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Föderalismus | APuZ 36/1971 | bpb.de

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APuZ 36/1971 Föderalismus B. die philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips

Föderalismus

Ernst Deuerlein

/ 102 Minuten zu lesen

5. Die Konfrontation von Föderalismus und Zentralismus im Parlamentarischen Rat 1948/49

Inhalt

Dem Zeitplan der „Frankfurter Dokumente" entsprechend trat am 1. September 1948 in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen. Nicht vom Volke gewählt, sondern von den Landesparlamenten bestimmt, bestand er aus Abgeordneten der CDU/CSU (27), SPD (27), FDP (5), KPD (2), DP (2) und des Zentrums (2); dazu kamen mit beratender Stimme Abgeordnete aus Berlin (CDU 1, SPD 3 und FDP 1). Bei seiner Konstituierung im Sitzungssaal der Pädagogischen Akademie zu Bonn hielt der hessische Ministerpräsident Stock die Eröffnungsansprache, die unter den Ministerpräsidenten verabredet worden war Der bayerische Ministerpräsident Ehard hatte besonderen Wert auf die Bekundung der Absicht gelegt, es müsse alles getan werden, um das gesteckte Ziel, die Schaffung eines Grundgesetzes für eine Staatsorganisation des westlichen Deutschlands, so schnell wie möglich zu erreichen.

Aufgrund der Vorbesprechungen fiel die Wahl zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates auf Konrad Adenauer, den Vorsitzenden der CDU in der britischen Zone. Die SPD erklärte sich mit dieser Wahl einverstanden; sie erhielt dafür den Vorsitz im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates, wofür sie Carlo Schmid nominierte.

Nach seiner Wahl erklärte Adenauer: „Das Dasein des Parlamentarischen Rates selbst ist ... zurückzuführen auf einen Entschluß eines Teiles der Siegermächte. Für jeden von uns war es eine schwere Entscheidung, ob er sich bei dem heutigen Zustand Deutschlands, bei der mangelnden Souveränität auch dieses Teiles Deutschlands zur Mitarbeit zur Verfügung stellen dürfe und solle. Ich glaube .. . eine richtige Entscheidung auf diese Frage kann man nur dann finden, wenn man sich klar macht, was denn sein würde, welche Folgen für Deutschland und für das deutsche Volk eintreten würden, wenn dieser Rat nicht ins Leben träte. Die drei Mächte, die sich ent-* schlossen haben, diesen Rat ins Leben zu rufen, ließen sich dabei von der Absicht leiten, daß dem politisch völlig auseinandergebrochenen deutschen Volke eine neue politische Struktur gegeben werde, in seinem Interesse, aber auch im Interesse Europas und der gesamten Welt. Das muß auch unser Ziel sein, und darum müssen wir die uns gebotene Möglichkeit nutzen, um den jetzigen unmöglichen politischen Zuständen in Deutschland ein Ende zu bereiten. Wir müssen das tun, auch wenn unsere Arbeit vorerst nur einem Teil Deutschlands zugute kommt. Denn . .. einmal muß ein Anfang gemacht werden, und einmal muß Schluß sein mit dem ewigen Weiterwursteln und Auseinanderfallen. Wir gehen an unsere Arbeit in der festen und unerschütterlichen Absicht, daß auf diesem Wege wieder zur Einheit von ganz Deutschland, der Einheit, die unser Ziel ist und unser Ziel bleibt, zu gelangen. Welche Ergebnisse unsere Arbeit für ganz Deutschland haben wird, das hängt von Faktoren ab, auf die wir nicht einwirken können. Trotzdem wollen wir die historische Aufgabe, die uns gestellt ist — und es ist in Wahrheit nach diesem Zusammenbruch des Jahres 1945 eine historische Stunde und eine historische Aufgabe —, unter Gottes Schutz mit dem ganzen Ernst und mit dem ganzen Pflichtgefühl zu lösen versuchen, die die Größe dieser Aufgabe von uns verlangt."

Stellvertretende Präsidenten wurden der SPD-Abgeordnete Adolf Schönfelder und der FDP-Abgeordnete Hermann Schäfer. Die Fraktionen hatten bereits vorher ihre Vorsitzenden gewählt. An die Spitze der CDU/CSU-Fraktion wurde der Leiter der Bayerischen Staatskanzlei, Anton Pfeiffer, berufen, die Leitung der Fraktion der SPD übernahm Carlo Schmid, Vorsitzender der FDP-Fraktion wurde Theodor Heuss; Sprecher der kleineren Parteien waren Seebohm (DP), Brockmann (Zentrum) und Renner (KPD).

Im Abschnitt „Kontroverse um Verhältnis Bund und Länder" seiner „Erinnerungen 1945 bis 1953" charakterisiert Konrad Adenauer die grundsätzliche Haltung der Besatzungsmächte:

„Die Franzosen drängten auf einen möglichst lockeren Zusammenschluß der Länder und möglichste Schwächung der Zentrale, d. h.des Bundes. General Clay trat für ein System ein, das der amerikanischen föderativen Verfassung entsprach. General Robertson, der Sprecher der Engländer, war, soweit mit dem föderativen Prinzip vereinbar, mit einer stärkeren Zentralisierung einverstanden." Uber die Einstellung der zwei großen Parteien des Parlamentarischen Rates bemerkt Adenauer, die CDU/CSU sei der Auffassung General Clays am nächsten gekommen: „Die Länder sollten ein großes Maß an Selbständigkeit gegenüber dem Bund erhalten. Diese Selbständigkeit durfte jedoch nicht soweit gehen, daß der künftige Bund dadurch handlungsunfähig gemacht würde.“ Die SPD trat dafür ein, daß der Bund mehr Macht erhalten müsse als in den Dokumenten der Alliierten Mächte zum Ausdruck gekommen war. Die SPD legte — nach Adenauer — entscheidenden Wert darauf, daß der Bund vor allem auf dem Gebiet der Finanzen mit größeren Machtbefugnissen ausgestattet würde: „Die SPD, die in ihrem Programm die Planwirtschaft und Sozialisierung forderte, wußte, daß diese Pläne nur durchgeführt werden konnten, wenn eine starke Zentralgewalt geschaffen würde."

Der Parlamentarische Rat führte in zwei Voll-versammlungen am 8. und 9. September 1948 eine allgemeine Aussprache über seine Aufgabe und über die ihm vorgelegten Verfassungsmaterialien durch Als Unterlagen waren seinen Mitgliedern a) die Arbeiten des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee, b) der „Ellwangen-Düsseldorfer Entwurf“ der CDU/CSU und c) ein Entwurf des SPD-Abgeordneten Walter Menzel überreicht worden. Die unterschiedlichen Konzeptionen ließen harte Auseinandersetzungen erwarten. Die erste Generaldebatte zeigte, daß im Parlamentarischen Rat der lebhafte Wunsch vorhanden war, sich der Vormundschaft der Ministerpräsidenten und Bürgermeister zu entziehen. Der Parlamentarische Rat verstand sich als eine Vertretung des deutschen Volkes. Alle Abgeordneten brachten die Hoffnung zum Ausdruck, die Länder-und Zonengrenzen, die nach 1945 Bedeutung erhalten hatten, allmählich abzubauen und eine einheitliche Staatsorganisation in dem Teil Deutschlands zu schaffen, in dem die Verwirklichung dieser/Absicht möglid war. Mehrere Abgeordnete bekannten sich 2 dem Fundament des neuen Staates, den Ländern. Der Abgeordnete Carlo Schmid (SPD) er klärte unmißverständlich: „Es ist für uns kein Zweifel, daß die deutschen Länder die Grund-läge des Gebietes sein müssen, das wir jetzt organisieren, und daß sie eigene Verfassungshoheit und Örganisationshoheit haben müssen eigene Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung und eine vom Bund getrennte Finanzwirtschaft — alles dies im Rahmen der Bestimmungen des Grundgesetzes."

Nach der Generaldebatte in den Vollversammlungen vom 8. und 9. September traten die Ausschüsse — Hauptausschuß, Ausschu für Grundsatzfragen und Grundrechte, Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung, Finanzausschuß, Ausschuß für Organisation des Bundes, Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, Wahlrechtsausschuß, Besatzungsstatutausschuß — in Beratungen ein. Am 20 und 21. Oktober fanden Vollversammlungen statt; am 20. Oktober wurde die Präambel des Grundgesetzes diskutiert, am 21. Oktober die Frage der Länderkammer erörtert Bis Anfang November waren die Beratungen der Ausschüsse soweit vorangeschritten, daß es geboten erschien, die bisher behandelten Teilgebiete des Grundgesetzes zusammenzufügen und die abweichenden Auffassungen der Parteien dazu festzustellen. Zur Vorlage eines Grundgesetzentwurfes an den Hauptausschuß wurde aus den Abgeordneten von Brentano (CDU/CSU), Dehler (FDP) und Zinn (SPD) ein Redaktionsausschuß gebildet. Gleichzeitig aufgenommene interfraktionelle Besprechungen erbrachten keine Verständigung, sondern nur eine Darlegung der Meinungsverschieden heiten.

Auf der Grundlage der Ergebnisse der Ausschüsse und des Redaktionsausschusses begann am 10. November 1948 im Hauptausschuß die erste Lesung des Grundgesetzentwurfes, die, in 23 Sitzungen durchgeführt, an 10. Dezember abgeschlossen wurde. Die Ab Stimmungen zeigten ein uneinheitliches Bild die Zusammensetzung der Mehrheiten wech selte selbst innerhalb der Fraktionen. Zum Problem der Finanzstruktur, dem Kernproblem der neueren deutschen Verfassungsgeschichte hörte der Hauptausschuß am 1. und 2. De zember Sachverständige der Länder Einmütigkeit bestand sowohl auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee als auch im Parlamentarischen Rat über die Errichtung eines zweiten Gesetzgebungsorgans. Meinungsverschiedenheit herrschte über seine Gestaltung: über die Frage Bundesrat oder Senat. Der auf Herrenchiemsee zutage getretene Gegensatz der Auffassungen beschäftigte auch die Beratungen der Fraktionen und des Organisationsausschusses des Parlamentarischen Rates. Die SPD sprach sich für die Errichtung eines Senats aus. Die Abgeordneten der CSU und der CDU aus den süddeutschen Ländern und aus Rheinland-Pfalz befürworteten die Errichtung eines Bundesrates, während die norddeutschen CDU-Abgeordneten in der Mehrzahl sich für die Schaffung eines Senats einsetzten. Die FDP wünschte einen Senat aus Mitgliedern, die die Landtage wählten, wollte ihn aber für die Aufgaben der Gesetzgebung durch Regierungsvertreter ergänzen. Zentrum und Deutsche Partei verteidigten die Bundesratslösung. Die Befürworter der Bundesratslösung verwiesen auf die jeweiligen Auswirkungen der Bismarckschen Reichsverfassung und der Weimarer Reichsverfassung; sie erinnerten an die Erfahrungen, die die Länder bei der Durchführung der Gesetzgebung gewönnen. Dieser Umstand veranlaßte Ministerpräsident Ehard, bereits am 27. September 1948 an Staatsminister Pfeiffer zur Bundesratsfrage zu schreiben: „Von ihrer befriedigenden Lösung wird es abhängen, ob in einem zukünftigen Bundesstaat von einer föderalistischen Mitwirkung der Länder bei der Gestaltung des Bundeswillens gesprochen werden kann. Die Bejahung dieser Frage hängt ab sowohl von diesen Befugnissen, die dieser zweiten Kammer zugeteilt werden, als von der Art ihrer Zusammensetzung. Sie muß die Qualität eines gleichberechtigten Gesetzgebungs-Organs neben der Volkskammer haben und sie muß durch Vertreter der Landesregierungen repräsentiert werden, die ihrerseits die Exponenten des demokratischen politischen Willens der Länder sind. Eine bloße zweite Kammer ohne diese Verklammerung mit den Ländern würde, auch wenn man ihr sehr weitgehende Befugnisse, wie die Gleichberechtigung bei der Gesetzgebung, zuteilen würde, noch lange kein föderalistisches Gegengewicht gegen die unitaristischen und zentralistischen Tendenzen schaffen. Eine solche Institution, wie sie der von manchen Seiten erstrebte Senat darstellt, wäre durchaus auch in einem Einheitsstaat denkbar." Die Anhänger des Senats be. gründeten die Ablehnung des Bundesrates mit Hinweisen auf seine monarchistische Bin. düng und auf den Einfluß der Ministerialbür. kratie. Sie sahen im Senat ein demokratisches Organ, in dem ältere erfahrene und unabhän. gige Staatsmänner eine Wirkungsmöglichkeit erhielten.

Die Militärgouverneure Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten griffen dreimal in die Beratungen des Parlamentarischen Rates ein. Zunächst kündigten sie das „Proposed Statement“ vom 19. Oktober 1948 an. Die Erklärung betraf in erster Linie die Verteilung der Machtbefugnisse auf dem finanziellen Gebiet. Sie wurde vertieft durch das am 22. November 1948 dem Präsidenten des Parlamentarischen Rates übergebene Memorandum,das den Hinweis enthielt, daß nach Auffassung der Militärgouverneure das Grundgesetz u. a. folgendes „in möglichst hohem Grade“ vorsehen sollte: ,, a) Ein Zweikammersystem, bei dem die eine Kammer die einzelnen Länder vertreten und genügende Befugnisse haben muß, um die Interessen der Länder wahren zu können; ... c) daß die Befugnisse der Bundesregierung auf diejenigen beschränkt sind, die in der Verfassung ausdrücklich aufgezählt sind, und auf jeden Fall sich nicht erstrecken auf Erziehungswesen kulturelle und kirchliche Angelegenheiten, Selbstverwaltung und öffentliches Gesund heitswesen;... f) daß die Befugnisse der Bundesregierung zur Schaffung von eigenen Bimdesbehörden für die Ausführung und Verwaltung ihrer Aufgabengebiete klar umrissen und auf diejenigen Gebiete beschränkt sein sollen, bei denen die Verwaltung durch Landesbehörden offensichtlich untunlich ist.“

Diese Willensäußerung beeinflußte die Auseinandersetzung über die zweite Kammer. Da eine Verständigung zwischen der integralen Bundesratslösung und der integralen Senatslösung nicht möglich zu sein schien, entstand der Gedanke, einen Kompromiß dadurch zustande zu bringen, daß die Mitglieder des Bundesrates zu einem Teil von den Landes-regierungen abgeordnet, zum anderen Teil von den Landtagen gewählt werden sollten. Der Vorschlag nahm Bezug auf die Reichs Verfassung vom 23. März 1849. Nach ihr wurden die Mitglieder des Staatenhauses zur einen Hälfte durch die Volksvertretungen gewählt und zur anderen Hälfte durch die Regierungen der deutschen Staaten ernannt. Die Meinungsbildung erfolgte zunächst in der CDU/CSU-Fraktion. Adenauer trat für die Errichtung eines Senats, der bayerische Ministerpräsident Ehard für die Schaffung eines Bundesrates ein. Angesichts der gegensätz-lichen Standpunkte wurde der Kompromiß, die gemischte Zusammensetzung aus Abgeordneten und gewählten Mitgliedern, ernsthaft diskutiert. Vor allem sprach sich der Abgeordnete Lehr dafür aus. Der Abgeordnete von Mangoldt befürwortete das gemischte System, weil es beide Gestaltungsformen vereinige und Nachteile vermeide. Diese Lösung hätte zu einer Aufteilung des Bundesrates in zwei Kurien geführt, einer Länderkurie und einer Senatorenkurie. Bei der Gesetzgebung sollten beide gleichrangig mitwirken. Bei den Verwaltungsaufgaben, insbesondere bei der Beschlußfassung über Verordnungen, sollte allein die Länderkurie bestimmend sein. Die Entscheidung fiel jedoch nicht in der CDU/CSU-Fraktion. Dem bayerischen Ministerpräsidenten Ehard gelang es, in Gesprächen mit dem SDP-Abgeordneten Menzel die SPD-Fraktion für die Bundesratslösung zu gewinnen Die Durchsetzung des reinen Bundesratssystems war nicht nur ein Erfolg der bayerischen Aktivität, sondern auch des Föderalismus, weil es eine Beteiligung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes vorsah.

Mit dieser Fragestellung auf das engste verbunden und deshalb von Anfang an umstritten war das Problem der Verteilung der Steuern zwischen Bund und Ländern. Der Herrenchiemseer Verfassungsentwurf forderte, daß die einzelnen Steuerquellen nach Möglichkeit entweder dem Bund oder den Ländern in voller Höhe zugewiesen werden sollten. Für die Verteilung der Steuern sah er zwei Alter-nativvorschläge vor: Nach dem ersten Vorschlag sollten die Einkommen-und Körperschaftssteuer und die Umsatzsteuer dem Bund zugewiesen werden, während die Länder ein Zuschlagsrecht zur Einkommen-und Körperschaftssteuer als beweglichen Faktor für ihre Haushaltswirtschaft erhalten sollten. Der zweite Vorschlag wies die Einkommen-und Körperschaftssteuer und die Umsatzsteuer den Ländern zu und eröffnete dem Bund das Recht, nach Bedarf einen Teil des Umsatz-steueraufkommens für sich in Anspruch zu nehmen. Der vom Parlamentarischen Rat eingesetzte Finanzausschuß erörterte zunächst die Form der Steuerertragshoheit. Nach Beratungen und Anhörungen entschied er sich für eine Regelung, die die Masse der Steuern nach dem Trennsystem endgültig dem Bund oder den Ländern zuwies, die Einkommen-und Körperschaftssteuer und die Umsatzsteuer jedoch zu gemeinsamen Einnahmen beider Partner machte. Die dem Bund und den Ländern zustehenden Anteile an den gemeinsamen Steuern sollten durch Bundesgesetz bestimmt werden, das zugleich einem angemessenen finanziellen Ausgleich unter den Ländern Rechnung zu tragen hatte. Die Festsetzung der Anteile des Bundes und der Länder an den beiden Hauptsteuern durch einfaches Bundesgesetz sollte die notwendige Elastizität des Finanzausgleichs garantieren.

Nach Abschluß der ersten Lesung im Hauptausschuß wurde der Entwurf abermals dem Redaktionsausschuß überwiesen. Nachdem dieser eine erneute Überprüfung vorgenommen hatte, wurde noch vor Weihnachten 1948 im Hauptausschuß die zweite Lesung begonnen; sie wurde am 5. Januar 1949 fortgesetzt und nach insgesamt 18 Sitzungen am 20. Januar beendet. Dabei zutage getretene Unterschiede betrafen die Frage der Gleichberechtigung des Bundesrates mit dem Bundestag, das Problem der Zuständigkeiten der Finanzverwaltung, die Frage des Elternrechts und die Regelung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche.

Bei der zweiten Lesung wandte sich die CDU/CSU-Fraktion gegen die verfassungsmäßige Aufteilung der einzelnen Steuer-quellen auf Bund und Länder und empfahl eine allgemeine Vorschrift, daß die Steuer-quellen auf Bund und Länder aufzuteilen seien und nur für die Übergangszeit eine vorläufige Aufteilung der Steuern vorzusehen sei. Diese Anregung fand die Zustimmung des Hauptausschusses; er formulierte daraufhin einen Entwurf über die Verteilung der Steuerertragshoheit. Die dazugehörende Übergangsregelung enthielt die Bestimmung, daß die endgültige Aufteilung der Bundessteuern auf Bund und Länder möglichst bis zum 31. Dezember 1955 erfolgen solle.

Aufgrund der zweiten Lesung erachteten die Fraktionen der CDU/CSU und SPD es für unumgänglich, in interfraktionellen Verhandlungen die Voraussetzungen für eine gemein-same Entwurfvorlage zu schaffen. Die vom 25. Januar bis 3. Februar geführten Besprechungen erbrachten eine weitgehende Übereinstimmung in allen strittigen Fragen. Es wurde vereinbart, die Gegenstände der Gesetzgebung, bei denen Bundesgesetze der ausdrücklichen Zustimmung des Bundesrates bedürfen, im einzelnen aufzuführen. Die Übernahme der Bestimmungen der Reichsverfassung vom 11. August 1919 über das Verhältnis von Kirche und Staat beendete zunächst die darüber geführten Diskussionen. Das Reichs-konkordat vom 20. Juli 1933 wurde als so lange nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen fortbestehend erklärt, bis es durch neue Vereinbarungen ersetzt würde. Das Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung der Kinder wurde anerkannt. Für Zölle und Bundessteuern wurde eine Bundesfinanzverwaltung geschaffen. Die dritte Lesung des Entwurfs wurde im Hauptausschuß beschleunigt in fünf Sitzungen vom 8. bis 10. Februar durchgeführt.

Die Militärgouverneure nahmen am 2. März zu dem ihnen zugeleiteten Entwurf in einer Denkschrift Stellung, wobei sie acht Abweichungen von ihrem Memorandum vom 22. November 1948 feststellten Fünf der Beanstandungen ließen sich ohne Schwierigkeiten beheben. Der sechste Einwand der Militärgouverneure behandelte die Stellung Berlins. Die beiden weiteren Einsprüche, die die Zuständigkeit bei der Vorranggesetzgebung und die Aufteilung der Steuern zwischen Bund und Ländern und die Verwaltungszuständigkeit für die Steuern betrafen, lösten lebhafte Debatten aus. Die Militärgouverneure vertraten die Auffassung, daß bei der Vorranggesetzgebung zunächst die Länder zuständig sein sollten! der Bund sollte gesetzgeberische Initiative nur nach der Vorlage bestimmter Voraussetzungen entfalten dürfen. Die vorgesehene Finanzgebarung bezeichneten die Militärgouverneure als Beeinträchtigung der Finanzhoheit der Länder; sie machten deshalb detaillierte Vorschläge über die Verwaltung der Steuern, die vorwiegend bei den Landesfinanzbehörden bleiben sollte.

In seinen „Erinnerungen 1945— 1953" versichert Konrad Adenauer, daß die Militärgouverneure die Verteilung der finanziellen Machtbefugnisse zwischen dem Bund und den Ländern als eines der Kernprobleme des Föderalismus ansahen. Er schildert die Auseinandersetzungen, zu denen es darüber zwischen dem Parlamentarischen Rat einerseits und den drei Militärgouverneuren andererseits kam. Die Meinungsverschiedenheiten der drei Mächte hatten Einfluß auf die Stellungnahmen der Parteien. Offen zutage tretende Spannungen zwischen der CDU/CSU und der SPD waren die Folgen. Die Verabschiedung des Grundgesetzes schien an den Meinungsverschiedenheiten über die Gestaltung und Zuordnung des Finanzwesens zu scheitern. Adenauer vertrat die Auffassung, die Regelung des Finanzwesens sei keine Frage von solcher Bedeutung, „daß man darüber das ganze Grundgesetz zu Fall bringen müsse"

Die alliierte Denkschrift vom 2. März war vom 8. bis 10. März Gegenstand von Verhandlungen zwischen Vertretern des Parlamentarischen Rates und Sachverständigen der Militärgouverneure, die nur zu teilweisen Verständigungen führten. Die den Militärgouverneuren überreichten deutschen Gegenvorschläge wurden von diesen als mit den Forderungen ihrer Denkschrift vom 2. März nicht übereinstimmend bezeichnet. Die beschleunigte Verabschiedung des Grundgesetzes, die die Militärgouverneure und auch die deutschen Parteien wünschten, war in Frage gestellt. Während die Fraktion der CDU/CSU bereit war, den Forderungen der Militärgouverneure wenigstens teilweise nachzukommen, um das Gesamtwerk nicht zu gefährden, verharrte die SPD-Fraktion auf den deutschen Vorschlägen. Gerüchte, daß die Militärgouverneure bei einheitlich ablehnender Stellungnahme der deutschen Parteien nachgeben würden, verwirrten die politische Atmosphäre; sie wurden von Vertretern der in Bonn errichteten Alliierten Verbindungsstäbe als unzutreffend bezeichnet. Am 5. April übergaben letztere dem Parlamentarischen Rat eine persönliche Mitteilung der in New York tagenden Konferenz der Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika; diese pflichtete den Auffassungen und Forderungen der Militärgouverneure bei. Die Folge war eine Verschärfung der Spannungen zwischen CDU/CSU und SPD, da letztere in ihrer Haltung verharrte. Eine von der SPD für den 5. April verlangte Anberaumung einer Sitzung des Haupt-ausschusses wurde auf Veranlassung der CDU/CSU vertagt. Die dem Finanzausschuß des Parlamentarischen Rates am 7. April unterbreiteten Vorschläge der CDU/CSU-Fraktion, die die Forderungen der Militärgouverneure berücksichtigten, konnten nicht beraten werden, da die SPD-Mitglieder an der Ausschußsitzung nur als Beobachter teilnahmen. Am 11. April traten Parteivorstand und Fraktion der SPD in Bad Godesberg zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen, verschoben jedoch die Entscheidung über das anstehende Finanzproblem. Die CDU/CSU-Fraktion wies in einer Erklärung vom 12. April daraufhin, daß die Arbeiten des Parlamentarischen Rates durch die innere Uneinigkeit der SPD weiterhin lahmgelegt seien, und betonte, eine weitere Verzögerung könne vor dem deutschen Volk nicht verantwortet werden; sie verlangte, daß die abschließenden Beratungen des Parlamentarischen Rates spätestens am 21. April wieder aufgenommen würden. Die SPD-Fraktion lehnte die Verlautbarung mit der Bemerkung ab, ihre Einstellung befinde sich in Übereinstimmung mit den Interessen des deutschen Volkes. Der zur Diskussion gestellte Gedanke, ein um die umstrittenen Fragen verkürztes Grundgesetz anzunehmen, wurde von der CDU/CSU-Fraktion zurückgewiesen. Zwischendurch kam es zu einer Verständigung über das Besatzungsstatut, ohne daß dadurch die Frage der Verabschiedung des Grundgesetzes erleichtert wurde.

