhindern, steht er noch immer im Zwielicht bewußter oder fahrlässiger Mißdeutung. Seine Entideologisierung ist trotz der vertieften Erkenntnisse über Ansätze nicht hinausgekommen, obwohl beweisbar und bewiesen ist, daß der Föderalismus in dem Maße ideologiefrei ist, in dem politische, staatsrechtliche und gesellschaftliche Prinzipien ideologiefrei sind. Zwar begünstigt die dargelegte unterschiedliche Verwendung sein Mißverständnis, gleichzeitig beweist sie jedoch auch seine Fähigkeit als ein multivariables Form-und Strukturelement, das in der Lage ist, gesellschaftliche und politische Differenzierungen vorzunehmen ohne ihren Zusammenhang zu gefährden.

Sowohl die Geschichte des föderativen Prinzips als auch die Diskussion über seinen Charakter machen die Schwierigkeit seiner eindeutigen und erschöpfenden Bestimmung sichtbar. Seinem Wesen eigentümlich ist der Umstand, daß aus dem Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft und aus dem Zusammenschluß kleinerer Einheiten zu einer größeren Einheit eine unverwechselbare Typisierung erfolgt ist, die jedoch wegen der mannigfaltigen Anwendung so starke Abweichungen aufweist, daß die Übereinstimmung im wesentlichen nicht ohne weiteres zu erkennen ist. Das Wesen des föderativen Gedankens ist die Bewahrung der Individualität von Einzelpersonen, Gruppen und Staaten, soweit diese Individualität lebensfähig und lebenswillig ist.

Das föderative Prinzip ist nicht fortschritts-hemmend oder anpassungsfeindlich — es will aber verhindern, daß Zusammenschlüsse, die das Sein des Menschen bedingen, in einer Weise vorgenommen und organisiert werden, daß dabei der einzelne seinen ihm eigenen Lebensstil nur insoweit aufgeben muß, als es für die Existenz der Gemeinschaft unabdingbar ist. Weil der einzelne Mensch auf andere Menschen angewiesen ist, um zu seiner Selbsterfüllung zu gelangen, sind Ordnungen erforderlich, die ihn aber weder entindividualisieren noch entmündigen dürfen. Dabei geht es nicht um die Erhaltung einer Schrebergarten-Individualität, sondern um die Schaffung eines nach allen Seiten hin offenen und kontaktfähigen Personalbereiches, der sich in einem ständigen Austausch sowohl mit seinen Mitmenschen als Einzelpersonen als auch Gliedern gemeinschaftlicher Ordnungen befindet.

Alle Versuche, den Föderalismus ausschließlich als staatsrechtliches Prinzip zu reklamieren, übersehen seine personale und sozietäre Orientierung. Diese ist vorgegeben in der Urtatsache, daß die Polis, das Leitbild des Staates nicht nur des europäischen Kulturkreises, zwar nicht ein gegliederter, sondern einheitlicher Staat gewesen ist, der aufgrund seiner numerischen Beschränkung die Vielfalt seiner Bürger reflektiert hat. In der Polis, so einheitlich sie angelegt war, ist die Individualität des Politen geschützt gewesen. Sein Verhältnis zum (Stadt-) Staat ist ein präföderatives gewesen, denn sein Lebensbereich ist weder ein-geengt noch zerstört, sondern fast uneinge-

schränkt respektiert worden.

Die gleiche Situation findet sich in den germanischen Genossenschaften und in den aus ihnen hervorgegangenen Kantonen der Schweiz. Sie sind doppelgesichtig, weil sie das Recht des Individuums, des Genossen oder Bürgers, und das Wohl der von ihnen gebildeten Gemeinschaft zusammenführen — eine Balance zwischen Individualität und Sozietät herstellen. Solange diese Balance den Bedürfnissen entsprechend gehalten werden kann, solange wird Föderalismus vollzogen. Dabei ist nicht nur die Bewahrung, sondern auch die Herausforderung des Individuums das erklärte Ziel des Föderalismus. Der einzelne soll durch seine Mitmenschen zu sich selbst finden, ohne sich selbst dabei zu verlieren. Die Bewahrung der Individualität verlangt jedoch ihre ständige Bewährung, sowohl durch die bewußte Partizipation an der Gesellschaft als auch durch die mögliche Separation von ihr.

