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Entkolonialisierungsprozeß und Völkerrecht | APuZ 32/1971 | bpb.de

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APuZ 32/1971 Israels außenpolitisches System Entkolonialisierungsprozeß und Völkerrecht

Entkolonialisierungsprozeß und Völkerrecht

M. Mushkat

/ 54 Minuten zu lesen

I. Einleitung

Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges befanden sich rund 70 Prozent der Erdbewohner unter Fremdherrschaft mit kolonialem oder kolonial-ähnlichem Charakter. Seither hat sich das Verhältnis rapide geändert. 1964 blieb das Selbstbestimmungsrecht nur noch zwei Prozent der Erdbevölkerung versagt. Bis zum Beginn der siebziger Jahre war ein weiterer Rückgang zu verzeichnen, und trotz des Stillstandes in der jüngsten Zeit verringert sich allmählich auch dieser Prozentsatz noch Die weltpolitische Bedeutung dieses Prozesses sowie die Tatsache, daß das Ende der Kolonialherrschaft im allgemeinen durch Verträge oder Beschlüsse der UNO herbeigeführt wird, haben bewirkt, daß diese Fragen im zeitgenössischen Völker-recht und in den internationalen Organisationen eine wichtige Rolle spielen.

Es wäre jedoch ein Irrtum anzunehmen, daß es sich hier um ein völlig neues Problem handelt, denn Formen der politischen Abhängigkeit und des Freiheitskampfes und die völkerrechtliche Behandlung dieser Erscheinungen sind uns aus allen historischen Perioden bekannt, ganz besonders aus der Geschichte Afrikas. Allerdings unterscheidet sich der, Kolonialismus der Antike und des frühen Mittelalters oder, genauer ausgedrückt, die Ansiedlung in fremden Territorien grundlegend vom modernen Kolonialismus. Dieser begann erst Ende des 15. Jahrhunderts mit den Eroberungen Spaniens auf der westlichen Halbkugel feste Gestalt anzunehmen, erreichte seine Vollendung am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Aufteilung Afrikas unter den europäischen Mächten und entwickelte sich zu seiner grausamsten Form unter der Herrschaft Hitlers in Europa.

Antiker Kolonialismus findet sich etwa im Mittelmeerraum, wo Griechen und Römer in Nord-afrika und an den Küsten Ägyptens und Klein-asiens Siedlungen gründeten, die sich zu Zentren der Landwirtschaft, des Handwerks, des Handels und der Schiffahrt auswuchsen und an politischer Bedeutung oft das Mutterland überflügelten. Ihre schnelle Blüte ist vor allem der Tatsache zuzuschreiben, daß das vornehmste Ziel des antiken Kolonialismus, auch wenn ihm blutige Eroberungskriege vorausgingen, darin bestand, Bedürfnisse der Siedler zu befriedigen. Der moderne Kolonialismus begann seine Tätigkeit häufig unter dem Deckmantel einer kulturellen oder religiösen Mission. Im Namen des Christentums setzte er nicht nur der staatlichen Unabhängigkeit der unterworfenen Völker ein Ende, zwang ihnen nicht nur einen anderen Glauben auf, sondern beraubte sie auch ihrer elementaren Menschenrechte und machte selbst vor Massenvernichtungen nicht halt. Noch vor Abschluß der spanischen Eroberungen auf dem südamerikanischen Kontinent riefen die an den Indianern begangenen Grausamkeiten zahlreiche Proteste hervor; im hohen Klerus und bei den spanischen Intellektuellen, zu deren bedeutendsten Vertretern F.de Vittoria gehörte, setzte sich die Auffassung durch, daß jeder Mensch ohne Unterschied des Glaubens und der Herkunft auf die gleiche Behandlung Anspruch habe. Audi erkannten diese Kreise das Recht aller Völker auf Unabhängigkeit an und sprachen den Christen das Recht zur Unterwerfung und Versklavung heidnischer Völker ab. Sie verurteilten solche Kriege als ungerecht, unmoralisch und als einen Verstoß gegen die Grundlagen von Rechtsordnung und Religion.

Diese Forderung, die sie aus der Weltordnung und den göttlichen Geboten ableiteten, wurde zum Grundpfeiler der Naturrechtslehre. Sie beeinflußte später auch die Vorboten und Kämpfer der Französischen Revolution und diente ihnen nicht nur als Ausgangspunkt für den Kampf gegen den Feudalismus, sondern auch als Losung für die Freiheit aller Nationen einsdiießlich der überseeischen Kolonialvölker, deren harmonische Zusammenarbeit im Dienste des Friedens und der gegenseitigen Wohl- fahrt sie auf der Grundlage der Gleichberechtigung anstrebten.

Hugo Grotius, S. Pufendorf, Ch. Wolff, E. Vattel und ihre Nachfolger zitierten zur Unterbauung ihrer Argumente die alte nicht-europäische Literatur, gleichzeitig aber auch antike jüdische, griechische, römische und christliche Quellen. Ihr Echo finden wir bei Burke und Locke, während Leibnitz, Montesquieu und Voltaire in jenen Zeiten nicht die einzigen waren, die der Kunst, der Philosophie und den moralischen und politischen Prinzipien der Chinesen und anderer alt-asiatischer Völker die größte Achtung entgegenbrachten

In dieser Auffassung kommt auch die politische Realität des Abschlusses von Verträgen und der Anknüpfung von diplomatischen und Handelsbeziehungen zwischen europäischen Staaten und Staaten anderer Kontinente zum Ausdruck. Mitunter ergaben sich so in verschiedenen Teilen der Welt identische Lösungen für völkerrechtliche Probleme, und es entwickelte sich in Theorie und Praxis ein wechselseitiger Einfluß zwischen europäischen und außereuropäischen Staaten, der nicht nur auf den Nahen und Fernen Osten beschränkt blieb, sondern sich auch auf Afrika ausdehnte. So begab sich etwa schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine diplomatische Mission des Kongo zum Papst nach Rom; andere afrikanische Staaten unterhielten internationale Beziehungen zu Europa schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts

Heute läßt sich überschauen, daß die „Kapitulationen“, die in der Zeit des modernen Kolonialismus von christlichen Ländern Europas und später auch von nichteuropäischen Staaten wie den USA als Mittel zur Erlangung von Privilegien in nichtchristlichen Staaten anderer Kontinente ausgenutzt wurden, ursprünglich ein allgemein anerkanntes System waren. Sie erlaubten es einem Herrscher, gleich welcher Religion er angehörte, sich an einen anderen Landesherrn zu wenden, um auf der Grundlage der Gegenseitigkeit das Recht zur Ausübung des Handels, zur Gründung von Niederlassungen und zur Schaffung eines besonderen Status der Bürger seines Landes zu erwirken. Die Geschichte dieser Institution kennt Fälle, in denen solche Vorrechte von christlichen Herrschern Mohammedanern zugestanden wurden. So räumte z. B. Holland in einem Abkommen mit Persien den in Amsterdam ansässigen Bürgern dieses Landes besondere Privilegien ein. Verträge dieser Art leisteten einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Konsulargerichtsbarkeit

Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, wie tief die Kluft ist, die solche Auffassungen und Verfahrensweisen von den Greueln der Sklavenjagd und den damit zusammenhängenden Verträgen und Deklarationen über das Niemandsland trennt, dessen Eroberung den Europäern erlaubt sei, weil es keinem christlichen Herrscher unterstehe. Mit einer ähnlichen Begründung und unter Berufung auf ein päpstliches Edikt rechtfertigten die Spanier und Portugiesen im 15. Jahrhundert auch die Aufteilung der neu entdeckten Territorien

Diese Methoden verschärften die Ausbeutung und Diskriminierung in den eroberten Gebieten. Die neuen Herm setzten sich völlig über die Grundsätze der Gleichheit und Freiheit hinweg, die die Naturrechtsschule entwickelt hatte. Gleiches tat auch die positivistische Schule des Völkerrechts im 19. Jahrhundert. Ihre Lehren spiegelten den modernen Kolonialismus und Imperialismus wider, knüpften an die Aggressionspolitik in der Vergangenheit an und übersahen natürlich frühere Beispiele von auf Gegenseitigkeit beruhender internationaler Zusammenarbeit.

Der Wahrheit zuliebe muß hier aber eingeschaltet werden, daß Unterjochung und Ausbeutung von Völkern, daß auch Sklavenjagd und Sklavenhandel nicht ausschließlich eine „europäische Erfindung", sondern weitgehend auch mit der inneren gesellschaftlichen Entwicklung des schwarzen Kontinents Zusammenhängen. Die ersten zehn afrikanischen Sklaven, die den Boden Europas betraten, brachte im Jahre 1441 dem portugiesischen Fürsten Heinrich dem Seefahrer einer seiner Kapitäne als Geschenk aus Afrika mit. In Europa ging ihre Zahl nie über wenige Tausende hinaus. Andererseits wurde nach der Massenvernichtung der Bevölkerung des südamerikanischen Kontinents der Import von Hunderttausenden von Arbeitern für die Zuckerrohrplantagen der karibischen Inseln erforderlich. Heute ist es schwer festzustellen, ob die Nachfrage sich aus dem Angebot entwickelte oder umgekehrt. Tatsache ist, daß sie sich gegenseitig ergänzten. Der Papst, der eine neue Möglichkeit zur Bekämpfung des Heidentums sah, gab diesem ungewöhnlich florierenden Geschäft schon im 15. Jahrhundert seinen Segen In diesem Handel konkurrierten miteinander Einzelpersonen und Gesellschaften, Städte und Regierungen, Händler, Seeleute, Geistliche, Bankiers und Vertreter anderer Berufe. Allein das Einkommen der Stadt Liverpool aus diesem Gewerbe wird für die Jahre 1783— 1793 auf drei Millionen Pfund Sterling geschätzt. Die Zahl der Opfer, die der Sklavenhandel bis zu seiner offiziellen Abschaffung forderte, wird auf 24 Millionen geschätzt. Neun Millionen starben infolge der unmenschlichen Transportbedingungen auf dem Weg von Afrika nach Amerika oder wurden unterwegs umgebracht Spanien und Portugal können das „Verdienst“ für sich in Anspruch nehmen, diese Einkommens-quelle entdeckt zu haben, ihnen folgten Frankreich und England. Uber die Sklavenjagd und den Sklavenhandel wurden zahlreiche Abkommen getroffen. 1713 gelang es England, sich im Friedensvertrag von Utrecht das Monopol in diesem Bereich zu sichern. Weitere Abkommen folgten 1748 und 1752.

Die erste Gegenwehr ging von den Quäkern der USA aus; sie beschlossen bereits im Jahre 1727, ihre Sklaven zu befreien. Spanien nahm die Gelegenheit wahr, den Transport von Sklaven auf spanischen Schiffen zu verbieten, gleichzeitig machte sich in Frankreich und England eine wachsende Opposition gegen Sklavenjagd und Sklavenhandel bemerkbar. Diese Gegnerschaft bahnte den Weg zu ihrer Abschaffung in der Mansfield-Deklaration vom Jahre 1772 und in den Gesetzen der Französischen Revolution Die industrielle Entwicklung, die Verbreitung der Lohnarbeit und das Bestreben, die Konkurrenz von Staaten auszuschalten, in denen Sklavenarbeit und Pacht-besitz noch an der Tagesordnung waren, veranlaßten England, sich an die Spitze des Kampfes gegen den Sklavenhandel zu stellen. So wurde schon auf dem Wiener Kongreß 1815 das Verbot des Slavenhandels als Prinzip des Völkerrechts verkündet; aber der Kampf um die Einführung der entsprechenden Vorschriften in die innere Gesetzgebung sollte in verschiedenen Ländern noch lange dauern Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts kamen weitere internationale Vereinbarungen zur praktischen Durchführung des Verbots zustände. Die letzte Konvention auf diesem Gebiet, die am 7. September 1956 unterzeichnet wurde, erklärt die Sklaverei, den Sklavenhandel und die auf dieser Tätigkeit beruhenden Institutionen als ungesetzlich Einer der wichtigsten Gründe für die Verabschiedung dieses Abkommens war das Weiterbestehen von Überresten der Sklaverei in Saudi-Arabien und verschiedenen Ländern Afrikas. Ebenso wie dem Sklavenhandel lagen bekanntlich auch der territorialen Expansion in Afrika wirtschaftliche Erwägungen zugrunde, vor allem das Bestreben, sich Rohstoffe und Märkte zu sichern. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts erreichte der Kampf der europäischen Mächte um die Kontrolle überseeischer Gebiete seinen Höhepunkt. Die Berliner Konferenz von 1885 und die Konferenz von Brüssel im Jahre 1890 besiegelten die endgültige Teilung Afrikas und seine Unterwerfung unter das Joch der Europäer. Ihren formalen Ausdruck fand diese Politik im Abschluß von Freundschaftsverträgen und der Gewährung von Handels-und Schiffahrtsprivilegien in afrikanischen Gebieten und Wasserstraßen, Trotz dieser Verschleierung traten die imperialistischen Ziele aber klar zutage, und die Kolonialmächte bedienten sich brutaler Methoden, um im Konkurrenzkampf die Ober-hand zu behalten. Die Reibungen, die sich dabei ergaben, veranlaßten die beteiligten Länder andererseits Zum Versuch, ein Minimum von Ordnung zu gewährleisten und allgemein verbindliche Grundsätze aufzustellen. Dazu gehörten Vor allem die Prinzipien der Effektivität und öffentlichen Anerkennung. Sie sollten dem Ausbruch Von Konflikten vorbeugen, die sich daraus ergeben konnten, daß eine Kolonialmacht die Kontrolle von Gebieten beanspruchte, die sie tatsächlich nicht okupiert hatte. Ferner sollten sie verhindern, daß eine Kolonialmacht in ein bereits von einer ande-ren besetztes Gebiet eindringt. Diese Regeln konnten indessen die Verschärfung der Beziehungen zwischen England und Frankreich nicht verhindern. Nachdem es sich Nordafrika und Besitzungen an der West-und Ostküste des schwarzen Kontinents gesichert hatte, wollte Frankreich diese Kolonien durch eine Ost-West-Achse quer durch den Kontinent miteinander verbinden. Dieses Streben stieß auf den Widerstand Englands, das seinerseits eine Nord-Süd-Achse von Kairo bis Kapstadt schaffen wollte. So kam es zu bewaffneten Zusammenstößen wie dem von Faschoda Den englisch-französischen Wettbewerb, der mit dem Sieg Englands endete, nutzte der belgische König, um seine Herrschaft über den Kongo zu festigen und auszudehnen. 1908 wurde der Kongo zum belgischen Staatsgebiet erklärt. Die Italiener drangen in diesen Jahren ohne große Schwierigkeiten in verschiedene Teile Nordafrikas und Äthiopiens vor.