Vom 22. bis 24. April wurden interfraktionelle Besprechungen mit dem Ziel geführt, zu einer Klärung der noch offenen Fragen zu gelangen. Die SPD wünschte eine Verminderung der Vollmachten des Bundesrates und eine stärkere Berücksichtigung des Bundes bei der Steueraufteilung. Die aufgrund dieser Verhandlungen erstellten neuen Formulierungen wurden zwischen den Militärgouverneuren und Vertretern des Parlamentarischen Rates am 15. April in Frankfurt eingehend erörtert. Während einer Konferenzpause gelang es, für alle anstehenden Probleme Kompromißlösungen zu erzielen. Die abschließenden Besprechungen zwischen den Militärgouverneuren und den Vertretern der Fraktionen des Parlamentarischen Rates ließen erkennen, daß die Annahme des Grundgesetzes gesichert war. Diese unter sehr heftigen politischen Auseinandersetzungen erreichte Verständigung führte zu einer Überarbeitung der einschlägigen Artikel des Grundgesetzentwurfes und zu dessen technischer Verkürzung, wobei jedoch keine inhaltliche Änderung vorgenommen wurde. Die neue Redaktion war am 3. Mai abgeschlossen. Der Hauptausschuß verabschiedete den Entwurf am 5. und 6. Mai in einer vierten Lesung.

Zwei Tage nach der Bekanntgabe des Abbruches der Berliner Blockade, am 6. Mai, trat die Vollversammlung des Parlamentarischen Rates in die zweite Lesung des Grundgesetz-entwurfes ein. Die meisten der dabei gestellten Anträge wurden abgelehnt. Vor der Schlußabstimmung gab Anton Pfeiffer im Namen von CSU-Abgeordneten die Erklärung ab, sie würden sich der Stimme enthalten, da verschiedene Bestimmungen des Entwurfes nicht den Erfordernissen eines wirklich föderativen Staatsaufbaus entsprächen. Der Grundgesetz-entwurf wurde mit 47 Ja-gegen 2 Nein-Stimmen bei 15 Stimmenthaltungen angenommen.

Am 8. Mai, dem vierten Jahrestag der Kapitulation, trat der Parlamentarische Rat zur dritten und letzten Lesung des Entwurfes des Grundgesetzes zusammen. Dabei wurde auch über die Frage der Bundesflagge entschieden. Der Antrag des CDU-Abgeordneten Lehr, nach dem Vorbild eines Entwurfes von Männern des 20. Juli 1944 die Farben Schwarz-Rot-Gold in der Kreuzform, als des Symbols der abendländischen Kultur, der Gestaltung der Bundesflagge zugrunde zu legen, wurde abgelehnt; die Mehrheit des Parlamentarischen Rates entschied sich für die Bundesflagge Schwarz-Rot-Gold in der alten — . Weimarer" — Form.

Der CDU-Abgeordnete von Brentano wiederholte seinen bereits in der zweiten Lesung eingebrachten Antrag, das Grundgesetz nicht durch die Länderparlamente, sondern durch eine Volksabstimmung ratifizieren zu lassen; er erhielt dafür keine Mehrheit. Vor der Schlußabstimmung ließen 6 CSU-Abgeordnete erklären, daß sie aus föderalistischen Erwägungen den Entwurf des Grundgesetzes ablehnten. Seine Annahme erfolgte mit 53 Ja-Stimmen (26 SPD, 21 CDU/CSU, 5 FDP und der aus der SPD-Fraktion ausgeschlossene Abg. Löwenthal) gegen 12 Nein-Stimmen (6 CSU, 2 Zentrum, 2 Deutsche Partei, 2 KPD). Für die 5 Abgeordneten Berlins legte Jakob Kaiser ein vorbehaltloses Bekenntnis zum Grundgesetz als der Bürgschaft für den Zusammengehörigkeitswillen des deutschen Volkes ab. Der Präsident des Parlamentarischen Rates, Adenauer, schloß nach einer Würdigung der geleisteten Arbeit und einem Appell um Freilassung der Kriegsgefangenen und Verschleppten die Sitzung: „Wir wünschen, daß Gott dieses Volk und dieses Werk segnen möge zum Segen Europas und zum Segen des Friedens in der Welt.“ Am 12. Mai 1949, am Tage der Aufhebung der Blockade Berlins, fand in Frankfurt am Main eine Schlußsitzung statt, an der die Militärgouverneure, die Ministerpräsidenten und Bürgermeister der Länder, der Oberbürgermeister von Berlin und eine Abordnung des Parlamentarischen Rates teilnahmen. Die Militärgouverneure überreichten die in einem Schreiben an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates, Adenauer, zum Ausdruck gebrachte Genehmigung des Grundgesetzes durch die Besatzungsmächte in der vom Parlamentarischen Rat am 8. Mai verabschiedeten Fassung. In Überein-stimmung mit der entsprechenden Bestimmung des Grundgesetzes wurde dieses den Land-tagen zur Ratifizierung zugewiesen und erklärt, daß nach dem Zusammentritt der im Grundgesetz vorgesehenen gesetzgebenden Körperschaften — Bundesrat und Bundestag — und nach erfolgter Wahl des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers sowie der Ernennung der Bundesminister die Regierung der Bundesrepublik Deutschland konstituiert sei und das Besatzungsstatut in Kraft trete.

Vom 16. bis 22. Mai ratifizierten zehn Länderparlamente das Grundgesetz. In Bayern führte die Frage, ob das Grundgesetz angenommen oder abgelehnt werden solle, zu einer leidenschaftlichen Diskussion. Schon am 6. Mai hatte Ministerpräsident Ehard in einer Rundfunk-ansprache unter Bezugnahme auf den Staat von Weimar und die Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfassung festgestellt, die bayerische Regierung sei nicht in der Lage, dem Grundgesetz zuzustimmen, da in diesem die zentralistischen Tendenzen gegenüber den föderalistischen Elementen überwiegen würden: „Weil wir hier eine Gefahr für die Zukunft Deutschlands sehen, müssen wir uns die Hand frei und sauber halten, damit wir in Zukunft diesen Gefahren begegnen können. Gerade wenn in Bonn das Pendel mehr nach der zentralistischen Seite zum Ausschlag kommt, ist es notwendig, daß Bayern seine Position als föderalistischer Gegenspieler im kommenden Bundestag und Bundesrat intakt hält." Der Bayerische Landtag lehnte am 20. Mai nach zum Teil tumultartigen Auseinandersetzungen mit 101 gegen 64 Stimmen bei 9 Enthaltungen das Grundgesetz ab Bedrängt von der Agitation der aufsteigenden Bayernpartei sprach sich der weitaus größte

Teil der Fraktion der Christlich-Sozialen Union, die über die absolute Mehrheit verfügte, für die von Ehard geprägte und propagierte Formel: „Nein zum Grundgesetz, Ja zu Deutschland" gegen das Grundgesetz aus. Vorsorglich hatte Ministerpräsident Ehard bereits am 15. Mai in einem Schreiben an die amerikanische Militärregierung versichert, Bayern werde sich der Entscheidung der Mehrheit der deutschen Länder unterwerfen. Diese Haltung, in der sich die innenpolitische Situation Bayerns niederschlug, wurde als Rückfall in den Partikularismus bezeichnet; sie war für die Beteiligung Bayerns an der Bundespolitik jedoch ohne Bedeutung.

Am 23. Mai, dem Tag der Eröffnung der 6. Sitzung des Rates der Außenminister in Paris, wurde die Ausfertigung des Grundgesetzes in einer festlichen Sitzung des Parlamentarischen Rates durch Unterschrift aller Abgeordneten, die KPD-Vertreter ausgenommen, vollzogen; die Ratifizierung wurde durch die Unterschriften der Landtagspräsidenten und der Ministerpräsidenten bestätigt. Der Präsident des Parlamentarischen Rates, Adenauer, fertigte daraufhin das Grundgesetz aus und verkündete es. Er sagte dabei: „Heute wird nach der Unterzeichnung und Verkündung des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte eintreten. Wir alle sind uns klar darüber, was das bedeutet Wer die Jahre seit 1933 bewußt erlebt, wer den völligen Zusammenbruch im Jahre 1945 mitgemacht, wer miterlebt hat, wie die ganze staatliche Gewalt seit 1945 von den Alliierten übernommen worden ist, der denkt bewegten Herzens daran, daß heute, mit dem Ablauf dieses Tages, das neue Deutschland ersteht ..."

In seiner 1966 veröffentlichten Studie „Das antiquierte Grundgesetz/Plädoyer für einezeitgemäße Verfassung" machte sich Helmut Lindemann zum Sprecher einer weitverbreiteten Auffassung, als er das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland als „oktroyierten Föderalismus" apostrophierte An die Spitze seiner Ausführungen stellte er die Bemerkung: „Es geht hier nun allerdings nicht darum, den Wert eines weltanschaulichen Föderalismus zu untersuchen, über die Nützlichkeit des katholischen Subsidiaritätsprinzips zu handeln qder gar in den Streit um die philo-sophisdie und theologische Grundlegung des Föderalismus einzugreifen. Es geht demnach nicht darum, ob etwa folgender Satz richtig oder falsch sei: Der Föderalismus ist also mehr und etwas Besseres als eine bloße Staatsform, ein bloßes Regierungssystem, er ist ein soziales Prinzip, eine Auffassung des Menschen und des Lebens.'Es geht vielmehr um ebendiese Staatsform, um ebendieses Regierungssystem und um die Frage, ob es angemessen und zweckmäßig war, den westdeutschen Nachfolgestaat des Deutschen Reiches in der föderalistischen Form aufzubauen, die ihm das Grundgesetz gegeben hat."

Seine Kritik an der im Grundgesetz verwirklichten Form des Föderalismus faßte Linde-mann in dem Urteil zusammen: „Die Entscheidung für den Föderalismus war also 1948 sowohl gewollt als auch erzwungen. , Halb zog sie ihn, halb sank er hin...'Die Entscheidung war auch verständlich, nur hätte man sie vernünftiger gestalten oder ihre unvernünftigen Teile seither revidieren können. Die eigentliche Kritik an den bundesstaatlichen Bestimmungen des Grundgesetzes richtet sich nicht gegen das föderalistische Prinzip, sondern vielmehr gegen dessen Verfälschung einerseits und andererseits gegen die Versteinerung der damals mehr oder minder erzwungenen Fehler im Grundgesetz selber. Die Verfälschung des föderalistischen Prinzips — im Aufbau von unten nach oben übernimmt jedes Glied diejenigen Aufgaben, zu deren Bewältigung es imstande ist, und gibt die übrigen nach oben ab — tritt am deutlichsten im Kulturföderalismus zutage. Daß die Länder allein für das Bildungswesen zuständig sein müssen, ist aus der föderalistischen Theorie nicht zu rechtfertigen. Gewisse Aufgaben können die Gemeinden leisten, andere übersteigen die Kräfte der Länder und müssen daher an den Bund abgegeben werden. Die im Grundgesetz verordnete ausschließliche Zuständigkeit der Länder ist von den Besatzungsmächten ebenso wie von der Mehrheit der deutschen Grundgesetzgeber hauptsächlich deshalb gewollt worden, weil die Nationalsozialisten das gesamte Bildungswesen zentralisiert hatten." Lindemann sprach damit aus, was seit 1948 Politiker, Wissenschaftler und Publizisten empfunden hatten. Der Unterschied zwischen Verfassungstext und Verfassungsverständnis kam in der Entfaltung der Bundesrepublik Deutschland deutlich zum Ausdruck.

6. Die gebremste Entwicklung zum unitarischen Bundesstaat

In seiner erstmals 1951 veröffentlichten Untersuchung „Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem" setzte sich Werner Weber ausführlich mit den „Fiktionen und Gefahren des westdeutschen Föderalismus“ auseinander Er verwies auf die Forderungen der Besatzungsmächte auf Auflockerung des deutschen Staates, polemisierte gegen den Anschein eines ursprünglichen oder fundamentalen Föderalismus und erklärte, der Föderalismus des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland sei nur fiktiv, und zwar in gleichem Grade wie die Staatlichkeit der heutigen, überwiegend dem Besatzungszonenregime entstammenden Länder eine bloß fiktive Größe sei.

Weber betonte, im Rahmen dieses Als-Ob-Föderalismus durchdringe das Grundgesetz doch das ganze Verfassungssystem mit föderalistischen Elementen, wie es von den Be-* Satzungsmächten gefordert war. Er unterstellte, daß manche Anhänger einer deutschen Föderativverfassung die föderalistische Verfassungsstruktur nur als zusätzliches Mittel der Gewaltenteilung begrüßten, während ihnen die eigentlich föderalistischen Anlagen weithin gleichgültig seien: „Aus prinzipiellem Mißtrauen gegen den Staat an sich ist ihnen die föderalistische Aufspaltung wegen ihrer zernierenden Wirkung selbst gerade willkommen." Weber vertrat die Meinung, der gewaltenteilende Formalföderalismus lasse es offen, wer die föderalistischen Machtpositionen für sich besetze und ausnütze, und verwies auf den Umstand, auch Parteien mit unitarischem Programm verschmähten es nicht, die föderalistischen Positionen, die sie kraft ihrer Mehrheit in einzelnen Ländern hätten, im Sinne ihrer politischen Ziele auszuschöpfen. Die Länder gerieten, vom Bunde aus betrachtet, in die Funktion der Hausmacht anderer Kräfte, vornehmlich der politischen Parteien und ihrer Koalitionen, und daneben ihrer Bürokratien. Weber setzte sich nach seinen grundsätzlichen Darle-gungen ausführlich mit allen föderativen Elementen des Grungesetzes für die Bundesrepublik Deutschland auseinander. Er besprach die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern, die er als formell ganz bundesstaatlich nannte, untersuchte die These, daß auch die Justizhoheit beim Bunde, nicht bei den Ländern liege, verwies auf das unbestrittene Übergewicht der Länder in der Verwaltung, charakterisierte die Ausgestaltung der Bundesaufsicht über die Länder, ging auf den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern ein und beschäftigte sich mit dem Bundesrat, den er zu den am meisten schillernden Schöpfungen des Grundgesetzes rechnete. Er vertrat die Auffassung, die im Bundesrat bestimmenden Kräfte machten ihn zu „einer dunklen, von kühler Distanziertheit umgebenen Größe im politischen Kräftespiel, zum Träger einer im Schatten bleibenden potestas indirecta".

Seine Kritik faßte Werner Weber in der Feststellung zusammen: „Im ganzen ein verwirrendes Bild, das der konstituierte Föderalismus des Grundgesetzes bietet, verwirrend auch noch, wenn man es, wie hier, auf die Grundlinien reduziert. Das Grundgesetz schwankt zwischen Konzessionen an die Forderungen der Besatzungsmächte, eigener Anerkennung maßvoll föderalistischer Konstruktionsgedanken und der Einsicht, daß es im Grunde einen Atavismus bedeutet, das heutige, klein gewordene Deutschland als einen Bund von Staaten zu begreifen. Im Ergebnis hat es den Ländern die Rolle von Verwaltungseinheiten von autonomen Selbstverwaltungskörperschaften höherer Ordnung zugewiesen. Dieser Dezentralisationsgedanke ist fruchtbar und entwicklungsfähig. Was das Grundgesetz sonst an wiederbelebten föderalistischen Einrichtungen aufweist, kommt weniger echt föderativen Kräften und Anliegen als dem Gewaltenteilungsprinzip an sich, den parteipolitischen Gruppen und ihren Kombinationsmöglichkeiten und der Verwaltungsbürokratie zugute." Er beschloß seine Kritik mit der Feststellung, eine organische Verfassungsentwicklung müsse die fiktiven und oktroyierten Elemente im Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland überwinden, jedoch nicht aus Ablehnung des hündischen Verfassungsbetriebes überhaupt: „Aber die föderalistische Verfassung ist nicht mehr eine deutsche, sondern eine europäische Aufgabe.“

Diese ausgewogene Kritik, die einen Bundesstaat für die Bundesrepublik Deutschland in Zweifel stellte, jedoch eine europäische Föderation bejahte, wurde zum Ausgangspunkt des wachsenden Unbehagens am Föderalismus das sich vor allem in der Beurteilung des Bundesrates und des Finanzausgleiches zwischen Bund und Ländern artikulierte. Sie leitete einen die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland begleitenden Prozeß des verfassungsrechtlichen Verständnisses und auch der Urteilsbildung über den Föderalismus ein. Mit der Schaffung des Bundesrates wurde in der Struktur der Bundesrepublik Deutschland dem „Element Land" Geltung verschafft und, wie von seinen Befürwortern erhofft, eine Verfassungstradition fortgesetzt. Der Bundesrat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist weniger als der Bundesrat nach der Reichsverfassung vom 16. April 1871 und mehr als der Reichsrat nach der Reichsverfassung vom 11. August 1919. Er ist keine introvertierte Vertretung der Länder, sondern ein Organ des Bundes, mit Hilfe dessen die Länder an der Gesetzgebung und an der Verwaltung des Bundes mitwirken. Der Ewige Reichstag des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und die Bundesversammlung des Deutschen Bundes waren vergleichbare Vertretungen der deutschen Staaten; in ihnen überwog jedoch unverkennbar das partikulare Element. Der Bundesrat nach der Reichsverfassung vom 16. April 1871 hatte, wie dargelegt, eine mehrfache Funktion. Bismarck bezeichnete ihn als den eigentlichen Souverän des Deutschen Reiches — wofür er jedoch nicht die Zustimmung vor allem späterer Staatsrechtslehrer fand. Der Bundesrat wirkte, obwohl er die Rechte der Gliedstaaten wahrzunehmen hatte, unitarisch im Sinne eines ausgeglichenen Bundestaates. Der Reichsrat nach der Reichsverfassung vom 11. August 1919 war eine auf deklamatorische Übungen beschränkte föderative Verfassungsattrappe, die ohne politische Wirksamkeit war.

Der Bundesrat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 sichert den Ländern eine Mitwirkung an der Gesetzgebung und der Verwaltung des Bundes zu; er steht verfassungsrechtlich zwischen dem Reichsrat des republikanischen Deutschen Reiches und dem Bundesrat des kaiserlichen Deutschen Reiches, letzterem näher als ersterem. Er ist ein Organ des Bundes, nicht ein gemeinsames Organ der Länder oder ein Organ der Länder und des Bundes zugleich. Die Länder nehmen im Bundesrat keine Landes-, sondern Bundesaufgaben wahr, wobei sie zwangsläufig von ihren Interessen, Einsichten und Überzeugungen geleitet werden. Obwohl der Bundesrat aufgrund der Zusammensetzung der Landesregierungen politisch ausgerichtet ist, sind seine Entscheidungen in erster Linie sachorientiert und sachbezogen. Politische Konstellationen haben bisher weder im Bund noch in den Ländern zu einer vollständigen Politisierung des Bundesrates geführt, obwohl Ansätze dazu immer wieder mit dem Ziele unternommen worden sind, der politischen Konstellation des Bundes eine politische Gruppierung der Länder im Bundesrat entgegenzustellen. Die unmittelbaren Einsichten der Landesregierungen und die Erfahrungen der Ministerialbürokratie der Länder haben entscheidenden Anteil daran, daß der Bundesrat nicht nur ein Korrelativ, sondern auch ein Korrektiv der Bundespolitik geworden ist, obwohl er nicht die exklusive Stellung des Bundesrates nach der Reichsverfassung vom 16. April 1871 inne hat.

In den Augen der Öffentlichkeit ist der Bundesrat der amtliche Repräsentant des föderativen Prinzips in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Diese Auffassung ist so weit zulässig, wie neben den unitarischen Organen des Bundes, Bundestag, Bundespräsident, Bundesregierung, Bundesminister, ein Bundesorgan tritt, das sich aus Vertretungen der Länder zusammensetzt. Diese selbst verstehen den Bundesrat als das verfassungsrechtliche Instrument, mit Hilfe dessen sie an der Willensbildung des Bundes teilnehmen können. Diese Absicht bekunden die Präsidenten des Bundesrates in den Ansprachen anläßlich der offiziellen Übernahme ihres Amtes.

