Situation und Ausgangstage
Aus zwei Gründen ist es nicht einfach, dieses Thema
Der zweite Grund findet sich in der zeitlichen Begrenzung des Begrilfs Imperialismus und damit auch in dessen Bedeutung und Inhalt. Es soll hier nicht eine Studie über „sozialistische" und sozialistisch beeinflußte Theorien des Imperialismus
Es ist festzuhalten, daß nach der kommunistischen Auffassung der Imperialismus in unserer Gegenwart unverändert, wenn nicht gar gegenüber früheren Jahrzehnten verschärft und intensiviert anhält, wobei die kommunistische Geschichtsschreibung über den Imperialismus auch unsere unmittelbare Gegenwart ständig in ihre Darstellung mit einbezieht und prinzipiell zwischen Bismarck, Hindenburg, Hitler, Adenauer, Kiesinger und Brandt keinen Unterschied macht. Zugleich müssen wir uns, was den Anfang dieses Zeitabschnittes betrifft, damit begnügen, daß er ohne festlegende Datierung von Marx und Engels um einiges früher angesetzt wurde als von Kautsky, Hilferding, Luxemburg und insbesondere Lenin, die ihn ihrer Gegenwart, das heißt der Zeit des Heraufziehens des großen imperialistischen Krieges bzw. diesem selbst, zuordneten. Typisch für diese Situation ist es, daß G. W. Hallgarten 1951 sein Werk „Imperialismus von 1914" nennen konnte.
In den 25 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind in Deutschland zunächst östlich der Zonengrenze erheblich mehr Bücher über „imperialistische" Themen veröffentlicht worden als westlich von ihr. Derartige Veröffentlichungen standen von Anfang an eindeutig und zugegebenermaßen im engsten Zusammenhang mit der kurz-und langfristigen Politik des Kommunismus, während im Westen die Mehrzahl der Wissenschaftler sich entweder nach den Erfahrungen mit Nationalsozialismus und „Entnazifizierung" aus diesem Bereich der politiknahen und politisierten Geschichtsschreibung heraushielt oder sich ausschließlich der Geschichte und Vorgeschichte des Dritten Reiches im engsten Sinne zu-wandte. Das hat sich im Laufe der letzten zehn Jahre beträchtlich geändert. Die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen — ein Qualitätsvergleich gehört nicht hierher — ist heute, wie allein schon ein Blick auf die Zeitschriftenaufsätze zeigt, in der Bundesrepublik erheblich größer als in der DDR, ganz abgesehen davon, daß es dort die Literaturgattung der Memoiren von Brüning und Pünder über Speer bis zu Adenauer überhaupt nicht gibt. Doch handelt es sich hier nicht bzw. nicht nur in erster Linie um eine quantitative Frage. Die Geschichtsschreibung in der DDR besitzt seit ihren Anfängen, gestärkt durch die Tradition der sowjetischen Geschichtsschreibung und durch die Werke der „Klassiker des Sozialismus" vom Kommunistischen Manifest bis zu den unmittelbaren russischen Revolutionsschriften, ein festes Fundament für jeden, der sich überhaupt mit Geschichte, insbesondere aber mit der des Kapitalismus beschäftigt. Dort findet er Anfang und Ende aller Betrachtungsweise — und nicht allein das; er findet beide auch im Rahmen einer großen Konzeption, einer weltweiten Strategie, die Vergangenheit und Zukunft, Asien wie Europa und Amerika umfaßt. Wohin auch immer der Historiker sein Interesse wendet, er findet dort den gleichen Ablauf der Geschichte, insbesondere nach der gleichen Unterdrückung das gleiche sozialistische Ziel der klassenlosen Gesellschaft in Frieden und Glückseligkeit. Und der Historiker in der DDR darf sich als ein Instrument, als ein Mitkämpfer auf diesem großen Triumphzug empfinden.
Einer solchen heroischen und „humanistischen" Auffassung hatte der bürgerliche Historiker weiter nichts entgegenzustellen, als daß er nach immer mehr Erkenntnis der Wirklichkeit strebte, nach Aufklärung, nach Wissen und Bildung, was immer man sich darunter für das Individuum und die Gesellschaft vorstellen mochte. Das hat sich freilich geändert, seitdem die modernen Sozialwissenschaften entwickelt worden sind und der Historiker begonnen hat, sich ihrer Methoden zu bedienen, mit ihren Vertretern zu diskutieren; seitdem er in diesem Zusammenhang auch immer stärker die „Klassiker des Sozialismus" selbst studiert, ihre Werke ohne ideologische Strategie-zwänge interpretiert und die Ergebnisse in seine gegenüber der des 19. Jahrhunderts beträchtlich modifizierte Geschichtsbetrachtung einbezogen hat.
Diese Modernisierung der „bürgerlichen" Geschichtsschreibung hat viele Ansätze: außer solchen, die in Deutschland selbst vorwiegend im Zusammenhang mit dem Erlebnis des internationalen Sozialismus und des Nationalsozialismus entstanden, sozialgeschichtliche bei der fruchtbaren Frühzeit der „Annales" sowie bei der Naturwissenschafts-und Technikgeschichte in Frankreich, allgemeine wirtschafts-und spezielle betriebsgeschichtliche in den USA gesellschaftsgeschichtliche bei den jüngeren Historikergenerationen in Großbritannien und natürlich auch einige in der Sowjetunion. Mindestens ebenso wichtig ist, daß die bürgerlichen Historiker bei diesen neueren Bestrebungen Themen aufgegriffen haben, die bis dahin den „sozialistischen" Historikern reserviert schienen, und in gewissermaßen sozialistisch-historischen Zusammenhängen Fragen gestellt haben, welche der orthodoxe marxistische Historiker im kommunistischen System nicht stellen darf, daß sie schließlich begonnen haben, aus guter Kenntnis von Problemen und Methoden die schriftliche und mündliche Diskussion mit den Vertretern der kommunistischen Geschichtsschreibung zu suchen, die frühere Generationen teils aus dem Gefühl der unerschütterlichen Überlegenheit, teils aus Unsicherheit und Kenntnislosigkeit gemieden hatten.
Das ist zweifellos fruchtbar für beide Seiten, zugleich aber auch unbequem für die kommunistische: Sie sieht sich auf ihrer alten Domäne Fragen gegenübergestellt, deren Existenz sie nicht einfach mehr leugnen, deren Berechtigung sie nicht kurzerhand bestreiten kann. Sie muß heute entweder ein ebenso veraltetes wie trotziges Handbuch „Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung" (hrsg. v. Werner Berthold, Gerhard Lozek, Helmut Meier, Walter Schmidt In dem noch in einem anderen Zusammenhang zu nennenden Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1970) schreiben, das wie eine orthodoxe Schutzmauer für wissenschaftlich Verunsicherte in der DDR gegen unerlaubtes Gedankengut aus der jüngeren Geschichtsschreibung im Westen erscheint, oder sie muß es wagen, sich mit der westlichen GeschichtsSchreibung so intensiv auseinanderzusetzen, wie diese mit der östlichen. Sie muß die modernen Methoden und Fragestellungen der westlichen Geschichtsschreibung zur Kenntnis nehmen, ihre Ergebnisse in ihre eigenen Darstellungen einbeziehen — natürlich immer nur soweit, daß die Unantastbarkeit der „Klassiker des Sozialismus" bestehen bleibt.
Für beide Seiten ergeben sich also Anregungen und Fierausforderungen: Trotz vieler interessanter und anregender Einzelschritten gibt es in der Bundesrepublik eine moderne Gesellschaftsgeschichte Deutschlands In der Zeit des Hochkapitalismus, der Weimarer Republik, des Dritten Reiches oder der Bundesrepublik in der Zeit Adenauers so wenig wie eine solche des 17. und 18. Jahrhunderts. Und zweifellos könnten derartige Arbeiten viel aus den Einzelstudien profitieren, die im kom-munistischen Bereich betrieben worden sind — natürlich abzüglich der politisch, ideologisch und strategisch festgelegten Urteile. Aber das hat es ja auch früher schon in ganz ähnlicher Weise gegeben: bei der konfessionell, der rassistisch oder bei der antirepublikanisch festgelegten Geschichtsschreibung — nicht nur in Deutschland.
Hauptgebiete, Quellen und Methoden jüngerer kommunistischer Geschichtsschreibung
Versucht man, sich einen Überblick über die wichtigere historische Literatur der DDR über die Wirtschaft in der Zeit des Imperialismus im oben definierten Sinne zu verschaffen, so sind zunächst drei Bücher zu nennen. Die jeweils vor ihnen erschienenen Zeitschriftenaufsätze zum gleichen Themenkomplex erweisen sich bei näherer Betrachtung hauptsächlich als Vorarbeiten für jene Werke oder als Kapitel-Vorabdrucke aus ihnen sowie als Studien anderer Autoren in diesen Bereichen. Es handelt sich um die Gebiete a) Imperialismus der Industrie; b) Vorbereitung und Führung des Zweiten Weltkrieges, mit einem deutlichen Schwerpunkt bei der mehrfach wiederholten Behandlung der deutschen chemischen Industrie, insbesondere der IG-FarbenIndustrie AG; c) Imperialismus der Banken und Bankiers.
Bevor im folgenden die Literatur dieser Gruppierung entsprechend betrachtet wiid, sei betont, daß mit „Imperialismus" stets vorwiegend der deutsche, zumindest aber der „westliche" Imperialismus gemeint ist. Es gibt anscheinend eine stillschweigende Übereinkunft dahin gehend, daß Historiker der DDR über den russischen, das heißt den zaristischen Imperialismus gar nicht oder nur unter ganz besonderen Umständen arbeiten. Seit 1917 18 gibt es natürlich gemäß der Selbstdarstellung der Sowjetunion und den Forschungsergebnissen ihrer Historiker dort keinen Imperialismus mehr. „Sowjetimperialismus" gilt als ein Widerspruch in sich oder als ein Lügen-und Schimpfwort westlicher „Imperialisten".
Unter diesen Voraussetzungen sind drei während der letzten zehn Jahre erschienene Schriften zu nennen: a) Joachim Mai, Das deutsche Kapital in Rußland 1850— 1894, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, (Ost-) Berlin 1970, 255 Seitens b) Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939— 1945, Bd. I, 1939— 1941, Akademie-Verlag, (Ost-) Berlin 1969, 408 Seiten; c) Eberhard Czichon, Der Bankier und die Macht. Hermann Josef Abs in der deutschen Politik, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1970, 314 Seiten;
Zur Quellenlage und Art dieser Darstellungen (die in den Bemerkungen jeweils als „Hauptwerk", zusammen mit dem Namen des Verfassers, bezeichnet werden) ist zu bemerken, daß für die Autoren die in den Werken von Marx, Engels und Lenin vertretenen Auffassungen als unantastbare Voraussetzung und Grundlage ihrer Ausführungen dienen. Neue kritische Editionen und Interpretationen dieser Werke sind nicht die Aufgabe der Wirtschaftshistoriker. Die Werke von Marx, Engels und Lenin gelten also nicht allein als Primär-quellen — als die sie z. B. bei Mai tatsächlich auch in unserem Sinne Bedeutung haben —, sondern sogar noch vor solchen, also z. B. noch vor allen Archivalien, als Formulierungen von Vorrang, die das Vokabular ebenso wie die Urteile festlegen.
Eine Konsequenz dieser Tatsache besteht darin, daß jeder Autor seinen uneingeschränkten Respekt vor ihnen eindeutig und unbezweifelbar zum Ausdruck bringt. Joachim Mai, der in der Sowjetunion studiert hat, über sehr gute Sprachkenntnisse verfügt und in Greifswald Dozent für die Geschichte der Völker der UdSSR ist, baut nach einem Zitat aus dem „Manifest der Kommunistischen Partei" am Anfang des Vorwortes
Oder man beginnt wie Dietrich Eichholtz mit einer Berufung darauf, daß der „VII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands als wichtigste Aufgaben der Geschichtswissenschaft in unserer Republik die Herausbildung eines wissenschaftlichen Geschichtsund Weltbildes des sozialistischen Menschen und die Entwicklung seiner bewußten klassenmäßigen Einstellung zum sozialistischen Aufbau eindringlich hervorgehoben" habe
Die grundlegende und entscheidende Bedeutung der Werke von Marx, Engels und Lenin für Thematik, Urteil und Ergebnis der, wie stets betont wird, „wissenschaftlichen" Geschichtsschreibung in der DDR wird nicht allein ständig in Vorworten, Einleitungen und Schlußworten sowie im Text selbst hervorgehoben, sondern darüber hinaus immer wieder bei besonderen Anlässen in Spezialarbeiten unterstrichen. Es sei in unserem Zusammenhang nur hingewiesen auf zwei Veröffentlichungen dieser Art: Werner Müller, Zur Begründung eines wissenschaftlichen Bildes der deutschen Geschichte durch Marx und Engels am Vorabend der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49
Die „Vorbemerkung" zu dem Sonderheft, in dem Müllers Aufsatz veröffentlicht wurde, betont, „besonders nach der 16. Tagung des ZK der SED" stehe „vor den Historikern der Deutschen Demokratischen Republik . . . die dringende Aufgabe, ein geschlossenes nationales Geschichtsbild der deutschen Arbeiterklasse auszuarbeiten, dessen theoretische Grundlage der historische Materialismus ist", ein Geschichtsbild, das, etwas widersprüchlich, „deutlich [macht], wie die Volks-massen . . .den gesetzmäßigen Entwicklungsgang der deutschen Nationalgeschichte durchgesetzt haben"
Es versteht sich von selbst, daß unter den Archivalien an erster Stelle die in den Archiven der DDR benutzten genannt werden. Doch sei schon hier hervorgehoben, daß die öffentlichen Archive der Bundesrepublik uneingeschränkt Benutzern aus der DDR offenstehen, was umgekehrt bei den Archiven der DDR keineswegs für alle wissenschaftlichen Interessenten aus der Bundesrepublik der Fall ist — selbst wenn diese durch kritische Arbeiten z. B. über das Dritte Reich oder gar durch Verfolgung als „antifaschistisch" ausgewiesen sind. Es fällt auf, daß die DDR-Historiker offenbar nur selten Archive in der Sowjetunion benutzen bzw. zitieren. Und weiter ist zu beachten, daß die Angaben der Historiker der DDR über die 1945 im Bereich der sowjetischen Besatzungsmacht verbliebenen Privat-, insbesondere Unternehmens-archive zuweilen beträchtlich differieren.
Eberhard Czichon unterstreicht in der „Einführung" zu seinem genannten Buch nachdrücklich die „außergewöhnlich günstigen Umstände", die „die vorliegende Untersuchung ... ermöglicht" haben: das Vorhandensein der „Akten der drei Nürnberger Industrie-Prozesse (Flick, Krupp und IG-Farben) aus den Jahren 1947 und 1949 [die es in vielen Exemplaren in Westeuropa und in den USA gibt] . . . Doch noch bedeutungsvoller sind jene geschlossenen Archivregistraturen, die bei Kriegsende in die Hände der alliierten Streitkräfte fielen und die in der DDR später in staatlichen Besitz übergingen. Es handelt sich hierbei vor allem um d i e [vom . Vf. gesperrt] Akten der Deutschen Bank AG [von 1870 bis 1945] . . . Für die vorliegende Untersuchung konnten d i e [vom Verf. gesperrt] Akten der Deutschen Bank AG umfassend ausgewertet werden. Das bezieht sich auf die Akten ihres Vorstandes, seines Generalsekretariats sowie der Sekretariate der einzelnen Abteilungen ..
Bei Mai aber, dessen Buch von allen wirtsdiaftsgeschichtlichen Werken in der DDR ohne Zweifel das am sorgfältigsten gearbeitete ist, heißt es: „Die den Wirtschaftsverkehr mit Rußland betreffenden Akte der Regierungen Preußens und des Deutschen Reiches sowie Restbestände [vom Vf. gesperrt] der Archive der Deutschen Bank, der Dresdner Bank und der Zulassungsstelle an der Berliner Börse waren für mich sehr wertvoll."
Während die Archive in der Bundesrepublik in der Regel im Quellenverzeichnis korrekt und ausführlich zitiert werden (am weitesten, aber auch mit beträchtlichen und für seine Arbeitsweise charakteristischen Fehlern geht darin Czichon), geschieht das Gegenteil nicht nur mit der westdeutschen, sondern allgemein mit der westlichen Literatur (soweit sie nicht von kommunistischen oder mit dem Kommunismus, der Sowjetunion oder der DDR sympathisierenden Autoren stammt).
In der Bundesrepublik vernachlässigen viele Historiker — wie die Literaturverzeichnisse ihrer Arbeiten zeigen — die Beschäftigung mit den historischen Publikationen in der DDR, in denen sich nicht selten sehr beachtenswerte Gesichtspunkte und Forschungsergebnisse befinden. Wenn umgekehrt die Historiker der DDR westliche Werke in ihren Literaturverzeichnissen nicht anführen, so bedeutet das nicht unbedingt, daß sie diese auch nicht kennen. Vielmehr wollen oder sollen sie ihre Leser nicht auf die Existenz dieser Literatur aufmerksam machen, deren genaue Kenntnis und Berücksichtigung bei ihren eigenen Arbeiten jedoch vorausgesetzt wird. Es kommt in solchen Zusammenhängen bisweilen zu einer seltsamen Schizophrenie. Westdeutsche werks-geschichtliche Untersuchungen, die während der letzten zehn bis fünfzehn Jahre in beträchtlicher Zahl als Bücher und Aufsätze erschienen sind und unsere Kenntnis der Wirtschafts-wie der Sozial-und Technik-geschichte erheblich bereichert haben, werden in der DDR-Geschichtsschreibung zwar genau beachtet, aber überhaupt nicht zitiert. Vielmehr gibt es einige Aufsätze, die derartige Publikationen als monopolkapitalistische Propagandaliteratur verdammen, so daß eine Beschäftigung mit dieser Literatur-gattung gar nicht mehr möglich ist
Zum „Imperialismus" der Industrie im 19. Jahrhundert: Joachim Mai
Wendet man sich den oben genannten wichtigsten Werken zu, so steht ch
Wendet man sich den oben genannten wichtigsten Werken zu, so steht chronologisch in der Thematik wie qualitativ an erster Stelle Joachim Mais Buch über „Das deutsche Kapital in Rußland 1850— 1894". Mai ist der einzige Historiker der DDR, der sich in jüngerer Zeit mit den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert beschäftigt hat. Doch bildet er nur auf den ersten Bilde eine Ausnahme von der Regel, daß die DDR-Historiker die russische Geschichte — um diese handelt es sich nämlich bei Mai in erster Linie — meiden. Denn auch er geht mit ihr besonders glimpflich und nach Möglichkeit unter Verwendung des Begriffes „Zarismus“ oder „zaristisches Rußland" sowie von Zitaten aus russischer Literatur um. Selbst wenn in der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" ein Aufsatz über „Das Kolonialsystem des russischen Imperialismus am Vorabend der Oktoberrevolution" erscheint, hat er einen russischen Autor: Petr Grigorevic Galuzo 18) — und zwar nicht etwa aus sprachlichen Gründen, denn der Verfasser stützt sich hauptsächlich auf Werke von Marx und Lenin in den Ausgaben, die nach dem Zweiten Weltkriege in der DDR erschienen sind.
Rolf Sonnemann und Siegfried Richter haben 1963 und 1964 im „Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte" die „Problematik des Übergangs vom vormonopolistischen Kapitalismus zum Imperialismus in Deutschland 19)" bzw. „Die Rolle des Staates . . bei diesem Vorgang seit den sechziger Jahren in kurzen Aufsätzen auf fester ideologischer Grundlage skizziert. An die dort aufgegriffene Thematik schlossen in gewisser Weise die Publikationen von Mai an, nachdem dieser 1962 bereits ein Buch über „Die preußisch-deutsche Polenpolitik 1885/88 —-eine Studie zur Herausbildung des Imperialismus in Deutschland" veröffentlicht hatte. S. Kumpfs anregender, neuere russische Literatur verarbeitender Aufsatz „Zu den zoll-politischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Rußland in der letzten Periode der Bismarckschen Ära"
Gehen wir zur Betrachtung dieses Buches selber über, das, wie gesagt, ohne Frage das wissenschaftlich am sorgfältigsten gearbeitete der hier untersuchten Werke ist. Es ist aber auch dasjenige, das am eindeutigsten und eindrucksvollsten die Bindung des „Dozenten für Geschichte der Völker der UdSSR“ an die Methode und an die Ziele der sowjetischen Geschichtsschreibung erkennen läßt. Die beiden ersten Sätze des Buches, sein Motto, das über dem Vorwort steht, entstammen Marx'/Engels'„Manifest der kommunistischen Partei": „In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nationen fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander." Mai selbst fügt unmittelbar hinzu: „Mit diesen Worten zeigen die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus am Vorabend der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848, wie die auf Klassengegensätzen beruhenden Konflikte zwischen den Völkern überwunden und stabile Grundlagen für Frieden und Freundschaft zwischen den Nationen geschaffen werden können. Es blieb den Arbeitern, Bauern und Soldaten Rußlands vorbehalten, mit der siegreichen sozialistischen Oktoberrevolution im Jahre 1917 diese Leitsätze von Marx und Engels auf einem Sechstel der Erde erstmalig in die Tat umzusetzen ... Mit der Nationalisierung der Banken, der Industrie und des Transportwesens sowie mit der Annullierung aller Anleihen, die von der zaristischen und der Provisorischen Regierung aufgenommen worden waren, befreite sich Rußland von der Knechtung durch das ausländische Kapital . .. Ein alter, aus der Expansion des deutschen Kapitals resultierender deutsch-russischer Gegensatz war nunmehr zwar beseitigt, aber die Herrschaft und Aggressivität des deutschen Imperialismus machte ein friedliches und freundschaftliches Zusammenleben des deutschen Volkes mit den Völkern der Sowjetunion unmöglich. Erst mit der Errichtung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung und schließlich des sozialistischen Staates deutscher Nation, der Deutschen Demokratischen Republik, entstanden auf deutschem Boden jene gesellschaftlichen Verhältnisse, die es gestatten, entsprechend den Prinzipien des sozialistischen Internationalismus die allseitige Zusammenarbeit und Freundschaft mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zu pflegen und zu entwickeln."
Mit diesem Vokabular, das niemand besser beherrschaft und komprimierter anzuwenden versteht als Mai, erstreckt sich das Vorwort über mehr als sechs Seiten. Es bietet von vornherein ein Urteil über die im folgenden geschilderten Tatbestände, erwähnt erneut, daß der Verfasser ausgehe von den Werken der „Klassiker des Marxismus-Leninismus", hebt die „entscheidende Bedeutung" hervor, die ein „zweijähriger Studienaufenthalt des Verfassers in der UdSSR" für die Wahl des Themas seiner Habilitationsschrift gehabt hat, und wendet sich zum Schluß mit schärfsten Worten gegen ein „Machwerk des westdeutschen Publizisten" Werner Keller „Ost minus West = Null. Der Aufbau Rußlands durch den Westen" (1960), das nirgendwo im Westen zur geschichtswissenschaftlichen Literatur gezählt wird.
Ganz abgesehen davon, daß die Wortwahl in einem so sehr politisch gezielten Buch mit einem historischen Thema genau überlegt ist — so daß z. B. von der „kapitalistischen Durchdringung der östlichen Provinzen Preußens" die Rede ist, nicht von ihrer Erschließung, oder für 1870/71 von „jenen annexionswütigen und eroberungslüsternen Kräften in Deutschland"
Ebenso wird zwar immer wieder betont, daß die „Geschichte des Eisenbahnwesens im zaristischen Rußland . . . uns ungewöhnliche Beispiele dafür [liefere], wie sich kapitalistische Industrieländer auf Kosten von Staaten und Völkern bereichern, die in ihrer ökonomischen Entwicklung zurückgeblieben sind"
So gibt es in dem ohne Zweifel an Informationen reichen Buch eine ganze Skala von scharf durchdachten und sehr überlegt eingesetzten Möglichkeiten, die Kapitalisten — und zwar mit Vorrang die deutschen, danach die russischen — anzugreifen. Dabei muß der Verfasser freilich immer im Auge behalten, daß die mit jenen deutschen Kapitalisten kollaborierenden „Zarenregierungen wie alle Regierungen in letzter Instanz nur", wie Engels schrieb, die „Vollstrecker der ökonomischen Notwendigkeiten der nationalen Situation" waren
Die „Schlußbetrachtung" faßt gerade von dieser Tatsache her die vielen Einzelheiten noch einmal in eindrucksvollen Formulierungen politisch lehrhaft zusammen: Für sie, so kann man ohne Übertreibung sagen, ist das ganze Buch geschrieben: „Aus der Rolle der deutschen herrschenden Klassen als Kreditgeber, Industriewarenexporteur und wissenschaftlich-technisch führende Kraft ergaben sich bedeutsame politisch-ideologische Konsequenzen. Söldlinge des Kapitals — Politiker und Journalisten — entfalteten auf diesem Nährboden Chauvinismus und Rassismus, sie predigten Herrenmenschentum und Kulturträgerideologie. Diese Irrlehren, gerichtet gegen die slawischen Völker, sollten in Deutschland tiefe Wurzeln schlagen. Als Hüterin der besten Traditionen des deutschen Volkes war es die sozialistische. Arbeiterbewegung, deren führende Vertreter die Triebkräfte und Auswirkungen des deutschen Kapitalexports bloßstellten und die ideologisch einer gemeinsamen Kampffront der Werktätigen Deutschlands und Rußlands gegen die Herrschaft des Kapitalismus den Weg ebneten." Der Kampf aber, und damit greift Mais letzter Satz wirkungsvoll zurück zum ersten Satz seines Buches, dem Zitat aus dem „Kommunistischen Manifest", „richtete sich zugleich gegen die Exploitation einer Nation durch die andere'; es war jener Klassenkampf, der „zum Sturz der Herrschaft des in-und ausländischen Kapitals in der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution führen sollte"
Zwischen den beiden Weltkriegen
Bevor wir uns dem zweiten hier zu behandelnden Werk und seinem thematischen Umkreis zuwenden, sei erwähnt, daß es in der DDR eigenartigerweise weder über Deutschlands Wirtschaft vor und im Ersten Weltkrieg noch über die Wirtschaft in der Weimarer Zeit ein zusammenfassendes Werk oder auch nur eine Einzelstudie vom Range der Arbeiten von Mai und Eichholtz gibt
Seitdem Lenins 1917 erschienenes Buch „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" vorliegt, in dem er, wie Kolbe 50 Jahre später schrieb, die „Grundtendenzen des Imperialismus . . . untersucht und aufgedeckt" hat, die „noch heute das Gesicht jener Länder prägen, von denen die Macht des Monopol-Kapitals nicht gebrochen ist"
Sonnemann und Richter, die den obengenannten materialreichen Aufsatz „Zur Problematik des Übergangs vom vormonopolistischen Kapitalismus zum Imperialismus" 1963 im gleichen Teil II des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte veröffentlichten, in dem auch Helmut Kubitscheks Diskussionsbeitrag „Zu Tendenzen des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland vor dem 1. Weltkrieg" erschien, haben in ihrer ideologisch festgelegten, in diesem Rahmen aber scharfsinnigen Arbeit „Zur Rolle des Staates beim Übergang vom vor-monopolistischen Kapitalismus zum Imperialismus in Deutschland"
Sonnemanns Habilitationsschrift über den „Einfluß des Patentwesens auf die Herausbildung von Monopolen in der deutschen Teer-farbenindustrie 1877— 1904" (Halle 1963) ist nicht veröffentlicht worden. Aber der von ihm unter Mitarbeit von Heike Etzold stammende Aufsatz „Patent und Monopol"
An dieser Stelle sei auch der Aufsatz „Zur Soziologie des imperialistischen Deutschlands" von Jürgen Kuczynski — dem ideologisch am eindeutigsten festgelegten, zugleich aber auch gedanklich wendigsten Wirtschaftshistoriker in der DDR — erwähnt, der „sehr bedeutsame Veränderungen im Funktionieren der kapitalistischen Gesetzmäßigkeit" behandelt
Da es in der Geschichtsschreibung der DDR über das Zeitalter des „Imperialismus" ständig um „staats-und monopolkapitalistische" Erscheinungen geht, trägt eine der wenigen bemerkenswerten kommunistischen deutschen Arbeiten, die sich mit der Wirtschaft im Ersten Weltkr eg beschäftigten — ihr Verfasser ist Alfred Schröter —, den wie immer politisch gemeinten programmatischen Titel: „Krieg — Staat — Monopol 1914— 1918. Die Zusammenhänge von imperialistischer Kriegswirtschaft, Militarisierung der Volkswirtschaft und staats-monopolistischem Kapitalismus in Deutschland während des ersten Weltkrieges"
Schröter weicht insofern von der üblichen Arbeitsweise ab, als die ersten Fußnoten seiner Arbeit nicht auf die allen „Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus" verweisen, sondern auf jüngste Veröffentlichungen in der DDR und — bereits genannte einmalige Ausnahme — auf N. S. Chruschtschows „Der Triumph des Kommunismus ist gewiß", den Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU, Berlin 1 961
Die Erfüllung dieser Aufgabe wird einmal mehr deutlich zeigen, daß . . . , aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges . . . die deutsche Bourgeoisie nicht gelernt'hat. Und für die Lösung dieser Aufgabe sollen die Ergebnisse dieser vorliegenden Arbeit Bausteine sein."
An diese Auffassung schließen logisch einige Arbeiten an, die hier wenigstens kurz erwähnt werden sollen. Der letzte Satz der „Revanchismus" -Definition, die Berthold Puchert seiner Dissertation über den „Wirtschaftskrieg des deutschen Imperialismus gegen Polen 1925— 1934" vorangestellt hat, lautet: „Mit Hilfe der Propaganda des Revanchismus versuchte Hitlerdeutschland, die Pläne der Eroberung der Weltherrschaft zu maskieren, um deren Erringung willen es den Zweiten Weltkrieg 1939— 1945 entfesselte." Puchert selbst fährt fort
Das Bemerkenswerteste an dieser Arbeit ist wohl die ohne Kenntnis des reichlich vorhandenen Archivmaterials geschriebene „Kurzbiographie" von Andreas Hermes. Sie sammelt zwar sorgfältig alles, was ihn als „Bauernführer im Dienst der Großagrarier" erscheinen läßt, erwähnt aber mit keinem Wort seine Haft in nationalsozialistischen Gefängnissen und die Verurteilung zum Tode durch Freisler, seine Tätigkeit im sowjetisch besetzten Berlin, natürlich nicht seine Gewissensnot, als die sowjetische Besatzungsmacht ihm seine Zustimmung zur „Bodenreform" durch die Entlassung seines Sohnes aus der Kriegsgefangenschaft abkaufen wollte, der schon in Potsdam war und nun wieder ins Lager zurückgeschickt wurde, und mit keinem Wort seine Bemühungen um eine Annäherung von West-und Mitteldeutschland. Nur auf diese Weise kann am Ende von seiner „schändlichen Rolle als Bauerntührer im Dienste der Großagrarier ... im westlichen Teil Deutschlands" gesprochen werden
Wie Pucherts Dissertation über ein Thema aus der Zeit der Weimarer Republik nicht nur sachlich notwendig in die Anfänge des Dritten Reiches, sondern außerdem propagandistisch bis in unsere Gegenwart übergreift, so behandelt Kurt Gossweiler, der 1963 mit einer Dissertation über „Die Rolle des Monopolkapitals bei der Herbeiführung der Röhm-Affäre" promovierte, in seiner auf dieser ersten Arbeit aufbauenden Studie „Die Vereinigten Stahlwerke und die Großbanken" das „Verhältnis von Bank-und Industriekapital in der Weimarer Republik und unter der faschistischen Diktatur"
Gossweiler führt in seinem „bescheidenen Beitrag" die Auseinandersetzung weiter und wieder zurück zum Klassiker Lenin: „Insgesamt ergab unsere Untersuchung, daß der Verzicht auf eine gesonderte Untersuchung der Rolle des Bankkapitals bei der Klärung der Frage: Wer herrscht im imperialistischen Deutschland? nicht gerechtfertigt ist; mehr noch, daß ein solcher Verzicht uns auch der Möglichkeit beraubt, den Wirkungsmechanismus des Systems des staatsmonopolistischen Kapitalismus und seine treibenden Kräfte umfassend und exakt zu bestimmen — und die Strategie und Taktik des Kampfes gegen dieses System mit der notwendigen wissenschaftlichen Genauigkeit und Treffsicherheit auszuarbeiten. Die Macht und die Wirksamkeit der Großbanken sind gewiß viel weniger mit Händen zu greifen als die Macht der Industriemonopole, und die Bankenleiter geben sich große Mühe, ihre wirkliche Macht und ihre Machenschaften vor dem Volk verborgen zu halten. Um so mehr Grund für die marxistische Forschung und Publizistik, diesem Gegenstand größte Aufmerksamkeit zu widmen."
„Es gibt eine größere Kraft als den Wunsch, den Willen und den Beschluß beliebiger feindlicher Regierungen oder Klassen; diese Kraft sind die allgemeinen Verhältnisse der Weltwirtschaft, die sie zwingen, mit uns Beziehungen aufzunehmen."
Nachdem bereits früher in einer Betriebsgeschichte über den VEB Zeiss in Jena die Bedeutung der sowjetischen Aufträge für Beschäftigung und Fortexistenz des Unternehmens hervorgehoben worden war, heißt es nun bei Münch: „Der deutsch-sowjetische Wirtschaftsverkehr in jenen Jahren entsprach zutiefst den Interessen des deutschen Volkes und der Völker der UdSSR. Die sogenannten Russenaufträge sicherten in Jahren der größten Arbeitslosigkeit und des Massenelends in der Geschichte des Kapitalismus etwa 300 000 bis 450 000 Arbeitern, Angestellten und deren Familien ständig Lohn und Brot."
In die „Zeit des Faschismus" hinein, die nach kommunistischer Auffassung in Westdeutschland bisher so wenig beendet ist wie die des Imperialismus, reicht schließlich das von der Deutschen Historiker-Gesellschaft der DDR herausgegebene Protokoll der zweiten Tagung der Fachgruppe „Geschichte der neuesten Zeit 1917— 1945", die am 20. und 21. März 1965 in Berlin im Rahmen des III. Kongresses der DHG stattfand
Diese Hoffnung ist in den folgenden Jahren teils von Verfassern einiger der hier genannten Referate, teils von anderen Autoren erfüllt worden. So hat z. B. Gossweiler zwei Jahre nach dem Erscheinen des „Protokolls" einen „historischen Beitrag zur Problematik staatsmonopolistischer . Krisenüberwindung'“ mit dem Haupttitel „Der Übergang von der Weltwirtschaftskrisis zur Rüstungskonjunktur in Deutschland 1933— 34“ veröffentlicht
Und wenn ein Autor wie Paul Merker die in Gossweilers Konzept passende Behauptung aufstellt, Fritz Thyssen, Vogler und Schacht seien bei Hitler aus schwerindustriellem Interesse gegen den Reichsautobahnbau und für die unmittelbare Rüstung eingetreten, ohne daß er für diese These Belege beibringt, dann erklärt Gossweiler einfach, es liege ja „dieser Bericht durchaus in der Linie der tatsächlich nachweisbaren Differenzen"
Insgesamt kommt Gossweiler insbesondere in dem Abschnitt über Schacht und Schmitt aus prinzipiellen Überlegungen zu einer grotesken Entlastung Hitlers gegenüber den „Imperialisten" und „Militaristen". Diese haben ja nach der geltenden kommunistischen Auffassung dem Faschismus zur Macht verholfen. Infolgedessen muß es nun heißen: „Wollte man der reaktionären westdeutschen Geschichtsschreibung folgen, dann wären alle diese Schritte von Hitler ausgegangen, der sie angeblich über den Kopf der Militärs hinweg und gegen deren Willen befahl [Bracher], In Wirklichkeit gehörten alle diese aggressiven Schritte zum Programm der deutschen Imperialisten und Militaristen, das in den Grundzügen schon längst festlag, bevor einem Hitler seine Durchführung anvertraut wurde.“
„Vor einiger Zeit", so zitiert Klaus Drobisch den österreichischen Schriftsteller J. Hindels, „fragte ein österreichischer Sozialdemokrat einen jüngeren bürgerlichen Historiker, weshalb er nichts zum Thema: , Was brachte Hitler seinen Geldgebern?'zu sagen hätte. Die bezeichnende Antwort war: . Ich wollte den Eindruck vermeiden, als ob hochgestellte Persönlichkeiten, die auch heute im Wirtschaftsleben wieder eine Rolle spielen, zu den direkten Nutznießern des verbrecherischen NS-Regimes gehört haben. Nun war das zwar der Fall, aber doch nur für wenige Jahre, die historisch ohne Bedeutung sind, warum also Fakten hervorheben, die eine überflüssige Diskriminierung zur Folge haben, was — ehrlich zugegeben — auch dem Autor nur Schwierigkeiten bereitet.
Drobisch macht es sich mit der Beweisführung für seine Behauptungen leicht: Er benutzt in erster Linie die Akten der Anklage im Flickprozeß, verwendet das Buch „I paid Hitler", als dessen Autor — trotz aller Gegenbeweise — von kommunistischen Historikern immer noch Fritz Thyssen genannt wird, und zitiert das Imperialismus-Buch von Hallgarten. Seine Angaben sind so unscharf und allgemein formuliert, daß manche von ihnen nicht ganz leicht angreifbar bzw. widerlegbar sind — eine Methode, die bei den schwächeren kommunistischen Geschichtsschreibern, wie etwa bei Czichon, recht beliebt ist. Drobisch beendet seinen schlecht dokumentierten Aufsatz mit der Formulierung: „Der Flickkonzern erwies sich in dem behandelten Zeitraum als ein kriegs-lüsternes Machtgebilde. Er förderte die Nazi-partei und stütze den faschistischen Terror-apparat. Dieser Konzern half entscheidend mit, den zweiten Weltkrieg vorzubereiten. Er zog während des Krieges aus Rüstung und Beute, aus der Aneignung fremder Betriebe und der Ausbeutung ausländischer Zwangsarbeiter Riesenprofite."
Auf der gleichen Linie dieser Argumentation liegen Wolfgang Schumans Aufsätze „Der Zeiss-Konzern im System des staatsmonopolistischen Kapitalismus während des Faschismus"
Auch hier gibt es schließlich über die angeblichen historischen Erkenntnisse hinaus die politische Nutzanwendung: „Historische Untersuchungen und Einschätzungen der Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus im faschistischen Deutschland sind deshalb von außerordentlicher Bedeutung für den ideologischen Kampf gegen die Verfälschung der politischen und ökonomischen Zustände in Westdeutschland, durch die bürgerliche Apologetik des Imperialismus und die rechten Führer der Sozialdemokratie. Sie helfen, den reaktionären Klassencharakter des Bonner Staates zu erkennen, der von den herrschenden aggressiven Gruppen des deutschen Monopol-kapitals in gleicher und noch stärkerer Weise zur Durchsetzung ihrer Interessen ausgenützt wird wie im faschistischen Deutschland."
„Imperialismus" im Zweiten Weltkrieg: Dietrich Eichholtz
Hier sind prominente Vorstudien für eines der wichtigsten kommunistischen Werke zur Wirtschaftsgeschichte des „Imperialismus" zu nennen: die Arbeit von Dietrich Eichholtz, „Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939— 1945", Bd. I: 1939— 1941 (Ost-) Berlin 1969. Eichholtz selbst hat vor diesem Band eine Reihe von Aufsätzen geschrieben, darunter „Probleme einer Wirtschaftsgeschichte des Faschismus in Deutschland"
„Forschungsarbeiten zu den Ursachen des zweiten Weltkrieges und den Kriegszielen des deutschen Imperialismus haben nicht nur wissenschaftliche, sondern auch höchst aktuelle Bedeutung“, konstatiert der einleitende Satz des letztgenannten Aufsatzes. Ulbricht habe gesagt: „Vor allem müssen wir aber auch den Hinweis Lenins beachten, daß das Geheimnis der Vorbereitung und Führung imperialistischer Aggressionskriege nicht nur studiert werden muß. Es muß das ganze Volk darüber rechtzeitig und in allen Einzelheiten informiert werden."
Eichholtz betont, daß die „Fülle des Materials früherer Konzernarchive . . . nach wie vor ungenügend benutzt" werde; doch auch er selbst hat außer Anklage-und Dokumentenbänden der Nürnberger Wirtschaftsprozesse, die er eigenartigerweise in Warschau einsah, und außer den Akten einiger oberschlesischer Unternehmen, die er in Kattowitz und in Breslau eingesehen hat, Akten der Großindustrie und der Großbanken gar nicht oder, wie bei der Deutschen Bank, nur in Form von Photokopien herangezogen, die es in einem „Deutschen Wirtschaftsinstitut" in Ost-Berlin gibt
Ein weiteres Beispiel: Der wirtschaftliche Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 darf natürlich nicht genannt, seine Bedeutung für die deutsche Rüstungs-und Vorratswirtschaft nicht behandelt, die westdeutsche Literatur dazu nicht angeführt werden. Denn aus alledem ginge hervor, daß Stalin keineswegs friedliebend gewesen ist, daß er Hitlers Neigung zum Kriege bestärkt, daß er nicht allein Polen mit Hitler geteilt, sondern Deutschland letztlich für den Angriff auf die Sowjetunion gestärkt hat. So bleibt es denn zunächst einfach bei den beiden Sätzen: „In den letzten Vorkriegsjähren wurden [in Deutschland] recht umfangreiche Vorräte an kriegswichtigen Rohstoffen, Metallen und Treibstoffen angelegt. Reichlich sechs Monate konnte das faschistische Deutschland unter Blockade mit voller Kraft Krieg führen. Solche Vorräte existierten in Buntmetallen, Ferrolegierungsmetallen, Mineralöl. Natur-kautschuk (für etwa zwei Monate), Eisenerz, industriellen Fetten.
Mit anderen Worten: Der Verfasser muß wenigstens indirekt zugeben, daß Stalin dafür sorgte, daß das „Kriegspotential" beider Systeme — des Nationalsozialismus und des Bolschewismus — gestärkt wurde. Aber welch beträchtliche Lieferungen aus der und durch die Sowjetunion nach Deutschland gelangten, verschweigt Eichholtz; er verleumdet die westdeutschen Autoren, welche solche Informationen zur Verfügung stellen, als „penetrant antisowjetisch". Friedensburg, der im Dritten Reich als Demokrat gemaßregelt wurde, hat offiziellen, allgemein zugänglichen sowjetrussischen und deutschen statistischen Handbüchern entnommen, daß die Sowjetunion vom 1. Januar 1940 bis zum 22. Juni 1941 nach Deutschland 237 000 t Roggen, 194 000 t Weizen, 792 000 t Gerste und 302 000 t Hafer ge-liefert hat und damit „in Roggen und Hafer der fast ausschließliche, in Weizen und Gerste aber der wichtigste Lieferant für Deutschland" gewesen ist. „ Im ganzen Jahr 1940 gingen 81,4% der sowjetischen Gesamtausfuhr an Getreide nach Deutschland. Ähnliche Feststellungen sind für Baumwolle und Holz zu treffen. Die Sowjetunion lieferte in dem Zeitraum vom 1. Januar 1940 bis 30. Juni 1941 101 000 t Baumwolle — 66 % ihrer Gesamtausfuhr an diesem Rohstoff — und stellte damit rund zwei Dritte] der deutschen Gesamteinfuhr.
Natürlich muß auch Eichholtz an jener Behauptung festhalten, Hitler sei nicht mehr als nur ein Instrument der Monopolkapitalisten gewesen: „Die These der bürgerlichen Geschichtsschreibung, daß Hitler und die faschistische Partei sich der großen Konzerne nur bedienten oder gar die Wirtschaft . zwangen', ihren Zielen zu dienen, weil sie ihrer industriellen und wissenschaftlichen Kapazitäten nicht entraten konnten, entstellt den Sachverhalt vollständig. In Wirklichkeit war die Vierjahresplanpolitik der Weg des deutschen Finanzkapitals selbst zu seinem Krieg und zu seinen Kriegszielen, den es unter Zuhilfenahme der politischen und militärischen Potenzen der Hitlerclique und der Hitlerwehrmacht endlich und schleunigst durchmessen wollte."
Die Forscher in der Bundesrepublik, in den USA, in England und anderen westlichen Ländern bemühen sich, unsere Kenntnisse über das Dritte Reich von den Pauschal-urteilen der frühen Nachkriegszeit zu befreien und zu differenzieren, Schacht, Fritz Thyssen, Poensgen, Krauch und andere, bestimmte Banken und Industrieunternehmen, bestimmte Verbände und Kammern als Personen und Institutionen mit individuellen Zielen, Auffassungen und Fehlern, mit unterschiedlichen Einstellungen und Verbindungen zu Hitler, Göring, Himmler, Todt, Speer und Funk, Keitel. Milch, Jodl und anderen Funktionären und Militärs verständlich und also ein Netz von positiven und negativen Einflüssen und Beziehungen sichtbar zu machen. Eichholtz und seine Kollegen in der DDR sind hingegen allein darauf aus, sie alle als Mitglieder von im Grunde nur zwei durch die Theorie von vornherein festgelegten Gruppen erkennen zu lassen: den alles verursachenden und mehr oder weniger sichtbar leitenden und lenkenden Monopolkapitalisten und den faschistischen Funktionären, die, so verbrecherisch und brutal sie im einzelnen handeln mögen, im Grunde doch nur Werkzeuge in den Händen einer monopolkapitalistischen Clique sind, die ihrerseits freilich — nach Rückschlägen, nie nach Niederlagen der gerechten sozialistischen Sache — den Gesetzen des Klassenkampfes zufolge früher oder später mitsamt der Bourgeoisie unterliegen werden.
Das macht die Lektüre derartiger Werke so ermüdend und enttäuschend, langweilig und Stellen; englische Historiker unfruchtbar. Wo man Klärung erwartet, erhält 107Fragen in bezug auf die zu untersuchen. man Verdunkelung. Während es z. B. allmählich gelingt, Komplexe wie die „Arisierung" großer industrieller und bergbaulicher Unternehmen zu durchleuchten und die Rolle zu erkennen, welche Besitzer und Direktoren von Banken, Konkurrenten und Freunde dabei gespielt haben — wobei es freilich noch immer sehr schwierig ist, die im weitesten Sinne wirtschaftlichen Geschehnisse im Zusammenhang mit der Besetzung der Tschechoslowakei und mit dem „Anschluß" Österreichs zu durchschauen —, haben die Ereignisse sich in den Augen von Historikern wie Eichholtz
Für eine solche Art der Darstellung dürfen zeitliche Differenzen natürlich keine entscheidende Bedeutung haben. Ob und vollends warum z. B. die Deutsche Bank Beziehungen zur Österreichischen Creditanstalt schon seit Jahrzehnten unterhalten hat — wie es der Fall war —, oder ob sie diese sich erst 1938 „verschaffte", wie es bei Eichholtz scheint
Und wenn der im März 1940 von Hitler zum „Reichsminister für Bewaffnung und Munition“ ernannte Todt, über den Eichholtz bemerkenswert wenig weiß, in den zwei Jahren bis zu seinem Tode, wie „selbst die neuere bürgerliche Forschung einräumt", „mit der Großindustrie zusammengearbeitet hat"
In Todts Akten, die Eichholtz offenbar nicht kennt, findet sich nicht der geringste Beweis für diese Behauptung, und was Eichholtz selbst als Belegmaterial anbietet, sind falsche Interpretationen von Industrieakten. Schließlich heißt es bei Eichholtz unter Berufung ausgerechnet auf Todts Nachfolger Speer: „Todt fungierte fast zwei Jahre lang als Minister. Sein Ministerium füllte während dieser Zeit keineswegs jene dominierende Rolle aus die es später, nach Todts tödlichem Flugzeug-unfall, unter Speers Leitung innehatte."
So schwierig es bei einer vorgefaßten Meinung werden muß, die Gründung der „Reichswerke" und ihre Tätigkeit in die Geschichte einzuordnen und zu erkennen, daß sie vor allem zur Machtsteigerung Görings über seine Rivalen in Hitlers Gunst, zur Stärkung des Parteistaates und zur Einengung der Privatwirtschaft dienen sollte, so unmöglich ist es Eichholtz, die Stellung Todts zwischen Partei, Staat, Wehrmacht und Wirtschaft zu erfassen. Er selbst merkt schließlich, daß seine Behauptung, Todt sei ein Geschöpf der Industrie gewesen, es verhindert, dessen Kämpfe mit Keitel, Thomas und Göring erklären zu können. Infolgedessen behilft er sich mit „geheimen Abmachungen zwischen Todt und dem Führer", „die den Vermutungen nach existierten"
Das Kapitel IV von Eichholtz’ Buch behandelt „die erste Phase der Expansion der deutschen Monopole in Europa“ mit den Unterabschnitten: „Wesenszüge der Expansion des deutschen Monopolkapitals", „Der zweite Versuch der deutschen Monopole zur gewaltsamen Neuaufteilung der Welt", „Charakter und Methoden der wirtschaftlichen Expansion und Ausplünderung“, „Die . Neuordnung des europäischen Großwirtschaftsraumes“', „Die Kriegs-ziele des deutschen Imperialismus in den . Neuordnungs-Programmen der Monopole", „Der Beutezug der Monopole durch Europa, Der Interessenkampf bei der Verteilung der Beute" und „Hauptformen der Übernahme fremder Unternehmungen und Kapitalbeteiligungen". Dieses Kapitel IV bildet das Kernstück des Buches; es ist bemüht, unter vielen Variationen und Wiederholungen die Richtigkeit der These von der „Herrschaft der Monopole" über Hitler zu beweisen, die Auffassung also, daß am Anfang des Krieges nicht Hitler und seine Eroberungs-und Herrschsucht stehen, sondern das Expansions-und Weltherrschaftsverlangen der deutschen Industrie.
Das Bemerkenswerteste an diesem Kapitel ist, daß Eichholtz sich hier in einem Exkurs über die „Hauptgruppierungen des Monopolkapitals“ von Lenins Kapitalismus-und Imperialismus-Theorie unter Anlehnung insbesondere an Jürgen Kuczynski und Gossweiler zu lösen versucht, weil selbst für die marxistische Geschichtsschreibung Lenins Theorie nicht mehr ausreicht
aber das allein noch nicht zum notwendig Ergebnis führt, muß Eichholtz eindeutigen Verdrehungen greifen. Ein Beispiel: Im sogenannten „Anhang, Dokumente zur . Neuordnung des europäischen Großwirtschaftsraumes'" veröffentlicht er
Aus dem letzten Kapitel von Eichholtz'Buch, das der „wirtschaftlichen Vorbereitung auf den Krieg gegen die Sowjetunion“ gewidmet ist, sei ein prinzipiell ähnlicher Fall herausgegriffen: die Bedeutung von Fritz Thyssen in diesem Zusammenhang. Fritz Thyssen, der Hitler vor der „Machtergreifung" unterstützt hatte und am 1. Mai 1933 in die NSDAP eingetreten war, stieß mit seinen ständestaatlichen Vorstellungen bereits im Herbst 1933 auf Widerstand in Hitlers Umgebung und gehörte seit Anfang 1934 nicht mehr zu Hitlers engem Kreis. Für die Zeit nach dem 30. Juni 1934 konnte selbst die Spruchkammer von 1948 Thyssen keine Handlung mehr zugunsten des Nationalsozialismus nachweisen. Es ist belegt, daß er gegen Autarkie und Aufrüstung und für die Ausdehnung des Außenhandels war, daß er seit 1936/37 auf Hitlers Sturz hinarbeitete, sich für Niemöller und jüdische Beamte einsetzte, mit einem Protestschreiben an Göring sein Amt als Staatsrat niederlegte und nach einem telegraphischen Protest gegen Hitlers Kriegspolitik am 2. September 1939 ins Ausland flüchtete. Sein Vermögen wurde alsbald eingezogen und der Treuhand-Verwaltung des noch mehrfach zu nennenden Barons Kurt von Schröder unterstellt, er selbst 1940 in Frankreich von der Gestapo gefangen gesetzt und anschließend bis Kriegsende, seit 1943 in Konzentrationslagern, inhaftiert.
Das alles sind bekannte, auch Eichholtz in der wissenschaftlichen Fachliteratur leicht zugängliche Tatsachen. Doch passen diese nicht in sein Schema vom Monopolkapitalisten. Infolgedessen benutzt er aus dem nachgewiesenermaßen nicht von Thyssen geschriebenen Buch „I paid Hitler" Zitate, die Thyssen belasten, und spricht von „seinen und seinesgleichen Haßgefühlen gegen die Sowjetunion". Er behauptet: „Thyssen repräsentierte in dieser Beziehung eine bedeutende Gruppe von Monopolen, die vor allem gerade deswegen Förderer der Nazi-partei, deshalb Faschisten geworden waren, weil die Hitlerclique den wütendsten Antikommunismus, den Kreuzzug gegen den Bolschewismus und die imperialistische Expansion in Richtung Osten auf ihre Fahnen geschrieben hatte."
Je weiter Eichholtz'Darstellung geht, um so mehr versucht sie den Eindruck zu erwecken, der Zweite Weltkrieg sei nicht so sehr ein Angriffskrieg Hitlers und des Nationalsozialismus gewesen — beide können sich kaum einen besseren Verteidiger wünschen als die kommunistische Theorie von der alleinigen Kriegsschuld der Imperialisten und Monopolkapitalisten —, sondern hauptsächlich und fast ausschließlich ein Krieg der IG-Farbenindustrie AG. Diese groteske Behauptung beruht wahrscheinlich nicht allein darauf, daß die IG-Farbenindustrie AG um 1939 der größte deutsche Konzern gewesen ist und damit zum wichtigsten Angriffsziel kommunistischer Historiker wurde, sondern mehr noc wohl darauf, daß, wie oben bemerkt, Lenin die marxistische Geschichtsschreibung gerade auf diesen Wirtschaftszweig hingewiesenhatte Außerdem spielt sicherlich die simple Tatsache eine Rolle, daß man eine beträchtliche Menge von IG-Akten gefunden und im Nürnberger Prozeß vorgelegt hat, aus deren Anklageteil verhältnismäßig leicht „Beweismaterial" zu gewinnen ist.
Eichholtz selbst hat bereits — gemeinsam mit der schon genannten Roswitha Czollek — eine Art Vorstudie für den zweiten Band seines auf drei Bände angelegten Werkes, nämlich eine Dokumentation zu „Kriegszielen und Kriegs-planung führender Konzerne beim Überfall auf die Sowjetunion" veröffentlicht, welche schon im Titel die nicht überraschende Tendenz deutlich werden läßt: „Die deutschen Monopole und der 22. Juni 1941"
Mai und Eichholtz haben zwei Werke geschaffen, die innerhalb der Geschichtsschreibung in der DDR zum „Imperialismus" zentrale Positionen einnehmen. Beide Autoren haben unter Beherrschung der Problematik und Heranziehung der ideologischen und wissenschaftlichen Literatur sowie eines großen Urkundenmate-rials Bücher geschrieben, die im Bereich der kommunistischen Auffassung sowohl von der Geschichtsschreibung wie von deren politischer Aufgabe als führend bezeichnet werden müssen, aus denen schließlich auch der westliche Historiker einiges lernen und manchen Gesichtspunkt übernehmen kann — insbesondere aus dem Buch von Mai. Dieser hat sich fast auf jeder Seite mit deutschen Bankhäusern beschäftigt, Eichholtz dagegen, abgesehen von ein paar Seiten, erstaunlich wenig. Bei ihm steht der Komplex IG-Farbenindustrie und die angebliche Konzentration, wenn nicht des ganzen Dritten Reiches, dann doch zumindest seiner Kriegsindustrie, so sehr im Vordergrund der Betrachtung, daß die der Ideologie zufolge beherrschende und in der Tat nicht geringe Bedeutung der Banken für die Entwicklung der Wirtschaft eigentlich zu kurz kommt. Bei Mai läßt sich dieser Komplex nicht sehr stark politisieren, weil mit einer Studie, die nur bis 1894 reicht, beim besten Willen nicht die Schuld der Banken an Imperialismus und Faschismus, an Erstem und Zweiten Weltkrieg bewiesen werden kann. In dieser Hinsicht ist Mais Buch daher beinahe unpolitisch — von den üblichen politisch-propagandistischen und futurologischen Deklamationen in Vorwort und Schlußbemerkung abgesehen: Sie sind eben Waffen in einem Kampf, der zielbewußt irreführend als proletarischer Klassenkampf bezeichnet wird.
„Imperialismus" der Banken: Eberhard Czichon
Das Bankwesen und der Bankier in der Zeit des „Imperialismus" sind also in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung in der DDR im Vergleich zur Industrie bisher vernachlässigt worden. Selbst die vier Bände „Der deutsche Imperialismus und der Zweite Weltkrieg“, welche 1961 in (Ost-) Berlin die „Materialien der wissenschaftlichen Konferenz der Kommission der Historiker der DDR und der UdSSR" vom Dezember 1959 publiziert haben, enthalten keine Spezialarbeit über die deutschen Banken, wofür eine Ursache nicht klar zu erkennen ist. Wahrscheinlich liegt sie weniger darin, daß es keine Kenner des Bankwesens gibt. Vielmehr fehlt es vermutlich in den Archiven der DDR trotz der reichhaltig erscheinenden Quellen-Verzeichnisse der Werke von Czichon und anderen Autoren einfach an Material für Veröffentlichungen von der Breite und Fülle, wie sie die Bücher von Mai und Eichholtz auszeichnen. Diese Lücke nach einigen Vorarbeiten anläßlich des hundertjährigen Bestehens der Deutschen Bank auszufüllen, war offenbar die Absicht — oder der Auftrag — von Eberhard Czichon.
Einige wenige Vorarbeiten für sein Buch existierten: Czollek—Eichholtz hatten 1967 in der bereits genannten Dokumentation „Die deutschen Monopole und der 22. Juni 1941" einen .. Aktenvermerk" des Direktors der Deutschen Bank, H. J. Abs, vom 23. Januar 1941 über eine Besprechung im Reichswirtschaftsministerium am gleichen Tage „interpretiert"
Festzuhalten ist auf jeden Fall, daß bei dieser Besprechung der Vertreter der Deutschen Bank, H. J. Abs, — als vom Reich die Aufbringung von 70 Millionen RM für jene Holding-AG durch die Großbanken gefordert wurde — gemäß der Aktennotiz „feststellte, daß diese ganze Erörterung nicht nur, was die eventuelle Übernahme von Aktien und Krediten, sondern auch was die genannten Bedingungen für die Ausstattung der Aktien und des Kredites betrifft, unverbindlich sein müßte, daß ich das dringende Bedürfnis hätte, im Hause selbst die Vorschläge erst zur Sprache zu bringen". Mehr Distanzierung konnte man unter den 1941 gegebenen Verhältnissen kaum zeigen.
Ebenfalls im Jahre 1967 hat Heinz Mohrmann im „Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte" eine Dokumentation über den Kölner Bankier Kurt von Schröder herausgegeben
Und schließlich hat Eichholtz in seiner „Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft" verschiedentlich die Großbanken genannt, ihre „hervorragende Rolle" bei der „Neuordnung'und „Friedensplanung" unterstrichen und geschrieben: „Sie dirigierten und überwachten nicht nur die Expansionsplanungen der von ihnen beherrschten finanzkapitalistischen Gruppierungen, sondern arbeiteten in ihren Zentralen die Expansionslinien und -Schwerpunkte für das deutsche Finanzkapital, für den deutschen Imperialismus insgesamt heraus.“
Eine Gruppe von Historikern hatte also in den sechziger Jahren bereits festgelegt und auf ihre Weise „dokumentiert", unter welchen Gesichtspunkten die Stellung der Großbanken im allgemeinen und die der Deutschen Bank im besonderen einschließlich von H. J. Abs, einem ihrer Direktoren, zu betrachten sei, als Eberhard Czichon sein Buch „Der Bankier und die Macht. Hermann Josef Abs in der deutschen Politik“ 1970 in der Bundesrepublik veröffent-lichte
Der Qualitätsabstand von Czichons Buch gegenüber den oben genannten Werken wird in zwei Punkten besonders deutlich: in der Quellengrundlage und in dem geringen Grad von Sorgfalt der Darbietung von Einzelheiten. Czichon führt in dem „Quellen-und Literaturverzeichnis" seines Buches
Zweitens: Alle DDR-Historiker wissen offenbar genau, daß, wenn sie schon mit einer ideologisch festgelegten Einstellung an ihre Arbeiten herangehen und damit deren Ergebnisse vorwegnehmen, auf jeden Fall allgemein bekannte und leicht feststellbare Einzelheiten korrekt dargeboten werden müssen — was eine gelegentliche fälschende Zitierung von Quellen, wie oben an Eichholtz'Buch gezeigt, nicht ausschließt. Czichon dagegen hält sich nicht einmal an dieses einfachste Gebot der Geschichtsschreibung und des Selbstschutzes gegenüber der Kritik — ganz abgesehen davon, daß er in sehr vielen Fußnoten nur Buchtitel angibt, wo der Leser außerdem Seitenzahlen erwartet, und daß die Literaturangaben in den Fußnoten verschiedentlich nicht mit denen im Quellen-und Literaturverzeichnis übereinstimmen oder dort gar nicht erscheinen. Die Vertretung der Deutschen Bank im Prozeß gegen Czichon hat der Wochenzeitung „Welt am Sonntag" vom 8. September 1970 zufolge festgestellt, daß Czichon allein auf den ersten 20 Seiten seines Buches „mehr als 100 Unrichtigkeiten" gebracht habe.
Handelt es sich wirklich nur um „Unrichtigkeiten" aus Mangel an wissenschaftlicher Sorgfalt? Namen von Vorstandsmitgliedern usw.deutscher Großbanken, die Czichon des Imperialismus und des Monopolkapitalismus bezichtigt, sind in seinem Buch so falsch geschrieben, daß die gemeinten Personen nur noch für den genauen Kenner der Vorgänge, den Spezialisten für Wirtschafts-und insbesondere Bankgeschichte des 19. und 20. Jahrhundert auffindbar sind. Daten, die für Czichons Milieuschilderung im weiteren und für seine „Beweisführung" im engeren Sinne wichtig sind, weichen in diesem Buch um mehrere Jahre von der Wirklichkeit ab; über „Kohle-und Erzvorkommen" in Elsaß-Lothringen werden Angaben gemacht, deren Fehlerhaftigkeit nicht mehr auf Schwächen bei Czichons technologischen Kenntnissen zurückgeführt werden können. Die Namen von Eisenbahn-Gesellschaften im Vorderen Orient, welche von der Deutschen Bank abhängig gewesen sein sollen, werden (übrigens ungenau und dadurch zusätzlich irreführend) in französischer und in deutscher Formulierung angegeben, so daß aus sieben vorhanden gewesenen Gesellschaften 13 zu werden scheinen — von einer weiteren, die in Südamerika und nicht im Orient existierte, ganz abgesehen. Ballin, jahrzehntelang Generaldirektor der HAPAG, versetzt der Verfasser in die gleiche Position beim Norddeutschen Lloyd, und Duisberg, den ebenso bekannten Direktor der Farbenfabriken Bayer, Elberfeld, in die Badische Anilin-und Soda-Fabrik, Ludwigshafen, womit er selbst seine Behauptungen über diese Männer und Unternehmen gegenstandslos macht.