Erst 1906, im Abkommen von Algeciras gelang es, die anglo-französischen Gegensätze weitgehend zu überbrücken.

Im Gefolge dieses Abkommens und späterer Verträge zwischen den Kolonialmächten bildeten sich auch die verschiedenen völkerrechtlichen Formen der politischen Unterjochung Afrikas aus: Koloniale und internationale Protektorate, Vasallenstaaten (der Status Ägyptens von 1867— 1914), internationalisierte Gebiete mit Gemeinherrschaft (der Status von Tanger von 1923— 1956) und vor allem das direkte Kolonialregime in seinen verschiedenen Abarten sowie die Überreste der Kapitulationen, die die Sonderrechte der Europäer sichern sollten und erst mit der Gründung der Vereinten Nationen ihr Ende fanden.

Zur Rechtfertigung eines solchen Systems genügte es nicht, den Gleichheitsprinzipien der Naturrechtsschule den Rücken zu kehren; man mußte die Politik der Eroberungen und Diskriminierungen auch mit anderen Argumenten untermauern. Die positivistische Schule, in der die imperialistische und kolonialistisehe Politik der Neuzeit zum Ausdruck kommt, machte sich Konzepte aus den Tagen der Eroberung Südamerikas zu eigen, die von der Überlegenheit der christlichen Staaten und den diesen daher zustehenden Privilegien ausgingen, ihren kulturellen und religiösen Vorrang betonten und die Völker in zwei Gruppen einteilten, in zivilisierte und unzivilisierte Nationen Zwar wurde die Türkei schon 1856 in die Völkerfamilie aufgenommen, und nach dem Aufstieg Japans gegen Ende des 19. Jahrhunderts und der Anerkennung seines Anspruchs auf Einflußzonen nach seinem Sieg über Rußland wurde auch dieser Staat als gleichwertig anerkannt. Trotzdem blieb die von kulturellen und religiösen Kriterien ausgehende Einteilung in Kraft; das Völkerrecht wurde noch viele Jahre als christlich-europäische Schöpfung betrachtet, und die Aufnahme in die internationale Gemeinschaft war einzig und allein von der Zustimmung der europäischen Mächte abhängig. Die gegen die farbigen Völker und vor allem die Afrikaner gerichtete Politik der Diskriminierung, die auch gegen andere nichteuropäische — selbst weiße — Völker angewendet wurde, erhielt so eine klar umrissene rechtliche Grundlage. Der Kolonialismus, der in der Zeit der spanischen Eroberungen von den Anhängern der Naturrechtsschule verdammt wurde, erhielt, als er seinen Höhepunkt erreichte und gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum integralen Bestandteil des Imperialismus geworden war, nicht nur seine soziale und juristische Rehabilitation, sondern einen ausgedehnten Unterbau im Gedankengut der positivistischen Schule

II. Der Beginn der Wandlungen und das Mandatssystem des Völkerbundes

Erst in der völlig veränderten weltpolitischen Situation am Ende des Ersten Weltkrieges konnte eine Institution wie der Völkerbund entstehen, der die Förderung des Friedens und der Gerechtigkeit auf seine Fahne geschrieben hatte und das Recht aller Völker auf Gleichheit und Selbstbestimmung in die Tat umzusetzen bestrebt war. Die Maßnahmen dieser Weltorganisation reichten allerdings, wie bekannt, nicht aus, um erfolgreich gegen die weiterbestehenden rassistischen Strömungen anzukämpfen und die Bande des immer noch recht lebendigen Kolonialismus zu zerreißen. Die verschiedenen Vertreter dieser Tendenzen versuchten sich natürlich auch des Völkerbundes zu bedienen, um das Supremat der euro-päischen Staaten und deren Einfluß in und außerhalb des Kontinents zu wahren. Sie wußten auch zu verhindern, daß die Mehrzahl der Staaten Asiens, Afrikas und sogar Lateinamerikas an der Friedenskonferenz teilnahm; außerdem verweigerten sie ihnen die sofortige Aufnahme in den Völkerbund. Die meisten konnten erst nach einer längeren Zeit Mitglied werden, wie z. B. die Türkei (1932) und Ägypten (1937).

Da der Völkerbundspakt die Verpflichtung zur Achtung der politischen Unabhängigkeit und territorialen Integrität aller Mitgliedstaaten enthielt, war die Nichtzugehörigkeit gleichbedeutend mit dem Fehlen einer offiziellen Garantie der Unabhängigkeit und der Grenzen. Dieser Zustand entsprach der Praxis des 19. Jahrhunderts und dem Verhalten der positivistischen Schule gegenüber Nichteuropäern, Nichtchristen und unzivilisierten oder „halbzivilisierten" Staaten. Die weißen nichteuropäischen Mitglieder des Völkerbundes, wie Kanada, Australien und die südamerikanischen Staaten, erlangten nie einen wirklichen Einfluß in diesem Gremium. Bereits im Jahre 1919 lehnte der Völkerbund den Antrag ab, alle Rassen für gleich zu erklären. Als das faschistische Italien 1936 Äthiopien überfiel, wurde im Völkerbund der Begriff des „Kolonialkrieges" eingeführt, um gegen Kolonialvölker gerichtete Aktionen von Aggressionskriegen abzugrenzen. Mit dieser Definition wurde der Widerstand gegen die Verhängung von Sanktionen gegen den Angreifer und später die Forderung zu deren Aufhebung begründet.

Mit dem Beginn der dreißiger Jahre fand auch jene einzigartige politische Konstellation ihr Ende, die es einigen kleineren europäischen Staaten erlaubt hatte, im Rahmen des Völker-bundes eine umfangreiche Tätigkeit zu entfalten? Ähnlich wie die nichteuropäischen Staaten und besonders die schwachen Entwicklungsländer begannen sie zu fühlen, daß sie von dieser Organisation keinen Schutz zu erwarten hatten. Als sich die meisten lateinamerikanischen Staaten aus dem Völkerbund zurückzogen, wurde er zu einer rein europäischen Körperschaft zumal sich die Vereinigten Staaten ihm nie angeschlossen hatten und die Sowjetunion, die erst im Jahre 1934 nach dem Auszug der faschistischen Staaten aufgenommen worden war, ihn nach ihrer Aggression gegen Finnland vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verlassen mußte

Trotz dieser negativen Entwicklung bedeutete die Gründung des Völkerbundes eine entscheidende Wendemarke: den Beginn des nicht mehr aufzuhaltenden Entkolonialisierungsprozesses. Auf Grund der Bestimmungen des Artikels 22 des Völkerbundspakts wurde beschlossen, die früheren deutschen Kolonien und bestimmte Gebiete, auf welche das ottomanische Reich zugunsten der „Hauptmächte" verzichtet hatte, einer Sonderverwaltung zu unterstellen. Offiziell wurde diese Maßnahme mit der „heiligen Mission der menschlichen Zivilisation" begründet, „die Wohlfahrt der Völker und ihren Fortschritt zu gewährleisten".

Diese Kolonien und Gebiete wurden zwar der Souveränität der besiegten Staaten entzogen, aber nicht direkt der Oberhoheit der Sieger-staaten unterstellt. Diese erhielten sie nur als Mandatare des Völkerbundes, in dessen Namen sie sie verwalten sollten. Die Machtbefugnisse der Mandatare, des Völkerbundes und der einheimischen Bevölkerung sowie die Maßnahmen zur Kontrolle des Mandatars wurden in besonderen Verträgen festgelegt. Das Mandatssystem wurde offiziell damit begründet, daß die Bevölkerung dieser Gebiete noch nicht imstande sei „sich unter den schwierigen Bedingungen in der heutigen Welt selbst zu leiten". Tatsächlich ergab es sich aber aus der Erkenntnis, die sich am Ende des Ersten Weltkrieges durchgesetzt hatte, daß die früheren Methoden der direkten Unterjochung auf immer größere Schwierigkeiten stoßen würden. Am leichtesten fiel es verständlicherweise, neue Wege in solchen Gebieten zu gehen, die man dem geschlagenen Feind abgenommen hatte. Eine formale Annexion der Kolonialgebiete der besiegten Mächte hätte diesen auch ein Argument in die Hand gegeben, eine Verringerung der Reparationslast zu fordern, die die Sieger ihnen auferlegt hatten. Mit dem Inkrafttreten des Völkerbundspaktes erreichte zwar die Souveränität der Türkei und Deutschlands über diese Gebiete ihr Ende; aber an ihre Stelle traten keine anderen Staaten, nicht einmal die Mandatsmächte, wiewohl andererseits die Mandatsländer selbst nicht zu Völkerrechtssubjekten wurden.

Der Grundsatz, daß die Entwicklung der Bevölkerung dieser Gebiete eine „heilige Mission der menschlichen Zivilisation“ zu sein habe, verpflichtete den Völkerbund, nur „fortgeschrittene", wirtschaftlich wohl fundierte Staaten, die auf Grund ihrer Erfahrungen und geographischen Lage besonders dazu geeignet waren, mit dieser „verantwortlichen Aufgabe zu betrauen. Auch wurde beschlossen, daß die Mandate je nach dem Entwicklungsstadium der betreffenden Völker und je nach ihrer geographischen Lage und wirtschaftlichen Entwicklung in verschiedene Kategorien einzuteilen seien. Außerdem wurde bestimmt, daß der Völkerbundsrat die Kontrolle über das Mandatssystem auszuüben und der ständige Mandatsausschuß ihn dabei zu unterstützen habe.

Die Mandatsmächte verpflichteten sich, dem Völkerbund Berichte vorzulegen, die von dem ständigen Mandatsausschuß — der beratenden Körperschaft für alle die Mandatsausübung betreffenden Angelegenheiten — geprüft wurden. Dieser Ausschuß befaßte sich mit den von der Bevölkerung solcher Gebiete eingereichten Petitionen und bereitete die Dokumente vor, die der Ratifikation des Rates bedurften. Der Mandatsausschuß bestand nicht aus Vertretern der Mitgliedsstaaten, sondern aus Experten, die auf Grund ihrer persönlichen Eignung zu diesem Amt ernannt wurden und daher von ihren Ländern keine Anweisungen entgegen-zunehmen hatten. Ihre Aufgabe bestand darin, vorurteilslose und objektive Lösungen für die von der Bevölkerung der Mandatsgebiete vorgebrachten Beschwerden und Probleme zu finden. Es ist kaum verwunderlich, wenn die Afrikaner schon früh die Forderung erhoben, ihre Vertreter an diesem Ausschuß zu beteiligen. Dieses Petitum kehrte auf verschiedenen Kongressen der panafrikanischen Bewegung wieder, deren Druck nicht wenig zur Ausgestaltung des Mandatssystems beitrug Das Völkerbundsstatut kennt drei Arten von Mandaten:

„A" -Gebiete, die für befähigt galten, angesichts des hohen Entwicklungs-und Verwaltungsstandards ihrer Bevölkerung in verhältnismäßig kurzer Zeit zur Selbstverwaltung überzugehen. Hier hatte der Mandatar also vor allem die Aufgabe, die lokalen Behörden zu beraten und ihnen beim Aufbau einer eigenen Verwaltung zu helfen, damit die Bevölkerung in kürzester Zeit ihre volle Selbständigkeit erlangen könne. Solche Mandate wurden in Gebieten errichtet, die vorher zum otto-manischen Reich gehört hatten: im Irak (britisches Mandat), in Syrien und Im Libanon (französisches Mandat) und in Palästina (britisches Mandat).