Hinter der Diskussion über das föderative Prinzip steht die immer wieder gestellte Aufgabe, die Eigentümlichkeit des einzelnen Menschen zu bewahren, ohne die berechtigten Ansprüche der Gemeinschaft zu bestreiten. Nur wer den immanenten Drang nach Selbstidentifikation leugnet oder vernichten will, wird die Balancefunktion des Föderalismus zwischen dem einzelnen und der kleinen Einheit einerseits und der Gesellschaft und dem Gesamtstaat andererseits ablehnen. Die Versuchung dazu ist groß, weil gesellschaftsbestimmende und staatsbeherrschende Kräfte der Überzeugung sind, daß die Individualität sowohl des einzelnen als auch kleinerer Einheiten ihnen entgegensteht. Föderalismus im umfassenden Sinn wird überall dort in Zweifel gezogen, diffamiert, verneint und verworfen, wo eine Nivellierung im Interesse der Manipulation von Gesellschaft und Staat angestrebt wird.

Der Föderalismus kann, wie dargelegt, verschiedenen Funktionen dienen. Er kann vor allem bewahren und zusammenführen — hierin liegt seine letzte Eigentümlichkeit. In seiner 1968 veröffentlichten Studie „L’Etre Fdraliste“ bemerkte Pierre Duclos über ihn: „Wir stehen vor einer zweipoligen Erscheinung, die gewissermaßen gegabelt ist — mehrpolig (da sie mehrere Ebenen umfaßt); sie ist charakterisiert sowohl durch Öffnungen und Auffächerungen als auch durch eine grundsätzliche Einheit, die Beziehungen zwischen beiden sind so gestaltet, daß sie sich wechselseitig beschützen und sowohl die ursprünglichen Individualitäten als auch die gemeinschaftlichen Zusammenschlüsse respektieren."

Im Anschluß an diese Begriffsbestimmung, die durch die Übersetzung an Aussagekraft verliert, versicherte Henri Brugmans in seiner 1969 veröffentlichten Studie „La pense politique du Federalisme": „Genau darum handelt es sich. Angesichts des nivellierenden Zentralismus vertritt der Föderalismus das Recht der Verschiedenheiten, angesichts separatistischer Tendenzen sucht er Solidarität aufrechtzuerhalten oder zu errichten. Angesichts des heutigen Bruchs ist er der Hüter der Kontinuitäten: Die bürokratische Stagnation aber veranlaßt ihn, an die von unten kommende Initiative zu appellieren. In unserer durch raschen Wechsel gekennzeichneten Epoche neigt er dazu, das Wesentliche zu erhalten, doch Wird er von allen Privilegierten gefürchtet, weil sie um ihre erworbenen Rechte fürchten. Der Föderalismus ist bemüht, den Kompromiß zum anerkannten Instrument der Regierung zu machen; und Duclos sagt zu Recht, er neige zur Erhaltung, genauer gesagt, zur Beruhigung, zur Versöhnung durch Anpassung auf dem Wege der Nichtzerstörung und des Vergleichs zwischen den verschiedenen Erscheinungen." Brugmans fügte hinzu: „Ohne Zweifel zur gleichen Zeit aber will der Föderalismus eigenständige institutioneile Formen schaffen, die geeignet sind, sich der Entwicklung der modernen Welt anzupassen: Infolgedessen will er auch die überkommenen Strukturen umstürzen."

Sowohl Pierre Duclos als auch Henri Brugmans befürworten ein weitgefaßtes Föderalismus-Verständnis, dem sie entscheidende Funktionen in Gesellschaft, Staat und Staatenverbindungen zuweisen. Sie verzichten bewußt darauf, den Föderalismus ideologisch anzureichern oder ideologisch zu erklären; sie deuten ihn aus den Gegebenheiten der Gesellschaft, des Staates und der Staatengemeinschaft. Im Gegensatz zu den deutschen Staatsrechtslehrern vertreten sie jedoch seine Mehrgesichtigkeit, weil sie aufgrund der Analysen der sozietären und politischen Verhältnisse der Überzeugung sind, daß die Chancen des Föderalismus in der Zukunft größer sein werden, als sie in der Vergangenheit waren. Diese Ansicht vertritt der weitaus größere Teil der Literatur, die sich mit dem Föderalismus beschäftigt. Sie ist der Auffassung, daß erst nach dem Epochenjahr 1945 der Durchbruch zu einem allgemeinen Föderalismus-Verständnis erzielt worden sei; gleichzeitig sei der Föderalismus in eine Veränderung eingetreten, die ihn ungeeignet macht für eine formelhafte Begriffsbestimmung. Der Föderalismus ist vielseitig, und vielschichtig, daß die Möglichkeit seiner Anwendung bezweifelt wird.

