Vorabdruck eines Beitrages, der zusammen mit Aufsätzen von Helga Grebing, Christian Graf von Krockow und Johann Baptist Müller unter dem lltel »Konservatismus — eine deutsche Bilanz" im Herbst dieses Jahres als Band der . Serie Piper’ erscheinen wird.
Eine Darstellung konservativen Denkens begegnet Schwierigkeiten besonderer Art. Gibt es bei Liberalen über die Formulierung liberaler Grundsätze nicht notwendig Differenzen, so besteht gerade in der Formulierung konservativen Denkens, seiner Ziele, Forderungen, Werte und Positionen, zwischen den Konservativen und ihren Gegnern meist Uneinigkeit. Und nicht nur das: selten findet man unter Konservativen verschiedener Zeiten oder aus derselben Epoche Einigkeit über das, was für wahrhaft konservativ gelten soll. Mit einfachen Definitionen jedenfalls ist dem Konservatismus nicht beizukommen. Erlauben Liberalismus und Sozialismus gewisse generelle Definitionsmerkmale, die unbeschadet nationaler Eigenentwicklung für Struktur und Ziele dieser politischen Bewegungen gelten, so ist der Konservatismus, weil er sich aus der geschichtlichen Herkunft versteht, in verschiedenen Ländern und in verschiedenen historischen Epochen notwendig verschieden.
Die einfachste Definition lebt aus dem Gegensatz von Fortschritt und Beharrung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts unterscheidet Joseph Görres in seiner Schrift . Teutschland und die Revolution'zwei Hauptparteien, von denen die eine, „die sogenannte Historische erkannte, daß ehemals ein besserer Zustand Teutschlands in der Wirklichkeit bestanden, wo es in sich geeint unter einem Schirmvogte, und wieder getheilt in Glieder und Gliedes-glieder, Landschaften, Stände und blühende Körperschaften in sich gesichert, frey, kräftig und reich in eigenthümlicher Sitte und Einrichtung auf sich selber ruhte, von außen geehrt, geachtet, gefürchtet und gebiethend, und leicht abwehrend jede fremde Gewalt, die sich an ihm versuchte“
Nun besteht zwischen dem konservativen Selbstverständnis und dem liberalen noch ein formaler Unterschied: die liberale Position ist die des Angriffs, die Position des Konservatismus die der Verteidigung. Die neuen politischen Ideen des Liberalismus, auch des Sozialismus, der gewisse Prinzipien des Liberalismus nur radikalisiert, wollen die alte Welt umstürzen oder doch in entscheidenden Strukturen verändern. Der Konservatismus, indem er sich gegen den Gedanken einer prinzipiellen Veränderung geistiger, religiöser, sozialer oder wirtschaftlicher Strukturen wendet, bezieht sich in seinem Gegenschlag auf Werte und Strukturen der Vergangenheit, denen er ihren hohen Rang deshalb zuweist, weil die Gegenwart aus dieser Vergangenheit als Herkunft lebt und ohne sie nicht zu verstehen ist. In diesem Sinne verteidigt der Konservative auch das Bestehende als das aus der Herkunft überkommende gegenüber den Projekten der politischen Rationalisten. Dieser strukturelle Unterschied: die Verteidigung bereits gelebter und erfahrener Geschichte gegenüber noch nicht gelebten und erfahrenen zukünftigen Vorstellungen vom richtigen Leben, der richtigen Gesellschaft, ist ein wesentlicher Zug der konservativen Ideologie.
