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Das chinesisch-albanische Bild von den „häßlichen Sowjets". Chinesische Analysen über die „bourgeoise Konterrevolution" in Moskau | APuZ 29/1971 | bpb.de

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Das chinesisch-albanische Bild von den „häßlichen Sowjets". Chinesische Analysen über die „bourgeoise Konterrevolution" in Moskau

Horst Friedrich

/ 18 Minuten zu lesen

Wenn die Chinesen und ihre Gefolgsleute, vor allem die Albaner, heute die Sowjets als Verräter an der kommunistischen Lehre einstufen, so steht dahinter mehr als nur eine verbale und isolierte Verunglimpfung. Wie es im kommunistischen Leben üblich ist, gehört ideologische Weitschweifigkeit auch zur Begründung simpelster Feststellungen. So haben die Chinesen inzwischen ein ganzes Gedan-kensystem aufgebaut, um den sowjetischen Verrat an der Lehre umfassend einzuordnen und die einzelnen Züge zu klassifizieren. Dabei steht der das östliche Denken bestimmende Grundzug Pate, daß alles Geschehen nach „wissenschaftlichen Grundlagen" erforschbar ist und sich entsprechend voraussehen läßt. Der chinesische Gedankenüberbau hinsichtlich der gegenwärtigen und künftigen sowjetischen Entwicklung bringt mancherlei Absonderlichkeiten zutage, schärft andererseits aber auch stellenweise den Blick für echte innere Zusammenhänge der kommunistischen Wirklichkeit von heute.

Drei Veröffentlichungen des chinesischen Lagers vor allem sind es, die das Gerüst des Systems erkennen lassen, nach dem die heutige Moskauer Führung vom hohen Richterstuhl der „echten" Lehre aus verurteilt wird. Den ersten ausführlichen Text für diesen Zusammenhang legten die Chinesen in einer zweifellos als amtlich zu betrachtenden Proklamation zum 100. Geburtstag Lenins vor. Die gesamte chinesische Publizistik übernahm die Veröffentlichung, die zugleich in Jen Min Jih Pao (Pekinger Volkszeitung), Hung Chi („Rote Fahne") und in der Zeitung der Volks-befreiungsarmee Chieh Fang Chün Pao erschien Zum 100. Jahrestag der Pariser Kommune erschien ein weiterer Beitrag, der ebenfalls von den Redaktionsabteilungen der gleichen drei chinesischen Blätter verfaßt wurde und der das gleiche Thema mit leichten Variationen abhandelte Ein Artikel des albanischen Parteiblattes Zeri i Popullit, der gezielt während des XXIV. Parteitages der KPdSU veröffentlicht wurde, verdient in diesem Zusammenhang ebenfalls Erwähnung, weil er einige zusätzliche Aspekte zur ideologischen Konzeption der Chinesen liefert Die Auswahl dieser Quellen ist natürlich beschränkt, liefert aber dennoch ein umfassendes Bild dessen, worum es den nach China orientierten Gegnern des Sowjetsystems heute geht, Ausgangspunkt der langatmig entwickelten Überlegungen ist die in allen Konsequenzen vertretene und mit vielen Nuancen ausgeschmückte Version, Moskaus revisionistische Führung habe unter Verrat der militant-revolutionären Grundposition des Kommunismus einen Umschwung in Richtung eines bourgeoisrevisionistischen Kurses mit dem Endziel der Wiedererrichtung des Kapitalismus herbeigeführt. In gängige Schlagworte zusammengefaßt lautet die Anklage, es sei eine bürgerliche Konterrevolution gegen die ursprüngliche kommunistische Revolution unter Lenin durchgeführt worden.

Kampf gegen Moskau nach den Gesetzen der Kulturrevolution Die Tatsache, daß man in Peking gerade diese Anklage an die Adresse der heutigen Kreml-Führung richtet, verdeutlicht die Ernsthaftigkeit und die Schwere der Entscheidung gegen Moskaus System. Denn nach den Texten ist die Konterrevolution in der Sowjetunion «das Ergebnis der Usurpation der Parteiführungund Regierung durch eine Handvoll mächtiger Parteileute, die dort den kapitalistischen Weg beschritten haben ...." Hier ist daran zu erinnern, daß die Kulturrevolution in China in ihrem Verlauf immer eindeutiger motiviert wurde als Kampf zur Vernichtung „einer Handvoll mächtiger Parteileute, die den kapitalistischen Weg beschritten haben". Mit anderen Worten, alles was man gegen den Staatspräsidenten Liu Schao-tschi vorbrachte, wird genauso der heutigen sowjetischen Führung angelastet. Wenn man im eigenen Lande wegen solcher „Fehler" die Kulturrevolution entfesselte, so läßt sich aus diesem Sachverhalt ablesen, wie schwerwiegend man den Bannstrahl gegen den Kreml einschätzt. Bekanntlich sollte ja die Kulturrevolution dem Zweck dienen, eine angeblich durch den Rückfall in bourgeoise, kapitalistische Tendenzen bestimmte Entwicklung der Partei aufzuhalten durch die Wiederinstallierung rein revolutionärer Impulse als Grundlage allen kommunistischen Verhaltens. Was man also in China in jahrelangen inneren Auseinandersetzungen zerschlagen wollte, das soll heute nach Pekings Meinung in der Sowjetunion beherrschend im Vordergrund stehen.