Föderalismus ist nicht eine Ideologie, etwa zur Verteidigung nicht mehr verteidigungswürdiger Einrichtungen in Staat und Gesellschaft. Föderalismus erschöpft sich nicht in der Teilung der Staatsgewalt zwischen Gesamtstaat und Teilstaaten. Föderalismus ist so nicht ausschließlich ein Prinzip zur Bestimmung der verfassungsrechtlichen Verhältnisse zwischen Bundesstaat und Einzelstaaten. Föderalismus entsteht aus der Notwendigkeit des Menschen, sich zu vereinen, und dem gleichzeitigen Drang des Menschen, seine Freiheit in größtmöglicher Form zu bewahren. Föderalismus erwächst aus dem Wunsch, die Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft auszubalancieren, wobei das Recht des Individuums gewahrt und der Anspruch der Gesellschaft nicht geschmälert werden soll Föderalismus ist ein Faktor der Staatsbildung und ein Element der Staatsentwicklung. Föderalismus ist ein Instrument für Staatenverbindungen, eine Tatsache, die Henri Brugmans zu der Bemerkung veranlaßte: „Europa wird entweder der geographische Punkt aller schlechten nationalen Gewohnheiten sein oder aber es wird diese in Frage stellen. Nur die zweite Haltung ist eine Erneuerung. Sie allein ist föderalistisch.“

Diese summarischen Bestimmungen machen deutlich, daß es sich beim Föderalismus um ein weit ausgreifendes Element menschlicher Existenz in Gesellschaft und Staat handelt dessen Verständnis durch Mißverständnisse, Fehlinterpretationen und Einseitungen verstellt wird.

Die jetzt abgeschlossene Föderalismus-Studie erscheint im Herbst 1972 in Buchform; ihr wird eine umfangreiche Bibliographie beigefügt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zitiert nach: R. A. Kann, Ein Beitrag zur Problematik des abendländischen Föderalismus. — Be wegung und Gegenbewegung, in: Für Österreich und Europa. Festgabe für Hugo Hantsch zum 70. Geburtstag, Graz-Wien-Köln 1965, S. 610.

  2. E. Stamm, Ein berühmter Unberühmter. Neue Studien über Konstantin Frantz und den Föderalismus, Konstanz 1948, S. 18, 98 und Ulf.

  3. R. M. Hutchins, Two faces of federalism, Santa Barbara, California 1961, S. 7.

  4. F. J. Jerusalem, Die Staatsidee des Föderalismus, Tübingen 1949, S. 5.

  5. Ebenda, S. 1 ff.

  6. Ebenda, S. 61 ff.

  7. Ebenda, S. 66 ff.

  8. Ebenda, S. 101 ff.

  9. Ebenda, S. 106 ff.

  10. Ebenda, S. 109 f.

  11. Ebenda, S. 114.

  12. Ebenda, S. 122 ff.

  13. Ebenda, S. 125.

  14. Ebenda, S. 127. .

  15. Ebenda, S. 140 ff.

  16. Ebenda, S. 142 ff.

  17. Ebenda, S. 142.

  18. Ebenda, S. 74.

  19. Gierke, a. a. O., Bd. 1, S. 1.

  20. Lateinischer und deutscher Wortlaut: A. F. Utz (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip, Heidelberg 1953, S. 3.

  21. H. E. Hengstenberg, Philosophische Begründung des Subsidiaritätsprinzips, in: A. F. Utz (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip, Heidelberg 1953, S. 19 ff.

  22. Ebenda, S. 43.

  23. O. v. Nell-Breuning und H. Sacher (Hrsg.), Zur christlichen Staatslehre, Freiburg 1948, S. 102 ff.

  24. E. Brunner, Gerechtigkeit. Eine Lehre von den Gründen der Gesellschaftsordnung, Zürich 1943, S. 159 ff.

  25. H. Stadtler, Subsidiaritätsprinzip und Föderalismus. Ein Beitrag zum Schweizerischen Staatsrecht, Freiburg in der Schweiz 1951, S. 167.

  26. Ebenda, S. 168.

  27. J. Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 3. Aufl., Innsbruck-Wien-München 1958, S. 186 f.

  28. Ebenda, S. 127.

  29. E. J. Jung, Föderalismus als Weltanschauung, München, Berlin und Leipzig 1931, S. 10.

  30. Ebenda, S. 12.

  31. Ch. Dawson, Die Revolution der Weltgeschichte. Universalhistorische Betrachtungen, München 1960, S. 28.

  32. P. Duclos, L’Etre Federaliste, Paris 1968, S. 7.

  33. H. Brugmans, La pensee politique du Federalisme., Leyde 1969, S. 8.

  34. Ebenda.

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