I. Irrationaler Rationalismus
Der Konservatismus hat sich stets als Gegner des Rationalismus verstanden, und wenn immer es eine Definition gibt, über die wenig Streit sein kann, so ist es diese Gegnerschaft. Der Konservatismus fußt seinem eigenen Selbstverständnis zufolge im Unterschied zum Rationalismus auf Anschauung und Erfahrung, nicht auf Spekulation und Theorie. Sein Wissen ist ein . instinktives Wissen', ein . natürliches Denken', in welchem sich die ursprüngliche Lebendigkeit des menschlichen Daseins selbst ausspricht. Die Folge dieses irrationalen Selbstverständnisses ist, daß jeder über diese Antirationalität des Konservatismus hinausgehende Definitionsversuch an eben diesem Selbstverständnis scheitern muß. Der unmittelbare Erlebniskern des konservativen Denkens sei rational begrifflich überhaupt nicht faßbar, meint der Konservative. Jede rational-begriffliche Darstellung des Konservatismus stehe deshalb in Gefahr, der progressistischen Ideologie eine konservative entgegenzusetzen.
Alle konservativen Schriften atmen den Geist des Rationalismus, den sie bekämpfen. Das Gesetz der Reflexion wirkt von Anbeginn und bestimmt die gesamte Geschichte dieses imponierenden Versuches, eine irrationale Theorie zustande zu bringen. Die konservative Theorie zeigt somit eine ganz besondere Dialektik: die Dialektik der Aneignung des Fremden als des eigenen Wesens, und der Katalog sogenannter konservativer Inhalte ist deshalb ebenso zahlreich wie die Angriffspunkte des aufklärerischen Rationalismus. Bildet der Zweifel das moderne Erkenntnisprinzip rationaler Wissenschaft, so beruft sich der Konservatismus auf das Vertrauen, sei es in göttliche Offenbarung, sei es in ontologische Vor-gegebenheiten der Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Wesens. Versucht der Rationalist, im Wege kritischer Analyse Natur und Gesellschaft im Experiment herzustellen und solchermaßen ihre Gesetze aufzuspüren, so beruft sich der Konservative auf überliefertes Wissen, die Weisheit der Alten, die alte Ständeordung als die Garanten einer menschlichen Weltordnung. Setzt der rationalistische Moralist seine Hoffnung in den Fortschritt zu einer humanen und vernünftigen Gesellschaftsordnung, so warnt der Konservative vor solchen, wie er meint, utopischen Entwürfen und hält sich gern an das überkommene als das Sichere. Verspricht sich schließlich der rationalistische Politiker von einer Revolution die Totalveränderung sozioökonomischer Verhältnisse zum Besseren oder gar endgültig Guten, so beruft sich der Konservative auf die verpflichtende Kraft gesellschaftlicher Tradition, auf den für ihn allein gültigen Maßstab des Herkommens, des alten Wahren, das er festhalten möchte, zusammen mit dem Glauben der Väter, ihren Sitten und Ordnungen.
II. Historische Positionen
Seine erste Position fand der deutsche Konservatismus in der Negation des absolutistischen Rationalismus. Justus Möser wandte sich gegen den Mechanismus der Bürokratie, wenn er seine berühmten Sätze gegen die Herrn beim Generaldepartment schrieb: „Die Herrn beim Generaldepartment möchten gern Alles, wie es scheinet, auf einfache Grundsätze zurückgeführet sehen. Wenn es nach ihrem Wunsche ginge, so sollte der Staat sich nach einer academischen Theorie regieren lassen, und jeder Departementrath im Stande sein, nach einem allgemeinen Plan den Localbeamten ihre Ausrichtungen vorschreiben zu können ... In der That aber entfernen wir uns dadurch von dem wahren Plan der Natur, die ihren Reichthum in der Mannigfaltigkeit zeigt, und bahnen den Weg zum Despotismus, der Alles nach wenig Regeln zwingen will, und darüber den Reichthum der Mannigfaltigkeit verlieret."
Es sind im wesentlichen zwei Wege, auf denen der deutsche Konservatismus im Fortgang des 19. Jahrhunderts sich zu behaupten suchte. Beide Vesuche haben im Konservatismus der Weimarer Republik eine Rolle gespielt und sich teilweise verbunden, so daß Hitler am sogenannten „Tag von Potsdam" einen großen Teil der Konservativen zu täuschen vermochte. Es handelt sich einmal um den Historismus und zum anderen um den reaktionären Legitimismus. Beide bilden zugleich wesentliche Elemente des spezifisch deutschen Nationalismus.