„B" -Mandate: Hier übernahm der Mandatar vor allem die Verpflichtung, durch die Gewährleistung der Gewissens-und Glaubensfreiheit und die Abschaffung verabscheuungswürdiger Gewohnheiten wie Sklaverei, Rauschgift-und Waffenhandel die Entwicklung der Selbstverwaltungskörperschaften zu fördern und die öffentliche Ordnung und Moral zu sichern. Der Mandatar mußte sich außerdem verpflichten, auf dem von ihm verwalteten Gebiet keine militärischen Stützpunkte oder Flottenbasen zu errichten und die militärische Ausbildung der Eingeborenen ausschließlich auf Polizei-und Landesverteidigungszwecke zu beschränken. Die Mandatarmacht mußte in dem von ihr verwalteten Gebiet auch allen Mitgliedern des Völkerbundes die gleichen Möglichkeiten zum Handel und finanziellen Transaktionen garantieren. Solche Mandate wurden in den früheren deutschen Kolonien Zentral-und Südostafrikas errichtet. „C" -Mandate: Diese wurden in dünnbesiedelten, rohstoffarmen und weit entfernten und rückständigen Gebieten errichtet und konnten „nach den Gesetzen des Mandatars und als integrierender Bestandteil seines Gebietes" verwaltet werden. Dieser übernahm jedoch auch hier die Verpflichtung, die Wohlfahrt und den Fortschritt der Eingeborenen zu gewährleisten. Zu Mandaten dieser Art wurden die früheren deutschen Kolonien Südwestafrikas erklärt, die der Südafrikanischen Union übergeben wurden, die Insel Nauru (gemeinsames Mandat von Großbritannien, Australien und Neuseeland) und eine Reihe von pazifischen Inseln südlich (australisches Mandat) und nördlich (japanisches Mandat) vom Äquator. Dem Mandatssystem, vor allem den „B" -und „C" -Mandaten, hafteten selbst in formaler Hinsicht viele der Merkmale an, die für das Kolonialregime typisch waren. Der Unterschied zwischen zivilisierten und unzivilisierten Nationen wurde aufrechterhalten; alle Mandatsgebiete trugen noch den Stempel der Abhängigkeit und der gesellschaftlichen Diskriminierung. Anläßlich ihres Eintritts in den Völkerbund im Jahre 1934 erklärte daher die Sowjetunion, daß sie sich vom Mandatssystem distanziere und Artikel 22 des Völkerbundspaktes nicht anerkenne Trotzdem unterschied sich dieses System weitgehend von den früheren Zuständen; denn jetzt war nicht mehr die Rede von Gebietseroberungen, sondern es handelte sich um eine Treuhandverwaltung im Interesse der Eingeborenenbevölkerung. Die Annexion dieser Territorien wurde ausdrücklich verboten; ihr Status stützte sich auf internationale Abkommen, die respektiert werden mußten. Die damals im Völkerrecht allgemein anerkannte Regel, nach der die Vorgänge in den Kolonien ausschließlich als innere Angelegenheiten der Kolonialmächte be-handelt wurden, fand keine Anwendung mehr auf die Mandatsgebiete. Diese Tatsache und das Recht des Völkerbundes, die Mandatsverwaltung nicht nur hinsichtlich der Garantie der Menschenrechte, sondern auch im Hinblick auf den wirtschaftlichen, sozialen und polititischen Fortschritt der Bevölkerung zu überwachen, führten ein völlig neues Element in die internationalen Beziehungen und das Völkerrecht ein und trugen viel dazu bei, diese Gebiete auf den Weg der Unabhängigkeit zu führen. Die universelle Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts für alle auch außerhalb der Mandatsgebiete unter Fremdherrschaft stehenden Völker bezieht sich zweifellos auf den Beginn des Mandatssystems. Die ersten Mandatsgebiete, die die Unabhängig, keit erlangten, waren der Irak (1924), Syrien und der Libanon (1944) und ganz Palästina (1948). (Transjordanien war schon vorher zum unabhängigen Staat erklärt worden). Der Über-gang der letztgenannten Gebiete zur Selbständigkeit war bereits eine Folge des Zweiten Weltkrieges und der Gründung der UNO. Mit dem Entstehen der Weltorganisation und den Erfahrungen, die sich aus dem Mandatssystem ergaben, begann eine neue Ara, das Zeitalter der Entkolonialisierung, das heute noch nicht abgeschlossen ist

III. Die Bestimmungen der Charta über die Gebiete ohne Selbstregierung und über die internationale Treuhandschaft

Die Lehren des Nationalsozialismus, der die Völker und Rassen in „Uber-und Untermenschen" eingeteilt hatte, und die Maßnahmen, die er zur Versklavung und Vernichtung der letzteren eingeleitet hatte, vertieften die Erkenntnis, daß die Sicherung des Friedens in der Zukunft weitgehend von der Verwirklichung der Menschenrechte und des Anspruchs aller Völker auf Freiheit und Gleichheit abhängen wird. Daher fühlten sich die Staaten, die den Faschismus besiegt hatten, verpflichtet, die Rassendiskriminierung zu beseitigen und den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fortschritt der Völker herbeizuführen, denen die Selbstverwaltung versagt geblieben war. Diese Verpflichtungen und die mit ihnen verbundenen Grundsätze fanden ihren Niederschlag in verschiedenen Artikeln der Charta der UNO und später auch in anderen Dokumenten. Besondere Bedeutung kommt der Formulierung der Ziele und Prinzipien zu (vor allem Art. I), den Grundsätzen der internationalen Zusammenarbeit im Wirtschaftsund Sozialbereich (Art. 55), den Kapiteln XI, XII und XIII, die die Erklärung über die sich nicht selbst regierenden Gebiete enthalten (Art. 73 und 74), sowie den Vorschriften für die internationalen Treuhandgebiete (Art. 75 bis 91), die an die Stelle der Mandatsvorschriften traten. Die die Gebiete ohne Selbstregierung betreffende Erklärung beweist, daß sich selbst nach dem Entstehen der UNO die Erkenntnis noch nicht durchgesetzt hatte, daß mit dem Kolonialsystem endgültig aufgeräumt werden müsse. Zwar wurde beschlossen, es einer internationalen Kontrolle zu unterwerfen, aber in der Charta wurden diesbezüglich keine richtungsweisenden Prinzipien formuliert; sie enthält keine eindeutige Definition des Begriffs „Kolonialgebiet“. Diese Begriffsbestimmung wurde erst im Laufe eines längeren Prozesses vor allem in der Vollversammlung herausgearbeitet

Allerdings wurde schon im Artikel 73 der Charta festgelegt, daß die Kolonialmächte den Grundsatz anzuerkennen haben, daß dem Wohl der eingeborenen Bevölkerung der unbedingte Vorrang einzuräumen sei, und daß sie die heilige Pflicht auf sich nehmen, im Rahmen des von der Charta umrissenen Regimes des internationalen Friedens und der Sicherheit alles zu tun, um die friedliche Existenz und das Wohl der Eingeborenen zu gewährleisten, ihre Kultur zu respektieren, sie anständig zu behandeln, sie vor der Gefahr der Assimilation zu bewahren und ihren wirtschaftlichen, sozialen, erzieherischen, ja sogar politischen Fortschritt zu gewährleisten.

Artikel 73 befaßt sich mit der Festigung des Friedens und der Sicherheit in diesen Gebieten und der Pflicht, ihre Selbstverwaltungskörperschaften auszubauen und die politischen Aspirationen der Bevölkerung zu fördern. Auch betont er die Notwendigkeit der Förderung freier Institutionen, des Ausbaus konstruktiver Entwicklungshilfe und der Unterstützung der Forschungstätigkeit und internationaler Zusammenarbeit, um die obigen Ziele zu erreichen. Die Kolonialmächte verpflichteten sich auch, dem Generalsekretär in-formative Berichte mit statistischen und technischen Einzelheiten über die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der von ihnen verwalteten Territorien zu unterbreiten.

Artikel 74 legt den Mächten die Verpflichtung auf, in ihren Kolonien eine Politik zu verfolgen, die in ebenso großem Maße wie in ihren Stammländern von dem Bestreben getragen sein soll, gutnachbarliche Beziehungen zu pflegen und im sozialen, wirtschaftlichen und kommerziellen Bereich die Interessen und die Wohlfahrt anderer Staaten zu berücksichtigen.

Diese Bestimmungen haben zusammen mit den anderen die Kolonien und Treuhandschaftsgebiete betreffenden Vorschriften der Charta viel dazu beigetragen, diese Territorien ihrer vollen Unabhängigkeit entgegenzuführen. Hinsichtlich der Treuhandschaftsgebiete ließ sich die Charta von dem Grundsatz leiten, daß das endgültige Ziel der Treuhandschaftsverwaltung die Unabhängigkeit sein müsse Der Treuhandschaftsrat der UNO sollte also seine Aufgabe darin sehen, diesen Prozeß zu beschleunigen und damit, wie es der Generalsekretär der UNO schon im Jahre 1947 formulierte, „seine eigene Liquidation anstreben“

Von den elf Territorien, die dem Treuhandschaftsregime unterstellt wurden, haben neun schon seit langem ihre Unabhängigkeit erlangt oder es vorgezogen, sich einem souveränen Staat anzuschließen. Als der Treuhandschaftsrat am 26. Mai 1970 die Vorgänge des abgelaufenen Jahres nachprüfte, hatte er sic Mai 1970 die Vorgänge des abgelaufenen Jahres nachprüfte, hatte er sich nur noch mit zwei Gebieten zu befassen: mit Neuguinea, das sich unter australischer Verwaltung befindet, und den Inseln des Stillen Ozeans, mit deren Verwaltung die USA betraut sind. Hier ergeben sich die Schwierigkeiten aus der großen Armut der Bevölkerung und der Tatsache, daß diese Inseln, die insgesamt eine Fläche von 7000 Quadratmeilen umfassen, über drei Millionen Quadratmeilen des Ozeans verstreut sind 25).

Der Artikel 76 der Charta umreißt die Ziele des Treuhandregimes folgendermaßen:

a) Festigung des Friedens und der internationalen Sicherheit, b) Förderung des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und erzieherischen Fortschritts der Bevölkerung, c) Ausbau der Selbstverwaltungskörperschaften und Vorbereitung zur Selbständigkeit, unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände und im Einklang mit dem frei zum Ausdruck gebrachten Willen der Bevölkerung und den für die betreffenden Gebiete gültigen Vereinbarungen der Treuhandabkommen, d) Erziehung zur Achtung der Menschenrechte und Freiheit aller Menschen ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechtes, der Sprache und des Glaubens, und Förderung des Verständnisses für die gegenseitige Abhängigkeit aller Völker der Erde, e) Garantie für die gleiche Behandlung aller Mitgliedstaaten der UNO und deren Bürger im Bereich der sozialen, wirtschaftlichen, kommerziellen und rechtlichen Beziehungen, ohne die Ziele der Treuhandschaft zu beeinträchtigen. Artikel 84 sieht vor, daß jeder Treuhänder zur Erfüllung seiner Pflichten gegenüber dem Sicherheitsrat berechtigt ist, sich für Verteidigungszwecke und die Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung innerhalb des Treuhandgebietes freiwilliger Hilfskräfte aus diesem Territorium zu bedienen. Zu jeder militärischen Aktion ist jedoch im voraus die Zustimmung des Sicherheitsrats einzuholen — nur diese verleiht ihr Rechtskraft

Diese Bemühungen zeigen, daß die Aufgaben des Treuhandregimes viel klarer und genauer umrissen wurden als im Mandatssystem, vor allem hinsichtlich der Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, daß die eingeborene Bevölkerung zur Selbstbestimmung und Unabhängigkeit vorbereitet wird 26). Diese Klarheit zeigt sich besonders in den Bedingungen, die der Treuhänder gemäß den Treuhandschaftsverträgen bei der Ausübung seiner Aufgabe zu erfüllen hat. (Das Recht zur Verwaltung von Treuhandgebieten wurde nicht ausschließlich auf UNO-Mitglieder beschränkt, denn die Charta setzt fest, daß auch Nichtmitgliedstaaten mit der Verwaltung solcher Gebiete betraut werden können. Sogar die UNO selbst kann ein Treuhandgebiet mit Hilfe eines von ihr ernannten Organs verwalten.)

Angesichts solcher Bestimmungen ist es klar, daß die Theorie, wonach die Abkommen zwischen der UNO und den Treuhändern einen einseitigen Akt ohne vertragliche Grundlage darstellen, völlig unbegründet ist Im Gegenteil, sie wurden als Abkommen zwischen zwei Vertragspartnern abgefaßt, und je nach dem Wortlaut des Vertrages ist zu jeder Änderung die Zustimmung beider Parteien erforderlich.

Artikel 77 der Charta sieht drei Formen der Treuhandschaft vor:

A. Territorien, die früher „B”-oder „C" -Mandate waren. (Die „A" -Mandate hatten sich ja inzwischen in unabhängige Staaten verwandelt, die der UNO beitraten, und konnten daher laut Artikel 78 nicht zu Treuhandgebieten erklärt werden.) Australien, Großbritannien, Belgien, Neuseeland und Frankreich, deren Mandatsgebiete der Gruppen „B" und „C" unterstellt waren, erklärten zu Beginn des Jahres 1946 ihre Bereitschaft, sich den Bestimmungen des Artikels 77 zu unterwerfen und die von ihnen verwalteten Gebiete dem Treuhand-regime zu unterstellen. Die Mandatsgebiete Japans wurden als Treuhandgebiete an die USA übertragen. Nur die Südafrikanische Union weigerte sich trotz der Aufforderung der Mehrheit der UNO-Mitgliedsstaaten, der Empfehlungen der Vollversammlung und des Sicherheitsrats sowie des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs vom 11. August 1950 das Mandatsgebiet von Südwest-afrika der Treuhandverwaltung zu unterstellen.

Südafrika stellt sich auf den Standpunkt, daß es nach der Auflösung des Völkerbundes, der der Union das Mandat über Südwestafrika übertragen hatte, nicht verpflichtet sei, hinsichtlich dieses Territoriums mit der UNO ein Abkommen zu schließen und daher zu dessen Annexion berechtigt sei. Bekanntlich wurde dieses Problem von Äthiopien und Liberia noch einmal vor den Internationalen Gerichtshof gebracht. In seinem Urteilsspruch vom 18. August 1966 wies dieser zwar durch einen Mehrheitsbeschluß die Klage mit der Begründung ab, daß Liberia und Äthiopien in diesem Falle keine Aktivlegitimation hätten, wich aber nicht von seiner grundsätzlichen Meinung ab, daß Südafrika hinsichtlich des Mandatsgebiets Südwestafrika der Aufsicht der UNO unterstehe und daher den Status dieses Territoriums nicht eigenmächtig ändern könne

B. Eine Reihe von Gebieten, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den früheren Feind-staaten losgelöst wurden. So wurde das frühere italienische Mandatsgebiet Somaliland unter die Treuhandschaft Italiens gestellt.

C. Territorien, die auf Veranlassung der für ihre Verwaltung verantwortlichen Staaten in Treuhandgebiete umgewandelt werden. Bis zum heutigen Tage hat jedoch weder eine Kolonialmacht noch ein Staat, der Gebiete ohne Selbstregierung verwaltet, von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.

Artikel 82 der Charta ermöglicht die Umwandlung bestimmter Treuhandgebiete oder Teile von ihnen in strategische Zonen. Diesen Status erhielten bestimmte Inselgruppen im Stillen Ozean: die Marianen, Karolinen und Marshallinseln, die in einem Treuhandschaftsabkommen mit den Vereinigten Staaten deren Verwaltung unterstellt wurden. Im Gegensatz zu anderen Treuhandgebieten, für die die vom Treuhandschaftsrat unterstützte Vollversammlung zuständig ist, unterstehen solche strategische Zonen dem Sicherheitsrat, obwohl laut Artikel 83 auf alle Treuhandschaftsgebiete grundsätzlich dasselbe Regime Anwendung finden soll. Der Treuhandschaftsrat übt die Oberaufsicht nur in den nichtstrategischen Gebieten aus, indem er auf Grund eines von ihm entworfenen Fragebogens die Jahresberichte der Treuhänder und die Petitionen der eingeborenen Bevölkerung prüft, seine Vertreter entsendet, um nachzuprüfen, ob sich die Treuhänder an die Bestimmungen der Treuhandschaftsabkommen halten und andere Maßnahmen ergreift, um den Fortschritt der eingeborenen Bevölkerung zu gewährleisten und sie auf ihre Unabhängigkeit vorzubereiten.

Im Gegensatz zur Mandatskommission des Völkerbundes setzt sich der Treuhandschaftsrat nicht ausschließlich aus Experten zusammen, die ihrer fachlichen Eignung wegen zu diesem Amt ernannt werden, sondern aus Vertretern der Staaten, die selbst Treuhand-gebiete verwalten. Natürlich hindert niemand die betreffenden Staaten, Experten als ihre Delegierten in den Rat zu entsenden. Ständige Mitglieder des Treuhandschaftsrates sind 1. Vertreter der Staaten, die Treuhandschaftsgebiete verwalten; 2. Vertreter der Staaten, die einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat einnehmen, sofern diese nicht selbst eine Treuhandschaft übernommen haben und schon in dieser Eigenschaft im Rat vertreten sind; 3. Vertreter anderer Staaten, die auf drei Jahre von der Vollversammlung in dieses Amt gewählt werden. Der Rat muß so zusammengesetzt sein, daß ebensoviele Staaten in ihm vertreten sind, die keine Treuhandschaft übernommen haben, wie solche, denen eine Treuhandschaft anvertraut wurde in diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die Verpflichtung der Treuhänder, der Kolonialmächte und anderer Staaten mit Gebieten ohne Selbstregierung, die Menschenrechte zu garantieren und das Unabhängigkeitsstreben der ihnen unterstellten Bevölkerung zu fördern, sich nicht allein aus der Charta der Vereinten Nationen ergab, sondern auch aus anderen Dokumenten, die in den Jahren des Kampfes gegen den Nationalsozialismus und seine Folgen formuliert wurden. Dazu gehört vor allem die begriffliche Klärung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit und des Völkermords. Zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählt u. a. die Verfolgung der Zivilbevölkerung aus politischen oder sozialen Gründen. Aktionen, die die partielle oder völlige Vernichtung einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe oder Rasse bezwecken, fallen in den Bereich des Völkermordes

Ein Dokument von ganz besonderer Bedeutung ist die Allgemeine Menschenrechtserklärung vom 10. Dezember 1948, und darin vor allem Artikel 28, der den Anspruch jedes Menschen anerkennt, in einer Gesellschaft zu leben, die die in der Deklaration ausgesprochenen Rechte und Freiheiten voll und ganz gewährleistet. Durch Artikel 1 der Menschenrechtskonvention von 1966, der die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen und politischen Rechte des Individuums umreißt, wird die obige Deklaration ergänzt; von neuem wird das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung bestätigt und die Pflicht aller für Treuhandgebiete oder andere Territorien ohne Selbstregierung verantwortlichen Staaten betont, diese auf die Selbstregierung vorzubereiten

Die Genfer Abkommen von 1949 zum Schutze der Kriegsopfer erweiterten den Bereich der im Kriegsfall anzuwendenden Normen und Bräuche und dehnten ihre Gültigkeit auf alle bewaffneten Auseinandersetzungen, einschließlich der nationalen Befreiungskriege, aus Auch die Deklaration der UNO vom 20. November 1963 zur Verhinderung der Diskriminierung, das Internationale Abkommen vom 21. Dezember 1965 zur Beseitigung der Rassendiskriminierung in jeder Form sowie die im Jahre 1966 angenommenen Entschließungen, die sich auf verschiedene Artikel der Konvention zur Verhinderung religiöser Intoleranz beziehen, haben nicht wenig zur Beschleunigung des Entkolonialisierungsprozesses beigetragen, der wiederum eng mit den Anstrengungen zur Festigung des Friedens verbunden ist.

Diese Überzeugung findet auch ihren Niederschlag in den Entschließungen fast aller Organe der UNO, von den Resolutionen der Vollversammlung im Jahre 1946, die die Annahme der Treuhandschaftsverträge begleiteten’ bis zu der spezifischen Resolution von 1965. Die letztere stellt fest, daß die Bedingungen der eingeborenen Bevölkerung Südafrikas und die Politik der Apartheid eine Bedrohung des Weltfriedens und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Diese Resolution ist ein wichtiger Meilenstein im Kampf der UNO für die Liquidierung des Kolonialismus Die Änderung in der Zusammensetzung der Welt-organisation drückte diesen Aktionen natürlich ihren Stempel auf. Als sich in den sechziger Jahren Dutzende von ehemaligen Kolonial-und Treuhandgebieten der UNO anschlossen, verloren die Resolutionen den vorsichtigen und zögernden Ton, der sie im ersten Jahrzehnt nach Gründung der Weltorganisation charakterisiert hatte. Damals übten nur die panafrikanischen Kongresse und verschiedene Befreiungsbewegungen einen gewissen Druck aus jetzt war die Forderung zur Beschleunigung der Entkolonialisierung zu einem erstrangigen Faktor in der internationalen Politik geworden, mit dem alle Mächte zu rechnen hatten. Das wichtigste Ereignis in dieser Entwicklung war die Deklaration vom 14. Dezember 1960 über die Aufhebung des Kolonial-regimes.

IV. Die Richtlinien zur Aufhebung des Kolonialregimes

Als die Erklärung über die Aufhebung des Kolonialregimes im Jahre 1960 in der UNO angenommen wurde, erhob kein Mitgliedsstaat Widerspruch gegen den Gedanken, daß die Befreiung aller Völker von der Fremdherrschaft sich unmittelbar aus der Verpflichtung ergebe, den Menschenrechten zum Sieg zu verhelfen, die Grundfreiheiten zu fördern und den Frieden und die internationale Sicherheit zu festigen. Der Entkolonialisierungspro-zeß war damals bereits in vollem Gange und die Zahl der noch der Fremdherrschaft unterworfenen Gebiete nahm zusehends ab. Die Initiatoren des Beschlusses hatten es daher nicht allein auf den Kampf gegen den Kolonialismus abgesehen, sondern wollten auch dem Neokolonialismus einen Schlag versetzen und außerdem einen Anstoß zu Veränderungen in solchen Vielvölkerstaaten geben, in denen einem Teil oder dem Großteil der Bevölkerung die bürgerlichen Freiheiten und die ethnisch-nationale Gleichberechtigung versagt blieben.

Wenn diese Deklaration auch nicht mehr war als eine Empfehlung und ihr daher „nur" moralische Bedeutung zukam, darf ihr Wert doch keineswegs unterschätzt werden: Da niemand wagte, gegen sie zu stimmen, drückte sie den Willen der überwiegenden Mehrheit der Völkergemeinschaft aus. Nur neun Mitglieder enthielten sich aus verschiedenen Gründen der Stimme, ohne jedoch die Richtigkeit der Grundlinien der Deklaration anzuzweifeln

Die Anfänge des Neokolonialismus, gegen den sich die obige Erklärung wendet, zeichnen sich in verschiedenen Abkommen ab, die die ehemaligen Kolonialmächte mit ihren früheren Kolonien abschlossen, nachdem diese ihre Selbständigkeit erlangt hatten. Diese Verträge versetzten Staaten in einen Zustand jungen wirtschaftlicher oder militärischer Abhängigkeit, der sich mit wahrer Selbständigkeit kaum verträgt und diese ihres politischen Gehaltes beraubt.

Die Deklaration fordert volle Unabhängigkeit, Freiheit, Selbständigkeit und Selbstbestimmung; sie zählt die Treuhandgebiete, Territorien ohne Selbstregierung sowie andere Gebiete auf, die noch nicht ihre volle Selbstverwaltung erlangt haben. Sie enthält also eine vollständige Liste der Völker, die ein Recht auf politische Freiheit haben, einschließlich der in der Charta der UNO nicht genannten Völkerschaften und Stämme. Die Charta hatte ja nur den Status der Treuhandgebiete und Territorien ohne Selbstregierung festgelegt, nicht aber den der Kolonien. Erst die Deklaration von 1960 entzog der Kolonialherrschaft in allen ihren Gestalten die Grundlagen, sie schließt alle Lücken und läßt keinen Raum für Ausflüchte, die die kulturelle Rückständigkeit, die mangelnde wirtschaftliche und soziale Entwicklung und die politische Unreife bestimmter Völker und Gebiete ins Feld führen, um die Fortsetzung des Kolonialregimes zu rechtfertigen. Die Deklaration räumt endgültig mit der Behauptung der positivistischen Schule im Völkerrecht auf, derzufolge es zivilisierte und unzivilisierte Völker gibt; Nationen mit Recht auf Unabhängigkeit und solche, die des Gängelbandes von Fremden bedürfen; Völker, die Subjekte des Völkerrechts sind und andere, die nur seine Objekte sein können Leider liefert allerdings auch die moderne Schule des Völkerrechts und selbst die Charta der Vereinten Nationen keine genaue Definition des Begriffes der Selbstbestimmung. Wie dem auch sei: der Resolution des Jahres 1960 kommt das Verdienst zu, die Entkolonialisierung im Rahmen des Völkerrechts verbindlich zu machen. Wegen dieses besonderen Gewichtes wurde ihr ebenso wie der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte von 1948 die Bezeichnung „Deklaration“ verliehen. Dieses Dokument enthält auch einen Appell an alle Völker der Erde, seinem Inhalt dieselbe Achtung entgegenzubringen wie der Charta der UNO und der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte

Um auf Grund der gesetzlichen Prinzipien der Deklaration praktische Ergebnisse herbeizuführen, setzte Vollversammlung im Jahre die 1961 einen Sonderausschuß ein (Res. 1654/XV 1 vom 27. Nov. 1961), der aus zunächst 17, später (Res. 1810/XVII vom 17. Dez. 1962) aus 24 Mitgliedern bestand. Dieser Ausschuß wurde mit der Aufgabe betraut, die sich aus der Deklaration für die Entkolonialisierung ergebenden Folgen zu prüfen und der UNO und deren Organen Vorschläge über die Möglichkeiten zur Verwirklichung ihrer Prinzipien zu machen. Dieser Sonderausschuß wurde zum zentralen Forum für alle Probleme der Entkolonialisierung. Seit seiner Gründung hat er zahlreiche Berichte entgegengenommen und Beratungen über die Petitionen abgehalten, die ihm zugeleitet wurden. Auch hat er viele Länder besucht und der Vollversammlung zur Frage der Entkolonialisierung Empfehlungen unterbreitet Auch die Formulierung wichtiger internationaler Dokumente hat er beeinflußt. Wir haben bereits die Konventionen von 1966 erwähnt, die die wirtschaftlichen, sozialen, kultu-rellen, bürgerlichen und politischen Menschenrechte betreffen, zu denen auch das Selbstbestimmungsrecht gehört, sowie die Resolutionen über die Rechte der eingeborenen Bevölkerung Südwestafrikas und Rhodesiens.

Ein Dokument, das die Deklaration von 1960 ergänzt, ist die „Erklärung über die dauerhafte Souveränität über Natur-und Bodenschätze" vom 14. Dezember 1962 Sie bringt die Befürchtungen der jungen, vom Kolonial-joch befreiten Staaten und aller anderen Entwicklungsländer zum Ausdruck, daß ihre Bodenschätze in ausländischer Hand sich in ein Instrument der Ausbeutung verwandeln könnten. Andererseits setzt sich dieses Dokument aber nicht über die Tatsache hinweg, daß die jungen Staaten auch weiterhin auf fremde Investitionen angewiesen sein werden. So versucht die Deklaration, auf beide Probleme die richtige Antwort zu geben. Sie hebt das Recht jedes souveränen Staates hervor, selbst über seine Natur-und Bodenschätze zu verfügen, aber auch seine Pflicht, sie im Interesse der einheimischen Bevölkerung zu nutzen und zu entwickeln, spricht ausländischen Gesellschaften das Recht der Einmischung und Kontrolle ab, setzt sich aber auf der Basis nationaler und internationaler Abmachungen für die Garantie ihrer Kapitalanlagen ein. Die Deklaration legt fest, daß die sich aus der Ausbeutung der Bodenschätze ergebenden Gewinne auf Vertragsbasis so zu verteilen sind, daß die dauerhafte Souveränität und das Wohlergehen der eingesessenen Bevölkerung gesichert werden. Im Falle von Verstaatlichungsmaßnahmen sollen die Eigentümer den vertraglichen Verpflichtungen entsprechend, aber auch unter Heranziehung der völkerrechtlichen Normen, entschädigt werden.

Ein weiteres, direkt mit dem Kampf zur Beseitigung des Kolonialismus verbundenes Dokument ist die „Deklaration über das Verbot jeder Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und deren Unabhängigkeit und Souveränität" vom 21. Dezember 1965 Diese Erklärung enthält zwar eine Wiederholung der in der Charta aufgezählten Grundsätze; wenn man aber bedenkt, daß die verschiedensten Kräfte versucht haben, sich unter Vorwänden aller Art in die inneren An-gelegenheiten zahlreicher anderer Staaten ein-zumischen, die nach der Gründung der UNO ihre Unabhängigkeit erlangten, wird man die Notwendigkeit einsehen, das Prinzip der Nicht-einmischung abermals hervorzuheben und ihm eine klarere und erschöpfendere Fassung zu geben. Der ursprüngliche Entwurf dieser Deklaration wurde von der Sowjetunion vorgelegt, die endgültige Formulierung gemeinsam von 57 Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ausgearbeitet, deren Befürchtungen, Erfahrungen und Forderungen darin klar zum Ausdruck kommen. Sie machten besondere Anstrengungen, um das Prinzip der Nichteinmischung zu einer für alle verbindlichen Verpflichtung zu machen, der kein Staat sich entziehen kann.

Auch die „Deklaration über gesellschaftlichen Fortschritt und Entwicklung" vom 1. Dezember 1969 betont das Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf volle Unabhängigkeit und die Pflicht aller Staaten, die hierfür erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen Das Selbstbestimmungsrecht wird auch in dem zur Verwirklichung der Unabhängigkeitsdeklaration vom Dezember 1960 entworfenen Aktionsplan hervorgehoben, ebenso wie in der Deklaration über die Grundsätze des Völkerrechts, die die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit der Staaten auf der Grundlage der Charta betreffen.

Eine wichtige Rolle spielt es ferner in den „Richtlinien für die internationale Entwicklungstheorie in der Zweiten Entwicklungsdekade"; es stand auch im Mittelpunkt der feierlichen Sitzung zum 25jährigen Jubiläum der Vereinten Nationen am 24. Oktober 1970, als die vier obigen Dokumente ratifiziert wurden

Der Aktionsplan für die volle Durchführung der Deklaration von 1960 über die Entkolonialisierung wurde am 12. Oktober 1970 ratifiziert (Resolution Nr. 2621/XXV). Er enthält nicht nur die Feststellung, daß die Fortsetzung des Kolonialsystems ein internationales Verbrechen darstelle, sondern erkennt auch den vom Kolonialismus versklavten Völkern das Recht zu, sich aller Mittel zu bedienen, um dieses Joch abzuschütteln. Auch richtet er an den Sicherheitsrat die Forderung, Maßnahmen gegen die Verfolgungen der Kolonialvölker zu ergreifen, weil der Weltfrieden ernsthaft gefährdet werden könnte. Alle Staaten und internationalen Organisationen werden aufgefordert, den Kämpfern für nationale Befreiung ihre Hilfe angedeihen zu lassen. Insbesondere ruft der Aktionsplan zu Schritten gegen Südafrika, Rhodesien und die Behörden der portugiesischen Kolonien auf und weist darauf hin, daß die Bestimmungen der Genfer Konvention vom Jahre 1949 auf die Kämpfer der nationalen Befreiungsbewegungen anzuwenden seien. Audi hebt er hervor, daß der Mangel an Natur-und Bodenschätzen, die Größe des Territoriums und seine geographische Lage niemals als Vorwand für die Verzögerung der Unabhängigkeit dienen dürfen. Er befaßt sich auch sehr eingehend mit den Problemen der sozialen, wirtschaftlichen und erzieherischen Vorbereitung der Kolonialvölker und dem Ausbau ihres Verkehrs-und Nachrichtenwesens und fordert eine ins einzelne gehende Überprüfung der Lage in allen diesen Gebieten mit Hilfe von Delegationen und Untersuchungsausschüssen. Auch die „Deklaration über Grundsätze des Völkerrechts, die die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit der Staaten betreffen", bestätigt den Grundsatz, daß alles geschehen müsse, um die Gebiete ohne Selbstverwaltung aus ihrer Abhängigkeit zu befreien. Sie bekräftigt auch den Grundsatz der Nichteinmischung, den Anspruch aller Völker auf Freiheit und Gleichberechtigung sowie das Prinzip, daß die Unterdrückung und Ausbeutung eines Volkes durch ein anderes ein ernstes Hindernis für den internationalen Frieden und die Sicherheit darstelle.

V. Der Übergang der Treuhandgebiete zur Selbständigkeit

Wie dargelegt, unterscheidet die Charta drei Arten von Gebieten, die unter Treuhandschaft gestellt werden können: A) Frühere Mandats-länder; B) Gebiete, die von den im Zweiten Weltkrieg besiegten Staaten abgetrennt wurden; C) Territorien, die von den bisher für ihre Verwaltung verantwortlichen Staaten diesem System überantwortet werden.

Uber die Mandatsländer bestimmt Artikel 77 a der Charta, daß sie in Treuhandgebiete umzuwandeln seien. Die Mandatare sahen sich daher gezwungen, mit den Vereinten Nationen über die Treuhandschaftsbedingungen Verträge abzuschließen Zuständig sind die Vollversammlung und für die strategischen Zonen der Sicherheitsrat. Im Gegensatz zu den Behauptungen Südafrikas üben diese Organe ihre Kompetenzen unabhängig vom Willen der Mandatare aus

Die „Richtlinien für die internationale Entwicklungsstrategie in der Zweiten Entwick. lungsdekade" — sie begann am 1. Januar 1971 — befürworten ebenfalls dringend Maßnahmen zur Beseitigung der kolonialen Abhängigkeit, Rassendiskriminierung und Apartheid. Sie weisen darauf hin, daß eine Rüstungsbeschränkung sehr beträchtliche Mittel für die Entwicklungshilfe freisetzen würde, die ihrerseits den jungen Völkern die Festigung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit erlauben und den wirtschaftlichen Fortschritt aller Nationen fördern würde. In der Deklaration zum 25jährigen Jubiläum der UNO nehmen die in der Charta festgelegten Grundsätze und Ziele einen breiten Raum ein. Sie ruft zu besonderen Anstrengungen auf, um der Deklaration vom Jahre 1960 über die Unabhängigkeit der Kolonialvölker und -länder volle Anerkennung zu verschaffen.

Gewiß sind alle hier aufgeführten Dokumente beim jetzigen Stand der internationalen Beziehungen kaum mehr als ein Programm. Andererseits sind sie aber auch Ausdruck einer unaufhaltbaren Entwicklung, die schließlich zum Ende der Kolonialherrschaft führen muß. Die Zahl der Treuhandgebiete und Territorien ohne Selbstregierung, die inzwischen ihre Unabhängigkeit erlangt haben, beweist, daß ein großes Stück des Weges bereits zurückgelegt ist.

Für die von den besiegten Staaten abgetrennten Gebiete gilt nach Artikel 157 der Charta, daß es von dem Willen der Staaten, die die Last des Zweiten Weltkrieges zu tragen hatten, abhänge, ob diese dem Treuhand-regime unterstellt werden. Alle anderen Gebiete können nur mit der ausdrücklichen Zustimmung der für ihre Verwaltung verantwortlichen Staaten in Treuhandgebiete verwandelt werden

Als Südafrika sich weigerte, das Mandat über Südwestafrika dem Treuhandschaftssystem der UNO zu unterstellen, wurde der Internationale Gerichtshof um ein Gutachten angerufen. Am 11. Juli 1950 entschied er, daß das vom Völkerbund an Südafrika übertragene Mandat noch in Kraft sei, daß aber auch die sich aus Artikel 22 des Völkerbundspaktes für diesen Staat ergebenden Verpflichtungen fortbestünden, wie z. B. die Weiterleitung von Petitionen der einheimischen Bevölkerung. Weiterhin wird in dem Gutachten ausgeführt, daß die UNO an die Stelle des Völkerbundes getreten sei und somit dessen Kontrollfunktionen über das Mandatsgebiet übernommen habe. Südafrika könne also den Status dieses Gebietes nicht eigenmächtig ändern, sondern nur mit Zustimmung der zuständigen Organe der UNO. Der Gerichtshof wies auch darauf hin, daß Artikel 12 der Charta aut Südwestafrika anwendbar sei, da er die Ausführungsbestimmungen über die Umwandlung von Mandaten in Treuhandgebiete enthalte Allerdings enthielt das Gutachten auch die Feststellung, daß ein Vertrag mit Südafrika erforderlich sei und daß dieser wie jeder andere Vertrag der Zustimmung beider Partner bedürfe Eine derart formalistische Einstellung erschwerte natürlich die Bestrebungen, für dieses Problem eine rechtliche Lösung zu finden. Auch in seiner Entscheidung vom 18. Juli 1966, in der er die Klage Äthiopiens und Liberias abwies, hielt der Gerichtshof an seinem formalistischen Standpunkt fest und weigerte sich, bei Klagen, die die Kompetenzen der UNO zum Gegenstand haben, die Aktivlegitimation individueller Staaten, einschließlich der Kläger, anzuerkennen. Dieses Urteil tut aber keineswegs der Gültigkeit des Gutachtens vom Jahre 1950 Abbruch, das die Pflichten Südafrikas und die Stellung und Rechte der UNO eindeutig festgelegt hatte.

In diesem Zusammenhang sei auch die Tatsache hervorgehoben, daß nicht alle Richter den formalistischen Standpunkt teilten, der in den Urteilen von 1950 und 1966 zum Ausdruck kam Einige von ihnen machten geltend, daß dem die Treuhandschaft betreffenden Artikel die Grundlage entzogen würde, wenn die Auslegung anerkannt würde, daß die Charta den Mandatar nicht verpflichte, über die Umwandlung der Mandats-in Treuhandgebiete Verhandlungen einzuleiten

Hinsichtlich der „A" -Mandate des Völkerbundes brauchte die Frage einer Umwandlung in Treuhandgebiete nicht mehr gestellt zu werden, da die meisten von ihnen ihre Selbständigkeit bereits vor Gründung der UNO oder nur wenig später erlangt hatten. Die letzten waren Jordanien und Israel, die 1948 als unabhängige Staaten in die UNO aufgenommen wurden.