Bei der ersten Sitzung des Bundesrates am 8. September 1949 erklärte sein erster Präsident, der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold (CDU): „Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit. Nach Artikel 53 des Grundgesetzes haben die Mitglieder der Bundesregierung das Recht und auf Verlangen die Pflicht, an den Verhandlungen des Bundesrates und seiner Ausschüsse teilzunehmen. Sie müssen jederzeit gehört werden. Der Bundesrat ist von der Bundesregierung über die Führung der Geschäfte auf dem laufenden zu halten. Uns alle bewegt nur die Hoffnung, daß der Bundesrat auf diesem Gebiet eine höchst wirkungsvolle Klammer bildet, die gerade dann in Wirksamkeit tritt, wenn die Leidenschaften den Sinn für das Ganze zu gefährden drohen. So ist der Bundesrat nach dem Willen des Verfassungsgebers das unentbehrliche Mittlerorgan zwischen dem Bund und den Ländern. Die in den Bundesrat entsandten Mitglieder der Landes-regierungen stimmen nach ihrer freien Gewissensüberzeugung, aber aus der einheitlichen politischen Gesamtlinie heraus, die sie in ihren heimatlichen Kabinetten immer wieder selbst erarbeiten und tragen, so daß die Freiheit ihres Entschlusses lediglich durch die kollegiale Zusammenarbeit in den Landes-regierungen, durch die innere Verpflichtung, den Landeswillen als solchen zu repräsentieren, und durch das Bewußtsein der Verantwortlichkeit gegenüber der parlamentarischen Vertretung ihres Landes begrenzt wird. Ich möchte an dieser Stelle auch darauf hinweisen, daß der alte, im Jahre 1871 geschaffene Bundesrat ebenso wie der Reichsrat der Weimarer Republik eine qualitativ hochwertige, vom Willen absoluter Sachlichkeit bestimmte Arbeit geleistet hat. Als der Reichstag im Jahre 1930 bereits funktionsunfähig geworden war, blieb der Reichsrat noch voll arbeitsfähig und ist es bis zu seiner verfassungswidrigen Auflösung im Jahre 1933 geblieben.“

Vier Jahre später, am 30. Oktober 1953, verteidigte der Ministerpräsident des Landes Hessen, Georg August Zinn (SPD), nach der Übernahme des Amtes des Bundesratspräsidenten den politischen Chrakter des Bundes-organs der Länder: „Nach seiner Zusammensetzung und seiner Funktion ist der Bundesrat ein politisches Organ. Er besteht nach der wohlüberlegten Absicht des Verfassungsgesetzgebers aus Mitgliedern der Landes-regierungen, die sich nicht wie in dem Reichsrat der Weimarer Zeit durch weisungsgebundene Beamte vertreten lassen können. Seine Mitglieder sind infolgedessen den Parlamenten der Länder verantwortlich. Er ist als Bundesorgan dazu berufen, im Rahmen seiner Zuständigkeit an der politischen Willensbildung des Bundes mitzuwirken. Ich frage mich: Wie sollte er dieser Aufgabe gerecht werden, ohne politische Entscheidungen zu treffen? Auch im Bundesrat wird und muß sich deshalb in Lebensfragen der Nation — wenn auch in maßvoller Form — die Verschiedenheit der Auffassungen, die in unserem Volke lebendig sind, widerspiegeln. Aber ich glaube, er ver-mag gar manchmal bei der ihm eigenen sorgfältigen, leidenschaftslosen und vorsichtigen Abwägung ausgleichend zu wirken. Neutrale Beobachter der laufenden Bundesratsarbeit haben immer wieder seine und seiner Ausschüsse sachliche und objektive Arbeit lobend hervorgehoben. Soweit Meinungsverschiedenheiten im Bundesrat bestanden, deckten sie sich in der Regel nicht mit den parteipolitischen Fronten im Bundestag, sondern sie hatten ihre Ursache in den verschiedenartigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen der einzelnen Länder oder aber in abweichenden Rechtsauffassungen. Auch bei Fragen, die innerhalb des Bundestages Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen waren, hat der Bundesrat häufig eine einheitliche Stellung bezogen, sei es, daß das wohlverstandene Interesse der Länder, die sich dennoch als Glieder einer Einheit betrachten, im Vordergrund stand oder daß die Mitglieder des Bundesrates aus der größeren Lebensnähe der Verwaltungen der Länder einheitliche Vorschläge für die Gestaltung und Ausführung eines bestimmten gesetzgeberischen Planes gemacht haben. Angesichts der gemeinsamen Grundlage, die seither die Atmosphäre der Bundesratstätigkeit bestimmt hat, kann es nach meinem Gefühl nur als verfehlt empfunden werden, wenn versucht werden sollte, den Bundesrat zu einem verkleinerten Spiegelbild seines größeren Bruders, des Bundestages, umzugestalten."

Die beiden Erklärungen bringen zum Ausdruck, daß die Präsidenten des Bundesrates unbeschadet ihrer Parteizugehörigkeit die von ihnen vertretene Institution zwar als Bundes-organ verstehen, jedoch die dadurch sichergestellte Beteiligung der Länder an der Gesetzgebung für entscheidend erachten. Sie stimmen in der Auffassung überein, daß der Bundesrat sich nicht nur bewährt hat, sondern auch bei einer partiellen oder totalen Verfassungsreform erhalten bleiben sollte.

Während die rechtliche Stellung des Bundes-rates unverändert blieb, verringerte sich in dem Maße sein politisches Gewicht, in dem der Bund durch Subventionen und schließlich durch Änderungen des Grundgesetzes seine Kompetenzen erweiterte und sich in Richtung eines zur Vereinheitlichung tendierenden Bundes-staates entwickelte. Als entscheidende Stationen dieses Prozesses der Gewichtsverlagerung zuungunsten des Bundesrates waren die Auf-Stellung bewaffneter Streitkräfte, die in Etappen anvisierte und vorbereitete Verfassungsreform und schließlich die Ausweitung der Zuständigkeit im Bereich der Bildungspolitik, für den der Bund zunächst keine Kompetenzen hatte. Indem der Bundesrat diese Entwicklung zwar nicht stürmisch begrüßte, jedoch auch nicht verhinderte (auch wenn er vor ihren Konsequenzen warnte), brachte er zum Ausdruck, daß er berechtigten Bedürfnissen der Verfassungsentwicklung zu entsprechen durchaus bereit sei. Die Interpretation dieses Vorganges ist z. T. gegensätzlicher Art. Die einen sehen darin eine zielstrebige Demontage des föderativ angelegten Bundesstaates, an deren Ende ein Einheitsstaat, der Traum deutscher Geschichte und deutschen Selbstverständnisses, steht, die anderen sprechen von einer Mutation des partikularen Föderalismus zum kooperativen Föderalismus. Der Begriff kooperativer Föderalismus ist eine deklamatorische Leerformel, denn dem Föderalismus ist nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Bereitschaft zur Kooperation immanent. Die Gefahr, durch das Schlagwort . kooperativer Föderalismus'von dem angestrebten Ziel abzulenken, ist verbal nicht zu bannen.

Die Stellung des Bundesrates wird durch diese Begriffsmanipulationen nicht verfassungsrechtlich, wohl aber verfassungswirklich verändert; er gerät in Gefahr, seine labil angelegte, jedoch zunächst stabilisierte Stellung zu verlieren, so daß schließlich seine Notwendigkeit in Zweifel gezogen wird. Da nicht nur in der geschichtlichen und verfassungsrechtlichen Vorstellung eine Interdependenz zwischen der Position des Bundesrates, eines von den Ländern getragenen Bundesorgans, und dem Stellenwert des Föderalismus in Deutschland besteht, sind die Wechselbeziehungen zwischen dem Einfluß des Bundesrates und dem Ansehen des Föderalismus nicht zu übersehen. Eine als Neugliederung des Bundesgebietes firmierte Regionalisierung der Bundesrepublik Deutschland könnte durchaus föderativ angelegt sein, würde jedoch zu einer Verprovinzialisierung führen, wenn die Regionen entscheidende Kompetenzbereiche der Länder an den Bund abtreten müßten und in der Bundes-gewalt nicht vertreten wären. Die Position des Föderalismus ist in Deutschland an die Existenz von Gliedstaaten oder Ländern und an ihre Vertretung in der Reichs-oder Bundesgewalt gebunden. Jeder Versuch, den Bundesrat in seiner Wirksamkeit einzuschränken oder in seiner verfassungsrechtlichen Position ZU erschüttern, hat Rückwirkungen auf das Ansehen des Föderalismus in Deutschland.

Durch seine Flexibilität hat der Bundesrat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland bewiesen, daß er fähig und auch willens ist, sich den Bedürfnissen der sich wandelnden Gesellschaft anzupassen. Auch dort, wo er allzu stürmische Entwicklungen abgebremst hat, hat er sich nicht als Hindernis für den Fortschritt gezeigt.

Die Aufteilung des Deutschen Reiches in zunächst separierte Besatzungszonen beendete die reichseinheitliche Finanzwirtschaft. Der in den einzelnen Besatzungszonen vorgenommene Finanzausgleich zwischen den Ländern befriedigte weder systematisch noch finanz-wirtschaftlich. Seine Ausgleichswirkung war völlig unzureichend. Die durch das Fehlen einer Zentralgewalt erzwungene „Finanzautarkie" der Länder führte zu erheblichen Mißverhältnissen in der regionalen Leistungskraft, zu hohen Überschüssen der leistungsstarken und zu hohen Fehlbeträgen der finanz-schwachen Länder.

Erst nach der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland kam es wieder, auf der Grundlage der dargestellten Entscheidungen des Parlamentarischen Rates, zu einem Finanz-ausgleichzwischen Bund und Ländern, der die finanzielle Selbständigkeit von beiden in vollem Umfang wahrte. Da nach Artikel 106 Absatz 3 des Grundgesetzes der Bund berechtigt ist, durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, einen Teil der Einkommen-und Körperschaftssteuer zur Deckung seiner durch andere Einkünfte nicht gedeckten Ausgaben in Anspruch zu nehmen, hat er die Möglichkeit, einen den Verhältnissen angepaßten vertikalen Finanzausgleich zwischen ihm Und den Ländern vorzunehmen und zugleich durch nicht zweckgebundene Zuschüsse einen horizontalen Finanzausgleich unter den Ländern zu begünstigen. Durch die Übernahme von Kriegsfolgen und Soziallasten und einer Reihe weiterer Lasten von überregionaler Bedeutung (z. B. Wasserstraßen, Autobahnen, Fetnstraßen usw.) erhöhte sich der Finanzbedarf des Bundes, der durch die Einnahmen aus den in Artikel 106 Absatz 1 des Grundgesetzes genannten Steuern, soweit sie bisher für Rechnung der Länder erhoben worden waren, gedeckt wurde.

Eine äußerst differenzierte Erörterung des Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern einerseits und unter den Ländern andererseits setzte ein, als die steigende finanzielle Belastung des Bundes durch sozialpolitische Ausgaben und durch außenpolitische Verpflichtungen durch die Einnahmen des Bundes nicht gedeckt werden konnten. Die Folge war der Übergang von dem im Grundgesetz vorgesehenen festen Trennsystem zum System einer elastischen Steueraufteilung zwischen Bund und Ländern und die zunehmende Notwendigkeit eines Ausgleichs unter den Ländern. Gleichzeitig wurden die Mängel des Finanzsystems des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland deutlich. Der vertikale Finanzausgleich war durch den Zwang belastet, die Bundesbeteiligung an der Einkommen-und Körperschaftssteuer für jedes Rechnungsjahr neu festzulegen. Die dadurch alljährlich bedingten Auseinandersetzungen Verschlechterten die Beziehungen zwischen Bund und Ländern und brachten den Föderalismus zwangsläufig in ein Zwielicht. Sie erschwerten die über ein Haushaltsjahr hinausgehende Finanzplanung des Bundes und auch der Länder und setzten den Bundesrat dem Verdacht aus, die ihm als Bundesorgan zustehende Kritik am Bundeshaushalt ausschließlich nach'den Finanzinteressen der Länder zu orientieren. Auch der horizontale Finanzausgleich unter den Ländern erwies sich als unzureichend, zumal das dabei zur Anwendung kommende System als zu kompliziert erschien. Die darüber geführte Diskussion griff die Frage auf, ob das föderative Verfassungsprinzip einen zentralen Vollzug, d. h. einen vertikalen Finanzausgleich unter den Ländern zulasse. Beide Umstände, die Unzulänglichkeiten des horizontalen und die Probleme des vertikalen Finanzausgleiches verstärkten das Interesse an der Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleiches, das auch durch den provisorischen Charakter der 1949 angenommenen Form des Finanzausgleiches gefördert worden war. Die Diskussion darüber begann 1954, kam endgültig jedoch erst 1969 zum Abschluß. Alle zwischenzeitlich getroffenen Regelungen hatten vorläufige Bedeutung. Ihre Verabschiedung erfolgte ohne nennenswerte Anteilnahme der Offentlichkeit, die bedingt war durch die Kompliziertheit der Materie und durch die Verringerung der nur rudimentär vorhandenen Anteilnahme am Föderalismus überhaupt.

In der Begründung zu den am 19. März 1954 von der Bundesregierung vorgelegten drei Gesetzen, dem Finanzverfassungsgesetz, dem Finanzanpassungsgesetz und dem Länderfinanzausgleichsgesetz, hieß es nach einer Skizzierung und Beurteilung über die Formen des Finanzausgleiches zwischen 1871 und 1954: „Die Rückschau auf die wechselnden Gestaltungstendenzen, die mannigfaltigen Hemmungen und Fortschritte der finanzverfassungsrechtlichen Entwicklung läßt erkennen, wie stark neben finanziellen und ökonomischen Erfordernissen auch staats-und verwaltungspolitische Zielsetzungen die vielfältigen Lösungsversuche in Deutschland bestimmt haben, in welchem Ausmaß eine sachgerechte Lösung aber auch durch finanzopportunistische oder machtpolitische Bestrebungen erschwert worden ist. Es liegt in der Natur der Sache, daß die dem Bundesstaat eigentümliche Polarität zwischen den föderativen (in der Übersteigerung partikularistischen) und den unitarischen (in der Übersteigerung zentralistischen) Kräften auch die bundestaatliche Finanzverfassung beherrscht. Das Nebeneinander mehrerer Hoheitsträger in einem Staatsgebiet und ihre vielfältigen Verflechtungen führen notwendig zu einem Spannungsverhältnis, das nicht nur im gegenseitigen Behaupten des eigenen Hoheitsbereichs, im ständigen Ringen um den Anteil an der politischen Willensbildung und Willensbestätigung, sondern ebenso deutlich auch in der Auseinandersetzung um die zur Kompetenzausübung unentbehrliche Finanzgewalt, insbesondere um die Beteiligung am Ertrag der nationalen Steuerleistung zum Ausdruck kommt. Dieser natürliche Interessengegensatz, der sowohl zwischen dem Zentralstaat und seinen Gliedstaaten wie zwischen den Gliedstaaten untereinander besteht, erschwert die dem Bundes-verband gestellte Aufgabe, den Kräften der einzelstaatlichen und örtlichen Selbstverwaltung weitgehende Entfaltungsmöglichkeiten zu sichern, zugleich aber die politischen und ökonomischen Kräfte der Gesamtnation zu höchster Wirksamkeit zusammenzufassen. Zwischen diesen polaren Zielsetzungen hat die praktische Staatspolitik eine ordnende und ausgleichende Synthese zu finden. Ein Bundesstaat, in dem die aufgeteilten Kompetenzen sich nicht sinnvoll ineinanderfügen, in dem die Gegensätzlichkeiten der Einzelglieder stärker zur Geltung kommen als die gemeinsame Verantwortung für das Ganze, erweist sich als nicht lebensfähig. Aus dem Wesen des hündischen Zusammenschlusses ergibt sich für alle Beteiligten die verfassungsrechtliche Pflicht zur Bundestreue, zum verständnisvollen Zusammenwirken und zur loyalen Wahrung der berechtigten Belange des Ganzen und jedes seiner Teile. Hier bildet der Gesamtkomplex des Finanzausgleichs die große Klammer, die den Bundestaat finanziell zusammenhält und seine Glieder in der gemeinsamen Verpflich. tung bindet, ihre Finanzpolitik in der großen Linie aufeinander abzustimmen, ihre Haushaltsführung den Bedürfnissen eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes unterzuordnen und insbesondere auf die begrenzte steuerliche Leistungsfähigkeit der nationalen Volkswirtschaft Rücksicht zu nehmen. Diese föderative Verpflichtung gewinnt an Bedeutung, je ausgedehnter der Tätigkeitsbereich der öffentlichen Hand ist, je fühlbarer die steuerliche Belastung der Volkswirtschaft sich auswirkt und je mehr die beteiligten Gebietskörperschaften in ihrer finanziellen Bewegungsfreiheit eingeengt sind; zugleich erhöht sich die Schwierigkeit, aber auch die Notwendigkeit, ein finanzielles Ordnungs-und Ausgleichs-System zu schaffen, das die Erträgnisse der nationalen Steuerkraft planmäßig, wirtschaftlich und gerecht auf die Einzelglieder des bundesstaatlichen Gesamtverbandes verteilt.“

Diese Ausführungen betonen die hohe Bedeutung des Finanzausgleichs sowohl für die Struktur als auch für die Entwicklung des Bundesstaates. Die Form des Finanzausgleiches bestimmt den Charakter des Bundesstaates. Diese These ist für die Beurteilung des föderativen Prinzips vor allem in Deutschland in vollem Umfang zutreffend. Von der den sich ändernden Verhältnissen angepaßten Ausgewogenheit des Finanzausgleiches hängt das Schicksal des Föderalismus vor allem in Deutschland ab. Da sich sowohl die regionalen Verhältnisse als auch die an den Bundesstaat gestellten Forderungen laufend ändern, muß die Ordnung des Finanzausgleiches zwangsläufig dynamisch, nicht statisch sein, wenn sie sich den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen adaptieren will. Die Unbeweglichkeit der in den jeweiligen Verfassungen festgelegten Formen des Finanzausgleiches schadet dem Ansehen des Föderalismus gerade in Deutschland, auch wenn nur ein beschränkter Teil der öffentlichen Meinung die Auseinandersetzungen darüber aufmerksam verfolgte. Auch in der Bundesrepublik Deutschland trugen die Unzulänglichkeiten des vom Parlamentarischen Rat für eine Übergangssituation geschaffenen Finanzausgleichs entscheidend zur Minderung des Ansehens des Föderalismus bei, zumal dem Föderalismus eine ihm nicht eigene Bremswirkung für gesellschaftliche Veränderungen nachgesagt wurde. Am An-fang stand das Finanzverfassungsgesetz vom 23. Dezember 1955 und das dazu ergangene Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Artikels 106 des Grundgesetzes vom 24. Dezember 1956 Beide gesetzgeberischen Maßnahmen regelten die Aufteilung des Ertrages aus der Einkommen-und Körperschaftsteuer zwischen Bund und Ländern. Sie führten zu einer Stabilisierung des Finanzausgleichs, lösten jedoch nicht alle anstehenden Probleme. Deren Zahl vermehrte sich in den folgenden Jahren, als erkennbar wurde, daß gewisse Aufgaben von den Ländern nicht allein, sondern nur von Bund und Ländern gemeinsam bewältigt werden können. Als Gemeinschaftsaufgaben in diesem Sinne wurden bezeichnet: , 1. Ausbau und Neubau von wissenschaftUchen Hochschulen einschließlich der Hochschulkliniken, 2. Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, 3. Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes." Ferner wurde ein Zusammenwirken von Bund und Ländern im Forschungsbereich und bei der Bildungsplanung festgesetzt. Die Beteiligung des Bundes an Länderaufgaben bedingte eine Neuordnung des Finanzausgleiches, der den Bund in die Möglichkeit versetzte, den ihm dadurch übertragenen Aufgaben nachzukommen. Das Ergebnis war die Grundgesetzänderung vom 12. Mai 1969, die in das Grundgesetz den Abschnitt VIII a Gemeinschaftsaufgaben, Artikel 91 a Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern, Artikel 91 b Zusammenwirkung bei der Bildungsplanung und der Wissenschaftsförderung einfügte Gleichzeitig erfolgte im Rahmen der Finanzreform eine Abgrenzung der Aufgaben und der Finanzverantwortung für Bund und Länder, die Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und die Gemeindefinanzreform.

Franz Josef Strauß, der als Bundesminister der Finanzen 1966— 1969 bei der Neuordnung der Finanzverfassung federführend war, erklärte zu ihrem Abschluß, „daß der Föderalismus mit der Finanzreform eine große Bewährungsprobe bestanden hat". Er versicherte gleichzeitig: „Die Finanzreform gibt Bund, Ländern und Gemeinden neue Grundlagen für ihr Handeln, sie schafft eine verfassungsrechtliche Ordnung des Zusammenwirkens von Bund, Ländern und Gemeinden, sie führt zu einer besseren Steuer-aufteilung und gibt klare Regelungen für die Steuergesetzgebung und Steuerverwaltung. All das wird erreicht, ohne daß der Staatsbürger durch höhere Steuern belastet wird. All das war jedoch nur zu erreichen, weil bei diesem großen Werk partikulare Interessen im Interesse der Gemeinschaft zurückgestellt wurden. Unsere parlamentarische Demokratie hat bewiesen, daß sie in der Lage ist, große Aufgaben zu meistem." Strauß äußerte die Überzeugung, daß Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat bei der Reform der Finanzverfassung gemäß der Idee des kooperativen Föderalismus handelten, fügte jedoch gleichzeitig hinzu, ein Schlußstrich unter die Arbeiten an der Finanz-reform könne erst gezogen werden, „wenn die Durchführungsgesetze im Geiste des kooperativen Föderalismus beschlossen sind"

Durch ihre Zustimmung sowohl zur Beteiligung des Bundes an den Gemeinschaftsaufgaben als auch an der Finanzreform bewiesen die Länder ihre Bereitschaft, den Abstand zwischen der Entwicklung der Gesellschaft und der Struktur der Staatsordnung nicht nur zu verringern, sondern zu beseitigen. Sie verzichteten damit bewußt auf die Möglichkeit, mit Hilfe des Föderalismus von der Entwicklung überholte Positionen zu verteidigen, womit sie zu erkennen gaben, daß sie den Föderalismus dynamisch verstehen und auslegen.

Dieses Entgegenkommen der Länder bedingt ein Entgegenkommen des Bundes. Er kann nicht, wenn er sein verfassungsrechtliches Selbstverständnis als Bundesstaat nicht zur Farce werden lassen will, Aufgaben an sich ziehen oder Aufgaben behalten, die von den Ländern ebensogut, ja vielleicht sogar besser gelöst werden können. Die Vorstellung der deutschen Einheitsbewegung, der gemeinsame Staat müsse ein einheitlicher Staat sein, schlägt bei zahlreichen Ansichten, Empfehlungen und Forderungen immer wieder durch, weil auch nach der spektakulären Katastrophe des deutschen Nationalismus Unität mit Uniformität verwechselt wird. Mit dem wachsenden Abstand vom Jahre 1945 scheint die Einsicht in die Gefahren des zentralistischen Staates zu verblassen und die Tendenz zur Identität von Einheit und Einheitlichkeit wieder zu erstarken.

Der Entwicklung zum unitarischen Bundesstaat, die in der Ausweitung der Kompetenz des Bundes und in der Gestaltung des Finanz-ausgleichs z’vischen Bund und Ländern sichtbar wurde, versuchte das Bundesverfassungsge-richt mit exemplarischen Urteilen entgegenzutreten, in denen es das „Element Land" gegenüber dem Bund zu stärken bestrebt war. Vor allem seine Urteile im „Konkordatsprozeß“ und im „Fernsehstreit" zwischen Bund und Ländern verteidigten die Rechte der Länder im kulturpolitischen Bereich.

In dem am 26. März 1957 verkündeten Urteil im „Konkordatsprozeß’ stellte der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts in Anerkennung des Prinzips der Vertragstreue fest:

„Die völkerrechtliche Weitergeltung des Reichskonkordats hat zur Folge, daß die sich daraus ergebenden beiderseitigen Verpflichtungen von den Vertragspartnern zu erfüllen sind. Im Geltungsbereich des Grundgesetzes ist als Partner des Reichskonkordats die Bundesrepublik Deutschland — das sind verfassungsrechtlich der Bund und die Länder als ein Ganzes — anzusehen.“ Unter Bezugnahme auf die durch das Grundgesetz vorgenommene Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern führte der erkennende Senat weiter aus: „Die Verpflichtungen aus den Schulbestimmungen dieses Konkordats können aber nach dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland nur von den Ländern erfüllt werden, da dem Bund die Verfassungskompetenz auf dem Gebiete des Schulrechtes fehlt."

Einerseits wurde die Weitergeltung des Reichskonkordats bestätigt, andererseits jedoch festgestellt, daß der Vollzug der Schulbestimmungen Sache der Länder sei, auf die der Bund keinen Einfluß ausüben könne. Diese Lösung befriedigte die Bundesregierung als Antragstellerin nicht, bestätigte jedoch die überragende Stellung der Länder auf dem Gebiet der Kulturpolitik. Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts gab dem Bund nicht das Recht, zur Erfüllung von ihn bindenden völkerrechtlichen Verpflichtungen die Zuständigkeitskompetenz der Länder in Frage zu ziehen. Schützend stellte er sich vor die Länder, obwohl er den Widerspruch zwischen Völkerrecht und Bundesstaat zugab

Am 28. Februar 1961 verkündete der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts im „Fernsehstreit’ sein Urteil, indem er Teile des hamburgischen Gesetzes, betreffend den Staatsvertrag über den Norddeutschen Rundfunk vom 10. Juni 1955, als mit dem Grundgesetz unvereinbar und daher als nichtig bezeichnete und gleichzeitig erklärte, der Bund habe durch die Gründung der Deutschland-Fernsehen GmbH gegen Artikel 30 in Verbindung mit dem VIII. Abschnitt des Grundgesetzes sowie gegen den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens und gegen Artikel 5 des Grundgesetzes verstoßen.