Der Historismus verschiebt den politischen Gegenstand und geistigen Inhalt des Konservatismus auf die Ebene der Erinnerung. Der Konservatismus bezieht sich somit nicht mehr auf Gegenwärtiges, sondern gerät in eine politisch unfruchtbare Besinnung auf das, was er in längst entschwundener Zeit als das alte Wahre zu entdecken glaubt. Die Männer des Historismus vertiefen sich mit Liebe und gelehrtem Fleiß in die Welt des Mittelalters und folgen damit dem Ansatz der Romantik. Wie durch die Märchen-, Sagen-und Liedsammlungen eine . Vertiefung des Gemütes'bewirkt wird, so werden auch die auf dem Wege geschichtlicher Forschung gewonnenen politischen Inhalte nur noch im Bewußtsein verarbeitet und im Gedächtnis rein bewahrt, eignen sich aber nicht mehr zur Grundlage politischer Forderungen. Die einzige politische Bedeutung des Historismus liegt in einem selten ausgesprochenen, dafür aber unterschwellig desto nachhaltiger wirkenden Anspruch auf
Stillstand der für verderblich gehaltenen modernen Entwicklung. Diese versteckte Reaktion sollte sich später verhängnisvoll auswirken.
Den genau umgekehrten Weg einer betonten Zuwendung zur Gegenwart beschreitet der Legitimismus. In seiner reaktionären Verteidigung des Bestehenden stützt er sich auf die Trias von Königtum, Beamtentum und Heer und verteidigt damit eine staatliche Wirklichkeit, die Möser noch bekämpft hatte, denn alle drei Elemente sind Produkte des Absolutismus, auch das Königtum, das trotz des konservativen Versuches, ihm eine mittelalterliche Gloriole zu geben, das Königtum des Absolutismus war. Dem liberalen Nationalismus gegenüber, der sich im Fortgang des Jahrhunderts immer mehr vom Imperialismus und von der industriellen Expansion her verstand, brachte der restaurative Konservatismus später mit dieser Trias in der Tat ein inzwischen zur Tradition gewordenes Element staatlichen Lebens zur Geltung. Im Vergleich zu der wachsenden Dynamik der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft nämlich bedeuteten Königtum, Beamtentum und Heer die Stabilität einer Ordnung, die ihren Inhalt allerdings in immer stärkerem Maße von der Nation oder, wie man sagte, vom Reich her bekam. Vorbild dieser staatlichen Ordnung war Preußen. Die nationale Hegemonie Preußens wurde mit Eifer verteidigt, und gegen Ende des Jahrhunderts fällt es immer schwerer, die Konservativ-Nationalen von den National-Liberalen zu unterscheiden. Politisch waren die Konservativen bekanntlich zum Scheitern verdammt. Schließlich wird selbst die ursprünglich konservative Verbindung von Thron und Altar eine ausgesprochen nationalliberale Maxime.
III. Konservative Revolution
In seine eigentliche Krise geriet der Konservatismus jedoch erst nach dem Ersten Weltkrieg. Dieser erste technische und gegen Ende totale Krieg hatte mit einem Schlage deutlich gemacht, daß das Abendland in eine neue Epoche seiner Geschichte eingetreten war. Das Gesicht der Welt hatte sich verändert. Die Gesellschaft war industriell und fungibel geworden. Die in sich gegliederten Stämme Deutschlands, seine Dörfer und Städte verloren in zunehmendem Maße ihre historische Individualität und Kontinuität. Die geistige Welt verwandelte sich in einen Pluralismus gleichzeitig bestehender Kulturen, Religionen und Philosophien. Die Malerei nahm in wachsendem Maße Motive aus anderen Erdteilen auf, die Musik desgleichen, und in der Literatur wuchsen Skepsis und Zynismus. Es schien nichts mehr zu geben, dessen historisches Wachstum man hätte pflegen können, und selbst der historische Weg einer verinnerlichten Aneignung alter Werte schien unter dem Ansturm der Technik verlegt.