Artikel 25 des Palästinamandates vom 22. Juli 1922 spricht von Transjordanien als gesonderter Einheit. Aus diesem Grunde gestand Großbritannien diesem Gebiet die Selbständigkeit bereits vor Klärung der Position Palästinas und der Unabhängigkeitserklärung Israels zu. Was die „B" -und „C" -Mandatsgebiete anbelangt, erklärten die Mandatare mit Ausnahme Südafrikas schon auf der ersten Sitzung der Vollversammlung der UNO ihre Bereitschaft zur Einleitung von Verhandlungen, um diese dem Treuhandschaftssystem zu unterstellen. Unmittelbar darauf begann man mit der Ausarbeitung der Verträge, die am 13. Dezember 1946 von der zweiten Vollversammlung bestätigt wurden. Diese Abkommen erstreckten sich auf Neuguinea, das als Treuhandgebiet Australien unterstellt wurde, und Ruanda-Urundi, das zum belgischen Treuhandgebiet wurde, während das französische Kamerun und das französische Togo französischer Treuhandschaft und Westsamoa Neuseeland unterstellt wurde, Tanganijka, das britische Togo und das britische Kamerun fielen Großbritannien zu. Am 1. November 1947 wurde ein weiteres Treuhandabkommen ratifiziert, durch das Nauru der gemeinsamen Treuhandschaft Australiens, Großbritanniens und Neuseelands überantwortet wurde

Im Friedensvertrag vom 10. Februar 1947 verzichtete Italien auf Libyen, Erythräa und Somaliland. Die Vollversammlung, deren Zuständigkeit im selben Vertrag anerkannt wurde, beschloß erst am 21. November 1949, daß in den ehemaligen Kolonialgebieten Italiens in Nordafrika (Tripolitanien, Cyrenaika und Fezzan) ein unabhängiger Staat entstehen sollte; sie erklärte Somaliland auf zehn Jahre zum Treuhandgebiet. Libyen wurde 1952 als unabhängiger Staat anerkannt, das früher italienische Somaliland erlangte zusammen mit der früheren britischen Kolonie Somali seine Unabhängigkeit im Jahre 1960. 1950 wurde beschlossen, Erythräa als autonomen, unabhängigen Staat mit Äthiopien zu vereinigen. Im ehemals britischen Mandatsgebiet Togo, unter dessen Bevölkerung sich widerstreitende Tendenzen manifestierten, wurde am 9. März 1956 ein Referendum abgehalten, nach welchem dieses Gebiet der Goldküste angegliedert wurde, also dem späteren Ghana, das am 7. März 1957 seine Unabhängigkeit erlangte. Damit er-reichte die Treuhandschaft in diesem Territorium ihr Ende. Im früheren französischen Mandatsgebiet Togoland wurde ein Referendum abgehalten, um zu klären, ob die Bevölkerung einen neuen von Frankreich vorgeschlagenen Status dem Treuhandschaftsregime vorziehe. Nach dieser Volksabstimmung proklamierte Frankreich mit der Gründung einer autonomen, mit Frankreich verbündeten Republik das Ende der Treuhandschaft für dieses Gebiet. Die UNO, die dieser Lösung nicht zustimmte, entsandte einen Untersuchungsausschuß nach Togo und beauftragte auf Wunsch der Lokal-behörden einen Sonderdelegierten mit der Beaufsichtigung der Wahlen. Die Volksmehrheit entschied sich für die volle Unabhängigkeit, die Togo am 27. April 1960 gewährt wurde.

Die Treuhandschaft im französischen Kamerun ging am 1. Juni 1960 zu Ende. Im britischen Kamerun fanden unter Aufsicht eines UNO-Vertreters zwei Volksabstimmungen statt, eine im Norden des Landes, die andere im Süden. Die Bevölkerung sollte darüber entscheiden, ob dieses Territorium angesichts der früheren Verwaltungsgemeinschaft mit Nigeria sich diesem anschließen oder mit dem unabhängigen Kamerun vereinigen sollte. Die Bewohner des Nordbezirks entschlossen sich für Nigeria. Darauf focht die Regierung Kameruns die Ergebnisse der Volksabstimmung vor der Vollversammlung und dem Internationalen Gerichtshof an. Dieser Schritt hatte die Sezession des Nordbezirks und seinen Anschluß an Nigeria zur Folge. Obwohl sich das mit den Bestimmungen des Treuhandschaftsabkommens nicht vereinbaren ließ, wurden alle Einsprüche der Regierung Kameruns zurückgewiesen

In Tanganijka wurde die Treuhandschaft durch die Resolution der Vollversammlung vom 9. Dezember 1961 beendet. Am 26. April 1964 schlossen sich Tanganijka und Sansibar zusammen und bildeten die Republik Tansania. In Ruanda-Burundi erlosch die Treuhandschaft am 1. Juli 1962. Nach Volksabstimmung in Burundi und in Ruanda wurden zwei Staaten gegründet. Diese Teilung besiegelte auch den Mißerfolg der UNO, die sich vergeblich um die

Beilegung der Stammesfehden bemüht hatte. In Afrika gab es damit keine Treuhandschaft mehr. Wie bereits erwähnt, wird dieses System heute nur noch auf Neuguinea und einer Reihe von Inseln im Stillen Ozean aufrecht erhalten. Westsamoa, das auch weiterhin mit Neuseeland, seinem früheren Treuhänder, enge Beziehungen unterhält, proklamierte seine Unabhängigkeit bereits am 1. Januar 1962. In Nauru, einer Insel mit wenig Bevölkerung und kärglichen Lebensbedingungen, wird die Treuhandschaft mit der Überführung ihrer Bewohner nach Australien, Neuseeland und Großbritannien (die Treuhänderstaaten) ihr Ende finden.

Bisher hatte sich die UNO nicht mit einem Fall zu befassen, daß ein Staat, der ein nicht unter die Begriffe „Mandatsland" oder Feind-Territorium" fallendes Gebiet verwaltet, beantragt hätte, dieses dem Treuhandschaftssystem zu unterstellen. Die meisten Kolonien sind ohne Zwischenstadium von der Abhängigkeit zur Selbständigkeit übergegangen. Ein Treuhandschaftsregime wurde natürlich auch nie für Gebiete beantragt, die, ohne der äußeren Form nach Kolonien zu sein, einer Fremdherrschaft unterworfen waren und tatsächlich wie eine Kolonie behandelt wurden. Solche Territorien wurden auch nicht in die von der UNO angefertigte Liste der Gebiete ohne Selbstregierung aufgenommen. In die Deklaration der Vollversammlung der UNO vom Dezember 1960 wurden sie aber einbezogen, da hier für alle unter Fremdherrschaft stehenden Gebiete die Selbständigkeit gefordert wird Typische Beispiele für Länder solcher Art sind einerseits Algerien, das als französische Provinz galt und erst nach schweren Kämpfen im Jahre 1962 seine Unabhängigkeit erlangte, und andererseits West-Irian, das am 1. Mai 1963, nachdem es kurze Zeit direkt der UNO unterstanden hatte, mit Indonesien vereinigt wurde.

Die Einwohner von Gebieten, die formell keiner Treuhandschaft unterstellt sind oder de facto jener internationalen Garantien beraubt wurden, die sich an den Status eines Kolonial-gebiets knüpfen, haben bis heute keine Möglichkeit zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts. Zu ihnen gehören Südwestafrika und die portugiesischen Kolonien.

VI. Die Änderung im Status der Kolonialgebiete

Wie es Bestrebungen gegeben hat, der Deklaration von 1960 über die Gewährung der Unabhängigkeit an alle unter Fremdherrschaft stehenden Gebiete und auch anderen sich auf das Selbstbestimmungsrecht erstreckenden Dokumenten jede gesetzliche Gültigkeit abzustreiten, so waren vorher Strömungen zu verzeichnen, die das Kapitel XI der Charta, das als »Deklaration über die Gebiete ohne Selbstregierung" bekannt ist, in dieser Weise zu interpretieren suchten Bedeutende Kommentatoren der Charta der Vereinten Nationen sind der Ansicht, daß dieses Kapitel klar umrissene Verpflichtungen enthalte und daß man sich hinsichtlich der Gebiete ohne Selbstregierung nicht auf den im Artikel 2 verankerten Grundsatz berufen könne, der die Einmischung der UNO in die inneren Angelegenheiten derMitgliedsstaaten verbietet In diesem Zusammenhang lohnt es sich darauf hinzuweisen, daß die Vollversammlung in ihren Beratungen und in den Dokumenten, die Auslegungen der betreffenden Kapitel der Charta und der einschlägigen Deklarationen enthalten, die Ansicht dieser Kommentatoren unterstützt. Artikel 22 des Völkerbundspaktes bezog sich auf „Gebiete, die noch nicht imstande sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen in der heutigen Welt selbst zu leiten“. Die Planer der Charta wichen bewußt von dieser Formel ab und zogen eine einfachere und klare Definition vor. Sie sprachen von „Ländern, deren Bevölkerung die Unabhängigkeit noch nicht erlangt hat". Aus der Formulierung der einschlägigen Kapitel der Charta geht hervor, daß das typische Merkmal dieser Gebiete ihre Abhängigkeit ist, die vor allem darin zum Ausdruck kommt, daß ihre Bevölkerung nicht das Recht besitzt, frei über ihre Regierungsform und ihre Außenpolitik zu bestimmen. Art und Grad der noch bestehenden Abhängigkeit dienen auch als wichtigstes Kriterium bei der Aufstellung der Listen mit den Gebieten ohne Selbstverwaltung. (Hierbei legt die UNO jetzt die Merkmale zugrunde, die in der Deklaration vom 15. Dezember 1960 über die Gewährung der Unabhängigkeit an die unter Fremdherrschaft stehenden Gebiete festgelegt wurden.)

Zur Vorbereitung solcher Listen forderte die UNO von den betreffenden Staaten kontinuierlich Informationen und Berichte über die in ihren Kolonialgebieten herrschenden Bedingungen an. Als Kolonialgebiete wurden alle Territorien definiert, die geographisch vom Mutterland getrennt sind oder sich in ethnischer oder kultureller Beziehung von ihm unterscheiden, aber in politischer, administrativer und wirtschaftlicher Hinsicht von ihm abhängen.

Die erste Liste von Gebieten ohne Selbstregierung, die auf Grund der von den Kolonial-mächten gemachten Angaben aufgestellt wurde, findet sich in der Resolution vom 14. Dezember 1946. 74 solcher Territorien werden darin aufgezählt: a) Papua — unter australischer Herrschaft; b) Alaska, Samoa, Guam, Hawaii, Porto Rico, verschiedene Bezirke am Panama-Kanal, auf die Panama Anspruch erhebt, sowie ein Teil der Jungferninseln — unter USA-Herrschaft; c) Kongo — unter belgischer Herrschaft; d) Aden, die Bahamainsein, Barbados, Basutoland, Betschuanaland, Burundi, Nord-Borneo (Protektorat), Brunei, Zypern, Dominica, die Falklandinseln (auf die Argentinien Anspruch erhebt), Britisch-Guayana und Britisch-Honduras (Guatemala erhebt Anspruch auf Belize), die Fidschi-Inseln, Gambia, Gibraltar, Grenada, Hongkong (von Großbritannien gepachtet), Jamaica, Kenia, Malia, Malta, Nigeria, Nord-Rhodesien, Njassaland, Pitcairn, Gilbertinseln, die Ellis-und Wind-ward-Inseln, Goldküste, Sankt Helena, Sankt Luzia, Sankt Vinzent, Sarawak, Swasiland, Seychellen, Sierra Leone, Singapur, die Salomon-Inseln, Britisch-Somaliland, Trinidad und Tobago, Uganda und Sansibar — unter britischer Herrschaft; e) Grönland — unter dänischer Herrschaft; f) NiederländischIndien (obwohl die indonesische Republik bereits am 17. August 1945 proklamiert wurde), Curacao und Surinam — unter niederländischer Herrschaft; g) die Cook-Inseln (obwohl sie als integraler Teil Neuseelands verwaltet wurden); h) Äquatorialafrika, Französisch-Westindien, französische Besitzungen im Stillen Ozean; Französisch-Guayana, die französische Somaliküste, Französisch-Westafrika, Guadeloupe, Indochina (obwohl die demokratische Republik Vietnam bereits am 22. September 1945 proklamiert wurde), Madagaskar, Martinique, Marokko, Neukaledonien, die Neuen Hebriden (als Kondominium mit England), Reunion, Saint-Pierre und Miquelon, Tunesien — unter französischer Herrschaft.

Die Liste von 1946 umfaßte nicht alle Gebiete, die einem kolonialen oder semikolonialem Regime unterworfen waren. So fehlten z. B. Algerien, Süd-Rhodesien und Südwestafrika. Die in der Liste genannten Gebiete hatten zweifellos sehr unterschiedliche Verwaltungen, es gab auch große Differenzen hinsichtlich der Beteiligung der Bevölkerung. Während die Landesbewohner in bestimmten Territorien an Gesetzgebung und Regierung aktiv beteiligt waren und die Kolonialherren sich nur die Verteidigungsfragen und die äußeren Beziehungen vorbehielten, waren andere Gebiete fast in jeder Beziehung abhängig. Als Spanien und Portugal im Jahre 1955 in die UNO aufgenommen wurden, wurde die Frage einer Vervollständigung der obigen Liste aktuell. Portugal behauptete, daß seine überseeischen Besitzungen kraft seiner Verfassung und der die überseeischen Gebiete betreffenden Gesetze aus dem Jahre 1951 einen integralen Teil seines Staatsgebietes bilden und als Überseebezirke des Landes zu betrachten seien Auch Spanien stellte sich auf diesen Standpunkt und erklärte, daß seine Gebiete in der Sahara, Fernando Poo, Ifni und Rio Muni untrennbar mit dem Mutterland verbunden und nicht weniger spanisch seien als die Metropole

Da Portugal sich weigerte, der UNO über die seiner Herrschaft unterworfenen überseeischen Gebiete Berichte zu unterbreiten, beschloß die Vollversammlung, diese, abgesehen von den Madeira-Inseln, ohne Zustimmung der Kolonialmacht in die Liste aufzunehmen. Dazu gehören die Kapverdischen Inseln, Portugiesisch-Guinea, Sankt Thomas und Principe, Fort Sankt Johan, Kabinda, Angola, Mosambik, die portugiesischen Besitzungen in Indien, Macäo, sowie das im Stillen Ozean gelegene Timor.

In der mit dieser Liste verbundenen Resolution nahm die UNO auch die Verpflichtung Spaniens zur Kenntnis, ihr gemäß den Bestimmungen des Kapitels XI einen Bericht über die unter seiner Verwaltung stehenden Gebiete ohne Selbstregierung zu unterbreiten. Südrhodesien wurde erst am 28. Juni 1962 auf Grund eines UNO-Beschlusses in die Liste der Territorien ohne Selbstregierung aufgenommen, über die der Weltorganisation Berichte zu unterbreiten sind.

Zahlreiche Gebiete, die nicht in die erste Liste aufgenommen wurden, obwohl sie den einschlägigen Merkmalen entsprachen, haben inzwischen ihre Unabhängigkeit erlangt oder sich anderen souveränen Staaten angeschlossen: Birma und Ceylon gewannen im Jahre 1947 Selbständigkeit; Neufundland schloß sich 1949 der kanadischen Föderation an; Algerien erlangte seine Unabhängigkeit im Jahre 1962; die Malediven wurden 1965 selbständig, und die unter britischem Protektorat stehenden Scheichtümer im Persischen Golf (Kuwait, Bahrain, Katar, Oman, El-Motsali, Maskat und Oman) sind entweder inzwischen unabhängig geworden (Kuwait) oder haben im Rahmen einer Föderation in den Jahren 1968— 1971 ihre volle Selbständigkeit erlangt bzw. werden sie erlangen.

Die meisten der in der Liste des Jahres 1946 erscheinenden Gebiete sind schon seit langem selbständige Staaten und Mitglieder der UNO. Allein im letzten Jahrzehnt erhielten 22 von ihnen diesen Status. In den Jahren 1961— 1970 haben 28 Territorien mit einer Gesamtbevölkerung von 53 Millionen auf verschiedenen Wegen ihre Unabhängigkeit erlangt, und an der Schwelle des Jahres 1970 war nur noch 45 Gebieten mit insgesamt 28 Millionen Menschen die Selbstregierung versagt geblieben. 18 Millionen davon leben in Südafrika, 10 Millionen sind über die restliche Welt verstreut

Dem Artikel 73 der Charta zufolge waren der UNO zu Beginn der siebziger Jahre noch über die folgenden Territorien Berichte zu unterbreiten: Oman, Papua, die spanische Sahara und 25 kleinere Gebiete, wie die Salomon-Inseln, die Bahamainsein, Sankt Helena, die Insel Pitcairn, die auf einer Fläche von 5 qkm nur 126 Einwohner hat, oder die Kokosinseln mit knapp 700 Einwohnern. Die politische Zukunft der obigen Gebiete, einschließlich der Neuen Hebriden, die mit einem Gesamtgebiet von etwa 15 000 qkm 1960 eine Bevölkerung von 60 000 Seelen hatten, hängt weniger vom Kampf gegen die Überreste des Kolonialismus ab als von der Möglichkeit, eine Struktur zu finden, die die Selbstregierung sichert, ohne sie mit den Attributen einer Souveränität zu belasten, die in diesem Falle jedes materiellen Inhalts entbehren würde

Ihrer geringen Ausdehnung und Bevölkerung wegen wurden diese Territorien in offiziellen Dokumenten als „kleine Gebiete" bezeichnet, obwohl einer solchen Formulierung die gesetz-iche Grundlage fehlt. Das Völkerrecht und die Charta machen ja keinen Unterschied zwischen kleinen und großen Territorien, wenn von nichtselbständigen Gebieten die Rede ist, ebenso wie sie nicht zwischen kleinen und großen Staaten unterscheiden, obwohl nur die fünf Großmächte im Sicherheitsrat einen ständigen Sitz einnehmen und bei Beschlüssen über Schritte zur Erhaltung des Friedens die Zustimmung aller Fünf erforderlich ist. Diese Mächte wurden auch mit der Aufgabe betraut, die Folgen des Zweiten Weltkrieges zu beseitigen und Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens vorzuschlagen, bis das kollektive Sicherheitssystem der Vereinten Nationen zu funktionieren beginnt.

Auf Grund der Charta, -der Deklaration von 1960 über die Entkolonialisierung sowie anderer Dokumente, die sich mit den Problemen der nationalen Befreiung befassen, haben die Bewohner aller unter Fremdherrschaft stehenden Gebiete — ohne Rücksicht auf Ausdehnung und Bevölkerungszahl — das Recht auf Selbstbestimmung, mag es sich um eine Kolonie, ein Protektorat oder ein Treuhandgebiet handeln. Diese Einstellung kommt auch in den Berichten des Generalsekretärs zum Ausdruck und in der Aktivität des Sonderausschusses, der eingesetzt wurde, um sich diesen Territorien zu widmen und ihren Übergang zur Selbständigkeit zu beschleunigen

Von den drei in den obigen Dokumenten vorgesehenen Möglichkeiten — Errichtung eines neuen, souveränen Staates auf dem bisher abhängigen Territorium, Integration in einen schon bestehenden selbständigen Staat oder Anschluß an einen solchen — dürften den Interessen winziger Gebiete nur die beiden letzten gerecht werden. Der erste Weg mag zwar zur Bildung von der Form nach unabhängigen Staaten führen. In Wirklichkeit wären solche Zwergstaaten aber der Gnade neokolonialistischer Politiker, dem früheren Mutterland oder der Macht, die an dessen Stelle getreten ist, ausgeliefert. Es ist daher kein Wunder, wenn sich auch hinsichtlich der Zugehörigkeit solcher Miniaturstaaten zur UNO starke Zweifel erheben. Dies geschah z. B., als der kleine Korallenarchipel der Malediven, von dessen 2000 Inseln im Jahre 1961 nur 300 (von 90 000 Menschen) bewohnt waren, im Jahre 1965 in die UNO aufgenommen wurde. Im selben Jahr wurde auch Singapur, das auf einer Fläche von 581 qkm 1, 7 Millionen Einwohner hat, nach seinem Austritt aus dem malaiischen Bund in die UNO aufgenommen.

Auch das früher britische Guayana, auf dessen 215 000 qkm nur 567 000 Einwohner leben, Lesotho mit einer Flächenausdehnung von 30 000 qkm und 697 000 Einwohnern, Betschuanaland mit 712 000 qkm und 288 000 Einwohnern und Barbados mit 302 qkm und 232 000 Einwohnern wurden 1967 in die UNO aufgenommen. Die Probleme, die entstanden, als diese Gebiete sich entschlossen, souveräne Staaten zu werden, verstärkten die Zweifel an der Zweckmäßigkeit der Aufnahme von Miniaturstaaten in die UNO. Immer mehr setzt sich die Meinung durch, daß die Integration oder der Anschluß an souveräne Staaten die beste Lösung darstellt. Dabei muß allerdings der Grundsatz der Gleichberechtigung der Bevölkerung dieser Territorien aufs strengste beachtet werden. Am besten läßt sich eine solche Lösung verwirklichen, wenn vor der Integration oder dem Anschluß die Selbstverwaltungskörperschaften die Regierung voll übernehmen, um der Bevölkerung zu ermöglichen, frei ihren Willen auszudrücken. Die Deklaration über die Entkolonialisierung befaßt sich mit den hierfür erforderlichen Bedingungen, und die UNO wurde mit ihrer Überwachung betraut. Auf diese Weise wurde Alaska im Januar 1959 zu einem Teil der USA und deren 49. Staat und im gleichen Jahr die Hawaii-Inseln zum 50. Bundesstaat. Auf ähnliche Art vereinigten sich die kleinen französischen Territorien auf dem indischen Subkontinent auf Grund von Plebisziten und Abkommen zwischen Indien und Frankreich am 19. Juni 1949 und 21. Oktober 1955 mit Indien. Völlig anders gestaltete sich demgegenüber die Integration von Britisch-Somaliland, das sich, wie bereits erwähnt, auf Grund einer Resolution der Vollversammlung der UNO am 1. Juli 1960 mit dem früheren Treuhandschaftsgebiet Somali zur unabhängigen Republik Somalia zusammenschloß. (Die Integration Grönlands in den dänischen Staat im Jahre 1953 unterscheidet sich insofern von den obigen Zusammenschlüssen, als sie auf dem Verfassungsweg erfolgte.)

Andererseits bestehen ernste Zweifel an der Rechtsgültigkeit der einseitigen Entscheidungen Frankreichs hinsichtlich der Integration von Saint-Pierre, Miquelon und Neukaledonien sowie von Französisch-Guinea, Guadeloupe, Martinique und Runion in den französischen Herrschaftsbereich, da die Bevölkerung dieser Gebiete überhaupt nicht befragt wurde. Trotz solcher Zweifel sollte aber das Integrationsprinzip als Lösungsmöglichkeit für das Problem der politischen Unabhängigkeit kleiner Territorien, auch in Afrika, nicht verworfen werden. Das gleiche gilt für das Anschluß-System, sofern eine solche Föderation dem frei zum Ausdruck gebrachten Willen der Bevölkerung entspricht und dieser die Möglichkeit geboten wird, zu einem späteren Zeitpunkt den föderativen Status zu ändern und einen völlig unabhängigen Staat zu errichten. Die Fälle Porto Ricos, das sich jetzt an den USA orientiert, und der mit Holland verbundenen Antillen und Surinams forderten alle Kritik heraus, da die obigen Bedingungen nicht in gebührendem Maße berücksichtigt und die Spuren der Unterjochung nicht völlig beseitigt wurden Ein gutes Beispiel bilden dagegen die Cook-Inseln, deren Bevölkerung sich im Jahre 1965 nach freien, unter Aufsicht der UNO abgehaltenen Wahlen für den Anschluß an Neuseeland aussprach. In der Resolution der Vollversammlung vom 16. Dezember 1965, die den Anschluß ratifizierte, wird ein Paragraph der Verfassung besonders hervorgehoben, nach dem die Inselbevölkerung das Recht auf volle Unabhängigkeit habe. Die Vereinten Nationen verpflichten sich ausdrücklich, solche Bestrebungen zu unterstützen

Bei der Aufnahme kleiner Staaten in die UNO ergeben sich einige Sonderprobleme. In der Charta wird gefordert, daß ein Staat nur dann Mitglied der UNO werden darf, wenn er friedliebend ist sowie bereit und imstande, alle sich aus der Charta ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen. Jeder Versuch, mit Hilfe dieser Kriterien eine besonders scharfe Auslese vorzunehmen, um die Aufnahme bestimmter Staaten zu verhindern und andere zu begünstigen, muß im Spannungsfeld der Großmächte zu Diskriminierungen führen. Denn ein Land, das sich, aus welchen Gründen auch immer, der Gunst der Großmächte erfreut, hätte trotz negativer Qualifikation immer die besseren Aussichten zur Aufnahme in die Weltorganisation Von noch größerem Gewicht ist ein zweites Problem: Würden alle Miniaturstaaten in die UNO aufgenommen, dann könnten sie ihr zahlenmäßiges Übergewicht dazu benutzen, sich einen Status anzumaßen, der in keiner Weise ihren Möglichkeiten zur Übernahme internationaler Verpflichtungen und Verantwortungen entspräche und sie könnten alle einschlägigen Resolutionen der UNO von vornherein entkräften und die Weltorganisation lahmlegen. Die Vereinigten Staaten waren die ersten, die vorschlugen, den Zwergstaaten einen Sonderstatus zu gewähren, der ihnen weniger Verpflichtungen auferlegen, dafür aber bei der Annahme von Resolutionen auch weniger Rechte einräumen würde. In Verbindüng mit diesem Vorschlag begann man auch die Möglichkeit einer „gemeinsamen Mitgliedschaft" von Gruppen solcher Miniaturstaaten zu untersuchen.

In seinen Jahresberichten für 1967 und 1968 wies der Generalsekretär der UNO auf dieses Problem hin. Im August 1969 begann der Sicherheitsrat auf Veranlassung der USA sich der Frage zuzuwenden. Er beschloß, zu ihrer Klärung einen Expertenausschuß einzusetzen Allerdings ist hier zu betonen, daß jeder Vorschlag, der auf die Beschränkung der Rechte und Pflichten von Staaten abzielt, deren Gebiet, Bevölkerung und Haushalt ein gewisses Minimum nicht erreichen, zu den Grundsätzen der Charta in Widerspruch stehen würde. Dem Expertenausschuß, der seine Arbeit im September 1969 aufnahm, wird es daher nicht leicht fallen, sich auf eine für alle Mitglieder annehmbare Formel zu einigen.

Ebenso wie die Artikel über die Treuhandschaften und den Treuhandschaftsrat mit dem Fortgang des Entkolonialisierungsprozesses allmählich veralten und einer neuen Fassung bedürfen, wird es sich auch als nötig erweisen, in dem Kapital, das sich mit der Fremdherrschaft befaßt, Änderungen vorzunehmen.

Zur Lösung der Probleme der Zwergstaaten müssen ebenfalls neue Instrumentarien gefunden werden. Dasselbe gilt für den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt der anderen Gebiete, auch derjenigen, deren Selbständigkeit vorläufig nur auf dem Papier steht. Es ist möglich, daß solche neuen Institutionen auch den Treuhandschaftsrat, den Sonderausschuß für Gebiete ohne Selbstregierung und verschiedene andere Ausschüsse ersetzen werden, die sich mit Entwicklungsproblemen befassen. Auch könnte man erwägen, regionale Behörden einzusetzen, die den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt der eingesessenen Bevölkerung zu kontrollieren hätten. Zu ihrem Aufgabenbereich würde es ferner gehören, darüber zu wachen, daß das Regime, dessen Verwaltung solche Gebiete unterworfen sind, diese nach und nach auf die Selbstregierung vorbereitet und die Voraussetzungen für eine völlig freie Entscheidung der Bevölkerung über ihr politisches Schicksal schafft. Die Charta der UNO und die zusätzlichen einschlägigen Dokumente setzen kein festes Datum für die endgültige Beseitigung des Abhängigkeitsverhältnisses. Die Realität hat gezeigt, daß es wenig sinnvoll ist, einen solchen Termin zu bestimmen, nicht nur, weil mächtige und bei der heutigen Weltlage schwer zu bekämpfende Faktoren an der Fortdauer der Abhängigkeit in den verschiedensten, auch kolonialen Formen ein direktes Interesse haben, sondern auch, weil die Wirklichkeit in vielen Fällen Probleme geschaffen hat, die durch die Gewährung der formellen Unabhängigkeit nicht zu lösen sind. Daher sind die Entkolonialisierungsbestrebungen mit den Bemühungen um die Stärkung der internationalen Sicherheit und den Fortschritt in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur eng verknüpft.

VII. Schlußbemerkung

Im Übergang von der Abhängigkeit zur Selbständigkeit haben alle Gebiete — so unterschiedlich sie sein mögen —, eine Reihe von gemeinsamen Situationsmerkmalen: die Entfaltung von Kräften in der einheimischen Bevölkerung, die der Forderung nach Freiheit Nachdruck verleihen; die Konfrontation mit der Fremdherrschaft; die Aufstellung eines Programms, das sich nicht auf den Kampf gegen die ausländischen Herren beschränkt, sondern auch die Grundlinien der Verfassung des zukünftigen Regimes enthält und schließlich die Herausbildung politischer Parteien und Bewegungen im Laufe des Freiheitskampfes Die Wirklichkeit hat gezeigt, daß die Früchte der Unabhängigkeit um so größer sind, je besser der Boden vorbereitet war.

In Portugal lebt die letzte, schwächste und uneinsichtigste Form des klassischen Kolonialismus fort, dessen Zeit längst vorüber ist. Trotzdem ist es diesem Lande nicht nur gelungen, seine Herrschaft über riesige Gebiete aufrechtzuerhalten, sondern es versucht sogar, sich unter Gewaltanwendung in die Angelegenheiten unabhängiger Staaten einzumischen, wie z. B. anläßlich der Zusammenstöße in Guinea im Dezember 1970. Dies ist nur mög-lieh unter den seltsamen Verhältnissen auf der internationalen Bühne unserer Zeit, d. h. bei der Rivalität der Großmächte und der Uneinigkeit und Zerrissenheit der afrikanischen Staaten.

In Angola und Mozambique, den zwei größten portugiesischen Kolonialgebieten, sind schon seit langem blutige Kämpfe für die nationale Befreiung im Gange. Die Organisation der Afrikanischen Einheit und die ganze Welt bringen immer wieder ihre Bereitschaft zur Unterstützung für die Kämpfer zum Ausdruck, und die UNO hat sogar Sanktionen beschlossen. Trotzdem geht die Unterdrückung weiter. Portugal stützt sich dabei auf sein altes Argument, daß das Schicksal seiner Kolonien eine innere Angelegenheit darstelle, da diese Gebiete nur überseeische Provinzen Portugals seien.

Angesichts der Tatsache, daß sich die Über-reste des Kolonialismus und die wichtigsten Zentren des Neokolonialismus auf dem schwarzen Kontinent befinden, wo es dem sowjetischen Imperialismus gelungen ist, den Prozeß der „Entimperialisierung" aufzuhalten und in Ägypten offen die Position der früheren Imperialisten einzunehmen, ist es wohl möglich, daß Afrika beim Endkampf gegen die letzten Reste des Kolonialismus eine überragende Rolle spielen wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. G. Mencer, Colonialisme et Droit International, Revue de Droit Contemporaine No. 1/1961, S. 50, und L. Eshkol, An Era of Opportunity, International Problems No. 5/1964.

  2. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gab es vier unabhängige Staaten in Afrika (Ägypten, Liberia, Äthiopien und die Südafrikanische Union). Im Jahre 1960 gab es schon 16 und Ende 1970 waren 41 afrikanische Staaten Mitglieder der UNO.

  3. D. Schröder, Die Dritte Welt und das Völker-recht, Hamburg 1970, S. 29— 31; A. Nussbar, A Concise History of the Law of Nations, New York 1954, S. 135, 147, 150 und 156.

  4. J. Larus (ed), Comparative World Politics, Belmont, Cal. Wadsworth Publ. 1964.

  5. Etudes d'Histoire Africaine (Vol. I, 1970), Un. of Lovanium, Kinshasa, besonders F. Boutink, La Premiere ambassade Congolaise ä Rome, 1514, und J L Vellut, Relations Internationales du Moyen-Kwango et de l'Angole dans la deuxieme Moiti du XVIII eme Siecle,

  6. Nussbaum, a. a. O., S. 121; Schröder, a. a. O., S. 29; J. J. G. Syatauw, Some Newly Established Asian States and the Development of International Law, Hag 1961, S. 17.

  7. M. Mushkat, Theory and Practice of International Relations, Tel Aviv 1967, S. 108 und S. 114.

  8. B. Davidson, Black Mother, London 1961, S. 51.

  9. Einzelheiten bei: J. Pope — Hennessy, Geschäft mit schwarzer Haut, Wien 1970.

  10. Ebda, siehe auch Nussbaum a. a. O., S. 128.

  11. Einzelheiten über die Diskussionen im britischen Parlament finden sich bei T. Clarckson, History of the Rise, Progress and Accomplishment of the Abolition of African Slave Trade by the British Parliament, London 1939.

  12. 10 Martens N. R. G. 2 ser. (1853— 1885) 200 und 16 Martens N. R. G. 2 Ser. Das Berliner Dokument vom 26. Februar 1885, die Allgemeine Deklaration von Brüssel vom 2. Juli 1890 und der Friedensvertrag von St. Germain-en-Laye vom 10. September 1919. Die den Niger-Strom betreffenden Abmachungen wurden gemäß den Beschlüssen der afrikanischen Staaten im Dokument von Nyamey vom 26. Oktober 1963 abgeändert.

  13. N. G. Giffen, Fachoda, The Incident and its diPlomatic settling, Chikago 1931.

  14. M. Mushkat, a. a. O., S. 237.

  15. B. V. A. Roeling, International Law in an Expanded World, Amsterdam 1960, S. 21.

  16. D. Schröder, a. a. O., S. 34— 36.

  17. R. P. Anand, Role of the New Asian-African Countries in the Present International Legal Order, 56 AJIL No. 2/1962, S. 384.

  18. D. Schröder, a. a. O., S. 37.

  19. C. Legum, Pan-Africanism, New York 1960, S. 28 und 153.

  20. Socit des Nations, Journal Officiel, Suppl. Special No. 125, S. 67.

  21. Einzelheiten über den Übergang verschiedener Gebiete von der Abhängigkeit zur Selbständigkeit finden sich bei F. Mansur, Process of Independence, London 1962.

  22. I. S. Djermakoje, The United Nations and De-Colonisation, UN Monthly Chronicle, Vol. VII, No. 3/1970, S. 38.

  23. K. J. Kozicki, The United Nations and Colonialism, London 1958, S. 383.

  24. UN Trusteeship Council Off. Rc. I. Session, I. meeting, 26. 3. 1947, S. 5.

  25. M. Mushkat, Theory and Practice, S. 244.

  26. Ch. Rousseau, Droit International Public, Paris 1953, S. 166.

  27. G. Leroy, La Nature Juridique des Accords de Tutelle, RGDJP No. 4/1965, S. 1003, 1011 und 1017.

  28. JCJ, Reports 1950, S. 128.

  29. Vgl. I. S. Djermakoye, a. a. O., S. 43.

  30. M. Mushkat, International Cooperation, Tel Aviv 1967, S. 273— 276.

  31. M. Mushkat, Der Nürnberger Prozeß, Jerusalem 1951, S. 57 und 65 (hebräisch).

  32. G. A. UN Res. 2200 (XXI), 16. 12. 1966.

  33. M. Mushkat, International Cooperation, S. 457.

  34. „International Problems“, No. 3— 4/1964, S. XXV.

  35. UN G. Ass. Res. 2106 (XX), 19. 1 1966.

  36. UN Treaty Series, Vol. XX, S. 71— 188.

  37. Djetmakoye, a. a. O., S. 41.

  38. C. Legum, a. a. O., S. 32 und 153.

  39. Die folgenden Staaten enthielten sich der Stimme: Großbritannien, die USA, Australien, Belgien, die Dominikanische Republik, Südafrika, Spanien, Portugal und Frankreich.

  40. Vgl. M. Mushkat, On the Factors influencing the Emergence and Evolution of International Law, Netherlands International Law Review No. 4/1961, und M. Lachs, Nakaz Pelnej Likwidacii Kolonializmu, Panstwo i ? rawo No.. 8— 9/1961.

  41. Lachs, a. a. O„ S. 217. ,

  42. UN GA Res. 1893/A (XVII), 14. 12. 1962, UN Year Book 1962, S. 498.

  43. UN GA Res. 2131/A (XX) 21. 12. 1965, UN Yar Book 1965, S. 89.

  44. UN Monthly Chronicle No. 1/1970, S. 132.

  45. UNGA A/L 600 24. 10. 1970.

  46. L. Oppenheim (hrsg. v. H. Lauterpacht), International Law, Vol 1, London 1955, S. 224.

  47. Ch. Toussaint, The Trusteeship System of the United Nations, London 1956, S. 42.

  48. L. Antoniewicz, Likwidacja Kolonializmu ze Stanowiska prawa miedzynarodowego, Warschau 1964, S. 55.

  49. JCJ, Reports, 1950, S. 143.

  50. Ebenda S. 138.

  51. 1966 war die Stimmenzahl gleich; der Präsident machte von seinem Recht Gebrauch, bei Stimmen-gleichheit den Ausschlag zu geben.

  52. JCJ, Reports, 1950, S. 144. Siehe auch Dr. E. Van Raalte, An important but disappointing inter-judgment. International Spectator, No. 17/ngttonal

  53. Resolutions adopted by the Gen. Ass. during the 2nd part of its first Session from 23. Oct. to 15. Dec. 1946, S. 112, sowie „Official Records of the 2nd Session of the Gen. Ass. Resolution, 16. Sept. — 29. Sept. 1947, S. 47.

  54. Cmd 7022/1947.

  55. JCJ, Reports 1963, S. 7.

  56. A. Coret, La Declaration de l'Assemblee Generale de l’ONU sur l'Octroi de l'Independance aux pays et aux peuples Colonaux, Revue Juridique et Politique d’Outre-Mer No. 4/1961, S. 595; sowie A. Bozovic, United Nations and the decolonization Process, International Problems (Yugoslavia), No. 2/1963, S. 53.

  57. C. Eagleton, International Government, New York 1948, S. 341.

  58. H. Kelsen, The Law of the United Nations, London 1950, S. 533.

  59. S. A. Frazao, International Responsibility for non-self-governing Peoples, Annals of the Academy of Political and Social Sciences, November 1954, S. 60.

  60. Antoniewicz, a. a. O., S. 19.

  61. Doc. A/C 4/385.

  62. Djermakoye, a. a. O., S. 41.

  63. Resolutions adopted by the Gen. Ass. at its 8th Session during the period from 15. Sept, to 9 Dec. 1953, S. 21.

  64. Annual Report of the Seer. Gen. on the Work of the Organization, 16 June 1966— 15 June 1967, Doc. A/6701, S. 66.

  65. L. Radovanovic, The Problem of „Micro-States", Review of Int. Affairs No 467/1969, S. 11.

  66. G. Ass. Res. 2064 (XX).

  67. Radovanovic, a. a. O., S. 12.

  68. UN Monthly Chronicle No. 8/1969, S. 95.

  69. UN Monthly Chronicle No. 1/1970, S. 113.

  70. Vgl. Mansur, a. a. O., S. 111 und 132.

Weitere Inhalte

Marion Mushkat, P. S. D., LL. D., geboren am 5. 11. 1915 in Polen, Professor für Internationales Recht an der Tel Aviv University. Veröffentlichungen u. a.: Der Nürnberger Prozeß, Jerusalem 1951, International Cooperation, Tel Aviv 1967, Theory and Practice of International Relations, Tel Aviv 1967.