Prägnanter als durch diese Kontra-Stellung läßt sich die chinesische Unversöhnlichkeit gegen das heutige Sowjetsystem nicht mehr charakterisieren. Aus chinesischer Sicht gibt es keinerlei Verbindung mehr zwischen dem chinesischen und dem sowjetischen System. Die „Renegaten Breschnew und Konsorten" werden bezichtigt, „ihren revolutionären Quatsch" als Leninismus auszugeben. „Sie geben vor, Lenin zu . ehren', in Wirklichkeit jedoch bedienen sie sich des Namens Lenin, um ihren Sozialimperialismus und Sozialfaschismus und Sozialmilitarismus voranzutreiben. Was für eine unverschämte Beleidigung für Lenin!"

Marxismus-Leninismus gleich Maoismus Die gängige Anwendung der Formel vom „Sozialimperialismus und Sozialfaschismus" auf die Sowjetunion dokumentiert, daß man Moskau heute bereits als außerhalb des kommunistischen Lagers stehend betrachtet. Die Konsequenz aus dieser Feststellung ist, daß man in Moskau und Peking von völlig unterschiedlichen Einschätzungen hinsichtlich der Mächte-gruppen in der Welt ausgeht. Während Moskau die Abtrünnigkeit der Chinesen noch für überbrückbar hält, das sozialistische Lager als Einheit betrachtet, in der der Internationalismus der Bewegung durch eine mögliche Korrektur bei den chinesischen Abweichlern noch wiederherzustellen wäre, zieht Peking einen definitiven Trennungsstrich. Moskau hält also an seiner These fest, daß zwei Weltsysteme, der Kapitalismus und der Kommunismus, den Vordergrund der Weltauseinandersetzung beherrschen. China dagegen spricht von drei unterschiedlichen und deutlich gegeneinander abgegrenzten Kräften im globalen Geschehen, vom kapitalistischen Imperialismus (also vom Westen), vom Sozialimperialismus (die Sowjetunion und ihr Satellitenbereich) und vom Kommunismus, der allein von Peking fortgesetzt und repräsentiert wird. Danach gelten die Sowjets in der chinesischen Einschätzung nicht mehr nur als Abtrünnige des Leninismus, sondern vielmehr als Außenstehende mit zwar eigener, aber nicht mehr kommunistischer Prägung.

Aus dieser Situation ergibt sich, daß sowohl die Sowjets als auch die Chinesen mit einem Vorranganspruch im kommunistischen Lager auftreten —Moskau als Ursprungsort der kommunistischen Bewegung, Peking in der Selbstgewißheit, allein den „echten" Kommunismus zu vertreten. Denn nach Pekinger Version kann heute Marxismus-Leninismus nur noch Maoismus bedeuten: „Eine neue historische Periode des Kampfes gegen den US-Imperialismus und den sowjetischen Imperialismus hat begonnen. Dem Imperialismus und dem Sozial-imperialismus läutet die Totenglocke. Der unbesiegbare Marxismus-Leninismus und die Lehren Mao Tse-tungs sind die mächtigen Waffen des Proletariats. ... Integriert in die revolutionären Massen der Hunderte von Millionen und in die konkrete Praxis der Volks-revolution in allen Ländern werden der Marxismus-Leninismus und die Lehre Mao Tsetungs mit Gewißheit eine unerschöpfliche revolutionäre Kraft hervorbringen, um die ganze Welt zu zerschmettern und in Fetzen zu schlagen! Lang lebe der große Marxismus! Lang lebe der große Leninismus! Lang lebe die große Lehre Mao Tse-tungs!"

Ausgleich auf dem Gebiet zwischenstaatlicher Beziehungen Nun bedeutet das demonstrative Hinwerfen des Fehdehandschuhs durch die Chinesen auf ideologischem Gebiet aber gegenüber den Sowjets durchaus nicht den absoluten Bruch in allen Bereichen. Denn während man von Peking aus zum XXIV. Parteitag der KPdSU noch einmal gezielt die Unversöhnlichkeit der ideologischen Position gegenüber den Kreml-Gewaltigen dokumentieren wollte, gab man sich alle Mühe, daneben — sozusagen zum Ausgleich — das Interesse an der Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen zu bekunden. Am 17. März 1971 war der Artikel zum 100. Jahrestag der Pariser Kommune erschienen, am 21. März, also nur vier Tage später, rückte man durch eine Geste Tschou En-lais das Bemühen um Konsolidierung der Beziehungen auf Staatsebene fast überdeutlich ins Rampenlicht. Der chinesische Ministerpräsident erörterte mit dem Sowjetbotschafter in Peking, Wassili Tolstikow, und mit dem Chef der sowjetischen Delegation bei den Grenzgesprächen, Leonid Iljitschow, unter Teilnahme des chinesischen Verhandlungsführers Tschiao Kuan-hua „beiderseits interessierende Fragen". Das heißt, dem Affront und der Provokation auf ideologischem Gebiet folgte zum Zeichen, daß dessenungeachtet alles beim alten bleiben sollte, eine betonte Freundlichkeit auf dem Gebiet der zwischenstaatlichen Beziehungen.

Die Chinesen legten Wert darauf zu bekunden, daß die Serie der Fühlungnahmen auf außen-politischem Gebiet fortgeführt werden soll, wobei einige markante Daten Anzeichen einer ständigen Verbesserung ausweisen. Breschnew nahm auf diese Daten in seiner großen Eröffnungsrede zum XXIV. Parteitag deutlich Bezug. Es begann mit der Begegnung zwischen Tschu En-lai und Kossygin auf dem Pekinger Flughafen am 11. September 1969. Die Folge davon war, daß die damals äußerst gespannten Beziehungen wegen der blutigen Grenzzwischenfälle durch Verhandlungen gelockert wurden, wenngleich in den jetzt bereits eineinhalb Jahre dauernden Besprechungen noch kein konkretes Ergebnis erkennbar wird.

In der zweiten Hälfte 1970 tauschte man wieder gegenseitig Botschafter aus. Im November 1970 wurde in Peking ein Zahlungs-und Handelsabkommen abgeschlossen, nachdem man sich darum während der beiden vorhergehenden Jahre vergebens bemüht hatte. Die Grenzverhandlungen sind inzwischen zu einer Art fester Institution geworden. Ihre Funktion besteht darin, die latent vorhandene Gefahr unvorhersehbarer Konsequenzen zu neutralisieren. Deshalb können die Verhandlungen auch ohne sichtbaren Erfolg andauern, wenn man mit dem einen bisher erzielten Ergebnis zufrieden ist, daß man wenigstens miteinander am Tisch sitzt und nicht gegeneinander kämpft.

Es läßt sich also eine stillschweigende Übereinkunft der beiden kommunistischen Kontrahenten in der Richtung voraussetzen, daß man bei einer deutlichen ideologischen Distanzierung voneinander gleichzeitig die Wiederherstellung normaler zwischenstaatlicher Beziehungen fördern möchte. Läuft das nicht im Grunde auf eine typische Verwirklichung der Gegebenheiten der „friedlichen Koexistenz" zwischen zwei Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung hinaus, wenngleich diese beiden Staaten paradoxerweise Staaten kommunistischer Gesellschaftsordnung sind?

Wenn nun die Sowjets die Konzeption von der Einheit des kommunistischen Weltsystems in der Erwartung beibehalten, Rotchina eines Tages zur Rechtgläubigkeit zurückführen zu können, so bleibt vorläufig die Frage offen, worauf sich derartige Hoffnungen stützen könnten. Sicher spielt hierbei die Berücksichtigung des hohen Lebensalters von Mao Tse-tung eine entscheidende Rolle. Man meint offenbar, in relativer Ruhe abwarten zu können, was die Zeit nach Mao bringt. Ein Artikel der polnischen Wochenzeitung Kultura ist in dieser Hinsicht charakteristisch: „Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß Peking in den nächsten Jahren mit dem großen und schwierigen Problemkonfrontiert wird, eine neue Autoritäthervorzubringen, die ohne Hilfe Mao Tse-tungs die Macht in China übernehmen könnte. Diese Autorität würde wahrscheinlich nach einer gewissen Übergangsperiode auftauchen, während der Staat und die Partei von einem von Mao und Lin Piao ernannten Team geleitet werden würden. Nur dann könnten scheinbar bedeutsamere Änderungen in der von der chinesischen Führung verfolgten Linie, vor allem ein Abgehen von der utopisch-spalterischen Plattform des Vorsitzenden Mao, erwartet werden."

In Moskau glaubt man, daß nach Maos Abtreten die eigene Konzeption von der Einheit des kommunistischen Weltsystems unter Einschluß Rotchinas den Sieg davontragen wird über Chinas heutiges Bemühen, neben Imperialismus und Kommunismus noch eine dritte Kraft zu etablieren, nämlich das Machtgefüge des sowjetischen Sozialimperialismus.

Wie sich die Konterrevolution vollzog Ein kritischer Punkt der chinesischen Argumentation ist die Frage, inwiefern sich denn Beweise dafür erbringen lassen, daß in Ruß-land nach der kommunistischen Revolution fast unbemerkt und unregistriert eine Konterrevolution zur Wiederherstellung kapitalistischer Verhältnisse sich vollzogen haben soll. Die chinesische Erklärung hierzu sucht anzusetzen an der Behauptung, daß auch nach der Machtergreifung des Kommunismus in der Sowjetunion der Klassenkampf noch weitergegangen sei. So habe auch Stalin gegen ein Wiedererstehen der bürgerlichen Kräfte kämpfen müssen: „Stalin hat eine ganze Clique konterrevolutionärer Vertreter der Bourgeoisie, die sich in die Partei eingeschlichen hatten, ausgeräumt — Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Radek, Bucharin, Rykow und andere. Dies zeigte, daß die ganze Zeit über ein scharfer Klassenkampf geführt wurde und daß die Gefahr kapitalistischer Restauration ständig vorhanden war." Die entscheidende Wende in dieser Entwicklung habe sich dann nach dem Tode Stalins vollzogen. Chruschtschow sei die Schlüsselfigur gewesen, die den Weg zum Kapitalismus zurück gebahnt habe: „Da die Sowjetunion der erste Staat der Diktatur des Proletariats war, fehlte ihr die Erfahrung bei der Festigung dieser Diktatur und bei der Verhinderung der Wiederherstellung des Kapitalismus. Unter diesen Umständen kam Chruschtschow nach Stalins Tod in seinem . Geheimbericht'mit einem Überraschungsangriff heraus, durch den er Stalin in übler Weise verleumdete und durch betrügerische Manöver aller Art die Partei und Regierungsgewalt in der Sowjetunion an sich riß. Dies war ein konterrevolutionärer Staatsstreich, der die Diktatur des Proletariats in eine Diktatur der Bourgeoisie verwandelte und durch den der Sozialismus gestürzt und der Kapitalismus wiederhergestellt wurde." Es liegt in der Logik solcher Überlegungen, daß hiernach der abgelaufene XXIV. Parteitag der KPdSU im chinesischen Lager als der V. Parteitag bezeichnet wird, den die , Chru-schtschowisten’ veranstaltet haben, seitdem sie sich der Führung bemächtigten. Da diese These auf den ersten Blick etwas gewaltsam herbeigeholt erscheint, bemüht man sich, zusätzliche Argumente zu liefern, um einen solchen Gang der Dinge glaubhafter präsentieren zu können. Eine sozusagen stille gesellschaftliche Umformung habe sich in der Sowjetunion vollzogen, wobei die Arbeiterklassen aus ihrer führenden und alleinbestimmenden Rolle verdrängt, die Diktatur des Proletariats also zerschlagen wurde, während das Bürgertum unter der Führung der Revisionisten eine neue hierarchische Struktur aufbaute, die Diktatur der Bourgeoisie. Die Sowjets hätten, so lautet die Beweisführung, diesen Wandel verdeckt herbeiführen können durch die Umformung der führenden Arbeiterpartei in eine „Partei des ganzen Volkes": „ Die Partei des ganzen Volkes ist nicht — wie die Revisionisten vorgeben — die . Fortsetzung der kommunistischen artei der Arbeiterklasse'. Sie hat mit der Arbeiterklasse genausowenig gemein wie mit em sowjetischen Volk; eine große Kluft frennt sie. Der neue Name ist eine Fassade, um die Änderung des Parteicharakters zu verbergen. . . . Die Diktatur des Proletariats wurde liquidiert, und ihren Platz nahm die Diktatur der Bourgeoisie ein, verborgen unter der Bezeichnung , der Staat des ganzen Volkes'."

Gegen den „friedlichen Übergang"

Durch die ganze Diskussison zieht sich eine Gegensätzlichkeit, die die Chinesen gegenüber den Sowjets in aller Stärke ausspielen wollen: Der Kommunismus in seiner echten Form sei eine militant-revolutionäre Lebensauffassung, die Entartung in Moskau dagegen billige auch parlamentarische Markteroberung. Selten ist im kommunistischen Machtbereich so deutlich wie in diesem Zusammenhang gesagt worden, daß die Gewalt überhaupt das einzige Mittel darstellt, um kommunistische Lebensformen durchzusetzen. Durch freien Entscheid der Völker ist also nach chinesischer Einsicht der Sieg des Kommunismus nicht zu verwirklichen: „In den letzten Jahrzehnten hatten viele kommunistische Parteien an Wahlen und Parlamenten teilgenommen, aber keine von ihnen hat mit solchen Mitteln eine Diktatur des Proletariats errichtet. Selbst wenn eine kommunistische Partei die Mehrheit im Parlament erlangen oder an der Regierung teilnehmen sollte, würde dies keinen Wandel im Charakter der bürgerlichen politischen Macht bedeuten und schon gar nicht das Zerschlagen der alten Staatsmaschinerie . .. Wenn eine kommunistische Partei keine Massenarbeit leistet, den bewaffneten Kampf ablehnt und die parlamentarischen Wahlen zum Fetisch erhebt, wird sie nur die Massen einlullen und sich selbst korrumpieren. Die Bourgeoisie erkauft sich eine kommunistische Partei durch parlamentarische Wahlen und macht sie zu einer revisionistischen Partei, einer Partei der Bourgeoisie." Chinas Opposition gegen den „friedlichen Übergang" vom Kapitalismus zum Sozialismus, wie ihn die Sowjets seit Chruschtschow als möglich betrachten, basiert auf der Einsicht, daß auf diesem Wege der Kommunismus nie zu einem Erfolg gelangen kann. In einem Prawda-Leitartikel zur Würdigung des 100. Jahrestags der Pariser Kommune wurde dagegen von den Sowjets die wirtschaftliche Einflußnahme als wesentlichster Faktor im Ringen um die kommunistische Expansion genannt: „Die KPdSU geht unverändert von der Leninschen Position aus, daß wir den Haupteinfluß auf die internationale Revolution durch die Wirtschaftspolitik ausüben." Eine solche Beschränkung auf die wirtschaftliche Seite traf sofort auf stärksten chinesischen Widerspruch: „Um die Diktatur des Proletariats zu festigen und die Wiederherstellung des Kapitalismus zu verhindern, muß das Proletariat die sozialistische Revolution nicht nur an der Wirtschaftsfront durchführen, sondern auch an der politischen, ideologischen und kulturellen Front, muß es eine allgemeine Diktatur über die Bourgeoisie im Gesamtaufbau einschließlich aller kulturellen Bereiche ausüben."

So bleibt die Gewalt im chinesischen Denken das eigentliche Mittel zur Erfüllung der „historischen Mission" des Kommunismus, um den alten Staatsapparat zu zerschlagen und die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen.

Die neue Klasse Die Vorwürfe der Chinesen hinsichtlich des gesellschaftlichen Strukturwandels in der UdSSR beginnen damit, daß seit Chruschtschow die kommunistische Führungsschicht sich zu einer Schicht von privilegierten Vertretern der Großbourgeoisie entwickelt habe, die durch Stellung, Rang, Einkommens-sowie Einflußmöglichkeiten die Geschicke der Sowjetunion bestimme, die Staatsmaschinerie beherrsche und den gesamten gesellschaftlichen Besitz kontrolliere. Mit dieser gesellschaftlichen Umschichtung habe sich dann auch eine wirtschaftliche Umorientierung auf den Profit vollzogen, was unter anderem ausgewiesen wird durch die Einführung des Begriffs vom „materiellen Anreiz" in der sowjetischen Volkswirtschaft. Insgesamt verwalte der gegenwärtige Sowjet-staat „als kapitalistisches Kollektiv die Produktionsmittel im Namen und im Interesse der neuen sowjetischen Bourgeoisie"

Der Wandel der gesellschaftlichen Struktur zeige sich vor allem im Aufbau einer sozialen Stufen-und Rangordnung, in der Wiedererrichtung einer bourgeois gesteuerten Hierarchie, womit sich die privilegierte Klasse Möglichkeiten für eine erneute Ausbeutung des Arbeiters zugunsten der eigenen finanziellen Besserstellung im Rahmen der Staats-bürokratie geschaffen habe. Und damit erscheinen, wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen, die alten Probleme der Klassengesellschaft wieder auf der Bildfläche. Hier wird in großer Deutlichkeit das angesprochen, was Milovan Djilas in seinem Buch „Die neue Klasse" als Schlußfolgerung einer Analyse des kommunistischen Systems dargestellt hat, daß nämlich „diese Bürokraten sich unweigerlich zu einer neuen Klasse von Eigentümern und Ausbeutern entwickelten".

Wenn Djilas soweit parallel mit der chinesischen Darstellung über die Zustände in der Sowjetunion von heute argumentiert, so ist doch der Unterschied gegenüber der chinesischen Position insofern unverkennbar, als Djilas diese Entwicklung als notwendige Konsequenz des kommunistischen Systems schlechthin ansieht, sie also nicht auf Moskau beschränkt, sondern alle Staaten einbezieht, in denen der Kommunismus an der Macht ist: „Die Partei macht die Klasse, aber das Ergebnis ist, daß die Klasse wächst und die Partei als Basis benützt. Die Klasse wird stärker, während die Partei schwächer wird; das ist das unausweichliche Schicksal jeder kommunistischen Partei, die an der Macht ist ... Stalin sagte, nachdem der erste Fünfjahresplan abgelaufen war: . Wenn wir nicht den Apparat geschaffen hätten, wären wir verloren gewesen! ’ Er hätte das Wort . Apparat'durch das Wort . neue Klasse’ ersetzen müssen, dann wäre alles viel klarer gewesen."

Der Neokolonialismus Wenn nun die Chinesen in ihrer Doktrin eine gewisse Gleichsetzung von sowjetischen Sozialimperialisten und westlichen Kapitalisten vornehmen, so ist es nur logisch, daß man die gleichen Sünden, die dem kapitalistischen System angekreidet werden, auch den Sowjets zuschreibt. So übertrieben in manchen Formulierungen die Darstellung erscheinen mag, so werden doch bei dieser Art der Durchleuch-tung der Situation bemerkenswerte Konturen sichtbar, die oftmals einen Kern der Wahrheit enthalten. Das gilt für die Skizzierung sowjetischer imperialistischer Politik nach innen und nach außen: Moskau knebele nicht nur die russische Bevölkerung seines eigenen Landes, es unterdrücke auch die anderen Nationalitäten im Viel-Völker-Staat der Sowjetunion, es suche darüber hinaus über die Nationen im Satellitenbereich zu verfügen und schließlich aggressiv seinen Machtbereich über andere Nationen in der Welt auszudehnen. Die Ausnutzung der eigenen Bevölkerung wird als Ausbeutung der Werktätigen durch die Oligarchie der bürokratischen Monopolisten charakterisiert, das Schicksal der außerrussischen Nationalitäten in der Sowjetunion als Politi der nationalen Unterdrückung durch Maßnah men wie Diskriminierung, Zwangsumsiedlung und Verhaftung gekennzeichnet — Methoden, die „die Sowjetunion in ein Völkergefängnis verwandelt haben".

Das Bündnissystem mit den osteuropäischen Ländern und der Mongolischen Volksrepublik ist nach chinesischer Darstellung eine durch Stacheldraht abgesicherte Ausplünderung der sozialistischen Gemeinschaft, wobei diese Länder degradiert werden zu „Absatzmärkten, zu Zubringer-Verarbeitungsstätten, -Obstplantagen, -Gemüsegärten und -Viehzuchtfarmen". Zu dem Neokolonialismus im eigenen Bereich und im Satellitenraum tritt dann noch die . Hilfeleistung'an Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika, die nach der chinesischen Darstellung folgende Zielsetzung besitzt: „Durch den Export von Kriegsmaterial und Kapital sowie durch ungleichen Handel'plündert der Sowjetrevisionismus ihre (der anderen Länder) natürlichen Hilfsquellen, mischt sich in ihre inneren Angelegenheiten ein und hält Ausschau nach Gelegenheiten zur Ergatterung von Militärstützpunkten.

Die Chinesen glossieren unter ihrem Blickwinkel den wahren Hintergrund einiger gängiger Schlagworte aus dem sowjetischen Bereich. An erster Stelle steht dabei die Theorie von der „begrenzten Souveränität", die soge-nannte Breschnew-Doktrin, die eine „ausgemachte Hegemonie-Doktrin" sei. In scharfer Form wird am Beispiel der Tschechoslowakei ein Anspruch des Sowjetrevisionismus zurückgewiesen, die Geschicke eines anderen Landes bestimmen zu wollen. In die gleiche Richtung führt die Interpretation der Theorie von der „internationalen Diktatur". Die Ausdehnung der Diktatur des Proletariats von einer nationalen zu einer internationalen Diktatur ist nach Pekinger Urteil eine völlige Verzerrung der Ideen Lenins. Die Theorie von der „sozialistischen Gemeinschaft" diene in ähnlicher Hinsicht im Grunde nur als gefällige Umschreibung für ein Kolonialreich mit der Sowjetunion als Mutterland. In gleicher Zielrichtung wird auch die Theorie von der „internationalen Arbeitsteilung" erwähnt. Sie laufe auf „eine industrielle Sowjetunion sowie auf ein landwirtschaftliches Asien, Afrika und Lateinamerika oder auf eine industrielle Sowjetunion mit den Zubringerwerkstätten Asien, Afrika und Lateinamerika hinaus Schließlich wird noch die sowjetische Behauptung, daß „unsere Interessen berührt werden", zurückgewiesen: „Anmaßend erklären sie: . Schiffe der sowjetischen Kriegsmarine’ werden . überall dort fahren, wo dies durch die Interessen 15 der Sicherheit unseres Landes geboten ist'. Kann ein Land etwa alle Teile der Welt als Gebiete betrachten, die seine Interessen berühren, und, weil es eine . Großmacht'ist, seine Hand auf den ganzen Erdball legen? .., Diese Theorie, daß . unsere Interessen berührt sind', ist ein typisches Argument der Imperialisten zur Durchführung ihrer globalen Aggressionspolitik."

Bürgerliche Dekadenz Der Artikel des albanischen Parteiorgans Zerf i Popullit hat sich im besonderen einer Weiterentwicklung der chinesischen Grundgedanken in der Richtung angenommen, daß die Wiederherstellung der klassenbedingten Zustände auch die Erscheinungsformen der bürgerlichen Dekadenz wieder in das Land gebracht haben. Erinnert wird dabei an das Vagabundentum, an die Jugendkriminalität, an die Diebstähle in den Betrieben, an den weit und breit blühenden Schwarzen Markt: „Solche Degenerationserscheinungen, wie sie jetzt in der Sowjetunion festzustellen sind, sind keine vorübergehenden und Einzelerscheinungen. Sie sind ein Ergebnis des kapitalistischen Systems, das in der Sowjetunion wiedererstanden ist. Sie sind typisch für jede bourgeoise Gesellschaft und werden zusammen mit dieser Gesellschaft verschwinden."

Die Bevorzugten der neuen Klasse würden gegen solche Auswüchse einer Verwahrlosung oder gar Erscheinungen kriminellen Charakters zwar vorgehen, sie trügen jedoch selbst den Keim der Dekadenz in das System durch die Betrügereien, deren sie sich selbst schuldig machten; so etwa, wenn sie der Verführung erliegen, die Zahlen der vorgeschriebenen Planerfüllung zu erhöhen, damit auch ihre eigenen Prämien ansteigen.

Es wird schwer sein, festzustellen, wie weit das spürbare Mißbehagen der Intellektuellen in der Sowjetunion auch aus solchen Erscheinungen des Alltags seine Nahrung erhält. Auf jeden Fall wird den Sowjets in ihrer Spätphase nach mehr als 50 Jahren kommunistischer Regierung das finstere Bild einer bourgeois-kapitalistischen Verkommenheit gezeichnet, wie die nachfolgende Passage aus dem Grundsatz-artikel des albanischen Parteiorgans zeigt:

„Eine Konsequenz der Erneuerung des Kapitalismus ist die weite Verbreitung bourgeoiser Ideologien, der Selbstsucht und des Individualismus, der Karrieremacherei und der Unterwürfigkeit, des Strebens nach persönlichen Vorteilen usw., die. vom Grunde aus das Bewußtsein der Männer und Frauen in der Sowjetunion zerstören. In destruktiver Art offenbart sich selbst in der Jugend die degenerierte Lebensart der kapitalistischen Welt. .. Welche propagandistischen Bemühungen die Herrscher im Kreml unternehmen mögen, so können sie doch nicht das starke Gefühl der Ungewißheit, der Furcht und der Einsamkeit bei Männern und Frauen, die große geistige und ideologische Armut, die sichtbare Gleichgültigkeit und deutliche Passivität gegenüber der offiziellen Politik beseitigen."

Aufruf zu neuer Revolution An der Dramatik, zu der im Abschluß des Artikels die albanischen Überlegungen geführt werden, zeigt sich, wofür der ausgedehnte und detailliert gegliederte gedankliche Unterbau des Bildes einer in bürgerliche Verhältnisse zurückgefallenen Sowjetunion konstruiert werden mußte. Nur so läßt sich nämlich als logische Folge mit dem Zwang „wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit" der flammende Aufruf zu einer neuen Revolution in der Sowjetunion verstehen. Der Kreislauf soll sich vollenden. Nachdem die russische Revolution durch die Rückkehr zur Verbürgerlichung annulliert wurde, gilt es heute, auf die Ausgangsposition von vor 50 Jahren zurückzukehren und die Machthaber mit dem Aufstand der Massen durch Gewalt zu stürzen, die „echte" Form des Kommunismus wieder zu installieren. Der entsprechende Appell lautet: „Nur die Arbeiterklasse, geführt von ihrer marxistisch-leninistischen revolutionären Vor-hut und vom Vertrauen auf die Lehren Lenins und Stalins, kann nach einem Sturz des revisionistischen Regimes die Sowjetunion aus dem Chaos herausführen, in das die Revisionisten sie jetzt gestürzt haben, und sie erneut auf den richtigen Weg des Sozialismus und Kommunismus leiten.“

An dieser Stelle richtet sich die Analyse auch auf die letzten Vorkommnisse in Moskaus Satellitensystem und kommt dabei zu dem für die innere Logik der Gedankenkonstruk. tion bestechenden Schluß, die Unruhen in Polen seien bereits ein erstes Signal für das Heraufkommen der neuen Revolution der Ar beiterschaft gegen die revisionistisch-verbürgerlichte Führungsspitze gewesen. Der Kampf der polnischen Arbeiter im Dezember 1970 wird als Spaltung zwischen den Werktätigen und der herrschenden Bürokratie in Partei und Staat gedeutet: „Erstmalig standen sich die Arbeiter auf der einen Seite und die Revisionisten auf der anderen Seite als zwei bereits geformte antagonistische Klassen gegenüber. Die polnischen Ereignisse sind der Ausdruck eines Prozesses, der in allen revisionistischen Ländern, einschließlich der Sowjetunion, stattfindet und der in Polen die größte Intensität erreichte. Sie sind sozusagen die Vorläufer des großen revolutionären Klassenkampfes, der unweigerlich und in nicht allzu ferner Zukunft überall ausbrechen wird."

Im chinesischen Lager des Kommunismus ist man offen dazu übergegangen, in den Machtbereich der sowjetischen „Bruderpartei" hineinzuwirken, um ihn zu unterminieren. Eine schärfere Absage gegenüber dem noch immer erkennbaren Moskauer Streben, möglichst den Zwist im kommunistischen Machtbereich bei-zulegen, kann es nicht geben. Zwar scheint die ursprüngliche sowjetische Hoffnung auf baldige Ausräumung der Schwierigkeiten vorläufig aufgegeben worden zu sein. Man ist aber dennoch der Zuversicht, daß eines Tages nach Abtreten Maos die Entwicklung wieder zurückführen wird in die alten Gegegebenheiten, daß Moskau und Peking nebeneinander an der Spitze des kommunistischen Machtbereichs stehen, eines Machtbereichs, der — seit auch China Atommacht geworden ist — die Welt vor eine neue Situation stellen würde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zitate aus diesem Bericht werden nach der englischen Fassung in der rotchinesischen Nachrichtenagentur Hsinhua vom 21. 4. 1970 wiedergegeben.

  2. Wiedergabe aus diesem Bericht nach Hsinhua vom 17. 3. 1971.

  3. Zitate aus dieser Darstellung beruhen auf der Wiedergabe des Textes durch die albanische Na richtenagentur ATA, Agence Telegraphique Aom naise, in englischer und französischer Sprache vo 25 3. 1971.

  4. Vgl. Bericht nach Hsinhua vom 21. 4. 1970.

  5. Vgl. Bericht nach Hsinhua vom 21. 4. 1970.

  6. Vgl. Bericht nach Hsinhua vom 21. 4. 1970.

  7. Zitiert nach PAP, englisch, vom 7. 4. 1971

  8. Vgl. Bericht nach Hsinhua vom 21. 4. 1970.

  9. Vgl. Bericht nach Hsinhua vom 21. 4. 1970.

  10. Vgl. Bericht nach der albanischen Nachrichtenagentur ATA vom 25. 3. 1971.

  11. Vgl. Bericht nach Hsinhua vom 17. 3. 1971.

  12. Zitiert nach TASS vom 18. 3. 1971.

  13. Vgl. Bericht nach Hsinhua vom 17. 3. 1971.

  14. Vgl. Bericht nach der albanischen Nachrichtenagentur ATA vom 25. 3. 1971.

  15. Milovan Djilas, Die neue Klasse, München, S. 65

  16. Vgl. Bericht nach Hsinhua vom 21. 4. 1970.

  17. Vgl. Bericht nach Hsinhua vom 21. 4. 1970.

  18. Vgl. Bericht nach Hsinhua vom 21. 4. 1970.

  19. Vgl. Bericht nach der albanischen Nachrichtenagentur ATA vom 25. 3. 1971.

  20. Vgl. Bericht nach der albanischen Nachrichtenagentur ATA vom 25. 3. 1971.

  21. Ebenda.

  22. Ebenda.

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Horst Friedrich, Dr. phil., geb. 1911. Nach Studium der Germanistik, Anglistik im Hauptfach, der Romanistik und Philosophie im Nebenfach Staatsexamen. Schon während des Studiums, vor Abschluß der Examina, als Journalist in vollberuflichem Arbeitsverhältnis. Heute Pressereferent. Verfasser von politischen Hörbildern und Features für den Rundfunk, gleichzeitig Kommentator zu außenpolitischen Themen der Weltpolitik im ost-westlichen Fragenkreis.