Für diese allgemeine Auflösung der alten Welt schien der Liberalismus die volle Verantwortung zu tragen. Da er neben dieser die abendländische Welt im ganzen betreffenden Entwicklung auch noch für die nationalen Unglücksfälle der deutschen Nachkriegszeit verantwortlich gemacht wurde, steigerte sich die Kritik des Konservatismus an der Rationalität in Geist und Wirklichkeit zu extremen Formen. Weil der Konservatismus jedoch gleichzeitig einsehen mußte, daß die Verbindung zu den gesellschaftlichen Zuständen, auf die er sich als die wahren und zu bewahrenden berief, längst abgerissen war, entschloß er sich zu einer Art Verzweiflungstat: er wurde revolutionär. Als revolutionärer Konservatismus machte er den Maßstab seiner Kritik am Rationalismus zum politischen Programm und wurde so, als revolutionäre Gegenideologie zum Liberalismus, selber offen und vor aller Welt zur Ideologie.
Hans Freyer beschreibt diesen Schritt von der kritischen zur revolutionären Haltung, wenn er in seinem damals berühmten Buch . Revolution von rechts'über die Rolle der Konservativen sagt: „Noch vor einem Menschenalter waren solche Menschen auf isolierte Existenz, auf ein heimliches Verstehen untereinander und auf das ehrenvolle aber negative Werk der Kulturkritik angewiesen. Heute sind sie der Typus, der gilt, und die Zukunft des Ganzen."
Im Unterschied zu konservativen Bewegungen in anderen europäischen Ländern hat der deutsche Konservatismus stets ein gespanntes Verhältnis zur historischen Kontinuität gehabt. Die englischen und französischen Konservativen pflegten der vorwärts-schreitenden Zeit gemäßigten Schrittes zu folgen und die gerade vergehende oder vergangene Epoche als Verpflichtung für die Gegenwart zu empfinden. Es gab diese Tendenz für kurze Zeit auch im deutschen Konservatismus, etwa, wenn sich der Legitimismus auf die absolutistische Staatsstruktur berief, die Möser noch als rationalistisch bekämpft hatte. Aber der stark völkische Charakter hat den deutschen Konservatismus eine sinnvolle Kontinuität zu Epochen und Gesellschaftsformen, die zu erhalten gewesen wären, nicht mehr sehen lassen. Je weiter der deutsche Konservatismus selbst in der Geschichte voranschritt, desto ferner gelegene Maßtstäbe und Idole wählte er sich für sein goldenes Zeitalter. Novalis berief sich bereits auf das Mittelalter. Im 20. Jahrhundert ging* man noch weiter zurück, zu Karl dem Großen, zur Völkerwanderungszeit, bis die Nationalsozialisten in Verfolgung dieser Linie schließlich in der germanischen Frühzeit angelangt waren. Dieser paradoxe Rückgriff auf immer entfernter liegende Zeiten findet sich in keinem anderen europäischen Konservatismus. Kein anderer Konservatismus ist deshalb in den dreißiger Jahren in ein Dilemma geraten, das dem des deutschen Konservatismus vergleichbar wäre. Zwar haben auch andere faschistische Bewegungen Europas, der italienische Faschismus und die Action franaise, in dem Maße Verbindungen zu konservativen Bewegungen gehabt, in dem der Konservatismus wie der Faschismus vornehmlich an einer integralen Gesellschaft interessiert sind und sich deshalb im Kampf gegen den Liberalismus verbinden können. Aber keine der genannten Bewegungen hat sich von Tradition und Geschichte soweit entfernt wie der deutsche Konservatismus der dreißiger Jahre. Weder die Action franaise noch das Vichy-Regime noch der Algerienkrieg hat die französische Rechte in einen vergleichbaren moralischen und politischen Mißkredit bringen können