Ist das alles zufällige Schwäche bei einem Autor, der das Handwerk des Historikers nicht ganz richtig gelernt hat, oder ist eine solche Häufung von „Irrtümern" die ungeschickte Anwendung einer Methode ideologischer Geschichtskonstruktion, welche die „Fach" -Historiker in der DDR exakt beherrschen? Tatsächlich steht Czichons Buch qualitativ auf keiner höheren Stufe als das bekannte Hitler-apologetische „Werk" des Nordamerikaners Hoggan. Die Entstellungen und Verdrehungen, die Erfindungen und Auslassungen, die primitiven Schreib-und die groben Datierungsfehler, das mangelhafte Quellen-und Literaturverzeichnis beweisen, daß dieses Buch bestenfalls an der Grenze zwischen ideologischer Geschichtsschreibung und politischem Pamphlet unter Mißbrauch historischer Fakten steht
Während die bisher genannten und noch zu nennenden Historiker der DDR von ihrer ideologischen Grundlage her folgerichtig bei ihren Darstellungen die Personen stets zurücktreten lassen hinter das „imperialistische“ System — dessen als Person nahezu belangloses Instrument z. B. Hitler wird —, betitelt Czichon sein Buch ganz richtig „Der Bankier und die Macht", nicht „Die Bank und die Macht". Bei ihm tritt die Deutsche Bank, ja, „die" Bank als grundsätzlicher privat-oder staatskapitalistischer Monopol-Faktor ganz zurück hinter „den" Bankier, nämlich H. J. Abs, der zur Symbolfigur erhoben wird. Czichons Buch bleibt damit außerhalb der „geschichtswissenschaftlichen" Auffassungs-und Darstellungsweise der Historiker der DDR mit gegenwartspolitischem Ziel und wird zu einem unmittelbaren politischen Angriff, ohne daß überhaupt noch der Versuch gemacht wird, die Beziehung zur ideologischen Grundlegung der Geschichtsauffassung durch die „Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus" herzustellen. Und schließlich: Czichon widmet der »Arisierung" jüdischer Unternehmen im Dritten Reich und der Behauptung, Abs habe bei derartigen Verfahren große Gewinne gemacht, einen großen Teil seines Buches. Dieser Komplex ist Gegenstand der gerichtlichen Auseinandersetzung und soll daher hier nicht behandelt werden — mit Ausnahme einer geschichtswissenschaftlich allgemein interessanten Tatsache.
Zwar hat die Geschichtsschreibung in der DDR sich vielfach mit dem Verbrechen des Rassismus bei den „imperialistischen" Regierungen und Unternehmern gegenüber den Slawen in Europa und den „Farbigen" in Afrika, Asien und Amerika beschäftigt, das Problem des Antisemitismus dagegen wird angesichts des latenten und gelegentlich immer wieder manifesten Antisemitismus in der Sowjetunion und in einzelnen Ostblockstaaten sorgfältig gemieden, wie man es ja auch der Bundesrepublik überlassen hat, sich mit dem Problem der Wiedergutmachung gegenüber den Juden auseinanderzusetzen. Dem entsprechend geht es Czichon bei der Behandlung von Arisierungsfällen bezeichnenderweise nicht um das Schicksal der betroffenen „Nichtarier", sondern ausschließlich um die angeblich durch „Arisierung" gemachten Gewinne auf der Seite der . Faschisten" und „Imperialisten".
Firmengeschichte und Unternehmerbiographie sind in der Bundesrepublik verhältnismäßig junge Bereiche der Geschichtswissenschaft; in der DDR gibt es das Gebiet der Unternehmer-biographie natürlich gar nicht und die Firmen-geschichte allein als „Betriebsgeschichte" im Rahmen des Klassenkampfes. Solange nur wenige wissenschaftliche Firmengeschichten vorlagen, konnten Schriftsteller wie Czichon und DDR-Historiker verhältnismäßig sicher sein, daß ihre politisch motivierten Erfindungen und Entstellungen in diesem Bereich nur schwer oder gar nicht wissenschaftlich widerlegt werden würden. Das ändert sich aber von Jahr zu Jahr mit jeder neuen, wissenschaftlich fundierten firmengeschichtlichen Forschungsarbeit. Ein Beispiel möge hier genügen: Czichon erwähnt in seinem Kapitel über die Arisierungen den „Petschek-Konzern" und schreibt
Von einer anderen Seite her ergibt sich die Möglichkeit eines völlig abweichenden und eindeutig richtigen Bildes: Die Petscheks waren zu der angegebenen Zeit bereits seit einer ganzen Reihe von Jahren Groß-und Hauptaktionäre der „Ilse Bergbau AG", in der Niederlausitz, eines der größten deutschen Braunkohlen-Bergbau-Unternehmen. Auch dieses mußte unter dem Druck der Gesetzgebung des Dritten Reiches „arisiert" werden, doch gelang es dem Vorstand der Gesellschaft, den ganzen Vorgang so in die Länge zu ziehen, daß bis zur Besetzung dieses Gebietes durch die Rote Armee und bis zur entschädigungslosen Enteignung durch die DDR den Petscheks, die in die USA emigriert waren, kein endgültiger Schaden entstand. Aus dem umfangreichen Briefwechsel der Großaktionäre Petschek mit dem Vorstand der „Ilse" während der Jahre seit 1946 und schließlich aus einem Schreiben William Petscheks vom 22. Juli 1970, der dem mit Czichons Buch befaßten Gericht in Stuttgart vorgelegt worden ist
Geschichtsschreibung als Waffe
Am Ende unseres Überblicks über die wirtschaftsgeschichtliche Literatur kommunistischer Historiker in der DDR während des letzten Jahrzehnts über die Zeit des Imperialismus
Was Wagner dann im folgenden schreibt, ist höchst lesenswert. Es beruht weitgehend auf „einer der wichtigsten Grundthesen des XX. Parteitages der KPdSU: Aufbau des Kommunismus bedeutet in erster Linie Aufbau seiner materiell-technischen Basis". „Dann wird die UdSSR über beispiellos mächtige Produktiv-kräfte verfügen, die höchstentwickelten Länder technisch überflügeln und in bezug auf die Pro-Kopf-Produktion an die erste Stelle in der Welt vorrücken. Auf dieser Grundlage werden sich die sozialistischen gesellschaftlichen Beziehungen allmählich in kommunistische verwandeln." (Wagner, Programm und Statut der KPdSU, Berlin [Ost] 1961
Und die Folgen für die Geschichtsschreibung? Wagner durchdenkt scharf anhand von Marx und Lenin die historische Rolle des Kapitals in der Geschichte von Handwerk, Manufaktur und Industrie, die Position von Elektrizität, Chemie und Grundstoffindustrien im Kapitalismus und betont: Wir „dürfen uns nicht wundern, wenn uns bei der Untersuchung der imperialistischen Wirklichkeit ökonomische Erscheinungsformen begegnen, die uns aus der sozialistischen Ökonomie bekannt sind oder die dem Sozialismus adäquat sind. Die Erscheinungsformen verdecken das Wesen des Imperialismus, sie sind nicht mit dem Grundcharakter dieser Gesellschaftsordnung unmittelbar identisch" — weil nämlich nicht sein kann, was nicht sein darf: „Sie sind vom Wesen her deutlich unterschieden, sie existieren jedoch objektiv und nicht etwa nur in der Vorstellung. Wir haben sie gründlich zu studieren, auf ihre Rationalität hin zu untersuchen und für die sozialistische Praxis auszuwerten. Die Untersuchung ihrer Geschichte läßt wichtige Schlüsse auf Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung zu."
Der „Imperialismus" war und ist, so meint Wagner, komplizierter, als man ihn sich bisher vorgestellt hat: „Wir können im Grunde für jedes einzelne ökonomische Gesetz des Kapitalismus feststellen, daß sich seine Wirkungsweise im Imperialismus zum Teil sogar ganz erheblich verändert."
Könnten die „Kapitalisten" im Zweiten Weltkrieg „gelernt" haben, könnten die „Imperialisten ... aus Einsicht in die objektive Notwendigkeit zu .friedlichen Übereinkünften'über den staatsmonopolistischen Kapitalismus" gelangt sein? „Eine solche Einsicht kann es nicht geben, denn sie widerspricht der privateigentumsmäßigen Grundlage des Monopolkapitals. Das wäre die Aufhebung der Spontaneität des historischen Prozesses noch unter kapitalistischen Bedingungen. Dann könnte es auch richtig sein, damit zu rechnen, daß das Monopolkapital friedlich übereinkommt, auf einen atomaren Krieg zu verzichten, weil es aus den Erfahrungen der letzten beiden Weltkriege . gelernt'hat, daß im Ergebnis des Krieges der Sozialismus stärker wird und daß außerdem der atomare Schaden auch im Falle des . Sieges'das Monopolkapital selbst an den Rand des Ruins bringen kann."