Im Rahmen der Begründung seiner Entscheidung machte der 2. Senat grundsätzliche Ausführungen über die Wechselbeziehungen zwischen Bund und Ländern: „Im deutschen Bundesstaat wird das gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat seinen Gliedern sowie das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen den Gliedern durch den ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz von der wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten beherrscht.“

In der Auseinandersetzung über die Gründung der Deutschland-Fernsehen GmbH beanstandete der 2. Senat die politische Manipulation der Länder, indem er ausführte: „In der Bundesrepublik Deutschland haben alle Länder den gleichen verfassungsrechtlichen Status; sie sind Staaten, die im Verkehr mit dem Bund Anspruch auf gleiche Behandlung haben. Wo Immer der Bund sich in einer Frage des Verfassungslebens, an der alle Länder interessiert und beteiligt sind, um eine verfassungsrechtlich relevante Vereinbarung bemüht, verbietet ihm jene Pflicht zu bundes-freundlichem Verhalten, nach dem Grundsatz divide et impera zu handeln, d. h. auf die Spaltung der Länder auszugehen, nur mit einigen eine Verständigung zu suchen und die anderen vor den Zwang des Beitritts zu stellen."

Das Urteil löste ein großes politisches, publizistisches und juristisches Echo aus. Die Verteidiger der bestehenden Rundfunk-und Fernsehorganisation gaben zu bedenken, daß das Bundesverfassungsgericht einen Einbruch des Bundes in die Kompetenzbereiche der Länder abzuwehren entschlossen war. Die Befürworter eines vom Bund getragenen zweiten Fernsehens übten heftige Urteilsschelte, weil sie den Ausschluß des Bundes von den Massenmedien als eine Benachteiligung empfanden. Urteile dieser Art gaben dem Föderalismus eine starke verfassungsrechtliche Abstützung. In der Öffentlichkeit nahm zum selben Zeitpunkt eine Diskussion ihren Anfang, die dem Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland die Versäumnisse in der Bildungspolitik anlastete. In seiner Streitschrift zur Schulpolitik „Anpassung oder Widerstand? Soziologische Bedenken zur Schulreform" setzte sich der Soziologe Helmut Schelsky mit dem Rahmenplan des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs-und Bildungswesen auseinander. Für sein Scheitern machte er die föderalistische Struktur der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich, vor allem den Grundsatz der Kulturhoheit der Länder. Dabei ließ er durchblicken, daß dieser unmittelbar nach 1945 eine gewisse Berechtigung gehabt haben konnte, als Deutschland in Besatzungszonen zerstükkelt war und die Erinnerung an den Kulturzentralismus des Dritten Reiches noch abschwächend nachwirkte. Er bedauerte jedoch, daß die Parteien im ganzen oder mit einflußreichen Gruppen an ihm festhielten. Einen Ausweg sah Schelsky in der Schaffung eines Rahmenministeriums für „Schul-und Wissenschaftsplanung" innerhalb der Bundesregierung

Die Auseinandersetzungen über das „Vordrängen des Kanzleiföderalismus", in dem Gerhard Stoltenberg (CDU) neue Gefahren für den Bund sah wurden defensiv geführt. Im Frühherbst 1962 gab der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard, amtierender Präsident des Bundesrats, zu bedenken: „Eine föderative Staatsordnung stellt freilich höhere Anforderungen an das Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Gemeinschaft als zentralistische Gestaltungen, deren Handhabung in der Politik nicht selten bequemer sein mag. Das gegenseitige Verhältnis der in einem Bundesstaat vereinigten Staaten muß bestimmt sein von dem Gesichtspunkt der Bundestreue. Die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten mit den aus ihr sich ergebenden Forderungen gilt in gleicher Weise für Bund und Länder. Dies verlangt manchmal auch die Bereitschaft und die Kraft, berechtigte eigene Anliegen zugunsten höherer Interessen des andern zurückzustellen. Wahrer Föderalismus bedeutet Subsidiarität und Koordination, bestimmt von dem Bewußtsein der Gleichwertigkeit des Ganzen und seiner Glieder und von williger Bereitschaft zum Verständnis für die echten Anliegen der Beteiligten. Die Frucht erfolgreicher Bemühungen um einen derart lebenskräftigen und wirklichkeitsnahen Föderalismus ist die Stärkung und Sicherung der Freiheit."

An gleicher Stelle beantwortete der niedersächsische Kultusminister Richard Voigt (SPD) die Frage „Brauchen wir ein Bundeskultusministerium?" mit der zusammenfassenden Feststellung: „Es stimmt einfach nicht, daß der Föderalismus eine zeitgemäße Kulturpolitik verhindere. Der zur ständigen Koordination, zur gegenseitigen Rücksichtnahme, zur demokratischen Diskussion zwingende Förderalismus hält und stärkt vielmehr die Verantwortung des einzelnen. Er verpflichtet Länder und Bund, die sich jeweils stellenden Aufgaben gemeinsam einer Lösung näherzubringen. Er hält sich offen für die künftigen Entwicklungen, die sich aus dem Hineinwachsen in größere europäische Zusammenhänge und Gemeinschaften ergeben werden.“

Die Ansichten über eine starke, durch verfassungsgerichtliche Entscheidungen gestützte Position des föderativen Prinzips in der Bundesrepublik Deutschland wurden vor allem durch zwei Entwicklungen in Zweifel gezogen: Georg Picht mobilisierte mit seiner 1964 veröffentlichten Untersuchung „Die deutsche Bildungskatastrophe“ auch die Gegner des Föderalismus, die angebliche oder tatsächliche Mängel der Kulturpolitik der Länder für die schulpolitischen Verhältnisse verantwortlich machten Die Hoffnungen auf Überwindung der Rezession 1966/67 richteten sich auf die Bundespolitik, die dadurch ihr immer vorhandenes Übergewicht wesentlich verstärkte. Nur dem Bund wurde aufgrund seiner Kompetenzen und seiner Möglichkeiten die Fähigkeit zuerkannt, den wirtschaftlichen Rückschlag, der nach der lange anhaltenden Hochkonjunktur wie ein Schock wirkte aufzufangen und zu überwinden.

7. Die Diskussion über die „Weiterentwicklung des föderativen Systems" 1968/69

In seinem „Bericht über die Lage der Nation im geteilten Deutschland" vom 11. März 1968 setzte sich Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, der als langjähriger Vorsitzender des Vermittlungsausschusses nach Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes und als langjähriger Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg die Probleme der Beziehungen zwischen Bund und Ländern kennenlernte, mit der verfassungsrechtlichen Struktur der Bundesrepublik Deutschland auseinander, wobei er ausführte: „Dem Zwang zur Modernität dürfen sich auch die Strukturen und Institutionen des Staates nicht entziehen. Viele unserer aus den Traditionen des 19. Jahrhunderts überkommenen Einrichtungen und Verfahren genügen schon der heutigen Zeit nicht mehr und müßten vor den Anforderungen der Zukunft völlig versagen. Die bundesstaatliche Verfassung unseres Landes soll nicht beschränkt oder gar beseitigt werden, sie ist keineswegs überholt, wie Verfechter eines zentralistischen und unitaristischen Systems meinen, von dem sie Wunder erwarten. Aber ganz unerläßlich und dringlich ist die Notwendigkeit, dieses föderative System in einer Weise weiterzuentwickeln, die einen nivellierenden Zentralismus verhindert, aber ein Höchstmaß kooperativen Wirkens der bundesstaatlichen Kräfte garantiert." Im Anschluß daran sagte Kiesinger mit großem Nachdruck: „Wir sind ... im vergangenen Jahr auf diesem Wege mit den Ländern ein gutes Stück vorwärts gekommen. Der Föderalismus steht, darüber soll sich niemand täuschen, vor seiner großen Bewährungsprobe, und wir alle müssen wissen, daß, wenn wir auf irgendeinem Gebiet versagen, die Geschichte niemandem von uns die Entschuldigung abnehmen wird, ihm habe die Kompetenz gefehlt."

Diese Erkenntnis veranlaßte Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion, ausnahmslos Mitglieder der CDU, am 27. Juni 1968 im 5. Deutschen Bundestag eine „Große Anfrage, betreffend Weiterentwicklung des föderativen Systems" einzubringen. An die Spitze von sieben detaillierten Fragen stellten sie die grundsätzliche Frage: „Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß das Grundgesetz nach Verabschiedung der Finanzreform den Anforderungen genügt, die in unserer Zeit an einen demokra-tischen und sozialen Rechtsstaat in einem sich zusammenschließenden Kontinent gestellt werden müssen?" Sowohl die Detailfragen als auch ihre Begründungen zielten auf eine Erhöhung der politischen, administrativen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Effektivität der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Gesamtheit ab. Die Anfrager beschlossen ihre Begründung mit dem Ersuchen an die Bundesregierung, darüber Aufschluß zu geben, „ob das Grundgesetz nach Verabschiedung der anstehenden Reformwerke dem Auftrag der Zukunft gerecht zu werden vermag oder ob weitere Reformen notwendig sind, und wenn ja, welche. Dieser Aufgabe sollte sie sich selbst dann unterziehen, wenn zusätzliche Reformen in der gegenwärtigen Legislaturperiode -1965 bis 1969 — weder verabschiedet noch im einzelnen konzipiert werden können.“

Die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom 27. Juni 1968 löste bei einem Teil der Öffentlichkeit eine erneute Diskussion über den Föderalismus aus. An ihr beteiligte sich u. a. die in Hamburg erscheinende Wochen-zeitung DIE ZEIT, die mehrere grundsätzliche Stellungnahmen publizierte.

Der niedersächsische Finanzminister Alfred Kubel (SPD) erhob unter der Überschrift „Kein separativer Föderalismus .. die Forderung nach „Schluß mit der Kumpanei der Länder'. Anknüpfend an die Streichung des Auftrages an den Finanzplanungsrat, Schwerpunkte für die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben zu ermitteln, erklärte er: „Separativer Föderalismus sich lauernd beobachtender Kontrahenten. Das ist die Verfassungswirklichkeit." Seine im Anschluß daran gestellten Fragen beantwortete er selbst: „Sollten wir nicht wirklich den Bundesrat auch verfassungsrechtlich in eine echte Länderkammer umwandeln, als welche er sich ohnedies fühlt? Diese Länderkammer sollte weiterhin an Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitwirken, wie es der Grundgesetzartikel 55 für den Bundesrat bestimmt. Aber die Länderkammer sollte weniger Gewicht haben als der direkt gewählte Bundestag. Die Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze müßte vermindert werden. Änderungen des Grundgesetzes sollten von der Länderkammer nur bei Einstimmigkeit verhindert werden können. Dagegen müssen die Beratungsfristen, die die Länderkammer für die Vorlagen der Bundesregierung hat, verlängert werden." Im Zusammenhang mit seinem Vorschlag für eine Reform des Bundes-rates, die das Übergewicht des Bundestages als der unmittelbaren Volksvertretung des Gesamtvolkes vergrößern sollte, stellte Kubel die Frage, ob es nicht gut wäre, die Mitglieder der Länderkammer, die nur Mitglieder der Landesregierungen werden können, von den Länderparlamenten bestätigen zu lassen: „Sollten nicht überhaupt die Landesparlamente bei der Willensbildung in der Länderkammer stärker als bisher mitwirken; bei Änderung des Grundgesetzes zum Beispiel." Der niedersächsische Finanzminister beschloß seine Ausführungen über die Struktur der Bundesrepublik Deutschland mit einem Hinweis auf den Verfassungsauftrag zu einer möglichen Neugliederung des Bundesgebietes, indem er versicherte: „Manches dieser hier aufgeworfenen Probleme wäre sicherlich leichter zu lösen, wenn wir uns endlich zu einer Verminderung der Zahl unserer Länder entschließen könnten ..."

Der CDU-Abgeordnete Walther L. Kiep bezeichnete im Kontext unter der Überschrift „... aber auch kein naiver Zentralismus" das Anliegen der Großen Anfrage als „Test für die Fähigkeit zur Reform": „Die Autoren der Großen Anfrage lassen keinen Zweifel daran, daß es ihnen nicht um die Abschaffung des Föderalismus schlechthin geht oder daß sie etwa die organisatorische Lösung aller Probleme von Staat und Gesellschaft im zentralistischen Staat erblicken. Ein derart naiver Zentralismus wird immer Schiffbruch erleiden. Wenn es dazu noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, so wäre dies die kürzliche innenpolitische Explosion in unserem Nachbarland Frankreich, das — neben anderen zentralistischen Einrichtungen auch über einen , Bundeskultusminister‘ verfügt — dennoch in nicht geringerem Maße als die Bundesrepublik mit militanten Forderungen nach durchgreifenden Veränderungen des Bildungssystems konfrontiert ist. Frankreich bietet auch warnende Beispiele auf anderen Ebenen. Wer die französische Provinz bereist, sieht auch ohne ökonomische Fachkenntnisse, wie sich — im Gegensatz zu unserem Land — der wirtschaftliche Fortschritt in nur wenigen räumlichen Zentren niederschlägt. Ähnliches gilt auch für die Qualität von Erziehung und Bildung, wogegen doch bei uns der Föderalismus auch und vielleicht cjerade auf diesen Gebieten durchaus positiv gewirkt hat für die Schaffung der Chancengleichheit für alle Bürger. Wenn die Große Anfrage also keineswegs die Alternative Föderalismus oder Zentralismus aufwerfen will, wenn sie auch ausdrücklich mit . Weiterentwicklung des föderativen Systems'überschrieben ist, so soll sie dennoch nicht bloß eine unverbindliche Unterhaltung anreizen. Sie muß sogenannte Tabus anfassen, muß konkrete Fragen stellen; sie muß auch den Mut haben, aus der Fragestellung heraus eine politische Konzeption erkennen zu lassen."

Diesen Auffassungen widersprachen der bayerische Staatsminister für Bundesangelegenheiten, Franz Heubl, und der Bevollmächtigte des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg beim Bund, Ernst Heinsen.

In seiner „Verteidigung des Föderalismus“ gab Franz Heubl zu bedenken, die Verfechter dieser Staatsform hätten es im Wettlauf um die Anerkennung in Politik und öffentlicher Meinung besonders schwer, „da der Föderalismus allein schon aufgrund seiner begrifflichen Farblosigkeit mit einem Sympathierückstand im Bewußtsein unserer Bürger vorbelastet ist". Er versicherte, die deutschen Länder und insbesondere Bayern nähmen nicht von vornherein und grundsätzlich eine Abwehrstellung gegen jede Diskussion des bundesstaatlichen Prinzips ein. über die Funktion des Föderalismus im gegenwärtigen Augenblick bemerkte er: „Der Föderalismus ist inmitten des modernen Konzentrationstrends und des soziologischen und psychologischen Gärungsprozesses unserer Zeit in erster Linie ein pragmatisches Mittel der innerstaatlichen Arbeitsteilung. Das Problem seiner Zeitgemäßheit löst sich für uns in die zweifache Frage auf: Erstens: Von welcher öffentlichen Körperschaft kann eine Aufgabe im Interesse unserer Bürger, der Wirtschaft und Staatsfinanzen wirkungsvoller, billiger und rascher erfüllt werden? Zweitens;

Wie können die Randgebiete der europäischen Flächenstaaten im Zeitalter der Integration an der Globalsteuerung durch die fernen Zentralen beteiligt werden."

In diesem Zusammenhang machte Heubl auf das „langfristige Hin-und Herfluktuieren der Zuständigkeiten und auf die immer breiter werdende Einbahnstraße, auf der die Kompetenzen schließlich in Richtung Bonn abwan-dem", aufmerksam. Heubl vertrat die Ansicht, eine kritische Überprüfung des Kompetenzballastes führe zu der Erkenntnis, viele Aufgaben seien besser bei den Ländern aufgehoben, betonte jedoch das überwiegen der gegenteiligen Ansicht: „Ein Teil der deutschen Politik und öffentlichen Meinung hält aber den Föderalismus nur dann für modern, wenn die Länder bereitwillig sofort und ständig vor den Machtausdehnungswünschen der Bonner Zentrale kapitulieren." Mit Nachdruck unterstrich er die Bedeutung des Föderalismus für die Integration Europas:

„Der Föderalismus ist auch das einzige brauchbare Aufbaumodell für eine künftige politische Union Europas. Denn gerade unsere französischen und italienischen Partner kennen begrifflich, historisch und staatsrechtlich nur die Alternative zwischen Staatenbund und Einheitsstaat. Von diesem aber befürchten sie die Auslöschung ihrer Sprache, Geschichte und Eigenart. Entsprechendes gilt für die neuen Beitrittskandidaten, insbesondere Großbritannien. Ein zweiter europäischer Aspekt spricht zugunsten des bundestaatlichen Prinzips, das sich im Zeitalter der Integration geradezu als Instrument zur Zusammenfassung heterogener Staaten und pluralistischer Gemeinschaften erweist. Die ersten Ansätze in Frankreich und Italien zur Auflockerung des Zentralismus, der bis heute das unbewältigte Problem dieser Staaten aus dem 19. Jahrhundert darstellt, sowie die Diskussion um eine hündische Gliederung in Belgien und der Tschechoslowakei, sollten unter diesem Blickwinkel registriert werden. Vielleicht ist der Föderalismus nichts anderes als eine westliche Form des Polizentrismus." In diesem Zusammenhang betonte Heubl: „Zu Unrecht wird auch der deutsche Föderalismus in der gegenwärtigen Diskussion zum Prügelknaben für eine innere Unsicherheit und die Gärungsprozesse in Staat, Gesellschaft und Wissenschaft gemacht. Das wird an Frankreich bewiesen, dem am straffesten organisierten Einheitsstaat mit seiner zentralen Planifikation, der einheitlichen Leitung des gesamten Erziehungswesens und der großzügigsten Sozial-und Preispolitik für die Landwirtschaft. Gerade dieser Einheitsstaat wurde zur Quelle der stärksten Studenten-und Bauernunruhen und des größten Generalstreiks in seiner Geschichte und in Europa."

Uber den grundsätzlichen Charakter des föderativen Systems im politischen Bereich führte Heubl aus: „Der Föderalismus ist eine unbequeme Staatsform; aber er bringt ein Stück zusätzlicher Demokratie in die deutsche Politik.

Er schafft mit Landesparlamenten, Landesregierungen und Bundesrat weitere politische Spannungsfelder, neue Stätten der permanenten Diskussion, der Verantwortung und der Kontrolle über die Regierungsarbeit. Er verbreitert das politische Betätigungsfeld unserer Bürger, er bereichert aber auch die innerparteiliche Demokratie, indem er innerhalb unserer politischen Parteien in ihren Landesverbänden und Gliederungen Raum für eigenständiges Handeln und lebensnahe Anregungen gewährt." Anschließend setzte sich Heubl mit dem nach seiner Meinung allzu rasch ins Feld geführten Argument auseinander, Unterlassungen notwendiger Maßnahmen seien auf die Umständlichkeiten des föderativen Prinzips zurückzuführen. Er räumte ein, daß der Bürger mit Recht das verbale Gezänk um die Verästelung des bundesstaatlichen Aufbaues satt habe. Die Lösung sah er einerseits in der „Koordinierung der Politik zwischen den Zuständigkeitsträgern in loser, nicht-institutionalisierter Form nach den Grundfragen unseres Volkes" und in der „Notwendigkeit einer Gebietsreform innerhalb der Bundesrepublik Deutschland" die er als den Kern einer echten Reform des Föderalismus bezeichnete. Heubls programmatischer Aufsatz sprach sowohl die Schwächen des in Deutschland praktizierten Föderalismus als auch die noch nicht genutzten Imponderabilien des föderativen Prinzips an; er gab die Unbequemlichkeit des Föderalismus zu, räumte jedoch ein, daß er ein Stück zusätzlicher Demokratie ausmache.

In seiner Stellungnahme wies Ernst Heinsen die Behauptung von Finanzminister Kubel von einer „Kumpanei der Länder" im Bundesrat zurück. Als Ergebnis seiner Erfahrung in der Vertretung der Freien und Hansestadt Hamburg im Bundesrat stellte er fest: „Einer, der in den letzten zweieinhalb Jahren alle, und nicht nur einzelne Bundesratssitzungen miterlebt hat, darf hier feststellen, daß dort meist ein lebhafter Meinungsunterschied unter den Ländern besteht, und zwar quer durch den politischen Garten. Natürlich vertreten die Länder ihre Interessen. Das ist ihre Aufgabe und auch die Aufgabe des Bundesrates.“

Im Verlauf seiner weiteren Ausführungen gab er zu bedenken, es sei natürlich, „daß die Länder zusammenstehen, wenn Bundesregierung und Bundestag die eigenen Kompetenzen mit Begründungen erweitern wollen, wie sie jetzt in der Großen Anfrage der CDU-Abgeordneten zum Ausdruck kommen: daß nämlich gerade die den Bürger im Augenblick interessierenden Fragen nicht zur Zuständigkeit des Bundes gehören, so daß der Eindruck entstehe, , als lebe der Bund außerhalb der Wirklichkeit unseres Volkes'. Daß die Länder einen solchen, vor allem mit der Publizitätswirkung begründeten Anspruch nicht ohne weiteres anerkennen, dürfte verständlich sein, und wenn von der Publizitätswirkung gesprochen wird, dürften eher die Landtage Grund zur Klage haben, deren Gesetzgebungszuständigkeiten durch die Ausdehnung der Bundesgesetzgebung schon heute nahezu ausgetrocknet ist."

Kritisch setzte sich Heinsen mit den Ansichten Kubels und Kieps auseinander. An Kubel gerichtet, fragte er, was sich dieser unter einer echten Länderkammer vorstelle. Bedenken erhob er auch gegen den Vorschlag Kieps, die Bundeskompetenzen auf dem Gebiet der Gesetzgebung erheblich zu erweitern und dafür den Bundesrat zu einem dem Bundestag gleichrangigen Gesetzgebungsorgan aufzuwerten. Er fügte hinzu: „In der Tat spricht manches gegen eine Enumeration der Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes, die notwendigerweise in Grenzgebieten willkürlich ist, zu einer extensiven Auslegung auch jenseits der Legalität verlockt und jedenfalls von Zeit zu Zeit einer Anpassung an die Entwicklung bedarf." Seinen Vorschlag dazu fügte er unmittelbar an: „Ich meine, man sollte ernsthaft überlegen, ob nicht tatsächlich die komplizierten Regelungen der Bundeszuständigkeiten im Bereich der konkurrierenden und Rahmengesetzgebung durch eine General-klausel ersetzt werden sollten, nach der der Bund ganz allgemein das Recht zur Gesetzgebung hat. “ Zur Abwehr der Gefahr, daß durch eine derart weitgehende Kompetenzverschiebung durch den Bund das föderale Gleichgewicht nicht völlig gestört wird, machte er fünf Vorschläge, die u. a. das Generalrecht des Bundes einschränken und den Landesparlamenten die Möglichkeit, mit Zweidrittelmehrheit auch vom Bundesrecht abweichende Regelungen zu treffen, einräumen sollten

Die Große Anfrage war Anlaß für eine Stellungnahme, die Peter Lerche, ordentlicher Professor für öffentliches Recht insbesondere Verfassungsgeschichte und öffentliches Sozialrecht an der Universität München, auf Veran-lassung der Bayerischen Staatskanzlei unter dem Titel „Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen" publizierte. Vom verfassungsrechtlichen Standpunkt aus untersuchte er die Problematik der Großen Anfrage, wobei er sich auch mit den „Grenzen föderaler Verfassungsänderung" beschäftigte. Er erklärte, daß die Frage, ob es Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz überhaupt zuließe, die Anregungen der Großen Anfrage durch Verfassungsänderungen zu realisieren, nicht pauschal beantwortet werden könne, und machte darauf aufmerksam, daß Tarnformulierungen zu einer Veränderung des föderativen Systems führen könnten und führen müßten, wenn sie die Bundesrepublik Deutschland als „Einheitsstaat mit bundesstaatlicher Organisation" artikulierten. Bei seinen Überlegungen über den „Spielraum des verfassungsändernden Gesetzgebers" verwies er darauf, daß eine Umschichtung der Kompetenzen zur Beseitigung des grundsätzlichen Typus des Bundesstaates führen würde. Die Ergebnisse seiner Untersuchung faßte er in sechs Thesen zusammen. An ihre Spitze stellte er die grundsätzliche Bemerkung: „Die Bewährung föderaler Regelungen kann nicht an Leitbildern einheitsstaatlicher Systeme gemessen werden, wie etwa am Maßstabe reibungslosen Durchgriffs, sondern nur an den Legitimationsgründen des Bundesstaates. Die Vielfalt zeitgerechter Legitimationsgründe für die bundesstaatliche Organisation erwächst verschiedenen Vorstellungen rechtsstaatlichen und demokratischen Charakters, nicht zuletzt der sachlichen Wirkungskraft kooperativen Verfahrens und koordinierter Planung. Auch in ausländischen Staaten werden zunehmend Vorzüge wichtiger Erscheinungsformen der bundesstaatlichen Staatsform erkannt. Mit einer überholten und verschwommenen Mythologie des Föderalismus hat das nichts zu tun."

Zu der wiederholt gestellten Frage, ob die Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland weiter wie bisher nach dem im Grundgesetz festgelegten föderalistischen Prinzip oder ob sie zentralistisch betrieben werden soll, äußerte sich im Herbst 1968 Kurt H. Biedenkopf, Ordinarius für Handels-, Wirtschaftsund Arbeitsrecht der Ruhruniversität in Bochum, in einem unter der Überschrift „Die Kulturpolitik der Länder wieder flottmachen. Vorschlag zur Bundesrahmenkompetenz in Bil-dungsfragen'veröffentlichten Aufsatz. Nadi ausführlicher Darstellung des Verfassungsrechtes und der Verfassungswirklichkeit kam er zu dem Schluß: „Die Begründung der Bundesrahmenkompetenz im Bildungsbereich ist nur durch Verfassungsänderung möglich. Rechtlich ist dabei bedeutsam, daß die Kulturhoheit der Länder nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts das Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder ausmacht, also zu den konstitutiven Elementen eines föderativen Systems gehört. Die Gliederung des Bundes in Länder, also die föderalistische Struktur der Bundesrepublik, ist jedoch durch Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes selbst der Änderung durch eine verfassungsändernde Mehrheit entzogen. Eine Bundesrahmenkompetenz kann somit nur in den Grenzen begründet werden, die durch die Notwendigkeit einer prinzipiellen Erhaltung der Kulturhoheit der Länder gezogen sind." Angesichts der parlamentarischen Auseinandersetzungen vor allem über die Finanzreform hielt die Debatte über den Föderalismus unvermindert an. Am 7. Februar 1969 stellte in der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT Theo Sommer die Frage: „Selbstmord des Föderalismus?" Am selben Tage äußerte sich in der Wochenzeitung CHRIST UND WELT der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Hans Filbinger (CDU), über die föderativen Aspekte der anstehenden Finanzreform

Theo Sommer eröffnet seine Ausführungen mit der Bemerkung: „Der Föderalismus ist die heilige Kuh unseres Staatswesens: Sie ist ein unnützer Fresser, sie gibt kaum Milch, und sie hemmt den Fortschritt. So jedenfalls sehen es viele Bundesbürger. Sie scheren sich wenig um Verfassungsprinzipien; ihnen kommt es mehr auf die Funktionsfähigkeit der staatlichen Organisation an. Hapert es damit, dann muß man eben die Prinzipien fallen lassen. Zugespitzt lautet ihr Argument: Lieber eine unitarische Republik Deutschland, die funktioniert, als eine Bundesrepublik Deutschland, in der die zukunftsorientierten Kräfte dauernd über altmodische föderalistische Verschwörungen stolpern." Nach einer Darstellung vor-nehmlich über die Positionen der an der parlamentarischen Verabschiedung der Finanz-reform unmittelbar beteiligten Gruppen in deren Verlauf er auch von einem Kamikaze-Föderalismus sprach, forderte Sommer eine Reihe von Änderungen sowohl der Struktur als auch der Gesetzgebungskompetenz. Er beschloß seine temperamentvollen Darlegungen mit der Bemerkung: „Nicht daß der Föderalismus abgeschafft werden sollte, er muß sich modernisieren, um sich zu rehabilitieren. Aus einer heiligen Kuh muß endlich ein nützliches Arbeitstier werden. Für Sentimentalitäten ist da kein Platz. Nicht die Zentralisten gefährden den Föderalismus, es sind die Föderalisten selber, mit ihrer Unbelehrbarkeit ihrem verstockten Traditionalismus, in dem er zu schänden werden könnte."

Hans Filbinger ging von den Auseinandersetzungen über die Verabschiedung der Finanz-reform aus, wozu er bemerkte: „Auch die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben in den verschiedenen Fachbereichen und Ebenen ist ein höchst kompliziertes Geschehen. Hier haben die Möglichkeiten zentraler Lenkung eng gezogene Grenzen. In den öffentlichen Angelegenheiten kommt es ebenfalls darauf an, eine Ordnung zu schaffen, die in allen Bereichen und auf allen Ebenen Initiative und Leistung herausfordert, indem sie Handlungsfreiheit gewährt, Chancen und Risiken bereithält und wirksam Kontroll-und Steuerungssysteme einrichtet. Die Staatsordnung, die diesen Anforderungen genügt, ist aber nicht die des Zentral-staates, sondern die des föderativen Staates mit stark ausgeprägter Selbstverwaltung. Der föderative Staat ist dynamischer, flexibler und weit stärker der öffentlichen Kontrolle unterworfen als der Zentralstaat."

Am 20. März 1969 beantwortete der Bundesminister des Innern, Ernst Benda (CDU), namens der Bundesregierung eingehend die „Große Anfrage betreffend Weiterentwicklung des föderativen Systems" vom 27. Juni 1968 Seine Ausführungen gliederten sich in zwei Hauptteile: in allgemeine Darlegungen und in die Beantwortung der Einzelfragen. An den Anfang der allgemeinen Darlegungen stellte er die Versicherung, die Bundesregierung stimme mit den Fragestellern darin überein, „daß eine Beseitigung des föderativen Aufbaus unseres Staates nicht zur Debatte steht*. Zur Begründung dieser Ansicht führte er aus: „Dieser Ausgangspunkt eraibt sich nicht allein aus Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes, der eine Verfassungsänderung für unzulässig erklärt, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder oder die grundsätzliche Mitwirkung, der Länder bei der Gesetzgebung berührt wird. Die bundesstaatliche Gliederung unseres Landes ist älter als das Grundgesetz. Die Entscheidung des Parlamentarischen Rates von 1949 für eine Bundesrepublik Deutschland berücksichtigte zwar auch, daß die deutsche Staatlichkeit in den Ländern früher ihre Handlungsfähigkeit wiedererlangt hatte als im Gesamtstaat und daß die Besatzungsmächte einen bundesstaatlichen Aufbau gewünscht hatten. Aber ursächlich für das Bekenntnis des Parlamentarischen Rates zum föderativen Prinzip waren diese Zeit-umstände nicht. Vielmehr fand der Parlamentarische Rat in der Bundesstaatlichkeit ein Gestaltungsprinzip vor, das im geschichtlichen Prozeß der deutschen Staatswerdung tief verwurzelt ist. Auch der Rückblick auf die nahezu zwei Jahrzehnte der Geltung des Grundgesetzes erlaubt die Feststellung, daß sich das föderative Prinzip als solches bewährt hat. Auf der Grundlage der grundgesetzlichen Ordnung hat sich nach dem Kriege in der Bundesrepublik ein bedeutsamer wirtschaftlicher Aufstieg vollzogen. Es war möglich, eine im großen und ganzen ausgewogene und rechtsstaatliche Ordnung zu schaffen. Der Gedanke der parlamentarischen Demokratie wurde mit einer lebendigen Intensität verwirklicht, wie sie der Weimarer Republik leider nicht beschieden war. An diesem Erfolg unserer grundgesetzlichen Ordnung haben auch deren föderative Elemente Anteil. Wenn die Bundesregierung der Überzeugung ist, daß das föderative Gestaltungsprinzip seine fundamentale Bedeutung für die staatliche Ordnung Deutschlands auch in Zukunft behalten muß und wird, so steht ihr dabei auch das Ziel einer Wiedervereinigung unseres Vaterlandes vor Augen. Ein Wiederzusammenfügen der getrennten Teile Deutschlands läßt sich in einer bundesstaatlichen Ordnung sicher leichter als in einem Einheitsstaat verwirklichen.“

Im Anschluß an diese grundsätzlichen Bemerkungen, die die Garantien und die Grenzen der föderativen Struktur der Bundesrepublik Deutschland aufzeigen, gingen die Ausführungen auf die mangelnde Synchronisierung der Entwicklung sowohl der Verfassungsstruktur als auch der Gesellschaftsstruktur ein: «Dieses uneingeschränkte Bekenntnis zum föderativen Aufbau unseres Staates gibt aber noch keine Antwort auf die Fragestellung der Großen Anfrage, ob das föderative System, so wie es nach Verabschiedung der Finanzreform gelten wird, den Anforderungen der absehbaren Zukunft genügen wird.“

Diese Entwicklung wird in der nachfolgenden Darstellung überzeugend begründet: „Die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch einen stürmischen Wandel der wirtschaftlichen, technischen und sozialen Umweltbedingungen. Unser Land ist davon in starkem Maße betroffen. Unter den vielen Kräften, die hier mitwirken, ist die immer umfassendere Nutzanwendung von Erkenntnissen der Wissenschaft auf unser tägliches Leben die wohl bedeutsamste. Dies gilt für die sozialen Wissenschaften nicht minder als für die Naturwissenschaften. Auswirkungen dieser Tendenzen sind z. B.: der Zwang zu immer umfangreicheren und kostspieligeren Unternehmungen im Bereiche von Wirtschaft, Forschung und Daseinsvorsorge, um alle technischen und wettbewerblichen Möglichkeiten aszuschöpfen; eine immer engere wirtschaftliche Verflechtung immer größerer Räume; eine zunehmende Bereitschaft der Bevölkerung zur Binnenwanderung (Mobilität); steigende Erwartungen an eine Angleichung der Rechts-und Lebensverhältnisse innerhalb des Gesamtstaates. In einem Wechselspiel von Ursache und Wirkung werden diese Tendenzen noch verstärkt durch den sich immer mehr festigenden Zusammenschluß der Wirtschaftsräume der Europäischen Gemeinschaft. Wer die für die Bewältigung der Zukunft maßgeblichen Vorgegebenheiten in Rechnung stellen will, muß von diesen — nahezu zwangsläufigen — Entwicklungstendenzen ausgehen. Es kann daher nicht überraschen, wenn in der politischen Diskussion immer wieder die Frage gestellt wird, ob unsere grundgesetzliche Ordnung — besonders das geltende föderative System — geeignet ist, diesen Entwicklungen gerecht zu werden. Meinungsumfragen deuten darauf hin, daß in der Bevölkerung der Anteil derjenigen, die sich für eine stärkere Betonung der zentralstaatlichen Zuständigkeiten aussprechen, in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen hat. Sicher handelt es sich hierbei zum Teil um Meinungen, die mehr gefühlsmäßig, ohne Abwägung des Für und Wider gebildet wurden. Auch wäre es voreilig, grundsätzlich die bundeszentrale oder auch nur bundeseinheitliche Form der Regelung als diejenige mit der größeren Wirksamkeit anzusehen. Dennoch verdienen solche Meinungstendenzen Beachtung. Fragen mit ähnlichen Zielen wie die der Großen Anfrage werden auch von Politikern aus anderen Lagern, von Publizisten und von Staatswissenschaftlern gestellt.“

Der Bundesminister des Innern gab anschließend zu bedenken, daß die Veränderung sowohl der überkommenen Grundwertvorstellungen als auch der Aufassungen über die Bewußtseinslage von Individuum und Gesellschaft das bundesstaatliche Prinzip nicht ausnehme. Diese Tatsache werde, so führte er weiter aus, als Grund angesehen, den Föderalismus, ohne ihn in Frage zu stellen, erneut und möglicherweise neu zu definieren.

Im Anschluß an diese Erwägungen versuchte er Klarheit darüber zu gewinnen, „worin der Zweck des Föderalismus im heutigen Deutschland liegt" Er erwiderte darauf: „In der Erhaltung gewachsener Individualität der deutschen Länder, durch die diese sich — wie es Rudolf Smend im Jahre 1916 formuliert hat — mit der ganzen Irrationalität ihrer geschichtlichen und politischen Eigenart im Leben des Reiches auswirken und zur Geltung bringen, — in der Verwirklichung eines rationalen Ordnungsprinzips, das die Entscheidungszuständigkeit für ein Sachproblem dem räumlichen Bereich zuweist, in dem sich besondere Eigenheiten einheitlich darbieten, — in der Ermöglichung einer Vielzahl politischer Handlungsebenen und damit eines Zuwachses an Demokratie und eines breiteren Feldes des Wettbewerbs politischer Programme, — oder in einer zusätzlichen Verwirklichung der Gewaltenteilung durch weitere Teilung und Ausgleich der Gewalten im Gesamtstaat. — Ohne eine solche Grundsatzdiskussion ist eine langfristige Vorausschau auf die mutmaßlichen künftigen Entwicklungstendenzen des föderativen Prinzips nicht möglich.

Parlament und Öffentlichkeit können erwarten, daß gerade die Bundesregierung zu diesen Grundsatzfragen Stellung nimmt. Im gegenwärtigen Zeitpunkt wäre es indessen verfrüht, eine Neudefinition des Daseinszwecks des Föderalismus zu versuchen. Denn einem solchen Versuch sollte eine intensivere Erörterung dieser Fragen in Politik und Wissenschaft, als sie bislang zu verzeichnen war, vorausgehen."

Nach diesen grundsätzlichen Erwägungen, die eine Art Bestandsaufnahme 20 Jahre nach Abschluß der Arbeiten des Parlamentarischen Rates für eine staatliche Ordnung in den ehemaligen westlichen Besatzungszonen des Deutschen Reiches ist, versicherte der Bundesminister des Innern für die Bundesregierun sie könne als „Antwort auf die Große Anfrä nicht eine geschlossene Konzeption des föde rativen Systems von morgen entwerfen, sondern nur konkret aufzeigen, ob und wo si bisher bei der Anwendung der geltenden föderativen Ordnung unserer Verfassung Unzuträglichkeiten und Unzulänglichkeiten ergeben haben“.

Im folgenden ging er auf Einzelprobleme ein, wobei er jedoch betonte, die durch die inzwischen erfolgten Veränderungen des Grundgesetzes und die zwischen Bund und Länden geschaffenen Institutionen hätten ein im Geiste des kooperativen Föderalismus einander angenähertes Verfassungsverständnis’ entwickelt. Gegenüber dem im Ausgang der sechziger Jahre nicht allein in der Bundesrepublik in Mode gekommenen Schlagwort vom kooperativen Föderalismus, das indoktrinierte Föderalisten ablehnten, unternahm der Bundesminister des Innern einen Interpretationsversuch: „Föderalismus kooperativ verstehen bedeutet, die verfassungsmäßige Verteidigung der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern nicht als Zwang — oder gar als Vorwand — für ein separiertes und isoliertes Handeln der verschiedenen Gewaltenträger za verstehen, sondern unbeschadet der jeweiligen Zuständigkeiten die gemeinschaftliche Verantwortung für eine im Geiste der Bundes-treue aufeinander abgestimmte Gesamtpolitik zu erkennen."

Angesichts dieser Deutung drängt sich der Eindruck auf, daß sich auch das Föderalismus-Verständnis der sechziger Jahre nicht vondei Erinnerung an die Auflagen der Besatzungsmächte bei der Schaffung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland zu lösen imstande war, denn Föderalismus an sich, in der in der Verfassungswirklichkeit kaum oder nur selten anzutreffenden integralen Form, meint das, was durch den Bundesminister des Innern als „kooperativer Föderalismus'bezeichnet worden ist. Das Adjektiv „kooperativ" ist nichts anderes als ein zeitbedingtes deklamatorisches Epitheton ornans.

Nach den aufschlußreichen Vorbemerkungen, deren Kenntnis für das Föderalismus-Verständnis am Ende der sechziger Jahre unerläßlich ist, nahm der Bundesminister des Innern zu den in der Großen Anfrage aufgeführten Einzelfragen Stellung, wobei er die Erfahrungen mit der Verfassungsentwicklung darlegte und Erwartungen an den Gesetzgeber zum Ausdruck brachte. Beide Schriftstücke, die Große Anfrage vom 27. Juni 1968 und ihre Beantwortung am 20. März 1969, stellen den Versuch dar, nicht nur eine Bilanz der seit 1949 zurückgelegten Entwicklung zu ziehen, sondern auch die Notwendigkeiten und Anforderungen der Zukunft zu bedenken. Ihre grundsätzlichen Ausführungen stellen eine Anreicherung der Auffassungen über den Föderalismus vornehmlich in der Bundesrepublik Deutschland dar, da sie, im Gegensatz zu der Zeittendenz der Geschichtsfremdheit die historische Entwicklung berücksichtigen, gleichzeitig jedoch die politischen und gesellschaftlichen Notwendigkeiten mit den verfassungsrechtlichen Gegebenheiten und Wirklichkeiten vergleichen. Das 1949 im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland formulierte föderative Prinzip wird als unantastbares Element der Staatsordnung angesehen, seine Fortentwicklung wird sowohl in den prinzipiellen Ausführungen als in den Beantwortungen der Einzelfragen angesprochen. Das erkennbare Ziel ist nicht eine defensive Behauptung, sondern eine zukunftsoffene Fort-entwicklung des Bundesstaates, dessen Grundstruktur jedoch unverändert bleiben soll.

Die Große Anfrage und ihre Beantwortung wurden vom 5. Deutschen Bundestag nicht diskutiert, wodurch sie nicht in dem erwünschten Maße zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangten. Die Erörterungen der Großen Anfrage sowohl als auch ihre Beantwortung aufgreifend, erklärte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner am 28. Oktober 1969 vor dem 6. Deutschen Bundestag abgegebenen Regierungserklärung: »Die Bundesregierung wird in dieser Legislaturperiode ein Gremium schaffen, dem Politiker aus Bund, Ländern und Gemeinden, Verwaltungsbeamte und Wissenschaftler angehören. Es soll Vorschläge zur Fortentwicklung der bundesstaatlichen Struktur ausarbeiten. Für die Ländemeugliederung werden wir von dem nach Artikel 29 unseres Grundgesetzes gestellten Auftrag ausgehen."

Diese Ankündigung führte zur Einsetzung einer Enquete-Kommission, die die Erörterungen über die Fortentwicklung der bundesstaatlichen Struktur auf die denkbar breiteste parlamentarische Grundlage stellte. Zu ihrer Tätigkeit bemerkte der Bundesminister des Innern, Hans-Dietrich Genscher (FDP): „Für die Arbeit der Enquete-Kommission hält die Bundesregierung an ihrer Auffassung fest, daß sich die Neuabgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern nicht in einer Einbahnstraße von den Ländern zum Bund vollziehen muß. Der Föderalismus in der Bundesrepublik muß nicht nur wegen der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes erhalten bleiben. Auch der liberale Geist des Grundgesetzes, das die Rechte des einzelnen stärken und übermäßige Machtkonzentration vermeiden will, fordert die Erhaltung und Stärkung der gewaltenteilenden Funktion des Föderalismus. Diese Funktion ist unabhängig von einer bestimmten Zuständigkeitsvorstellung. Für Zuständigkeiten gibt es keine Ewigkeitsgarantien — weder für den Bund noch für die Länder."

Zwischen 1949 und 1969 haben Föderalismus-Wirklichkeit und Föderalismus-Verständnis in der Bundesrepublik Deutschland eine große Veränderung erfahren — ein Umstand, der beweist, daß der Föderalismus keine Doktrin reaktionärer Restauration ist. Seine Grund-strömung ist konservativ; er hat aber nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland seine Eignung unter Beweis gestellt, sich den Wandlungen der Zeit anzupassen. Diese Adaption ist den einen, die den Föderalismus als das Instrument zur Bewahrung einer einmal geschaffenen Struktur verstehen, zu schnell, den anderen, die den Föderalismus als systemimmanenten Separatismus begreifen, zu langsam vor sich gegangen. Indem aber der Föderalismus übereilte Entwicklungen abgebremst hat, hat er die Möglichkeit gegeben, eine die Integration der Bundesrepublik Deutschland fördernde Verständigung in allen strittigen Punkten zu erreichen. Von den Erfahrungen des hypertrophen Einheitsstaates 1933— 1945, den Vorstellungen der meisten Parteien und vor allem der Länder unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges und den Auflagen der Besatzungsmächte 1948/49 fixiert, ist der verfassungsrechtliche Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an labil gewesen. Seine Entwicklung hat von der Entfaltung der bestimmenden politischen Kräfte abgehangen. Unter diesen haben diejenigen sehr bald die Oberhand gewonnen, die sowohl eine Bevorzugung der Länder als auch eine Gleichstellung von Bund und Ländern ablehnen, weil ihr Ziel eine starke Bundes-autorität ist. Die Verlagerung des politischen Schwergewichts von den Ländern, die die bei Kriegsende aufgelöste Reichsstruktur auffingen, zum Bund, der zunächst als eine Ubergangsstufe zu einem wiedervereinigten Deutschland gedacht war, hat sich unter dem Druck äußerer Gegebenheiten, denen die Länder Rechnung trugen, vollzogen. Sie war weithin frei von Ideologie, nicht aber von Polemik. Das Erscheinungsbild des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland wird durch einen verfassungsrechtlichen Verlust der Länder und einen verfassungsrechtlichen Zugewinn des Bundes, beide sowohl durch die Entwicklung als auch durch die ihr nachfolgende Änderung des Verfassungsrechts, charakterisiert.

Während in der Weimarer Republik selbst die bundesstaatlichen Fragmente durch polemische Attacken diffamiert wurden, bestand in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1949 und 1969 die Überzeugung, nicht nur des Verfassungsgebotes wegen an der bundesstaatlichen Struktur festzuhalten, über deren Gestaltung gingen die Meinungen jedoch auseinander. Die Tendenz überwog, dem Bund in allen aktuellen oder aktualisierten Problemen die Priorität zuzuerkennen. In dieser Einstellung schlägt, als Erbe der zentralistischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, die Ansicht durch, ein einheitlicher und zentraler Staat, auch wenn er sich als Bundesstaat versteht, entspreche besser den Bedürfnissen des Staatsvolkes als eine föderativ gegliederte Staatsordnung. Der Wunderglaube an den Einheitsstaat, der mit der Fähigkeit eines Zauberers alle Probleme aus der Welt schafft, existiert nach wie vor noch. Schuld daran trägt das zwar gegenüber den dreißiger Jahren wesentlich vertiefte, jedoch noch nicht ausgewogene und in das allgemeine Bewußtsein übergegangene Föderalismus-Verständnis. Noch immer haftet dem föderativen Prinzip ein Ruch von Partikularismus und Separatismus an. Noch immer wird es mit Bayern und seiner eigentümlichen Rolle in der deutschen Geschichte assoziiert. Die nicht auf Europa beschränkte Renationalisierung des politischen Denkens bedeutet für das Verständnis des Föderalismus einen Rückschlag, weil er sich erneut gegen den Ideologieverdacht, dem er ständig ausgesetzt ist, zur Wehr setzen muß. Aber Föderalismus ist keine Ideologie, sondern ein Strukturelement, das vorhanden und wirksam ist, auch wenn es nicht bezeichnet wird. Der in der Bundesrepublik Deutschland virulenten Tendenz, durch Diffamierung des Föderalismus den Bundesstaat umzufunktionieren und die Länder zu Bundesprovinzen zu deklassieren, steht, ideologiefrei und nach weisbar, die Effektivität des Föderalismus ent gegen — eine Tatsache, die durch die deutsche Neigung zu antithetischen Vorstellungen und Haltungen verdrängt wird.

In einem Brief an den mit ihm befreundeten Hugo von Hofmannsthai traf Carl Jacob Burckhardt am 12. November 1925 die unbestreitbare Feststellung: „Der Hang zu extremen Lösungen ist eine deutsche Grundlage, das hat sich schon in der Reformation ebenso-sehr als in der philosophischen Revolution des 19. Jahrhunderts gezeigt. Das ist eine Konstante, die man nachgerade im Westen kennen sollte, wie man die Charakteranlage eines Verwandten, mit dem man leben muß, kennt und gewissermaßen einkalkuliert.“ Dieses Urteil gilt vor allem für die immer wieder gestellte Alternative Föderalismus—Zentralismus, in der deutsche Politiker, Staatsmänner und Meinungsmacher fast ausnahmslos sich für die These oder für die Antithese, niemals aber für die Synthese, einen föderativen Unitarismus, entschieden haben.

Die Vertreter eines so weit vereinheitlichten Bundesstaates, daß die Bezeichnung Bund zu einem hintergrundslosen Versatzstück wird, stehen, wie bereits ausgeführt, in der Tradition der deutschen Nationalbewegung, deren verhängnisvolle Politik zu überwinden sie fordern. Die Wiederentdeckung der friedenstiftenden und -bewahrenden Ordnungen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und des Deutschen Bundes sollte davon abhalten, den föderativen Charakter der Bundesrepublik Deutschland in Zweifel zu stellen. Der Einwand, das föderative Prinzip eigne sid besser für die Ordnung Europas, sowohl Westals auch Gesamteuropas, als für den westdeutschen Staat, dem es aufgezwungen wurde, überzeugt nicht, denn der Föderalismus ist nicht auf eine Ebene nationaler und internationaler Ordnungen bezogen. Dieser Bestrebung kommt zugute, daß es den Vertreten und Verteidigern des föderativen Prinzips bisher nicht gelungen ist, aus dem Dunstkreis der Föderalismus-Ideologie herauszutreten und den Föderalismus allgemein verständlich zu machen. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem föderativen Prinzip hat bisher nicht stattgefunden; nur Ansätze dazu sind bisher gemacht worden. In dem Maße, in dem die Notwendigkeit wächst, daß die Bundesrepu-blik Deutschland zu einer Selbstidentifizierung gelangt, gewinnt die Aufgabe an Bedeutung, den Föderalismus nicht wert-, wohl aber ideologiefrei zu verstehen, die ihm innewohnenden Chancen zu erkennen und ihre Möglichkeiten in der Fortentwicklung der Verfassung auszunutzen.

Audi in der Bundesrepublik Deutschland besteht eine Assoziation zwischen Konservativismus, der zum Partikularismus tendiert, und Föderalismus, dem konservative Tendenzen nadigesagt werden. Sie steht in der Tradition der deutschen Nationalbewegung, für die der Einheitsstaat das mit allen Mitteln zu erreichende Ideal gewesen ist.

Bereits 1928 stellte Willy Hellpach in seiner „Politischen Prognose für Deutschland" in der Sprache seiner Zeit fest: „Niemals würde das deutsche Volk aus seinem Willen heraus sich einen Einheitsstaat schaffen, die , une et indivisible'Republik des Franzosenstolzes ist ihm ein ganz fernliegender Gedanke ... Föderalismus, das empfindet der Germane, empfindet der Deutsche wirklich als die gesunde Art, den Staat zu konstituieren. Daß die deutsche Geschichte Deutschlands föderative Art oft als ungesund, als Schaden erscheinen läßt, liegt keineswegs an der Föderativtatsache als solcher, sondern an der politischen Apathie der Deutschen, welche den partikularen Auseinanderfall der Föderation begünstigte; man täusche sich doch nicht hierüber, überwindet ein Volk diese Sinnesart nicht, so wird es um seinen Einheitsstaat bald ebenso jämmerlich aussehen wie um seinen Bund. Jede Staatsgewalt hat ihre Gefahren, und die unitarischen sind nicht kleiner als die föderalistischen. Preußen hat als straffer, schablonisierender und alles über einen Leisten schlagender Einheitsstaat erst Deutschland vom Fluche seiner Föderalität erlöst und es gleich danach bis an den Rand des Unterganges gebracht — aus eben denselben Eigenschaften heraus, die aus zeitlichen Vorzügen zu zeitlichen Verhängnissen wurden. Mit guter Politik kann eine sehr lose Föderation sehr stark und erfolgreich, und mit schlechter Politik kann ein Einheitsstaat sehr schwach und bedroht sein." Hellpach gab ferner zu bedenken: „Auch die Unitarisierung des Deutschen Reiches bedeutet an sich keine Verbesserung seiner politischen Prognose, sondern an sich eher eine neue Unsicherheit, da für eine Staatsexistenz alles prognostisch fragwürdig werden kann, was dem Volkscharakter zuwider ist. Die Deutschen hängen, nicht bloß aus träger und dumpfer Gewohnheit, sondern aus Zügen ihres deutschen Wesens heraus an ihren großen, mittleren, kleinen und winzigen Einzelstaaten (genau wie die Schweiz an ihren Kantonen, die solche Größenunterschiede zeigen, wie Bern und Zug, Graubünden und Solothurn), und es bedeutet ein Wagnis, ihnen diese Einzelstaatlichkeit zu nehmen. Denn es ist durchaus möglich, daß das, was danach kommt, den Deutschen nicht bloß fremder ist, sondern fremder bleibt, als was vordem war. Und tritt dies ein, dann bedeutet der Einheitsstaat gewiß ein Übel, ja ein gefährliches Übel."

Trotz der Erfahrung mit dem Einheitsstaat rührte sich nach 1949 die Kritik am Föderalismus, vor allem an der föderativen Kultur-politik. Daß deren Kompetenzzuordnung nicht nur einer politischen Großgruppe zugute kommt, sondern die politische Pluralität wahrt, hat Ernst Thape in seinem Bericht „Von Rot zu Schwarz-Rot-Gold. Lebensweg eines Sozialdemokraten" nachdrücklich betont. Aufgrund seiner eindeutigen politischen Haltung im KZ Buchenwald inhaftiert, hatte er sich zur Zusammenarbeit von SPD und KPD in der SED bereitgefunden. Als Mitglied der Landesregierung von Sachsen-Anhalt, zuletzt als Minister für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft, hatte er unmittelbaren Einblick in den Prozeß der ideologischen Ausrichtung der SED — ein Umstand, der ihn veranlaßte, im Spätherbst 1948 die sowjetische Besatzungszone zu verlassen.

Uber die Bedeutung des Föderalismus für die Schulpolitik im geteilten Deutschland bemerkt Thape in seiner Betrachtung: „Im Sommer — 1948 — kam die Währungsreform und unmittelbar darauf die Blockade Berlins. Seitdem gibt es die eindeutig russische Schulpolitik in der Sowjetzone und die restaurative Schulpolitik mit unterschiedlichen Varianten in Westdeutschland. Fälschlicherweise wird für die ungute Bildungspolitik in der Bundesrepublik der Föderalismus verantwortlich gemacht. Das ist ein fundamentaler Irrtum. Man braucht sich nur vorzustellen, Adenauer hätte mit seiner absoluten Mehrheit oder mit seiner vieljährigen Koalitionsmehrheit gegen die Sozialdemokraten vom Bundestag aus Schulpolitik machen dürfen. Sofort erkennt man, daß nur der Föderalismus, der verhütete, daß die Sozialdemokraten absolut ausgeschaltet wur-den, uns vor einer regelrechten Bildungskatastrophe bewahrt hat."

Thape bringt damit zum Ausdruck, daß im pluralistischen Staat der Föderalismus politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Großgruppen vor einer der Subordination gleichkommenden Gleichschaltung bewahrt, womit er auf die Fähigkeit des Föderalismus, politisch bedingte Gefälle auszugleichen, aufmerksam macht.

Die mit föderalistischem Ol getauften Staats-strukturen des deutschen Volkes, das Heilige Römische Reich deutscher Nation und der Deutsche Bund, haben die Fähigkeit, zu leben und leben zu lassen, Frieden zu stiften und Frieden zu bewahren, Gegensätze zu mindern und Religionsspannungen und -trennungen zu überwinden, unter Beweis gestellt. Der unitaristisch angelegte kleindeutsche Nationalstaat erlebte drei Etappen: In seiner ersten Periode, 1871— 1918, ließ er den Föderalismus bewußt verkümmern; er trieb eine offensive Außen-und Militärpolitik. In seiner zweiten Phase, 1919— 1933, in der er sich als Volksstaat ausgab (obwohl er die sozietäre Struktur des kaiserlichen Deutschen Reiches unverändert fortbestehen ließ), unterwarf er sich die Länder, so daß diese in der Agonie des Staates von Weimar handlungsunfähig waren. In seiner dritten Periode, 1933— 1945, schließlich ent. wickelte er einen nivellierenden Überzentra, lismus, der die nach seiner militärischen Katastrophe einsetzende gewaltsame Teilung begünstigte. Diese in der Regel unausgesprochenen Erfahrungen veranlaßten eine Mäßigung in der parlamentarischen und politischen Diskussion über die Staatsstruktur der Bundesrepublik Deutschland. Sie reicht jedoch nicht aus, die Beeinträchtigungen, die dieser von einem extremen Unitarismus und von einem extremen Föderalismus in gleicher Weise drohen, abzuwehren. Die Gefahr des extremen Zentralismus ist, wie die Entwicklung des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1945 beweist, weit größer als die Gefahr des extremen Föderalismus, wie die Geschichte sowohl des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation als auch des Deutschen Bundes demonstriert. Die Entscheidung über die Alternative Föderalismus—Zentralismus ist nicht nur historisch gesehen, eine Entscheidung über die Lebenschance der Bundesrepublik Deutschland, weil die Erhaltung eines effektiven Föderalismus Macht verteilt und deshalb Machtmißbrauch, wenn auch nicht verhindert, so doch wesentlich erschwert, während die Durchsetzung des Zentralismus einer abermals existenzgefährdenden Machtkonzentration entscheidenden Vorschub leistet.

XIV. Renaissance und Krise des föderativen Gedankens

Der Föderalismus erlebte, wie dargestellt, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine starke Belebung, die auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Akzentuierungen vor sich ging. Im Bereich einzelner Staaten rangen proföderative und antiföderative Strömungen und Bewegungen miteinander. Im internationalen Bereich wuchs, wenn auch nur langsam, das Verständnis für die Möglichkeiten föderativ organisierter Zusammenschlüsse nicht nur von Klein-und Mittelstaaten, sondern auch von Staatsgruppierungen. Beide Entwicklungen waren begleitet von einer publizistischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Föderalismus, die jedoch über fragmentarische Ansätze nicht hinauskam — ein Umstand, der zur Folge hatte, daß sich kein allgemeines Verständnis des föderativen Prinzips, wie es die politischen Entwicklungen und die publizistischen Erörterungen erwarten ließen, formte. Noch immer ist das Element Föderalismus nur unter den Völkern und den Teilgebieten von Staaten, die eine föderative Tradition besitzen, bekannt. Seine allgemeine Durchsetzung stößt auf eine starke Gegenbewegung, die aus wirtschaftlichen und politischen Gründen die Bildung großräumiger Ordnungen fordert, in der Regel jedoch anerkennt, daß solche Strukturen nur dann dauerhaft sind, wenn die Interessen der Teilgebiete gebührende Berücksichtigung finden. Zu den bereits bestehenden Bundesstaaten traten immer mehr Staaten, die sich trotz erheblicher verfassungsrechtlicher Unterschiede als „Bundesstaaten" verstehen und bezeichnen: Argentinien, dessen Provinzen Parlament und Regierung besitzen; Australien, das sich als Commonwealth of Australia bezeichnet; Birma, das bis 1961 eine Föderative Republikanische Union war; Brasilien, das als Bundesrepublik firmiert; die Indische Bundes- republlk, die mit Hilfe einer föderativen Verfassungsstruktur bestrebt ist, die gewaltigen menschlichen, politischen, religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Probleme des Subkontinents zu lösen; Jugoslawien, das sich als „Socijalistika Federativna Republika Jugoslavija" bezeichnet und eine Volksrepublik marxistischer Observanz auf bundesstaatlicher Grundlage darstellt; die Madegassische Republik, eine Präsidialrepublik föderativen Charakters; Malaysia, das sich „Federation of Malaysia" nennt und ein monarchistischer Bundesstaat auf parlamentarisch-demokratischer Grundlage''ist; Mexiko, das eine bundesstaatliche Gliederung in 29 Staaten mit Parlament und Gouverneur aufweist; Österreich — eine zentralistische Bundesrepublik die Südarabische Föderation — der verfassungsrechtlich noch nicht endgültig determinierte Zusammenschluß von Sultanaten und Scheichtümern; Tansania, eine präsidiale Republik föderativen Charakters, entstanden aus Tanganika und Sansibar; Venezuela, das seinen 20 Bundesstaaten beschränkte Autonomie zugesteht.

Die verfassungsrechtliche Situation der angeführten Staaten ist sehr verschieden, z. T. so verschieden, daß eine vergleichende Darstellung und Würdigung unmöglich ist. Sie zeigen partielle Übereinstimmung, weisen jedoch gleichzeitig auch große Unterschiede auf, obwohl sie sich als Föderation, föderative Republik, föderativer Staat oder Bundesstaat erklären. Ihre Unterscheidung gegenüber zentral organisierten Staaten ist vielfach verwischt; im Grenzbereich erfolgt ein ständiger Austausch von föderativen und zentralen Strukturelementen. Auch die Ausgangspunkte pseudoföderativer, partiellföderativer und integralföderativer Staatsordnungen und Staatsorganisationen sind sehr unterschiedlich. In fast allen Fällen sind es Vorgegebenheiten oder Veränderungen, die bei der Staatsgründung oder bei politischen Neuordnungen zu föderalismusverwandten Lösungen geführt haben. Die ethnische, sprachliche, religiöse und kulturelle Vielfalt des indischen Subkontinents konnte nur in einer Staatsordnung aufgefangen werden, die die Gegensätze in eine entsprechende Staatsstruktur einbezog. Die Socijalistiöka Federativna Republika Jugoslavija versuchte die innere Problematik des jugoslawischen Staates zwisehen 1919 und 1941 dadurch zu lösen, daß sie eine Volksrepublik auf bundesstaatlicher Grundlage schuf, wodurch die Eigenheiten der einzelnen Volksgruppen geschützt und zu einem sich ergänzenden Zusammenwirken gebracht wurden.

In dem Maße, in dem ethnisch, sprachlich oder religiös verschiedene Gruppen innerhalb eines Staatsverbandes Eigenleben beanspruchen, muß dieser, will er nicht seine Existenz aufs Spiel setzen, eine zur Föderation tendierende Dezentralisation vornehmen. Nur dadurch ist es möglich, Eigenheiten zu bewahren. Die sich immer mehr durchsetzende Überzeugung, daß Zwangsintegrierungen unterschiedlicher Gruppen gegen die Charta der Vereinten Nationen verstoßen, dürfte den Prozeß der Föderalisierung zentralistischer Staaten begünstigen und beschleunigen. Die Unzufriedenheit mit zentralistischen Staatsordnungen initiiert und favorisiert den Wunsch, diese durch föderative Gliederungen zu ersetzen. So forderten die Schotten eine Föderalisierung Großbritanniens und die Slowaken eine Föderalisierung der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik. Während die schottische Forderung bisher erfolglos war, kam es 1968 zu einer Föderalisierung der Tschechoslowakei, indem der Gesamtstaat in zwei Teilstaaten gegliedert wurde, die eigene Staatsstrukturen ausbildeten. Die darüber errichtete Gesamtregierung blieb auf die allgemeine Leitung beschränkt, während die Verwaltung weitgehend den Regierungen der Teilstaaten überlassen wurde. Tschechen und Slowaken entschlossen sich zu diesem Schritt, weil sie aufgrund der Erfahrungen sowohl zwischen 1918 und 1939 als auch seit 1945 zu der Einsicht kamen, daß eine Autonomie der unterschiedlichen Landesteile das Zusammenleben in einem Staatsverband erleichtern werde. Der im Dezember 1970 in der SSR eingeleitete politisch bedingte Abbau des Föderalismus bedeutet eine Rezentralisierung.

Die 'Föderalisierung sowohl Jugoslawiens als auch der ÖSSR, auch wenn diese teilweise wieder rückgängig gemacht worden ist, beweist, daß die Spannungen unterschiedlicher Volks-gruppen in einem Staatsverband nur abgebaut werden können durch eine Autonomisierung, wobei die Gewichte zwischen Gesamtstaat und Teilstaaten unterschiedlich verteilt werden. In diesem Zusammenhang verdienen die Vorgänge Erwähnung, die sich in den klassischen zentralistischen Staaten Europas gerade in den letzten Jahren abgespielt haben. Sowohl in Frankreich als auch in Italien, die eine perfekte zentrale Verwaltung aufweisen, setzt sich die Erkenntnis durch, daß autonome Regionen effektiver als Zentralverwaltungen bestimmte Aufgaben und Aufgabengruppen durchführen können. Während in einigen Bundesstaaten ein Trend zum Zentralstaat nachweisbar ist, sind Zentralstaaten mit langer und reicher Erfahrung dabei, den Zentralismus wenigstens in Teilbereichen aufzuheben bzw. zu lockern. Es stellt sich die Frage, ob eine Regionalisierung einer Föderalisierung gleichzusetzen ist — eine Frage, die nicht eindeutig beantwortet werden kann, weil das Prinzip Föderalismus vielschichtig und auch vielgesichtig ist. Da die Übergänge gleitend sind, kann mit Sicherheit nicht gesagt werden, ob sich z. B. Italien im Übergang von einer zentralistischen zu einer föderalistischen Staatsstruktur befindet. Entschieden versuchte General de Gaulle den Umbau der zentralistischen Republik zu einem föderativen Staat.

Während sich die britischen Provinzen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der den Charakter einer Revolution annahm, für einen Bundesstaat entschieden, was sie auch in der Firmierung „United States of America" zum Ausdruck brachten, schuf die Französische Revolution den der „nation une et indivisible“ entsprechenden zentralen und zentralistischen Staat, der zu einer Überhöhung von Paris, ein Name, der zum Synonym für Frankreich als Ganzes wurde, und zur Unterbewertung der Provinz, die auf Kosten der Hauptstadt verkümmerte, führte. Frankreich galt den Nationalstaaten, die im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden, als klassisches Vorbild, weshalb sie auch den Zentralismus des französischen Staates nachahmten. Unter dem Druck der Streiks im Mai/Juni 1968 sah sich der Staatschef der Republique Franaise, General de Gaulle, gezwungen, seine aufgebrachten Mitbürger mit Zusagen über Partizipation und Regionalisierung zu besänftigen. Während die Partizipation eine Beteiligung des französischen Arbeiters an der Produktionsgestaltung und am Produktionsgewinn in Aussicht stellte, behauptete die Regionalisierung die Entdeckung des Föderalismus für Frankreich. Zum erstenmal rückte die französische Politik von ihrem erklärten Ziel, die Vorrechte des Pariser Bürgertums in der Gesamtverwaltung des Staates zu verankern, ab. Zwar hatten einzelne Gebiete, z. B. Elsaß-Lothringen, die Normandie, die Bretagne und das Baskenland, ein bescheidenes Eigendasein geführt, dieses wurde jedoch vom Ubergewidit der Pariser Behörden und von der Dynamik der Hauptstadt fast erdrückt. Bewegungen, die für einzelne Landschaften größere Selbständigkeit und eine verfassungsrechtlich fundierte Eigenverantwortung verlangten, wurden als separatistisch diffamiert. Diese Feststellung gilt ins. besondere für die „Front de la liberation de la Bretagne", die die Artikulierung einer keltischen Nation mit bretonischer Sprache wünscht. Vor allem fordert sie die Loslösung der Bretagne vom Pariser Zentralismus. Nicht allein die Vorstöße der „Front de la liberation de la Bretagne" führten zu der Erkenntnis, daß der Abbau des Zentralismus die Voraussetzung für die Erhaltung der Provinz als Element des Gesamtstaates ist. Diese Einsicht veranlaßte den Entschluß, der französischen Bevölkerung eine Verfassungsänderung vorzulegen, die die Entmachtung des Senats und die Regionalisierung des Staates vorsah. Während die Umgestaltung des Senats zu einer berufsständischen Vertretung nur von einem Teil der Öffentlichkeit bewilligt wurde, neigte eine Mehrheit dazu, im Interesse der Erhaltung der Lebensfähigkeit der Provinz eine als Regionalisierung charakterisierte Föderalisierung zu befürworten, weil sie überzeugt war, daß dadurch den unterschiedlichen Interessen Frankreichs Rechnung getragen werden könnte. Das Referendum vom 27. April 1969 wurde abgelehnt, wodurch auch die Regionalisierung Frankreichs aufgeschoben wurde.

In der Gegenwart treten, wie dargelegt, zwei Bestrebungen deutlich in Erscheinung: der Drang extrem föderalisierter Staaten zum Zentralstaat und die Umgestaltung auch klassischer Zentralstaaten durch die Bildung von Regionen, wodurch sie in den Bereich föderativer Staatsorganisationen geraten.

Die Vereinigten Staaten von Amerika halten schon wegen ihrer räumlichen Größe am Föderalismus fest, weil nur er, trotz der inzwischen erkannten Mängel, in der Lage ist, die staatliche Einheit, die durch sozietäre Desintegrationserscheinungen zwar nicht in Frage gestellt, jedoch erschüttert wird, zu erhalten. In den Vereinigten Staaten von Amerika vollzog sich unter dem Einfluß sowohl der Industrialisierung des Landes als auch seines Eintritts in die Weltpolitik zwangsläufig eine Verlagerung des politischen Schwergewichts von der Gewalt der Einzelstaaten zur Bundesgewalt. Der fremde Beobachter amerikanischer Politik widmet seine Aufmerksamkeit in erster Linie der Außen-, Wirtschafts-und Militärpolitik, deren Gestaltung ausschließlich oder fast ausschließlich in die Kompetenz der Bundesgewalt fällt, wodurch der Eindruck eines zentral verwalte-ten Staates entsteht, der einer Nachprüfung nicht standhält. Inneramerikanische Auseinandersetzungen verweisen auf den nach wie vor bestehenden Antagonismus zwischen der Bundesgewalt und der Gewalt der Einzelstaaten. Diese Diskrepanz erklärt auch das innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika bestehende Gefälle bei der Durchführung einzelner Maßnahmen. Die Eigentümlichkeit der einzelnen Staaten tritt primär in der amerikanischen Innenpolitik in Erscheinung; sie schlägt jedoch bisweilen auch in der Bundespolitik durch.

Obwohl allein wegen der geographischen Ausmaße der Vereinigten Staaten von Amerika eine Dezentralisierung der Verwaltung unerläßlich ist, stellen Zweifler immer wieder die Frage, ob die innere Staatsstruktur der „Federalist Papers", auch wenn sie verfassungsrechtlich und vor allem tatsächlich den veränderten Verhältnissen angepaßt wurde, noch zeitgemäß sei. Immer wieder befassen sich deshalb die amerikanischen Präsidenten mit der Problematik des amerikanischen Föderalismus. In seiner State of the Union-Botschaft vom 4. Januar 1965 verkündete Präsident Lyndon B. Johnson sein Programm einer „großen Gesellschaft". Er bezeichnete als Plan eines „schöpferischen Föderalismus“ die Partnerschaft zwischen Bundesregierung, Einzelstaaten, Gemeinden und den einzelnen Bürgern.

Der schillernde Begriff des „schöpferischen Föderalismus“ versucht die Hindernisse zu beseitigen, durch die der traditionelle Föderalismus die Entfaltung der Gesellschaft erschwert. Die Formel „schöpferischer Föderalismus" bringt zum Ausdruck, daß auch in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Wandlung des traditionellen Föderalismus als notwendig erkannt und gefordert wird. Sie soll eine Harmonisierung zwischen föderativer Infrastruktur und gesellschaftspolitischen Imponderabilien ermöglichen und die Lösung der Probleme, die durch die gegenwärtige föderative Struktur behindert oder verlangsamt wird, beschleunigen. Die Besonderheit des amerikanischen Föderalismus besteht in seiner Fähigkeit, sich den Bedürfnissen anzupassen. Gesetzgebung und Verfassungsinterpretation leisten dabei entscheidende Hilfestellung. Trotzdem gibt es auch in den Vereinigten Staaten von Amerika ein Unbehagen am Föderalismus. Alle Beobachter der politischen Entwicklung verweisen auf die Verkümmerung der Einzelstaaten gegenüber de 3undesgewalt. Die Anhänger des amerikanischen Föderalismus sind gespalten in „negative Föderalisten“ und „positive Föderalisten“.

Die Anhänger des „negativen Föderalismus“ widersetzen sich allen Maßnahmen, die eine Einschränkung der Gewalt der Einzelstaaten und der Gemeinden bedeuten. Die Anhänger des „positiven Föderalismus" sprechen sich in Anerkennung des hohen Wertes einer Gliederung des nordamerikanischen Kontinents in kleine politische Einheiten für eine Renaissance der lokalen Selbstverwaltung aus. Der republikanische Präsidentschaftskandidat des Jahres 1964, Senator Berry Goldwater, ist den negativen Föderalisten zugezählt worden. Der Gouverneur des Staates New York, Nelson A. Rockefeller, gilt als positiver Föderalist. In einer Vortragsserie an der Harvard University behandelte er „Die Zukunft des Föderalismus". Im dritten seiner Harvard-Vorträge ging er auf das Problem „Federalism and Free World Order“ ein, wobei er zum Schluß die Ansicht vertrat, die Väter der amerikanischen Verfassung hätten zwar ein Haus für eine Nation gebaut, ihre Idee sei jedoch universell, weil sie die Idee der menschlichen Freiheit sei: „Ich sehe, daß die föderalistische Erfahrung unseres Landes die großen Probleme der Welt direkt angeht und deshalb für die Welt etwas bedeutet."

Eine allgemeine Dikussion über Formen und Chancen des Föderalismus ist seit einigen Jahren in der Schweiz im Gange. David Lasserre veröffentlichte 1963 unter dem Titel „Schicksalsstunden des Föderalismus — Der Erfahrungsschatz der Schweiz“ die deutsche Übersetzung zahlreicher Aufsätze zur Geschichte der Staatsstruktur der Schweiz Die „Schweizer Rundschau" publizierte im Frühjahr 1964 in einem Sonderheft „Probleme des kulturellen Föderalismus" eine Bestandsaufnahme, die versuchte, den Föderalismus nicht nur als Territorialprinzip, sondern auch als Strukturelement der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern vorzustellen. Die Autoren des Sammelheftes erklärten und rechtfertigten vor allem auch die föderative Struktur der schweizerischen Bildungseinrichtungen. Der Rektor der Stiftschule Einsiedeln, Ludwig Räber, bemerkte in seinem Beitrag, auch der schweizerische Föderalismus entgehe dem Schicksal baldiger Versteinerung nur, wenn er bereit sei, sich zu wandeln. Im Hinblick auf die Struktur der Eidgenossenschaft führte Räber aus: „Die Wahrung eines echten kulturellen Föderalismus mit profilierten geistigen Strahlungszentren und Persönlichkeiten verträgt sich auch heute und morgen bestimmt mit der ebenso klaren Forderung, daß die kantonalen Schlagbäume überall dort beseitigt werden, wo das Verkehrstempo und die gemeinsamen geistigen und wirtschaftlichen Lebensbedürfnisse des ganzen Landes und der werdenden Völkergemeinschaft dies einfach fordern."

Im Zeichen der neu belebten Diskussion über den Föderalismus stand der 6. Kongreß der International Political Science Association vom 21. bis 25. September 1964 in Genf. Die „Schweizerische Vereinigung für politische Wissenschaft" widmete aus diesem Anlaß ihr Jahrbuch ausschließlich Problemen des Föderalismus Die „Neue Zürcher Zeitung" gab ihrem Bericht über den Kongreß die Über-schrift: „Renaissance des Föderalismus"

In seinem im Jahrbuch 1964 der „Schweizerischen Vereinigung für politische Wissenschaft" unter dem Titel „Das Zusammenwirken zwischen Bundesverwaltung und kantonaler Verwaltung" veröffentlichten Aufsatz bemühte sich Dietrich Schindler, die Föderalismus-Forschung aus dem engen Schema traditioneller bundesstaatlicher Begriffe herauszulösen und vom Ansatz einer funktionellen Betrachtungsweise her dem in der Wirklichkeit und Wirksamkeit vielschichtigen und vielstufigen Gestaltungsprinzip wissenschaftlich besser auf die Spur zu kommen, in der Hoffnung, damit neue Wege und neue Möglichkeiten des Föderalismus zu entdecken. In der skizzenhaften Untersuchung der Zusammenarbeit von Bund und Kantonen auf der Verwaltungsebene zeigte er aufs eindringlichste, daß mit einer rein formaljuristischen Analyse des Föderalismus im Sinne der gesetzgeberischen Kompetenzausscheidung sehr wenig über die föderalistische Wirklichkeit ausgesagt wird. Die vertikale funktionelle Integration, die unter dem Druck der wachsenden öffentlichen Aufgaben eingesetzt habe, brauche keineswegs das Ende des föderativen Prinzips zu sein, sondern könne im Gegenteil die zeitgemäße Wandlung des föderativen Zieles bedeuten. Voraussetzung dazu sei allerdings der allseitige Wille, den Föderalismus als grundlegendes Gestaltungsprinzip wenn immer möglich zu wahren. Dieser Wille sei im Schweizer Bundesstaat von jeher besonders ausgeprägt gewesen; er zeige sich auch heute durchgehend im Zusammenwirken zwischen den Verwaltungen von Bund und Kantonen, das Schindler mit dem Begriff des „vertikalen kooperativen Föderalismus" umschrieb. Seine Feststellung wollte er für alle Sparten der Zusammenarbeit gelten lassen. Ihre Wirksamkeit wies er zunächst in der Gesetzgebung nach.

Anschließend befaßte sich Schindler mit dem Bereich vertikaler Kooperation in der Subventionspolitik, wobei er zu bedenken gab, daß die Subventionen 1890 in den kantonalen Finanzhaushalten 3, 6 v. H., 1959 bereits 12, 4 v. H. ausmachten. Die Subventionen hätten sich als äußerst erfolgreiches Mittel erwiesen, die Kantone in vielen Bereichen ohne Zwang auf eine einheitliche Politik und Ausführungspraxis auszurichten. Er führte in diesem Zusammenhang aus, „daß die Kantone, besonders auch solche, die sonst gegen Einbrüche der Bundesgewalt in den kantonalen Bereich am lautesten protestieren, selbst klare Verletzungen der Bundesverfassung gutheißen, wenn sie Bundesbeiträge erhalten"

In seinem Beitrag „Le fdralisme et la Cooperation intercantonale" untersuchte der Vorstand des Waadtländischen Bau-und Planungsamtes, Jean-Pierre Vouga, die durch die Konferenz der Departmentsvorsteher und leitenden Beamten entwickelte bi-und multilaterale Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen, wobei er darauf hinwies, daß die Zusammenarbeit in vertikaler Richtung, d. h. zwischen Bund und Kantonen, bereits sehr weit ausgebildet sei, während die Zusammenarbeit unter den Kantonen noch nicht die erwünschte Ausprägung erfahren habe. Vouga behauptete, daß große Möglichkeiten zwischenkantonaler Kooperation brachlägen. Er erklärte diesen Mangel mit dem Fehlen einer vermittelnden Zentralgewalt mit „bundesstaatlicher Courtoisie", die den Plänen und Gesetzen auch gleich einen Teil der notwendigen finanziellen Mittel nachschicke. Er betrachtete die zwischenkantonale Kooperation als eine Partnerschaft zwischen „souveränen Staaten", deren Selbstbestimmungsrecht auf hori-zontaler Ebene um so stärker zu werden scheine, je größer ihre Abhängigkeit in vertikaler Richtung werde. Diese Tatsache ändere nach seiner Meinung aber nichts daran, daß der künftige Ausbau der zwischenkantonalen Kooperation als wesentliche Ergänzung des föderalistischen Instrumentariums der Zeit ein dringendes Postulat darstelle

Die „Neue Zürcher Zeitung" versah ihren Bericht über das Jahrbuch mit der bemerkenswerten Überschrift „Auf dem Weg zum kooperativen Föderalismus?" Die Bezeichnung wurde, ohne daß darüber eine terminologische Auseinandersetzung stattfand, zu einer immer stärker von Politik und Publizistik gebrauchten Formulierung, mit der sich 1966 das „Troeger-Gutachten", das von der „Kommission für Finanzreform" erstattete „Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland", eingehend beschäftigte.

Die in der Schweiz geführte Diskussion fand ihren Niederschlag in zahllosen Stellungnahmen, Reden, Aufsätzen und Publikationen. Eine vorläufige Zwischenbilanz, die den Blick auf die zukünftigen Möglichkeiten des Föderalismus richtete, gab das Jahrbuch 1965 der „Neuen Helvetischen Gesellschaft"; es trägt den Titel „Der Föderalismus vor der Zukunft /Le federalisme face ä l’avenir" Diese Auseinandersetzung begleitete eine Kontroverse über eine Revision der schweizerischen Bundesverfassung, die seit 1848 über siebzig Partialrevisionen und eine Totalrevision erfahren hat. Im Rahmen der sehr eingehenden Erörterungen geht es um eine Definition des Föderalismus im technischen Zeitalter, der als kooperativer Föderalismus apostrophiert wird. Darunter wird in der Schweiz das Zusammenwirken zwischen den Verwaltungen von Bund und Kantonen verstanden. Gleichzeitig wird versichert, daß der schweizerische Bundesstaat zwar ohne föderalistischen Aufbau nicht leben könne, aber der Föderalismus immer wieder neu überdacht und den neuen Gegebenheiten angepaßt werden müsse.

Der Bundesminister der Finanzen, Rolf Dahlgrün (FDP), hatte in der gemeinsamen Sitzung des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten der Länder vom 20. März 1964 die Berufung einer Sachverständigenkommission für die Finanzreform mit dem Auftrag vorgeschlagen, „ein Gutachten zur Vorbereitung einer umfassenden Finanzreform" zu erstatten. Die Kommission, deren Aufgaben genau festgelegt waren, tagte in der Zeit vom 20. März 1964 bis 25. Januar 1966. Ihr 1966 abgeschlossenes und veröffentlichtes Gutachten untersuchte in Teil A die verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Grundlagen, in Teil B neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Bund und Län-.dem, in Teil C die Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs, in Teil D die Gemeinde-Finanzreform, in Teil E Mittel einer wirtschaftlich rationellen Fiskal-und Kredit-politik, in Teil F Zeitplan und finanzwirtschaftliche Auswirkungen der Reformvorschläge und gab in Teil G eine Zusammenfassung ihrer Empfehlungen. In den einleitenden Ausführungen über die verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Grundlagen beschäftigte es sich mit dem Grundgesetz in der Verfassungswirklichkeit, mit typischen Erscheinungsformen der Verfassungswirklichkeit, mit den Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern und mit den Leitgedanken des Gutachtens. Unter den letztgenannten Vorstellungen äußerte es sich zu dem Begriff des . kooperativen.Föderalismus'. Dabei nahm es Bezug auf historische Entwicklungen, verfassungspolitische Forderungen, finanzwissenschaftliche Bedürfnisse und gesellschaftliche Notwendigkeiten.

Das „Troeger-Gutachten" stellt den ersten Versuch dar, das Prinzip des kooperativen Föderalismus zu bestimmen. Zunächst gibt es eine allgemeine Strukturanalyse: „Der Bundesstaat in Deutschland ist das Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung unseres Volkes. Der Kem der föderativen Staatsidee liegt in der Schaffung verschiedener Entscheidungszentren, der Verteilung der Staatsmacht auf mehrere Entscheidungsträger und der Auflösung eines zentralen Befehlsmechanismus mit all seinen Gefahren. Der Föderalismus verbürgt zugleich zusätzlichen Freiheitsraum für den Bürger. Die Verfassung des Bundesstaates ist ein komplizierteres Gebilde als die des Einheitsstaates. Der Bundesstaat verlangt die Anerkennung der staatlichen Einheit der Nation und gleichzeitig die Anerkennung der staatlichen Eigenständigkeit seiner Glieder; er sieht davon ab, alle öffentlichen Lebensbereiche einheitlich zu regeln und zu gestalten. Regionale Mannigfaltigkeit ’. st geradezu ein Wesensmerkmal des Bundesstaats. Er setzt damit eine subtile Regelung der Beziehungen zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten voraus und nimmt das Aufkommen von Reibungen und Auseinandersetzungen zwischen beiden in Kauf. Die notwendige Kompliziertheit dieses Verfassungsgefüges stößt in der Bevölkerung auf manchen Widerspruch und vielfach auf Unverständnis. Aber auch die moderne Wirtschaftsentwicklung, vor allem die zunehmende internationale Verflechtung, wirkt der Idee des Föderalismus in Deutschland entgegen. Des weiteren wird das Prinzip der föderalen Freiheit zunehmend von den Forderungen des modernen Sozialstaats überlagert, der die Gleichmäßigkeit der öffentlichen Leistungen und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse höher bewertet als die Rücksichtnahme auf regionale oder örtliche Besonderheiten. So erklärt es sich, daß man in der Öffentlichkeit die Erfüllung neuer wichtiger Aufgaben in erster Linie vom Bund erwartet. In ähnlicher Weise richtet sich die Kritik der Bevölkerung gegen die Bundesregierung, wenn dringende Staatsaufgaben nicht rasch erledigt werden; das gilt auch dann, wenn nach der verfassungsrechtlichen Ordnung eindeutig die Landeszuständigkeit gegeben ist. Die über das ganze Bundesgebiet hinweg organisierten Parteien und auch die Interessenverbände, die aus dem politischen Leben nicht mehr wegzudenken sind, tun ein übriges, diese Entwicklung zu fördern."

Im Anschluß an diese grundsätzlichen Ausführungen verweist das „Troeger-Gutachten" auf Schwierigkeiten, Probleme mit Hilfe des überkommenen Föderalismus zu lösen: „In den letzten Jahren hat sich wiederholt gezeigt, daß entscheidend wichtige Probleme mit der überkommenen Form des Föderalismus nicht mehr befriedigend gelöst werden können. Die bundesstaatliche Ordnung unterliegt dem Wandel der politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse; sie kann deshalb nicht auf unabsehbare Zeit verfassungsrechtlich fixiert werden. Andernfalls würde sie eine zeitgemäße und zweckmäßige Erfüllung der staatlichen Aufgaben behindern und als störendes Element der politisch-wirtschaftlichen Ordnung empfunden werden. In einer Zeit der Spannungen und Konflikte, umgeben von Völkern, die eine starke Dynamik entfalten, muß sich die Bundesrepublik großen Zukunftsaufgaben gewachsen zeigen. Es geht dabei nicht nur um ihre äußere Sicherheit, sondern auch um die Gestaltung einer inneren Ordnung, die eine erfolgreiche Außenpolitik erst tragen kann. Es muß deshalb eine Form des Föderalismus entwickelt werden, die ein ausgewogenes und bewegliches System der Zusammenordnung und der Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern und unter den Ländern ermöglicht. Der Föderalismus unserer Zeit kann deshalb nur ein kooperativer Föderalismus sein. * Das Gutachten gibt in seinen folgenden Ausführungen eine bemerkenswerte Definition:

„Der kooperative Föderalismus ist ein aktives Staatsprinzip; er verwirklicht den Ausgleich zwischen einer klaren Aufgabenabgrenzung, ohne die eine Ordnung des Bundesstaate» nicht denkbar ist, und der bundesstaatlichen Kräfte-konzentration, die den höchsten Wirkungsgrad des öffentlichen Mitteleinsatzes gewährleistet. Eine solche Ordnung unseres Bundesstaates erfordert es, die bisherigen Formen der Zusammenarbeit durch die Schaffung neuer Institutionen aus bundesstaatlichem Geist zu verbessern. Hinzu kommen muß die Bereitschaft beider Teile, um der Lebenskraft der föderativen Idee willen von den neu eröffneten Möglichkeiten aufgeschlossen Gebrauch zu machen, wo immer es im Interesse des öffentlichen Wohles geboten ist."

In der Zusammenfassung ihrer detaillierten Empfehlungen äußert sich das „Troeger-Gutachten“ noch einmal zu der Aufgabe der bevorstehenden Finanzreform, indem es die Notwendigkeit sowohl einer Neuabgrenzung als auch der Beweglichkeit der Zusammenarbeit von Bund und Ländern gegenüber neu auftretenden Aufgaben betont. Es führt dabei aui: „Im Bundesstaat setzt die verfassungsrechtliche Ordnung voraus, daß die öffentlichen Aufgaben und Befugnisse im Verhältnis zwischen Bund und Ländern möglichst klar gegeneinander abgegrenzt sind. Trotz der Zuständigkeitsvorschriften des Grundgesetzes hat die Praxis des letzten Jahrzehnts erkennen lassen, daß zahlreiche Fragen der Aufgabenverteilung ungeklärt geblieben sind, was zu vielfältigen Überschneidungen und häufigen Auseinandersetzungen zwischen Bundes-und Landesbehörden geführt hat. Das ungeordnete Nebeneinander öffentlicher Aufgabenerfüllung durch mehrere Träger begünstigt eine unwirtschaftliche Ausgabengebarung und gefährdet das Gefüge der bundesstaatlichen Ordnung. Für das Zusammenwirken von Bund und Ländern, das in wichtigen Sachbereichen einem dringenden Erfordernis entspricht, haben sich im Laufe der Zeit Formen herausgebildet, die verfassungsrechtlich angreifbar und nicht genügend aufeinander abgestimmt sind.“

Indem das „Troeger-Gutachten“ den Begriff des kooperativen Föderalismus anwendet und bestimmt, führt es ihn in den politischen Sprachgebrauch ein, in dem er in der Folgezeit immer häufiger verwandt wird, ohne daß seine Entstehung genannt und sein Inhalt beschrieben werden. Seine Kritiker sind der Ansicht, daß das Adjektiv kooperativ nur deklamatorischen Charakter besitzt, da der Föderalismus an sich eine Kooperation zwischen den von ihm umfaßten Teilen meint; sie haben sich nicht durchgesetzt. Die Bezeichnung „kooperativer Föderalismus" ist in Parlament und Publizistik populär geworden. In der Schweiz wird darunter die vertikale Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen verstanden, die im Gegensatz zu der horizontalen Zusammenarbeit der Kantone ausgeprägt ist. In Deutschland bezeichnet der kooperative Föderalismus eine Form der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern, die so beweglich ist, daß sie alle Anforderungen, die an die Gesamtheit des Bundesstaates gestellt werden, regelt, ohne den Bundesstaat selbst in Frage zu stellen oder die diesem gestellten Aufgaben zurückzuweisen. Daß es angesichts dieser Auseinandersetzungen in den Ursprungsländern des modernen Föderalismus, in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Schweiz, auch in der Bundesrepublik Deutschland zu einer zum Teil heftig geführten Debatte über den Föderalismus gekommen ist, ist verständlich, besitzt doch das föderative System in Deutschland im allgemeinen Bewußtsein nicht die gleiche Tradition wie in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Schweiz; es ist darüber hinaus durch eine antiföderalistische Stimmung und durch die Verbindung mit politischen Ereignissen diskreditiert. Die Einwände gegen den Föderalismus, die einzelne Fraktionen des Parlamentarischen Rates und später einzelne Politiker und Wissenschaftler vorbrachten, fanden in der öffentlichen Meinung Widerhall. Je mehr sich die Verhältnisse konsolidierten, um so größer wurde der Zweifel an der Zweckmäßigkeit der föderativen Struktur der Bundesrepublik Deutschland. Die nie ausgeräumten Ressentiments gegen den Föderalismus als ein dem Ansehen und der Größe Deutschlands entgegengesetzten Prinzip wurden neu belebt. Die Verwechslung zwischen Föderalismus einerseits und Partikularismus oder Separatismus andererseits trat wieder in Erscheinung. Wie oben ausführlich dargelegt, besteht in der Bundesrepublik Deutschland ein z. T. manipuliertes Unbehagen am Föderalismus, weil er entweder als Behinderung des Einheitsstaates oder als Gebot der Besatzungsmacht angesehen wird. Seine Gegner apostrophieren ihn als „Postkutschenföderalismus", womit sie eine zwar unterdrückte, aber noch nicht bewältigte Begeisterung für den Einheitsstaat der deutschen Nationalbewegung und ein auf Unkenntnis beruhendes Mißverständnis des föderativen Prinzips zum Ausdruck bringen. Föderalismus wird als Bestandteil der politischen Bewußtseinslage von Bayern, aussterbenden Hannoveranern, Katholiken und politischen Naturaposteln angesehen.

Dem überwiegenden Trend zu nationaler Föderalisierung entspricht die internationale Tendenz, überstaatliche Verordnungen, Vereinigungen, Zusammenschlüsse und Bündnisse föderativ zu gestalten. Die geschichtlichen Erfahrungen bezeugen unwiderlegbar, daß supranationale Gesellungen nur möglich sind, wenn sie den nationalen Bedürfnissen und Erwartungen in höchstmöglichem Maße entsprechen. Diese Feststellung gilt für alle seit 1945 wiederbelebten oder neu geschaffenen Ordnungen. Sie erweisen sich nur dann als lebensfähig, wenn ihnen eine Harmonisierung zwischen supranationalen Erwartungen und nationalen Forderungen gelingt. Als Strukturelement dafür bietet sich nur das föderative Prinzip an, das sich stärker der bundesstaatlichen Ordnung des alten Griechenlands als den modernen Bundesstaaten nähert. Da der griechische Koinon kein Bundesstaat im Sinne des Bundesstaates der Vereinigten Staaten von Amerika, der Schweizer Eidgenossenschaft oder des kaiserlichen Deutschen Reiches war, sondern eine überregionale Ordnung von im Sinne ihrer Zeit souveränen Staaten, zeigt der bei supranationalen Vereinigungen zur Anwendung kommende Föderalismus Affinitäten mit dem Föderalismus des griechischen Koinon. Die Versuchung, alle internationalen Organisationen als föderativ zu deklarieren, ist groß. Die Bezeichnung Föderation wird für Staaten und Staatengruppen sehr unterschiedlicher Strukturen verwandt und stellt deshalb keine materielle Aussage über die föderative Qualität dar. Hierüber entscheidet letzthin die Erhaltung von Eigenständigkeit und Eigenverantwortung. Die Konsequenzen sind Gemein-schaften, Zusammenschlüsse und Ordnungen unterschiedlichen Charakters.

Der Versuch, Europa, das geistig und kulturell stets eine Einheit war, politisch und wirtschaftlich zu einen, erfolgt zwangsläufig auf dem Boden föderativer Erkenntnisse, Methoden und Zielsetzungen. Während die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa" auf einen den Vereinigten Staaten von Amerika verwandten europäischen Bundesstaat verweist, erinnert die Formulierung vom „Europa der Vaterländer“ trotz Abweichungen an den Deutschen Bund. Die „Vereinigten Staaten von Europa" müßten in den für ihre Existenz entscheidenden Bereichen kompetente Bundesgewalt besitzen, das „Europa der Vaterländer“ könnte sich auf subsidiäre Gesellungen und Ordnungen beschränken, wäre jedoch nicht in der Lage, die gleiche politische Wirkung wie ein europäischer Bundesstaat zu erreichen. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ würden eine durchaus realisierbare bundesstaatliche Ordnung darstellen, das „Europa der Vaterländer“ böte lediglich unscharfe Konturen eines europäischen Staatenbundes. Die Konsistenz des Föderalismus wäre bei den beiden Denkmodellen sehr verschieden.

Die Absicht, mit Hilfe föderativer Strukturen territoriale und politische Probleme, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, zu lösen, schlug in der Empfehlung durch, die Walter Ulbricht am 30. Dezember 1956 im Rahmen der Diskussion über die Wiedervereinigung Deutschlands machte. Ulbricht führte aus: „Nachdem in Deutschland zwei Staaten mit verschiedenen gesellschaftlichen Systemen bestehen, ist es notwendig, zunächst eine Annäherung der beiden deutschen Staaten herbeizuführen, später eine Zwischenlösung in Form der Konföderation oder Föderation zu finden, bis es möglich ist, die Wiedervereinigung und wirklich demokratische Wahlen zur Nationalversammlung zu erreichen.“ Dieser Vorschlag löste eine heftige Polemik aus. Er blieb hinsichtlich seines föderativen Charakters unklar, da Ulbricht keine artikulierten Angaben über die Struktur der von ihm angeregten Konföderation oder Föderation machte. Die Möglichkeit, ein geteiltes Land in eine Föderation zusammenzufassen, ist nicht irreal, wenn über die Voraussetzungen und Bedingungen Einverständnis besteht.

Die historischen, politischen und verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen in der

Epoche des Zweiten Weltkrieges, die zunehmende Bildung von Bundesstaaten und Föderationen nach Beendigung des Kolonialismus und die Notwendigkeit von regionalen Zusammenschlüssen und der Schaffung von Staaten-gruppen begünstigte zwangsläufig eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte und mit der Funktionsfähigkeit des Föderalismus. Niemals wurde über den schillernden Begriff so viel geschrieben wie seit 1945. Die Literatur über den Föderalismus wird für den einzelnen unüberschaubar. Internationale Organisationen und Einrichtungen nahmen sich der Entwicklung des Begriffes an, ohne dabei bisher zu einer Systematisierung zu gelangen. Einen bemerkenswerten Versuch dazu unternahmen Henri Brugmans und Pierre Duclos in ihrer 1963 erschienenen Studie „Le Fdralisme contemporain. Criteres, Institutions, Perspectives" in der Brugmans sich über „Le Federalisme, Criteres et Perspectives“ verbreitet, während Duclos „Le Federalisme Institute" analysiert. Die Untersuchung setzt die Bemühungen, die Sobey Mogi 1931 eingeleitet hat, fort; sie ist in der Bundesrepublik Deutschland unbeachtet geblieben.

Die vielfache Verwendung des Begriffes Föderalismus sowohl in der Staatslehre und in der Politologie als auch in den Charakterisierungen der Staaten und Staatengruppen vergrößert die Unsicherheit über ihn. Sein Gebrauch in der westlichen und in der östlichen Staaten-gruppe und in der Dritten Welt wirkt dabei entscheidend mit. Ein Vergleich seines Verständnisses bietet sich daher an

Der Westen begreift, soweit er deckungsgleiche ideologische Vorstellungen vertritt, den Föderalismus als das hündische Prinzip, das ein wesentliches Strukturelement politischer und gesellschaftlicher Gesellungen ist. Er versteht ihn antithetisch, d. h. im Gegensatz zum Zentralismus. Historisch geht er davon aus, daß das europäische Vorbild staatlichen Zusammenlebens, die griechische Polis, ein überschaubarer Einheitsstaat gewesen sei, weshalb er dazu neigt, dieser Einheitlichkeit Vorrang einzuräumen. Die mangelhafte Beschreibung des Bundesstaates, des Koinon, hat dazu geführt, daß der föderative Gedanke in den Urtexten der politischen Literatur nicht die gleiche Beachtung gefunden hat wie der zentralistische Gedanke.

Das literarische Übergewicht der Darstellung der zentralistischen Polis hat den Föderalismus von Anfang an in eine Isolierung gedrängt, die zu überwinden ihm trotz der Hilfestellung, die ihm z. B. Otto von Gierke in seiner Darstellung des Genossenschaftsrechts zuteil werden ließ, nicht leichtgefallen ist. Die Folge dieser Entwicklung ist, daß der zentrale Staat als die ältere Staatsordnung verstanden wird, wobei übersehen wird, daß die zentral geleitete Polis keinen Vergleich mit den zentral gesteuerten Flächen-, Verbands-und Massenstaaten der Neuzeit zuläßt. Auch schuf die literarische und historiographische Vernachlässigung des Bundesstaates ein Gefälle zwischen Zentralismus und Föderalismus, das nur scheinbar, nicht aber tatsächlich besteht. Im Verlauf der europäischen Entwicklung traten zwischen den extremen Ausprägungen von Zentralismus und Föderalismus alle nur denkbaren Zwischenformen auf, weshalb die strukturellen Beurteilungen z. B.des Imperium Romanum und des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation teilweise erheblich voneinander abwichen. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, der Geburtsphase der neuesten Zeit, kam es in enger zeitlicher Nachbarschaft zur Artikulierung der die folgende Entwicklung von Staatsstrukturen entscheidenden Vorbilder, als nämlich 1776 die Vereinigten Staaten von Amerika einen Bundesstaat proklamierten und realisierten, in dem die Staatsgewalt geteilt wurde zwischen Bundesgewalt und Gliedstaaten, und 1789 die Französische Revolution, die, ausgehend von der Vorstellung der „nation une et indivisible", den perfekten Zentralstaat postulierte und verwirklichte, in dem die Zentralgewalt einen uneingeschränkten Anspruch erhob. In der Schweizer Eidgenossenschaft lebte, wie ihr Name besagt, das genossenschaftliche Prinzip, das föderative Grundelement, fort, das zwar vorübergehend beseitigt, im schweizerischen Bundesstaat jedoch weitgehend berücksichtigt wurde. Diese Ausprägung antithetischer Staatsstrukturen wurde vorbereitet durch theologische und politische Erwägungen, die das Bundesverständnis entscheidend vertieften, wie z. B. die Föderaltheologie und die Genossenschaftslehre von Johannes Althusius. Diese Erkenntnisse blieben lange verschüttet. Die Vertreter des westlichen Föderalismus-Verständnisses des 19. Jahrhunderts dachten und argumentierten originär, wenn sie, wie Konstantin Frantz, den Föderalismus als Heilmittel des modernen Massenstaates priesen.

Die Väter des wissenschaftlichen Sozialismus, Karl Marx und Friedrich Engels, standen dem Föderalismus kritisch, aber nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Weil sie unterdrückten Nationen Separationsbestrebungen zuerkannten, erwarteten sie sich von einer Föderation die Möglichkeit eines Zusammenlebens zwischen benachbarten oder in Gemengelage siedelnden Völkern. Ihre These wandten sie auf das Verhältnis zwischen Iren und Engländern an; sie sprachen sich für eine Separation der Iren aus, hofften jedoch auf eine spätere Föderation zwischen Iren und Engländern.

Hinsichtlich Deutschlands bekämpften Marx und Engels die Ideologen des Föderalismus, die sie als Verteidiger des reaktionären Fürstenpartikularismus identifizierten. Sie gaben deshalb in Deutschland der unitarischen Republik den Vorzug vor dem monarchischen Bundesstaat. Den Föderalismus in Staaten eines Sprachgebietes betrachteten sie als Hemmschuh der ökonomischen und sozietären Entwicklung. Die Marxisten Rußlands verwickelten sich in eine intensive Auseinandersetzung mit dem Föderalismus. Vor 1917 waren die Bolschewiki antiföderalistisch eingestellt; sie sahen sich nach 1917 jedoch veranlaßt, zur Verbesserung ihrer Position im Bürgerkrieg den Föderalismus zu respektieren. Auf diese Änderung hatten Entwicklungen während des Ersten Weltkrieges bestimmenden Einfluß. Die Russische Revolution sprengte den autokratischen „Völkerkäfig"; für die Überwindung des Zerfalls des Zarenreiches in Nationalitäten und Nationalstaaten schien der Föderalismus ein geeignetes Mittel zu sein. Der Kriegskommunismus erkannte, daß der Gegensatz zwischen den ökonomischen Forderungen des Sozialismus und den Imponderabilien des Föderalismus geringer war, als er angenommen hatte. Die nationalen Bewegungen spielten in der Russischen Revolution eine nicht geringe Rolle. Ihre Respektierung war zwingend veranlaßt, sollte der Erfolg der Revolution nicht aufs Spiel gesetzt werden. Das Ergebnis war, daß die im Aufbau befindliche Sowjetmacht sich formal föderativ organisierte. Die ideologische Interpretation vertrat dazu die Auffassung, daß die föderalistische Staatsstruktur nur im Zusammenhang mit einem progressiven politischen Regime einen freiheitlichen Aspekt haben könne. Darüber entwickelte sich eine Theorie des Föderalismus in der Sowjet-union die die marxistische Staatslehre, so wie sie in den sozialistischen Staaten verstanden wird, entscheidend beeinflußte. A. Denisow vertrat in seiner 1960 erschienenen Studie „Sunost’ i formy gosudarstva“ die in die Zukunft weisende Auffasung: „Die Geschichte kennt bisher keine Konföderationen sozialistischer Staaten, doch daraus darf man nicht schließen, daß diese Art der Vereinigung in Zukunft nicht möglich ist."

Die Voraussetzung für einen föderativen Weltstaat ist für die Föderalismus-Theorie und -Politik der Sowjetunion die Durchsetzung des Sozialismus in allen Ländern oder wenigstens den wichtigsten Ländern der Erde. Indem sich die Sowjetunion als föderativer Staat organisierte, schuf sie nach ihrer Auffassung die Möglichkeit, daß sich ihr andere Staaten anschließen können. Die nach 1945 vollzogene Entwicklung verlief bekanntlich anders. Ein ideologisch bedingtes und ausgerichtetes Bündnissystem, beruhend auf bi-und multilateralen Verträgen, formte das sozialistische Lager, das sich weder als Föderation versteht noch bezeichnet, wenn auch rudimentär, etwa im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon), föderative Elemente angelegt sind. Die Breschnew-Doktrin fordert den Verzicht auf die uneingeschränkte Wahrnehmung der Souveränität sozialistischer Länder zugunsten der sozialistischen Hegemonialmacht, der Sowjetunion, nicht aber zugunsten einer Föderation sozialistischer Staaten. Ob der Föderalismus für die sozialistische Staatengruppe eine Funktion erreichen kann, hängt entscheidend von der Bereitschaft der Sowjetunion ab, die von ihr bisher beanspruchte Vormachtstellung aufzugeben. Der Konflikt mit der Volksrepublik China könnte sie dazu veranlassen. Solche Erwägungen begeben sich jedoch auf das weite Feld politischer Spekulationen. In den Ländern der Dritten Welt treten Föderationen — wenn auch nicht immer so bezeichnet — der verschiedensten Art auf, die zunächst den Charakter von Zweckverbänden haben, so daß sie nicht zu einer Integrierung führen. Es kann jedoch kein Zweifel darüber bestehen, daß für die weitere Entwicklung der souveränen Staaten der Dritten Welt, die in den Grenzen ehemaliger Kolonialgebiete errichtet wurden, das föderative Prinzip Bedeutung erlangen kann, wenn nämlich ihre Stämme und Völker einerseits die Notwendigkeit zu wirtschaftlichen Zusammenschlüs.

sen anerkennen, andererseits die Bewahrung ihrer Individualität fordern. Für diese Situation dürfte der Föderalismus eine Möglichkeit sein, die postkolonialen organisatorischen und politischen Probleme der Länder der Dritten Welt befriedigend zu lösen.

Diese Übersicht zeigt, daß sich das Föderalismus-Verständnis im Ausmaß der Föderalismus-Verbreitung wandelt. Je mehr gesellschaftliche Systeme sich der Elemente des Föderalismus bedienen, um so verschiedenartiger wird sein Erscheinungsbild. Er entfernt sich zwangsläufig von den genormten Auffassungen, die durch das Verfassungsrecht der Schweiz, der Vereinigten Staaten von Amerika und auch des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik Deutschland geprägt worden sind. Seine Festlegung ist dadurch zwangsläufig erschwert, zumal Regionalisierungs-und Autonomisierungsbestrebungen die Bezeichnungen „Föderation" oder „föderativ" benutzen. Nicht nur der allgemeinen Entwicklung folgend hat gleichzeitig ein Prozeß der Entideologisierung eingesetzt, der zu einer Versachlichung eines in vielfacher Form in Erscheinung tretenden Strukturelementes geführt hat. Der Föderalismus wird in der Gegenwart — von einer immer kleiner werdenden Gruppe abgesehen — nur pragmatisch verstanden. Obwohl ideologisch verdächtig, hat er aufgehört, eine Ideologie zu sein. Die Eigenverantwortung der Gliedstaaten nimmt in allen Föderationen ab — die Dezentralisierung klassischer Einheitsstaaten ist dafür kein Gegenargument, da sie nicht zur Ausprägung von Gliedstaaten oder Kantonen, wie sie die klassischen Föderationen gekannt haben und auch noch kennen, führt. Anzeichen sprechen dafür, daß sich eine neue Form der Föderation entwickelt, da ein ständiger Austausch von Kompetenzen zwischen dem Gesamtstaat und den Teilstaaten im Gange ist, bei dem nicht nur die Teilstaaten Zuständigkeiten an den Gesamtstaat abtreten, sondern auch der Gesamtstaat den Teilstaaten Kompetenzen überläßt. Dieser Vorgang ist sowohl in der sozialistischen als auch in der demokratischen Gesellschaft zu beobachten; er entspringt den Bedürfnissen des einzelnen und den Notwendigkeiten der Verwaltungen. Das demokratische Föderalismus-Verständnis sträubt sich dagegen, das sozialistische Föderalismus-Verständnis anzuerkennen. W. H. Riker hat jedoch 1964 in seiner Studie „Federalism. Origin, Operationsignificance" daraufhin-gewiesen, der Umstand, daß der Föderalismus in der Sowjetunion die Tyrannei nicht vermeiden konnte, sollte nicht dazu führen, „ihn ganz aus der Klasse der Föderalismen auszuschalten"

Die Föderalismen des gegenwärtigen Augenblicks sind zahlreich; sie unterliegen beständigen Umwandlungen, weil sie den Bedürfnissen der jeweiligen Staaten und Gesellschaften freiwillig oder unter Zwang angepaßt werden. Selbst in seinen Ursprungsländern zeigt der Föderalismus neue Perspektiven. Diese Tatsache verhindert sowohl seine Reideologisierung als auch seine verfassungsrechtliche Indoktrinierung. Er befindet sich im Prozeß einer stetigen Fortentwicklung, der immer neue Formen hervorbringt, die ihm zuzuordnen sind, auch wenn sie nicht die Attribute seiner klassischen Version aufweisen. In seiner Flexibilität liegt seine Chance. Seine Voraussetzung ist die Bewahrung überschaubarer Bereiche. Seine Qualifikation ist angesichts dieser Veränderung sehr verschieden. Es gibt den zur Firmierung zusammengeschrumpften Föderalismus, mit dem sich ein Einheitsstaat bezeichnet, es gibt aber auch den eingeprägten Föderalismus, der an der Teilung der Staatsgewalt zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten festhält, weshalb er auch nur diese Staatsstruktur als Föderalismus gelten läßt. Wer der strukturellen Bandbreite der Föderalismen keine Beachtung schenkt, gerät in Gefahr, den Begriff als irreführend zu bezeichnen, denn jeder Versuch, den Föderalismus gleichbleibend zu bestimmen, ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Föderalismus ist letzthin ein Strukturelement staatlicher und gesellschaftlicher Ordnungen, das dem Individuum und den kleineren Bereichen alle Zuständigkeiten einräumt, deren sie bedürfen, um in Eigenverantwortung die Aufgaben zu lösen, zu deren Bewältigung sie in der Lage sind. Überall dort, wo dieses Prinzip ganz oder teilweise respektiert wird, gelangt der Föderalismus zur Anwendung. Die geographischen, historischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse nehmen Einfluß auf die jeweilige Ausprägung des föderativen Prinzips.

Welche Entwicklung der Begriff in Zukunft auch nimmt, seine Bedeutung für die zusammenwachsende Welt ist unbestritten. Arnold J. Toynbee, der Verfasser der zehnbändigen Untersuchung „A Study of History (1929— 1954)", befaßt sich in seinen 1969 erschienenen Lebensmeditationen „Experiences" sowohl mit dem Wachstum der Weltbevölkerung als auch mit der Entstehung einer kommenden Weltstadt, einer Okumenopolis, in der alle heutigen lokal noch begrenzten Superstädte, die Megalopolen, eines Tages aufgehen werden. Von dem Trend dieses Prozesses ist er überzeugt: „Der technische Fortschritt bringt zwangsläufig eine ständige Vergrößerung der wirtschaftlichen und politischen organisatorischen Einheiten mit sich. Wirtschaft und Politik sind heute nicht mehr voneinander zu trennen und kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Heute schon sind die kleinsten wirtschaftlich und politisch effizienten Einheiten die . Supermächte'vom Rang der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten, und es sieht so aus, als ob selbst Einheiten dieser Größe bereits bald überholt sein werden. Die Versorgungszentren, Werkstätten, Märkte, der Staat — alles nimmt pari passu mit der Größe der Stadt zu. Auch diese Einrichtungen entwickeln sich in weltumspannenden Dimensionen, und die kommende Weltorganisation für wirtschaftliche und politische Angelegenheiten wird sich auf das Leben in ähnlicher Weise auswirken wie die zukünftige Weltstadt: die menschlichen Beziehungen werden an persönlichem Charakter verlieren."

Diese von Toynbee mehr gefürchtete als erhoffte Entwicklung veranlaßt ihn zu der Frage, auf welche Weise sich der Mensch als personales Wesen gegenüber der Technik behaupten könne. Er denkt, wie er selbst ausführt, an „einige äußere Modifizierungen, die die Bedrängnis des Menschen etwas erleichtern könnten". Als Beispiel nennt er die Institution des Weltstaates, einen Teil des Preises für die Abschaffung des Krieges, dessen Pression durch Dezentralisation gemildert werden kann. Toynbee fügt hinzu: „Um erträglich zu sein, wird der Weltstaat föderalistische Struktur haben müss n. Die heute bestehenden souveränen Staaten könnte man für ein unvermeidliches Opfer an Souveränität entschädigen, indem man sie zu Teilen des Weltstaats macht. Sie wiederum werden regional unterteilt werden müssen. Solche regionalen Gebilde bestehen bereits in jenen jetzt souveränen föderalistischen Staaten, in denen Dezentralisation praktiziert wurde. In anderen, zur Zeit zentralistischen Staaten neigt heute die Bevölkerung mancher Regionen dazu, die Übertragung von Rechten — von der Selbstverwal-tung bis zur völligen Unabhängigkeit — zu fordern. Schotten, Waliser, Flamen, Ibo, Süd-Sudanesen, sie alle äußern das gleiche Verlangen, und selbst die föderalistische Struktur Kanadas, die so ausbalanciert ist, scheint den Französisch-Kanadiern nicht zu gefallen. Außerdem wird vermutlich die Übertragung politischer Rechte sich auf der Instanzenleiter mindestens noch eine Stufe weiter hinunter erstrecken müssen. Dezentralisation kann die Repression der Persönlichkeit nur dann merklich mildern, wenn sie auf Gebiete und Bevölkerungen erweitert wird, die noch klein genug sind, um eine unmittelbare persönliche Zusammenarbeit in der öffentlichen Verwaltung zu gestatten."

Diese Bemerkungen Toynbees zeigen, daß der Föderalismus seine ihm für die menschliche Gesellschaft gestellte Aufgabe noch nicht erfüllt hat. Obwohl er, wie dargestellt, die Menschheit von einem früheren Zeitpunkt an begleitet, scheinen seine Chancen in der Zukunft zu liegen. Er ist, wie Toynbee überzeugend darlegt, ein Mittel, vielleicht sogar das einzige Mittel, um die Unerträglichkeit eines Weltstaates und einer Weltgesellschaft für den Menschen erträglich zu machen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Neue Zeitung, 4. Jahrg. (1948), Nr. 70 vom 2. September 1948.

  2. Sten. Ber. Parlamentarischer Rat, S. 5 f.

  3. K. Adenauer, Erinnerungen 1945— 1953, Stuttgart 1965, S. 155.

  4. Sten. Ber. Parlamentarischer Rat, S. 151 ff.

  5. Ebenda, S. 8 ff.

  6. Ebenda, S. 69 ff.

  7. Sten. Ber. Parlamentarischer Rat. Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 1 ff.

  8. K. Schwend, Aus der Werkstatt des Bundes baues, in: Unser Bayern, hrsg. v.der Bayerischet Staatskanzlei, München 1950, S. 10 ff.

  9. Deutscher Wortlaut: B. Dennewitz u. a. (Hrsgt Kommentar zum Grundgesetz (Bonner Kommentanl Hamburg 1950 ff, Bd. I, S. 98 f.

  10. Schwend, a. a. O., S. 12 f.

  11. Dennewitz, Bd. I a. a. O., S. 106 ff.

  12. Adenauer, a. a. O., S. 165.

  13. Sten. Ber. Parlamentarischer Rat, S. 197 ff.

  14. H. Ehard, Bayerische Politik. Ansprachen und Reden des bayerischen Ministerpräsidenten, München 1952, S. 43 ff.

  15. Sten. Ber. Bayerischer Landtag. III. Tagung 1948/49, IV. Bd., S. 79 ff.

  16. Sten. Ber. Parlamentarischer Rat, S. 271 ff.

  17. H. Lindemann, Das antiquierte Grundgesetz. Plädoyer für eine zeitgemäße Verfassung, Hamburg 1966.

  18. Ebenda, S. 43 f.

  19. Ebenda, S. 50.

  20. W. Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951, S. 65 ff.

  21. Ebenda, S. 96 f.

  22. Sten. Ber. Bundesrat, Bd. 1., S. 7.

  23. Sten. Ber. Bundesrat, Bd. 4. 5., S. 418.

  24. Bundesrat-Drucksache Nr. 78/54 a—c vom 19. März 1954, S. 34 f.

  25. BGBl. 1955, I, S. 817 f.

  26. BGBl. 1956, I, S. 1077.

  27. BGBl. 069, I, s. 359 ff.

  28. F. J. Strauß, Die Finanzverfassung, München und Wien 1969, S. 186.

  29. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 6, Tübingen 1957, S. 309 ff.

  30. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 12, Tübingen 1962, S. 205 ff.

  31. H. Schelsky, Anpassung oder Widerstand? Soziologische Bedenken zur Schulreform, Heidelberg 1961, S. 176 ff.

  32. G. Stoltenberg, Der Kanzleiföderalismus drängt vor, in: Christ und Welt, 15. Jahrg. (1962), Nr. 7 vom 13. Februar 1962.

  33. H. Ehard, Bundesstaatliche Ordnung sichert unsere Freiheit, in: Das Parlament, 12. Jahrg. (1962), Nr. 39 vom 26. September 1962.

  34. R. Voigt, Brauchen wir ein Bundeskultusministerium?, in: Das Parlament, 12. Jahrg. (1962), Nr. 39 vom 26. September 1962.

  35. G. Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Olten und Freiburg i. Br. 1964, S. 43 ff.

  36. E. Mandel, Die deutsche Wirtschaftskrise. Lehren der Rezession 1966/67, Frankfurt am Main 1969, passim.

  37. Sten. Ber. Deutscher Bundestaq, 5. Wahlperiode, S. 8174.

  38. Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, Drucksache V/3099.

  39. A. Kubel, Kein separativer Föderalismus ...; W. L. Kiep, ... aber auch kein naiver Zentralismus, in: DIE ZEIT, 23. Jahrg. (1968), Nr. 28 vom 12. Juli 1968.

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  41. E. Heinsen, Separativer Föderalismus, in: DIE ZEIT, 23. Jahrg. (1968), Nr. 32 vom 19. August 1968.

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Weitere Inhalte

Ernst Deuerlein, Dr. phil., o. Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität München; geb. am 9. September 1918. Veröffentlichungen u. a.: Der Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten, 1955; Die Einheit Deutschlands, Bd. I 19612; Der Hitler-Putsch. Bayerische Dokumente zum 8. /9. November 1923, 1962; Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1955, 19702; DDR, 1971®; Der Aufstieg der NSDAP 1919 bis 1933 in Augenzeugenberichten, 19692; Die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 in Augenzeugenberichten, 1970; Deklamation oder Ersatzfrieden? Die Konferenz von Potsdam 1945, 1971®; zusammen mit Th. Schieder hrsg.: Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, 1970.