Ein Kernbegriff der Konservativen Revolution ist der Begriff des Volkes. Im Gegensatz zum liberalen parlamentarischen Staat, der dem Individuum und seinem persönlichen Glücksstreben dient, soll das Volk als die Summe der geschichtlichen und blutmäßigen Kräfte die Einheit des politischen Willens repräsentieren und den einzelnen in den Dienst dieses Gemeinwillens stellen. Im Volk sollen alle jetzt noch heterogenen, einander bekämpfenden Gruppen ihren organischen Ort erhalten. Im völkischen Staat soll Autorität wieder wachsen, Verantwortung wieder geübt werden. Vor allem soll dieser Staat ein deutscher Staat sein und nicht ein allgemeiner, westlicher, auf rationale Prinzipien gebauter Staat liberalen Konzeptes, und der Volksgedanke soll die Tradition in einem substantiellen Sinn garantieren. Volk ist für den Konservativen nicht Zielgemeinschaft, sondern Herkunftsgemeinschaft. Schon Adam Müller hatte in scharfer Antithese gegen das liberal-demokratische Volksverständnis geschrieben: ..... ein Volk ist die erhabene Gemeinschaft einer langen Reihe von vergangenen, jetzt lebenden und noch kommenden Geschlechtern, die alle in einem großen innigen Verbände zu Leben und Tod Zusammenhängen, von denen jedes einzelne, und in jedem einzelnen Geschlechte wieder jedes einzelne menschliche Individuum, den gemeinsamen Bund verbürgt, und mit seiner gesamten Existenz wieder von ihm verbürgt wird ..."
IV. Konservatismus und Nationalsozialismus
Die Verehrung alles dessen, was in Wahrheit deutsch ist, reicht von Justus Möser bis in die Gegenwart. Und hier ist denn auch der Ort, an dem die Frage nach einem möglichen Zusammenhang von Konservativer Revolution und Nationalsozialismus zu stellen ist. Eine eindeutige Beziehung zwischen den genannten Bewegungen läßt sich schon deshalb nicht annehmen, weil die Opposition gegen Hitler von Anfang an wesentlich von Männern getragen wurde, die der Konservativen Revolution und der preußischen Adelsschicht angehörten. Einer der Wortführer konservativrevolutionärer Politik, Edgar Julius Jung, wurde im Zusammenhang mit der Röhmaffäre 1934 ermordet. Geht es also nicht an, wie Peter Viereck den Turnvater Jahn als den ersten SA-Mann zu bezeichnen
in der Tat, was er seinem Anspruch nach sein sollte: „die Vermählung ,.. zwischen den Symbolen der alten Größe und der jungen Kraft“
Sieht man auf die Neuordnungsvorstellungen, welche die politische Opposition gegen Hitler in Entwürfen niedergelegt hat
Am stärksten kam die nationalsozialistische Forderung nach neuer staatlicher Autorität dem Neukonservatismus entgegen, einer Autorität, die gegenüber Parteien, Pluralismus und liberaler Demokratie den Sinn für staatliche Ordnung und staatliche Hoheit stärken sollte. Ein einheitlicher Staatswille sollte die deutsche Nation wieder zur Einheit zusammenschmelzen, über das Medium völkischer Homogenität.
War man sich über den Volksbegriff weithin einig, so gab es entscheidende Differenzen im Blick auf die Rassenlehre, die der Nationalsozialismus aus dem Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts übernommen und in schlimm popularisierter Form sich zu eigen gemacht hatte. Der Antisemitismus der konservativen .. evolutionäre war niu von der brutalen, a. Ausrottung sinnenden Art, wie Hitler ihn in „Mein Kampf" schon früh proklamiert hatte, Allerdings rechnete auch keiner der konservativen Revolutionäre damit, daß Hitler im Ernst Millionen Juden liquidieren würde. Dennoch war Gleichartigkeit ein politischer Begriff, mit dem man aller Orten versuchte, aus der nationalen Not des deutschen Staates eine politische Tugend des deutschen Volkes zu machen. Carl Schmitt gewann seinen Begriff des existentiellen Feindes nach Maßgabe des Eigenen als des Gleichgearteten, und das hieß bei ihm ab 1933 des Artgleichen
Einig sind sich Konservative Revolution und Nationalsozialismus in einem Kulturpessimismus, der überall in Europa das Entstehen faschistischer Strömungen begünstigt hat
Zeigen sich somit in ideologischer Hinsicht eine ganze Reihe von Parallelen, so bleibt immer noch die Frage, ob Hitler dem deutschen Konservatismus seinen Aufstieg praktisch verdankte oder nicht. Diese Frage ist mit Ja zu beantworten. Martin Broszat hat deutlich gezeigt, daß Erfolg oder Mißerfolg der NSDAP wesentlich davon abhing, ob die politischen Kräfte der bürgerlichen Mitte und der konservativen Rechten bereit waren, mit ihr zu paktieren
Am Juli-Putsch gegen Hitler haben eine ganze Reihe konservativer Militärs und Politiker teilgenommen. Stark war hier das preußische Element des alten Konservatismus vertreten. Gerade im Blick auf diese konservativen Kräfte des Widerstandes gegen Hitler scheint mir das Urteil Broszats richtig, der den konservativen Widerstand gegen Hitler moralisch anerkennt, aber hinzufügt, politisch sei er kaum weniger ratlos gewesen als die konservativen Partner Hitlers im Jahre 1933
V. Positionen nach dem Zweiten Weltkrieg
Nadi dem Kriege hatte man zunächst den Eindruck, konservatives Denken und konservative Politik seien in Deutschland nicht mehr gefragt. Als Eugen Gerstenmaier in den fünfziger Jahren auf einem Parteitag die CDU eine konservative Partei nannte, erfuhr er deutlichen Widerspruch
Es schien also, als ob mit der Konservativen Revolution die Geschichte des Konservatismus in Deutschland beendet sei. Nun hat aber die Vorstellung, die gegenwärtige Zeit erlaube die Rede vom Konservieren nicht mehr, die Geschichte des Konservatismus stets begleitet. Und so gingen konservatives Denken und konservative Politik auch in Deutschland weiter ihren Weg. Es dauerte nicht lange, bis sensible Geister sich über den restaurativen Charakter der Epoche Gedanken machten. So jedenfalls drückte sich Walter Dirks in einem Aufsatz aus, der 1950 in den Frankfurter Heften erschien und seither als ein Zeitdokument ersten Ranges immer wieder zitiert wird
Der entscheidende restaurative Akt geschah nach dem Urteil von Walter Dirks mit der Währungsreform. Die folgenden Sätze bekamen mit jedem Jahr größere Bedeutung und würden von Dirks vermutlich heute auch noch geschrieben werden können: „Jetzt sind wir bereits wieder soweit, daß eine bestimmte Schicht von Industriellen nicht nur die Stahl-produktion sich erhöhen, sondern dahinter auch die Macht zurückkehren sieht. Zu ihrem restaurativen Geist gehört jener Schuß Angst um die neuen Konjunkturgewinne, der sie nach parteipolitischen Rückversicherungen Ausschau halten und mannigfache Deckungen im internationalen Gefüge der Restauration suchen läßt.“
Für manche war der Konservatismus allerdings schon deshalb an sein Ende gekommen, weil eine allgemeine Entideologisierung nach dem Zweiten Weltkrieg eingetreten sei. Der Begriff konservativ, schrieb Siegfried Landshut, tauge zur Kennzeichnung von gegenwärtigen Erscheinungen nicht mehr
Nun benutzen Konservative die Entideologisierungsthese gern, weil sie ihnen erlaubt, der für sie immer unangenehmer werdenden Frage auszuweichen, was denn unter konservativ zu verstehen sei. Ein gewisses Recht allerdings kann man etwa Hans Mühlenfeld nicht absprechen, wenn er in seinem Buch „Politik ohne Wunschbilder" (1952) zeigt, daß im Neoliberalismus sich heute Elemente konservativen Denkens finden. Sowohl bei Röpke wie Rüstow, auch bei Hajek und Böhm findet sich eine kritische Einstellung zum zivilisatorischen Fortschritt. Man folgt zwar dem liberalen Konzept, soweit es sich auf die Wettbewerbsordnung bezieht, verteidigt auch die Notwendigkeit eines wachsenden Sozialproduktes. Trotzdem schlug Alexander Rüstow, der sich der Jugendbewegung zeitlebens verbunden wußte, einmal allen Ernstes vor
Noch ein anderes Argument wurde in den fünfziger Jahren gegen die Vorstellung einer
Wiederbelebung konservativen Denkens geltend gemacht: Die Idee einer Weltgesellschaft und einer Weltethik mache den konservativen Rekurs auf nationale Herkunft unmöglich. Gegenüber dieser Vorstellung entwickelte sich bei einigen deutschen Konservativen die Vorstellung von einer europäischen Politik, die an die Stelle früherer nationaler Politik treten müsse. Europa wurde überhaupt in konservativen Kreisen zu einer Art Ersatz für Nation, Volk oder Reich
Schon in den fünfziger Jahren erschienen Schriften, die eine „Konservative Erneuerung"
VI. Der technokratische Konservatismus
Es ist die Frage, ob diese Charakteristik wirklich so absurd ist, wie sie klingt. Die jüngste Entwicklung des Konservatismus in Deutschland scheint dem neuen Selbstverständnis Recht zu geben. Für die folgenden Überlegungen stütze ich mich vornehmlich auf den Anthropologen Arnold Gehlen, den Soziologen Helmut Schelsky, den Staatsrechtler Ernst Forsthoff und die Publizisten Rüdiger Alt-mann und Armin Mohler, alles konservative Theoretiker, die in einem gewissen Verbund eine Theorie entwickelt haben, die verschiedene Namen trägt, aber dasselbe meint: die Bundesrepublik sei in ein neues Stadium der Stabilisierung, der Kristallisation, der institutioneilen Verfestigung eingetreten, und zwar durch das, was man heute . Technokratie'nennt.
In seiner Institutionenlehre
Und so meint Gehlen, daß sich heute bereits gewisse Stabilisierungen feststellen lassen. Die Ursachen dafür sind verschieden. Zum einen sei es außerordentlich unwahrscheinlich, daß noch prinzipiell neue Ideologien auf den Plan treten werden. Gehlen wagt somit die Voraussage, daß „die Ideengeschichte abgeschlossen ist, und daß wir im Post-histoire angekommen sind, so daß der Rat, den Gottfried Benn dem einzelnen gab, nämlich . Rechne mit deinen Beständen', nunmehr der Menschheit als ganzer zu erteilen ist“
Ähnlich wie Gehlen, der für diesen Zustand neuerlicher institutioneller Verfestigung den Begriff „Kristallisation" gebraucht, versteht Rüdiger Altmann mit dem von ihm geprägten Begriff der „Formierten Gesellschaft"
Uber die Entideologisierung und den Abbau von gesellschaftlichen Konflikten hinaus sieht* der deutsche Konservatismus gegenwärtig Stabilisierungen, Formierungen, Kristallisationen auf Grund von Faktoren entstehen, für die man das Wort „Sachzwang" gefunden hat. Dieser Begriff steht in deutlicher ideologischer Verbindung zu dem, was bei Gehlen „Selbstwert im Dasein" oder „Eigengesetzlichkeit'heißt. Diese Sachzwänge sind politischer, ökonomischer und technischer Natur. Ernst Forsthoff hat seit seiner vielbeachteten Schrift „Die Verwaltung als Leistungsträger" (1938) den wachsenden Bereich staatlicher Daseinsvorsorge immer neu beschrieben. Der wachsenden Allmacht des Staates, aber auch gesellschaftlicher Gruppen entspreche eine zunehmende In-kompetenz der Bürger, über ihr politisches Schicksal zu entscheiden. Die Staatsbürger verhalten sich nach Meinung Forsthoffs darin systemgerecht, daß sie sich auf die Ausübung des Wahlrechts als der fast einzigen Art staatsbürgerlich zulässiger Aktivität beschränken
Rüdiger Altmann betont wie alle Konservativen die Notwendigkeit staatlicher Autorität und gibt innerhalb der politisch-sozialen Stabilisierung dem Bereich der Wirtschaft besonderes Gewicht. Hier wird die ideologische Abhängigkeit des modernen Konservatismus vom kapitalistischen Wirtschaftssystem besonders augenfällig. Altmann sieht im wesentlichen zwei große Aufgaben, denen Gesellschaft und Regierung gewachsen sein müssen: die Garantie der wirtschaftlichen Entwicklung und die Verteilung des Sozialproduktes
Inzwischen haben konservative Theoretiker eine Theorie des technischen Staates entwickelt
Jürgen Habermas hat in seiner Kritik des technokratischen Modells gezeigt, daß hinter den Theorien einer optimalen Verbindung von Technik und Politik die voraussetzungsvolle Unterstellung steckt, es gebe ein Kontinuum der Rationalität in der Behandlung technischer und politischer Fragen
Der technische Staat bewirkt eine Entpolitisierung des Bürgers, der die Sachverhalte, die es zu entscheiden gilt, nicht mehr beurteilen kann. Diese Entpolitisierung wird von den Konservativen begrüßt. Das deutlichste Dokument für diesen Umschwung konservativen Denkens von einer der Technik gegenüber kritischen Einstellung zu einer vollen Bejahung der Industriekultur ist eine Schrift von Armin Mohler mit dem Titel „Konservativ 1969"
Mohler gibt zunächst zu, daß die Konservativen heute in eine Sackgasse geraten sind, weil sie mit dem Phänomen der industriellen Gesellschaft nicht fertig wurden. Er verweist auf die durchgängig kulturkritische Stimmung, die bei Konservativen heute immer noch anzutreffen ist, meint aber, es sei falsch, Modelle aus verflossenen Gesellschaftszuständen zu holen in der Annahme, nur dort habe es klare Hierarchien und Strukturen gegeben. Dagegen stellt er fest, daß die gesellschaftspolitischen Rollen zwischen rechts und links heute vertauscht sind: „Die Linke hat so mit den Konservativen die Rollen getauscht. Sie, die sich so lange im avantgardistischen Glanze sonnte, hat nun die Rolle der Maschinenstürmer und damit der . Nachzügler der Weltge-schichte’ übernommen. Die Konservativen aber hat ihr Widerstand gegen mutwilliges Zerstören unversehens auf die Seite der Industriegesellschaft gedrängt, der sie so lange mißtrauisch gegenübergestanden waren. Die Bedeutung dieses Vorganges ist noch gar nicht ins allgemeine Bewußtsein gerückt, und nicht einmal in das der Konservativen selbst."
Nun liegt in dieser Situation, wie Mohler selbst sieht, ein Dilemma, denn natürlich fällt es dem Konservativen schwer, sich mit Haut und Haaren der Technik und der Industriegesellschaft auszuliefern, um sie zugunsten einer neuen Ordnung in Dienst zu nehmen. Aber gerade hier ist Mohler eindeutig, wenn er schreibt: „Es wirkt peinlich, wenn man auf Konservative stößt, die heute noch mit Mösers Vokabular oder dem des Herrenklubs, dem von Rerum novarum um sich werfen. Selbst die Worte eines Burke, so richtig sie damals waren, werden in der heutigen, so veränderten Situation zu Geschwätz.“
Indem Mohler die sozioökonomischen und technischen Strukturen des gegenwärtigen Systems in den Rang einer zweiten Natur erhebt, er den in herrschenden über diesen Strukturen Sachzwang die alten konservativen Tugenden des Dienstes und der Unterordnung wieder einführen. Der Dualismus zwischen Wissenden und Unwissenden wird identisch mit der Unterscheidung zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen. Das aber ist nichts anderes als die wahrhafte Durchführung der Konservativen Revolution, deren Maxime, Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt