I. Der politische Kontext
Um die Jahreswende 1970/71 machte ein Land von sich reden, das bis dahin in der deutschen Öffentlichkeit wenig Beachtung gefunden hatte: Guinea, ehemals französische Kolonie, seit 1958 durch ein inzwischen historisch gewordenes Nein zur de Gaulieschen Verfassung unabhängig, von Anfang an ein von den Auguren viel beachtetes Beispiel für die nicht gerade erfolggekrönte Anwendung sozialisti-scher Entwicklungsrezepturen auf die Probleme unterentwickelter Länder.
Dieses Guinea, das einen nichtkapitalistischen Entwicklungsweg zu einer sozialistischen Zukunftgesellschaft beschreitet und von dem mancher Beobachter glaubte, es werde beliebigen Putschisten — vorausgesetzt, es fänden sich welche — wie eine reife Frucht in den Schoß fallen, hat in der letzten November-dekade des Jahres 1970 eine militärische Invasion abgewehrt, die sich bei näherem Hinsehen als ein Komplott darstellte, als eine Verschwörung der politischen Gegner des guineischen Präsidenten Sekou Toure mit den im benachbarten Bissao um den Fortbestand ihrer Kolonialherrschaft ringenden Portugiesen. Dahinter erschien in der guineischen Optik sogleich die Allianz der NATO-Verbündeten, insbesondere die Bundesrepublik Deutschland. Diese stand zwar in der Entwicklungshilfe für Guinea mit an erster Stelle, hatte aber, eben durch ihr NATO-Bündnis mit Portugal, durch die Cabora-Bassa-Affäre und nicht zuletzt durch ihre Guinea-Politik im Zeichen der Hall-stein-Doktrin die Sympathien des Regimes immer mehr verloren. Auch war es von Jahr zu Jahr schwieriger geworden, den Freunden Guineas im sozialistischen Lager die guten Beziehungen ausgerechnet zur Bundesrepublik Deutschland plausibel zu machen. Der seit 1966/67 offenkundige und belegbare Sympathieverfall, von der DDR nach Kräften gefördert, mündete im Dezember 1970, kaum zwei Monate nach der Anerkennung der DDR durch die Republik Guinea, in wütenden Haß und bittere, wenn auch einseitige Feindschaft.
Westdeutsche Entwicklungshilfe-Experten, so der in der Invasionsnacht tragisch ums Leben gekommene Graf Tiesenhausen, der in einem guineischen Gefängnis elend zugrunde gegangene Hermann Seibold und der vom Revolutionstribunal zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilte Adolf Marx, wurden bezichtigt, in das Novemberkomplott verwickelt gewesen zu sein. Selbst vor dem Botschafter der Bundesrepublik machte die Anklage nicht halt. Das Ende ist bekannt: sämtliche Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland wurden ausgewiesen; Guinea brach Anfang Januar 1971 die Beziehungen ab; die Bundesrepublik stellte ihre Entwicklungshilfe ein.
Die deutsche Öffentlichkeit wurde hauptsächlich unter dem Aspekt der Außen-und Ent-
wicklungspolitik unterrichtet. Uber Guinea, das Land, seine Gesellschaftsordnung und seine Probleme erfuhr man wenig. Wieder einmal zeigte sich, daß es uns immer noch schwer fällt, Staaten der Dritten Welt als frei handelnde Subjekte mit eigenen Bezügen und Motivierungen zu verstehen. Nach wie vor ist es weithin Brauch, in ihnen bloße Betätigungsfelder europäischer oder amerikanischer Politik, womöglich Blockpolitik, zu erblicken und ihr eigenes Kräftespiel für bloße Reflexbewegungen zu halten.
Guinea ist hierzulande wenig mehr als ein geographischer Begriff, sozusagen ein exotischer Stern, auf dem kaum jemand höheres politisches Leben vermutet. Und doch, dieser knapp 4 Millionen Einwohner zählende Kleinstaat an der afrikanischen Westküste ist nicht nur ein Teil der Welt, in der wir leben, sondern zugleich eine Welt für sich, die bei näherem Hinschauen ein faszinierendes Schauspiel bietet, mit großartigen Helden und niederträchtigen Schurken, so großartig, so niederträchtig, daß sie den Vergleich mit den Chargen des europäischen Welttheaters durchaus nicht zu scheuen brauchen. Es ist daher unzureichend, nur die Reaktionen der Zuschauer zu beschreiben, der Deutschen, Franzosen, Portugiesen, Amerikaner, Russen, Chinesen, die hin und wieder auf die Bühne gebeten werden, um eine Passage mitzuimprovisieren. Vielmehr müssen wir uns fragen, wie den ständigen Akteuren zumute ist: den Soussou, den Foulah, den Malinke, den Guerze (um nur einige der guineischen Ethnien zu nennen), der islamischen und der christlichen Geistlichkeit, den Angehörigen der alten mächtigen Familien, den Trägern der berühmten Namen, den ehemaligen Kolonialbeamten, den „anciens combattants" der französischen Armee, den Offizieren der Volksarmee, den Kadern der Einheitsgewerkschaft.
Wenn es stimmt, daß Entwicklung die Summe aus wirtschaftlichem Wachstum und sozialem Wandel ist, dann hat das Regime Sekou Toures viel für die Entwicklung Guineas getan. In den Gesetzen der Revolution sind die Konturen einer prosperierenden neuen Gesellschaft erkennbar. Sekou Toure selbst, jeder Zoll ein Erster Konsul, ein Präzeptor seines Volkes, das er aus zwei Dutzend Völkerschaften erst schmieden muß, hat ein grob gezimmertes dogmatisches Gebäude geschaffen, ein ungeschlachtes Katheder, von dem aus er seine Landsleute mores lehrt: sozialistische Moral, sozialistische Produktionsmethoden, sozialistischen Wettbewerb, Kulturrevolution, Planwirtschaft, nichtkonvertible Währung, Staats-handel, Mangelwirtschaft, Einehe, Alphabetisierung, freiwillige Aufbauleistungen, kurz: staatsbürgerliche Tugenden, wie sie eigentlich erst die Industriegesellschaft auf dem Weg zur totalen Leistungsgesellschaft hervorbringt. Dabei haben wir es hier noch mit tiefster Agrargesellschaft zu tun. Genauer: viele atomisierte Agrargesellschaften koexistieren, ohne zu kooperieren — Subsistenzwirtschaft, selbstgenügsame Dörfer, fast autarke Lebens-gemeinschaften archaischer Hirten oder Ackerbauern. Kaum 1000 km Eisenbahn, kaum 1000 km Asphaltstraße. (Das Land hat die Ausdehnung der Bundesrepublik Deutschland.) Die Industrie beschäftigt kaum 10 000 Menschen. Die Versorgungslage ist skandalös. Zu den alten Differenzen kommen die Meinungsverschiedenheiten über den Ausweg aus der Sackgasse, in die die Revolution allem Anschein nach geführt hat. Noch beherrscht ein starker Mann dank seines Charismas und seiner Courage die für afrikanische Verhältnisse bemerkenswert gut organisierte Einheitspartei — „Parti Democratique de Guinee“ (P. D. G.) — und damit den Staat, der als Geschöpf dieser Einheitspartei angesehen wird. Die Machtfülle des Präsidenten ist byzantinisch zu nennen. Er ist der „Premier Responsable de la Revolution". Im Volk wird er mit Mischung aus Respekt, Humor und Furcht kurz „le Patron" genannt, Danton, Robespierre, Saint Just in einem. — Einer seiner Großväter war Samory Toure, der „afrikanische Bonaparte". Diese Tradition spielt im Handeln und Denken des sonst eher traditionsfeindlichen Sekou Toure eine gewichtige Rolle. Er führt die Revolution wie einen Feldzug; nach jeder Regenzeit schlägt er eine neue Schlacht. Manchmal hat es den Anschein, als kämpfe er gegen Windmühlen-flügel. Aber die Konterrevolution ist keine Einbildung. Sie ist allgegenwärtig in Namen und in Gruppen, in persönlichen und Gruppeninteressen. Solange dies der Fall ist, wird die Stunde der Leutnants nicht kommen. Aber die Konterrevolution hat kein Programm. Unzufriedenheit ist keine Alternative. Der Weg von der bloßen Reaktion zu echter, einfallsreicher Opposition ist lang und mit Gräbern gesäumt, ein Kreuzweg, eine „nicht enden wollende Tragödie", wie Siradiou Diallo, der im Januar 1970 vom guineischen Revoltutions-tribunal in Abwesenheit zum Tode verurteilte „jeune afrique" -Redakteur, die Geschichte Guineas seit 1958 genannt hat.
Die nachfolgende Fallstudie-behandelt die bisherigen Stationen dieses Kreuzwegs als ein typisches Beispiel afro-sozialistischer Politik. Das von Sekou Toure oft beschriebene „permanente Komplott" ist der Konfliktfall, der Verteidigungsfall des progressistischen, d. h.des seine gesellschaftlichen Ziele mit revolutionären Mitteln realisierenden Entwicklungsstaates. Viele Details. Aber jedes Detail ist ein Baustein für Argumente. Namen, Daten und Sachverhalte sind auch in Afrika der Rohstoff der Geschichte.
II. Die Theorie vom „Complot permanent“
Abbildung 2
Abbildung 2
Ausgehend von der allgemeinen Erfahrung, daß noch nirgends in der Welt eine Revolution stattgefunden hat, die nicht Gegenkräfte auf den Plan gerufen hätte, versucht der progressistische Entwicklungsstaat in seiner zugleich dogmatischen und pragmatischen Manier, sich mit der Konterrevolution einzurich ten und sie der Revolution dienstbar zu machen: die Konterrevolution schärft den Siegeswillen der Revolution, sie speist die Energie und den Mut der Volksmassen in schöpferischer Aktion. Sie stimuliert die Wachsamkeit und die Festigkeit der revolutionären Kämpfer. Sie steigert den Kampfgeist und die Sensibilität der Massen für ihre Ziele . . . Die Konterrevolution ist der Gehilfe der Revolution.“
Der Feind wird überall, nicht nur rechts, sondern auch links gesehen, nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Landes. Revolution und Konterrevolution „koexistieren miteinander wie Leben und Tod" (A. S. Toure, Le Pouvoir Populaire).
Rechts von sich sieht die P. D. G. vor allem die Kräfte der Vergangenheit, die „reaktionären Feudalelemente, deren Lebensweise auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen fußt" (A. S. Toure, a. a. O.). Zur Behinderung der Revolution bedienen sie sich vornehmlich der Mittel des Rassismus, des Triba-lismus und des religiösen Fanatismus. Rechts stehen für die P. D. G. ferner jene Intellektuellen, von denen es heißt, sie seien zwar weder reich noch den alten Familien zugehörig, wohl aber durch ihre Erziehung zum Glauben an die Höherwertigkeit des Individuums zu Werkzeugen der um die Wiedergewinnung der Macht kämpfenden Ausbeuterklasse geworden. Als Ausdruck ihrer konterrevolutionären Gesinnung wird ihr Streben nach persönlicher Bereicherung gewertet. Sämtliche Eigentumsdelikte der Staatsfunktionäre im Amt, ebenso die Wirtschaftsdelikte der Händler, werden daher als politische Straftaten geahndet: „ . . . Wer die Früchte der Anstrengungen des Volkes unterschlägt oder konfisziert, macht sich der Konterrevolution schuldig" (A. S. Toure, a. a. O.).
Zwei Dinge gelten als besonders gefährlich: 1. die Konterrevolution spricht die Sprache der Revolution; 2. die Konterrevolution nistet an den Schaltstellen des Staatsapparats. An keinem der bisher aufgedeckten „Komplotte" waren Arbeiter oder Bauern beteiligt. Immer wa-ren es Führungskräfte aus Militär, Verwaltung und Wirtschaft
Links von der P. D. G. steht eine kleine Gruppe marxistischer Intellektueller. Von ihnen war jedoch seit dem sogenannten Lehrerkomplott vom November 1961 nicht mehr die Rede. Ihre Exponenten, in der Hauptsache Gewerkschaftsführer, übernahmen wichtige Positionen im Staats-und Wirtschaftsapparat. Es darf daher angenommen werden, daß sie für das Regime keine Gefahr mehr darstellen.
Alle potentiell konterrevolutionären Kräfte haben starken Rückhalt im Ausland. Als Hauptstützpunkte der Linken gelten nach wie vor Moskau und Ost-Berlin
Daraus entwickelt das Regime Sekou Toure das Bild einer gigantischen Verschwörung, eines „complot permanent“ zur Vereitelung der Revolution, zur Rückführung Guineas in kolonialistische oder neokolonialistische Abhängigkeitsverhältnisse
Die Krisen des progressistischen Entwicklungsstaats, denen die folgende Darstellung gewidmet ist, haben nach offizieller guineischer Auffassung allesamt als Erscheinungsformen des einen und unteilbaren antiguineischen Komplotts zu gelten. Dieses wiederum wird als Teil einer noch umfangreicheren anti-afrikanischen Verschwörung angesehen, mit deren Hilfe die alte Kolonialmetropole Paris ihr altes Eurafrika-Projekt wiederbeleben wolle, „in dessen Rahmen Frankreich zu seiner alten Macht zurückfinden und somit sowohl der UdSSR als auch den Vereinigten Staaten Paroli bieten könnte" (A. S. Toure, a. a. O.).
Die Konterrevolution wird also fast ausschließlich unter dem Aspekt der gewiß vorhandenen neokolonialistischen Bestrebungen der ehemaligen Kolonialmacht („la rancur du colonialisme Francais") und ihrer afrikanischen Verbündeten gesehen. Nur am Rande erwähnt werden die unserer Auffassung nach viel schwerwiegenderen inneren Anlässe zu konterrevolutionärem Handeln, etwa die katastrophale Wirtschaftslage, die Inflation, das Einparteiensystem, die Behinderung der Privatinitiative, die Mißwirtschaft in der Verwaltung, die Isolierung des Landes von seinen Nachbarn sowie die Entmachtung der Gewerkschaften und des Militärs.
Angesichts dieser Fülle von Konfliktstoffen ist es nur natürlich, daß der Staat Sekou Toures in den bisher dreizehn Jahren seines Bestehens den vielfältigsten Belastungsproben standhalten mußte. Bemerkenswerterweise hat sich das Regime in keinem Falle von den Ereignissen überraschen lassen. Stets konnte es ihnen zuvorkommen, was im Kreise um den guineischen Präsidenten zu einer gewissen Überheblichkeit geführt hat. Von Sekou Toure selbst stammt das Wort: „Die Revolution ist zuallererst eine Sache des Mutes, wohingegen das Komplott stets die Tat von Feiglingen und Schwächlingen gewesen ist." Daran ist zumindest soviel wahr, daß weit und breit in der guineischen Opposition niemand auszumachen ist, der sich mit Sekou Tour an Mut, Tatkraft, Beredsamkeit und Volkstümlichkeit messen könnte.
Inwieweit die verschiedenen Anläufe, die zum Sturz des Regimes unternommen worden sind, wirklich dem Wohl des Volkes und des Staates gedient hätten, kann in Anbetracht ihrer Erfolglosigkeit fast dahingestellt bleiben. Es ist jedoch fraglich.
Ein erfolgreicher Staatsstreich der reaktionären Widersacher des Regimes, einschließlich des Militärs, hätte die Rückkehr Guineas in die Abhängigkeit Frankreichs zur Folge gehabt. Andererseits, hätten im November 1961 die marxistischen Gewerkschaftsführer das Regime in ihrem Sinne modifizieren können, dann wäre Guinea heute ein afrikanisches Kuba. Der 1965 unternommene Versuch zur Gründung einer Oppositionspartei schließlich hätte mit Sicherheit zum Wiederaufleben der alten Stammesegoismen geführt. Weder das eine noch das andere dürfte im Interesse der wünschenswerten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unabhängigkeit Guineas gewesen sein.
Die Frage nach Stabilität und Instabilität des Regimes ist so alt wie das Regime selbst
Die Entdeckung, richtiger: das Eingeständnis der „contre-revolution nationale", das lange verweigerte Bekenntnis zum Klassenkampf
Die Auseinandersetzung um den Bestand des Regimes hat sich also in der Tat verschoben. Die ersten beiden Komplotte gegen das Regime (April 1960 bzw. November 1961) waren noch unmittelbarer Ausdruck imperialistischer Interessen und Machenschaften, und auch die zahlreichen Verschwörungen zur Ermordung Sekou Toures
Aber die Konterrevolution ist uneins und trägt anarchistische Züge. Es fällt auf und verdeutlicht ihre Schwäche, daß es jedesmal andere, einander oft völlig entgegengesetzte Gruppen ohne Kontinuität sind, die mit mehr oder weniger großem Dilettantismus versuchen, daß Regime aus den Angeln zu heben: Im April 1960 die Befürworter einer Rückkehr in die Einflußzone Frankreichs, im Dezember 1961 die Parteigänger eines reinen Sozialismus marxistisch-leninistischer Prägung, im Herbst 1965 die Anhänger eines Mehrparteiensystems, im Frühjahr 1969 eine Clique von Offizieren, deren einziger Programmpunkt der Tyrannenmord war. Nur eine Gruppe, die ausgesprochenen Klassencharakter hat, ist schon in ihrem Wesen konterrevolutionär und daher in allen Verschwörungen vertreten: die Händler.
III. Das erste Komplott (April 1960) Das „Komitee zur Verteidigung der demokratischen Freiheiten in Guinea"
Angesichts der Umstände und Vorzeichen, unter denen die P. D. G. die Unabhängigkeit erzwungen und die revolutionäre Umgestaltung des Landes in Szene gesetzt hatte, war das erste Aufbegehren reaktionärer Kräfte nur eine Frage der Zeit und der Gelegenheit. Erstmals bot sie sich im Frühjahr 1960, in einer „Kampfphase, die um so schwieriger ist, als die Motive für revolutionäres Engagement weniger klar erkennbar sind und die Aktion der Sabotage weniger offenkundig ist. Die Reaktion, der ihr vom Kolonialregime verliehenen Macht beraubt, macht auf einmal ein überaus sympathisches Gesicht und befleißigt sich freundschaftlicher Manieren — aber ihr destruktiver Wille bleibt bestehen ..." (Sekou Toure auf der Wirtschaftskonferenz von Kankan, 2. April 1960).
Die Partei hatte es bis zu diesem Zeitpunkt fertiggebracht, durch ihre gewaltsamen und glücklosen Reformen weite Bevölkerungskreise gegen sich in Harnisch zu bringen. Dem Unabhängigkeitsrausch folgte die von den Gegnern Sekou Touräs vorausgesagte Ernüchterung. Die Händler stöhnten unter den Wirtschaftsreformen des Jahres 1959. Franzosen und Libanesen sahen sich diskriminiert. Das Land sah sich in eine einzige große Versorgungskrise gestürzt. Die Religionsgemeinschaften, Mohammedaner wie Christen, glaubten sich durch die angekündigte Verstaatlichung der kirchlichen Privatschulen sowie durch das Verbot der kirchlichen Jugendorganisationen und Rundfunksendungen in ihrer Glaubensfreiheit bedroht. Die Intellektuellen begannen unter dem höhnischen Argwohn zu leiden, mit dem die Partei sie von den Kommandohöhen des neuen Staates fernzuhalten trachtete. Die Chefferie hatte seit ihrer Entmachtung im Jahre 1957 ohnehin eine Rechnung mit der P. D. G. zu begleichen. Die guineischen Stämme entsannen sich ihrer nur notdürftig ausgeglichenen Gegensätze
Die Unfähigkeit und Willkür der neuen Verwaltung, namentlich im Landesinneren, taten ein übriges. Allgemein begann man sich nach dem Sinn der Unabhängigkeit zu fragen. Das von der denkbar breitesten Öffentlichkeit herbeigesehnte Arrangement mit Frankreich blieb aus. Statt dessen knüpfte das Regime immer engere Beziehungen zu den wenig beliebten sozialistischen Ländern. Am 1. März 1960 verließ Guinea mit Eklat die Franc-Zone. Panik breitete sich aus. Die Kommunikation mit der Welt, mit den Nachbarländern, war unterbrochen. Die gefürchtete Isolierung war da. Händler, Intellektuelle, ganze Dörfer suchten ihr Heil in der Emigration.
Jenseits der Grenzen zum Senegal und zur Elfenbeinküste entstanden binnen weniger Wochen regelrechte Kolonien guineischer Flüchtlinge. Im konspirativen Verein mit den Foulah-Notabeln waren sie entschlossen, zum Sturz des P. D. G. -Regimes im Fouta Djallon Ende April 1960 einen Aufstand anzuzetteln. Waffenlager wurden angelegt und Macquisar-den ausgebildet. Hunderte von Guineern, soeben aus der französischen Armee entlassen, stießen zu den Insurgenten. Erste Akte von Subversion und Waffenschmuggel wurden bekannt. Schon im November und Dezember 1959 hatten geheimnisvolle Emissäre in Conakry Kankan und Gueckedou mit der Behauptung, die P. D. G.sei atheistisch, versucht, Moslems und Christen gegen das Regime aufzuwiegeln. Die Regierungen Frankreichs und der Elfenbeinküste verfolgten diese Entwicklung, wie sich denken läßt, nicht ohne Genugtuung. Der französische Geheimdienst, an den sich die Verschwörer um Hilfe wandten, traf die in solchen Fällen üblichen Vorkehrungen. Insofern hatte Sekou Toure recht, als er auf seiner Pressekonferenz vom 20. April 1960 behauptete, das „konterrevolutionäre Netz" im Inneren des Landes hätte „im Zusammenspiel mit gaullistischen Organisationen außerhalb des Landes" gehandelt. Französische Garnisonen auf senegalesischem und ivorischem Territorium dienten als Stützpunkte für die gegen Guinea gerichtete Subversionstätigkeit.
Der zweite Teil seiner Behauptung allerdings, wonach der damalige französische Generalkonsul in Conakry (Antoine Dargent) die Verschwörung mit 15 Mrd. CFA-Franken finanziert haben soll, kann nur mit Vorbehalt wiedergegeben werden
Sekou Toures eigene Einschätzung auf der Konferenz von Kissidougou (November 1960) spricht für letzteres. Er rechnete nämlich vor allem mit jenen ab, die dem revolutionären Vorgehen ein evolutionäres vorgezogen und andauernd zur Mäßigung geraten hätten, „um die revolutionäre Aktion zu verlangsamen“. Das seien jene Leute, so fuhr er wörtlich fort, „die zwar mit unseren Zielen, nicht aber mit unseren Methoden übereinstimmen. Sie bleiben auf der progressistischen Linie, aber sie säen durch ihr politisches und soziales Verhalten täglich aufs neue Zwietracht und Unzufriedenheit im Lande und in der Partei“
Weder die einen noch die anderen kamen zum Zuge. Wie immer führte Sekou Toure einen Präventivschlag. Mitte April 1960, etwa 14 Tage vor der geplanten Erhebung im Fouta, ließ er, angeblich alarmiert „durch das Verhalten mancher Leute, durch die Umtriebe gewisser Individuen im Leben dieser oder jener Sektion, durch gewisse Irrlehren“ (A. S. Toure, a. a. O.), Dutzende von Angehörigen der „inneren Opposition“ verhaften.
Erst jetzt, beim Verhör dieser Männer, kamen die Sicherheitsorgane den Plänen der äußeren Opposition auf die Spur. Das Ganze verdichtete sich für den guineischen Geheimdienst zu einem Komplott zwischen den inneren und den äußeren Feinden Sekou Toures, zur „Verschwörung der Imperialisten mit ihren guineischen Helfershelfern".
Schon damals ein Meister des Bluffs, legte Sekou Toure seine Enthüllungen vor der Presse und der Bevölkerung (19. /20. April 1960) so an, daß sie den Eindruck erwecken mußten, als seien die Namen sämtlicher Beteiligten innerhalb und außerhalb des Landes bekannt und ihre Entlarvung bzw. Verhaftung nur noch eine Frage von Stunden. Dieser Bluff verfehlte seine Wirkung nicht. Die Insurgenten im Fouta Djallon, überzeugt, sie seien verraten, ließen ihre Waffen im Stich und flohen, sei es ins Ausland, sei es in unwegsame Gegenden. Manche stellten sich, in völliger Konfusion, sogar den Behörden.
Das „Tribunal Populaire", dessen Mitgliedern Sekou Toure bescheinigte, sie hätten sich bei dieser Gelegenheit als „dignes magistrats de la Nation" erwiesen, unterschied die konterrevolutionären Elemente in zwei Kategorien: 1. in bewußte Verbrecher, 2. in unbewußte Agenten der konterrevolutionären Aktion. Gegen die ersteren wurden als Ausdruck einer „fermete exemplaire" Strafen verhängt, die so drakonisch waren, daß das Regime es für ratsam hielt, sie nachträglich von den Partei-organisationen gutheißen zu lassen
Als derart subtile Formen des imperialistischen Komplotts zählte er auf:
1. die „Demobilisierung des politischen Bewußtseins". Darunter verstand er die weitverbreitete Einstellung, daß mit der Erlangung der Unabhängigkeit jeder politische Kampf vorüber sei, und das daraus folgende Nachlassen der revolutionären Wachsamkeit;
2.den Versuch, die laizistische Natur des Staates in Frage zu stellen. Darunter verstand Sekou Toure das Aufbegehren der Moslem-Mehrheit gegen die als atheistisch mißverstan-denen Eingriffe des Staates in das soziale Leben (Verstaatlichung der privaten Bekenntnis-schulen, Frauenemanzipation);
3. die Zersetzung der Parteiorganisation und die daraus resultierenden Verstöße gegen den Geist des demokratischen Zentralismus, die Entartung der Parteikomitees zu Herden der Zwietracht, der Unzufriedenheit und der Initia-tivelosigkeit;
4. die destruktive Besserwisserei der „faux theoriciens de la Revolution". Darunter verstand Sekou Toure die bereits erwähnte Kritik an den Methoden des Regimes.
Diese Äußerungen des Präsidenten beweisen im Grunde etwas Ungeheuerliches, nämlich daß dieses sogenannte erste Komplott eher eine Verschwörung des Regimes gegen seine Kritiker als umgekehrt gewesen ist.
Der Begriff der Konterrevolution ist derart weit gefaßt, daß er erlaubt, schon Handlungen als „Komplott" zu verfolgen, die noch weit im Vorfeld jeder ernsthaften Bedrohung des progressistischen Staates liegen. Die Kategorie der „unbewußten" Agenten der Konterrevolution (s. o.) ist symptomatisch. Das politische Strafrecht des progressistischen Entwicklungsstaates ist in hohem Maße Gesinnungsstrairecht. Man mag einwenden, daß er, wegen seiner Verwundbarkeit, ohne ein derartiges „Frühwarnsystem" nicht auskommen kann. Aber der Sache des Sozialismus in der Welt wird damit ein Bärendienst erwiesen, und das von einem Regime, das immer wieder behauptet, sich nicht mit den Argumenten der Macht, sondern mit der Macht der Argumente durchsetzen zu wollen.
IV. Das zweite Komplott (November 1961) Die Gruppe der marxistischen Kritiker im Vorstand der Lehrergewerkschaft
Bis zur III. Nationalen Kaderkonferenz der P. D. G. (Kankan, 14. — 18. August 1961) konnte das Regime annehmen, Opposition, d. h. Konterrevolution, werde ausschließlich von feudalistisch-bürgerlichen, d. h. also von rechten Elementen ausgehen, die, wegen ihrer reaktionären Bezüge, unpopulär und daher leicht zu liquidieren seien.
Aber bereits der Verlauf dieser III. Kader-konferenz, auf der die Partei mit ihrem neuen und, wie sie meinte, revolutionären Konzept für die künftige Gewerkschafts-, Lohn-und Schulpolitik auf erbittertenWiderstand stieß
Es war dies eine Gruppe marxistisch geschulter Gewerkschaftsfunktionäre (sämtlich Lehrer) mit großer Resonanz in der Partei und im Volk, denen sich der ehemalige B. A. G. -Führer, Keita Koumandian, angeschlossen hatte. Angeblich unter Anleitung durch die sowjetische Botschaft
naire" entgegen. Denn sie hatten vom Wesen des progressistischen Entwicklungsstaates und von der Rolle der Arbeiterschaft in der afrikanischen Revolution eine wesentlich radikalere Auffassung als Sekou Toure. Darüber hinaus verlangten sie die Aufgabe der Block-freiheit zugunsten eines eindeutigen Anschlusses an das sozialistische Lager.
Die Partei versuchte zunächst, sie als „quel ques lments deviationnistes et demagogues'
zu bagatellisieren und war geneigt, sie für ungefährlich zu halten, hatten sie doch in den Redeschlachten der III. Kaderkonferenz stets den kürzeren gezogen
Dennoch hielt es Sekou Toure, dem gerade der Lenin-Friedenspreis verliehen worden war, argwöhnisch wie immer, für ratsam, alle Auslandsreisen abzusagen und sich für eine eventuelle Auseinandersetzung mit dem linken Flügel seiner Partei zu wappnen, ja, sie 2 suchen. Sie entzündete sich dann auch — vor dem düsteren Hintergrund der immer schlechter werdenden Wirtschaftslage — an einer Denkschrift, mit der der Vorstand der guine ischen Lehrergewerkschaft am 3. November 1961 gegen die im August beschlossene Kürzung der Lehrergehälter protestierte. Im Zuge ihrer Austeritätspolitik hatte die Regierung sich nämlich genötigt gesehen, allen Beamten (nicht nur den Lehrern) Sonderzulagen zu entziehen, die noch aus der Kolonialzeit stammten.
Diese Denkschrift wurde unter Umgehung des C. N. T. G. -Vorstands nicht nur den Regierungs-und Parteidienststellen im Lande, sondern auch ausländischen Interessenten zugeleitet. Außerdem enthielt sie Behauptungen, die ihre Verfasser auf das schwerste kompromittierten, so z. B. diese: „ ... das in Guinea seit der Unabhängigkeit herrschende Regime fegt die sozialen Errungenschaften hinweg ..
Darin erblickte die Gruppe um Sekou Toure ein in diesem Augenblick äußerst willkommenes Zeichen für „parteifeindliches und konterrevolutionäres Verhalten" und zitierte die Verfasser kurzerhand als „Agenten des Kolonialismus" am 19. November 1961 vor den Obersten Gerichtshof. Dieser sprach noch am gleichen Tage das drakonische Urteil: Ray Autra und Keita Koumandian je zehn Jahre, Djibril Tamsir Niane, Bah Ibrahima Caba und Seck Bahi je fünf Jahre Zwangsarbeit.
Mit Ray Autra und Niane waren die wichtigsten Wortführer der marxistischen Kritik und mit Keita Koumandian ein prominenter Wortführer der Traditionalisten (ehemaliger Vorsitzender des B. A. G.) ausgeschaltet. Eine alte Rechnung schien beglichen. Die Hoffnung des Regimes, den Ausbruch eines offenen Konflikts dadurch abgewendet zu haben, erfüllte sich jedoch nicht. Im Gegenteil: spontan kam es in allen größeren Städten des Landes zu Sympathiekundgebungen für die Verurteilten. In Labe schoß das Militär auf Demonstranten. Es gab Tote und Verwundete. In Conakry gingen die Oberschüler auf die Straße. Am 24. November organisierten sie einen Protestmarsch auf das Wohnviertel der Regierungsprominenz und die Kaserne der „Garde Rpu-blicaine", in dessen Verlauf sie Geiseln festnahmen und vereinzelt auch Molotow-Cocktails mit sich führten. Mit Sprechchören, Plakaten und Handzetteln forderten sie die Freilassung der inhaftierten Gewerkschaftsführer (»Befreit unsere Helden") und machten sich deren kritische Thesen zu eigen
Das Regime sah wieder Zusammenhänge, wo eigentlich gar keine bestanden. Es leugnete den spontanen Charakter der Demonstration, bewertete sie als eine „bewaffnete Fortsetzung des Komplotts vom April 1960" und ließ sie durch ein Aufgebot von einigen tausend Angehörigen derStaatlichen Jugendorganisation J. -R. D. A. gewaltsam zerstreuen. Auch hierbei gab es Tote und Verwundete. Die Verantwortung dafür wurde den zu diesem Zeitpunkt längst inhaftierten Führern der Lehrer-gewerkschaft aufgebürdet, so als habe es sich bei diesen Zwischenfällen just um jene Unruhen gehandelt, die — nach dem Wortlaut der Anklage — sie zum Sturz des Regimes von langer Hand vorbereitet hatten.
Bei dieser Einschätzung konnte sich die Partei auf zum Teil sehr belastendes Material berufen, das bei Djibril Tamsir Niane, dem „Theoretiker" der Gruppe, beschlagnahmt worden war
Der Kreis um den 1965 rehabilitierten Niane
Die Furcht, so hieß es in Nianes Aufzeichnungen, sei „die einzige ideologische Waffe" der Partei: „Es ist dieser Mythos der Furcht, der in der Tat das größte Hindernis für ein wirksames Vorgehen gegen die P. D. G. darstellt."
Den Gewerkschaftsverband C. N. T. G. hatte Niane zum Hebel der Kritik und der Erneuerung ausersehen. Die Anklage erkannte darin die Absicht, „sich des Gewerkschaftsapparats zu bemächtigen". Am Anfang der geplanten Aktion hatte eine soziale und wirtschaftliche Bestandsaufnahme stattfinden sollen. Denn, so hieß es in den bei Niane sichergestellten Do-kumenten: „Wenn es uns innerhalb von zwei Jahren unmöglich gewesen ist, etwas, und sei es noch so wenig, Konkretes zu tun, dann, Kameraden, hat es daran gelegen, daß wir weder ein Programm noch präzise Aufgaben hatten. Eine unvollkommene Kenntnis der politischen und sozialen Situation des Landes hat uns daran gehindert, klar zu sehen, und so ist es geschehen, daß wir nichts auszurichten vermochten.“
Seiner ganzen Natur nach konnte das Regime darin nichts anderes als Hochverrat erblicken. Ungefestigt wie es war und arm an echten Erfolgen, mußte ihm die Kritik Nianes als eine sehr ernste Bedrohung erscheinen. Daß sich Niane und seine Gesinnungsgenossen bei ihrem Urteil über die P. D. G. auf die Lehren des Marxismus-Leninismus beriefen
Das „revolutionäre Komplott"
Die guineische Arbeiterklasse, so erklärte Sekou Toure in seiner bereits zitierten Rede anläßlich der 1. C. N. T. G. -Nationalkonferenz, sei nur „une infime partie de la population" (kaum 5 °/o) und die Unabhängigkeit nicht ihr Werk, sondern das der von der Partei geführten Volksgesamtheit. Im Lichte dieser „vrit historique" komme die Avantgarderolle der P. D. G. zu, die selber eine revolutionäre Bewegung sei: „Einer der obersten Grundsätze des Marxismus ist der, daß die Avantgarde-rolle in einem Lande, in dem es eine aus dem Volke hervorgegangene revolutionäre Bewegung gibt, eben dieser Bewegung zukommt." Die P. D. G. allein sei in der Lage, sämtliche sozialen Schichten der Nation zu einen, was als conditio sine qua non für das Gelingen der Revolution zu gelten habe. Es sei daher erforderlich, die strikte „Subordination de l'action syndicale ä la conception politique" zu wahren. Hier begann jene Kampagne, die endlich, im Januar 1969, zur regelrechten Eingliederung des guineischen Gewerkschaftsverbandes in die Partei geführt hat. Alles andere, so erklärte Sekou Toure schon damals, sei Anarcho-Syndikalismus bzw. Sektierertum, darauf gerichtet, die guineischen Arbeiter vom guineischen Volk zu trennen („dissocier les travailleurs guineens du Peuple de Guinee"). In der Rückschau wird man sagen müssen, dieses Urteil war historisch richtig. Durch die in den sozialistischen Ländern entwickelte Theorie vom „Staat der Nationalen Demokratie“ wurde es nachträglich bestätigt
Schon deshalb konnten Niane und seine Gesinnungsgenossen mit keinerlei Nachsicht rechnen. Aber vollends aussichtslos wurde ihre Lage durch die harte Kritik, die sie an den Leistungen des Regimes geübt hatten. Auf das äußerste gereizt, setzte Sekou Toure dieser Kritik einen langen Katalog von Errungenschaften entgegen, die aber alle den Nachteil hatten, sich auf die Lebensverhältnisse in Guinea vorerst eher negativ als positiv auszuwirken. Doch wie in allen Staatskrisen vorher und nachher, so zeigte sich auch diesmal, daß die Kritiker des Regimes keine Gefolgschaft hatten. Wie in allen Systemen, in denen die immanenten Konflikte nicht offen ausgetragen werden können, so trat auch hier nach der Inhaftierung der Aufbegehrenden wieder Ruhe ein.
In der an sich nebensächlichen Gehaltsfrage, an der sich die Krise entzündet hatte, gab die Regierung nach. Die Arbeiterklasse, als deren Repräsentanten Niane und seine Freunde aufgetreten waren, verwies Sekou Toure auf die Zukunft: „Die Arbeiterklasse Guineas, reich durch die Kämpfe der Vergangenheit, ist als Folge der historischen Entwicklung unseres Landes aufgerufen, die für das Schicksal der Nation verantwortliche Klasse zu werden. Aber diese Rolle wird ihr solange nicht zuerkannt werden, als wir noch unter den Übeln der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Unterentwicklung zu leiden haben..."
Der Klassenkampf jedoch, als Mittel zur Austragung gesellschaftlicher Gegensätze 1961 in der Auseinandersetzung mit Niane noch verneint, wird 1967 als „une ralit universelle et une necessite historique" bejaht. Die Fiktion von der nationalen und sozialen Einheit der guineischen Gesellschaft, 1961 gegen Niane so erbittert verteidigt, wird wenige Jahre später aufgegeben. Der unbestreitbare Nutzen, den sie gebracht hat, gibt Sekou Toure recht und setzt seine linken Kritiker ins Unrecht. Denn mit ihrer Hilfe ist es tatsächlich gelungen, den gordischen Knoten aus Tribalismus, Hegionalismus, religiösem Mystizismus, Fetischismus, Kasten-und Klassengeist weitgehend zugunsten eines Gefühls der nationalen Zusammengehörigkeit aufzulösen
Ein zweiter Umsturzversuch von links, lange Zeit für möglich gehalten, ist ausgeblieben. Die zunehmende Bedrohung von rechts, das Schicksal anderer progressistischer Regime in Afrika und nicht zuletzt die Analyse der gegenwärtigen Situation des internationalen Klassenkampfes haben die marxistischen Kräfte Guineas veranlaßt, um den Preis einer Radikalisierung der Revolution, bis auf weiteres das P. D. G. -Regime Sekou Toures zu unterstützen. Denn: „Keine soziale Schicht, keine Gruppe von Arbeitern, keine Kategorie von Proletariern kann von sich behaupten, revolutionärer zu sein als das Volk ..
V. Der „Coup d'Arret" vom 8. November 1964 Die erste Auseinandersetzung mit dem nationalen Kleinbürgertum Das guineische Loi-Cadre
Der nach den November-Ereignissen des Jahres 1961 entschiedener denn je beschrittene »nicht-kapitalistische Weg" führte das Land rasch in die totale Wirtschaftsund Währungskrise.
Weder die Öffnung Guineas für ausländische rivatinvestitionen
Dennoch vermochte sich eine bis dahin latente Klasse von Konterrevolutionären zu aktivieren
Dem Regime, zwar am Ende seiner Kunst, aber bei vollem Bewußtsein der „mancevres reactionnaires de la nouvelle classe bour-geoisie mercantile qui s'oppose au regime"
Diese unverbesserliche reaktionäre Schicht war drauf und dran, die Grundfesten der Revolution, d. h. die Entscheidung für den nicht-kapitalistischen Weg und eine eigene Währung durch Korruption, Opportunismus, Lüge, Subversion, Regionalismus und „mystification religieuse" zum Einsturz zu bringen. Aufs höchste alarmiert, sah die Partei die Errungenschaften der Revolution akut gefährdet durch eine „categorie de profiteurs malhonnetes de la revolution". Die Bevölkerung nahm mehr und mehr eine abwartende Haltung ein. Der Staatsapparat begann, deutliche Spuren von Desorganisation zu zeigen. „La marche normale de l'Histoire de notre Peuple vers ses nobles objectifs d'emancipation totale’
Denn statt im Bewußtsein erhöher staatsbürgerlicher Verantwortung zu handeln, hatten die Händler das Entgegenkommen des Regimes als einen Freibrief zu noch hemmungsloserer Betätigung ihrer Profitgier aufgefaß! und infolgedessen die Wirtschaftslage Guineas nicht gebessert, sondern vollends ruiniert. Das Regime stand vor einer folgenschweren Alternative: entweder vor der einheimischen Bourgeoisie zu kapitulieren, deren unverhohlenes Ziel es war, die Wirtschaft restlos zu reprivatisieren und durch Wiedereintritt in die Franc-Zone zur Konvertierbarkeit der guineischen Währung zurüdezukehren, d. h. die nationale Unabhängigkeit weitgehend wieder aufzugeben, oder — nach repressiver Bereinigung der Situation — den nichtkapitalistischen Weg fortzusetzen, „den harten und langen Weg, der jedoch allein in der Lage ist, die Unabhängigkeit zu konsolidieren und in die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen eine Bresche zu schlagen"
Am 8. November 1964 kam das Regime dieser Aufforderung in spektakulärer Weise nach. Auf einer eilig einberufenen Massenversammlung im Stadion von Conakry führte Sekou Toure den erwarteten, in seiner Härte aber überraschenden „coup d’arret" gegen die faktische Alliance des Kleinbürgertums mit — wie es hieß — Imperialismus, Kolonialismus und Neokolonialismus.
Unter leidenschaftlichen Attacken gegen die «etrangleurs de notre liberte", als deren Ziel er es bezeichnete, die guineische Wirtschaft zu erdrosseln und im Volke Unzufriedenheit zu säen, „um die Demokratie durch die Herr-schäft des Geldes und der Verantwortungslosigkeit zu ersetzen", verkündete er die 12 Punkte des legendären „Loi-Cadre de l'action militante du Parti Democratique de Guinee"
Die Zeit der Reden und der Nachsicht sei vorüber, sagte Sekou Toure in seiner glänzenden, wenn auch jakobinerhaften Eröffnungsansprache. Die Linie der Partei werde von zahlreichen Funktionären mißachtet. Der Begriff der Freiheit sei ein Synonym für Anarchie geworden. An die Stelle des staatsbürgerlichen Verantwortungsbewußtseins seien Egoismus und Individualismus getreten. Das Volk habe sich dem Dämon „Geld" ergeben. Die guineische Demokratie sei ihres progressistischen Inhalts beraubt worden und nahe daran, in Demokra-tismus und Liberalismus zu entarten. Die Dezentralisierung der Verwaltung habe das Nationalgefühl, den Patriotismus und den Kampfgeist der Parteimitglieder untergraben. Die Dekonzentrierung der Staatsmacht habe es gewissen „feudalen Elementen" und „Reaktionären oder nicht zu revolutionärer Moral und Aktion bekehrten alten Saboteuren" ermög-iht, die Sache des Volkes zu kompromittieren, indem sie es im Namen der Partei und des taates gewissenlos ausbeuteten. Das Verhältnis zahlreicher hoher Funktionäre zu den Mas-sen sei daher durch Opportunismus, Rassismus, usbeutung und Unterdrückung gekennzeich-not. Auf diese moralische Krise seiner Führer antworte das Volk mit Konfusion und Demobilisierung. Zum erstenmal in dieser Schärfe wurden die Beamten und Parteikader mit den Händlern auf eine Stufe gestellt. Das Loi-Cadre Skou Toures richtet sich gegen „eine aus dem Milieu der Händler und der Bürokratie hervorgegangene Kleinbürgerklasse ohne Skrupel"
Das Bild, das Sekou Tour von der Lage im Lande entwarf, war gewiß düster. Aber es entsprach der Wahrheit. In der Tat waren die Beamten und Parteifunktionäre immer zahlreicher geworden, „die sich dem Schmuggel und der Preistreiberei hingaben oder gute Kämpfer in Komplizen unserer Feinde verwandelten,,
Aber trotz furchterregender Drohungen („Das Loi-Cadre wird die Feinde des Volkes vernichten") kam es zunächst weder zu Verhaftungen noch zu Parteiausschlußverfahren. Den großen Worten („Unsere Partei hat aufgehört, eine Zuflucht derjenigen zu sein, die aus ihr das Sprungbrett ihres Ehrgeizes machen wollten") folgte die Tat nur zögernd.
Das Regime glaubte, sich auf die regulierende Wirkung des Loi-Cadre und seiner Durchführungsvorschriften verlassen zu können. An erster Stelle stand die Reform der Wirtschaft. Das Außenhandelsmonopol des Staates wurde in vollem Umfang wiederhergestellt. Sämtliche Konzessionen für den Privathandel wurden für ungültig erklärt und die Erteilung neuer Konzessionen von der Erfüllung schwieriger Voraussetzungen (Solvenz, Eignung, Berufs-ethos) abhängig gemacht, die Zahl der Händler drastisch verringert, der Warenverkauf außerhalb der behördlich genehmigten Geschäftslokale mit schweren Strafen bedroht und den Mitgliedern der Regierung sowie den Beamten und Angestellten des staatlichen Wirtschaftssektors jede direkte oder indirekte Ausübung einer privaten Erwerbstätigkeit bei Strafe untersagt.
Für Schmuggel von Waren und guineischer Währung wurde Gefängnis von fünf bis zehn Jahren sowie Vermögensbeschlagnahme angedroht, die Suche nach Diamanten wieder für illegal erklärt. Vorschriften ergingen zur Bekämpfung des Mietwuchers und der Wohnungsnot. Außerdem wurden die gefürchteten „Vermögenskontrollkommissionen" ins Leben gerufen. Sie erhielten den Auftrag, die seit dem 28. September 1958 erworbenen Vermögen der Staats-und Parteifunktionäre sowie der Händler auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls zu konfiszieren. Einschneidende Vorschriften ergingen auch zur Straifung der Parteiorganisation. In allen Unternehmen und Behörden waren umgehend Betriebsparteiorganisationen zu gründen. Für das Stadtgebiet von Conakry wurde die Höchst-zahl der Parteimitglieder auf ein Sechstel der Gesamtbevölkerung festgesetzt und die Ausübung einer produktiven Tätigkeit zur Aufnahmebedingung erhoben. Wer nach 1958 wegen Diebstahl, Unterschlagung, Vertrauensbruch, Subversion und Rassismus verurteilt worden war, verlor, ebenso wie sämtliche Händler, das passive Wahlrecht zu allen Parteiämtern. Vorübergehend trat eine gewisse Besserung der Wirtschaftslage ein. Der Schmuggel in die benachbarten Hartwährungsländer nahm ab, die Preise gaben nach, das Warenangebot war kurze Zeit so reichhaltig wie schon lange nicht mehr
Schon 1965 zeigte sich, daß administrative und gesetzgeberische Maßnahmen allein nicht ausreichen würden, um das Kleinbürgertum entscheidend zu schlagen. So sah sich der Natio-; nale Revolutionsrat auf seiner Tagung in NZ-rekore (7. bis 11. Juni 1965) gezwungen, die nach dem „ 8 novembre" überall im Lande gegründeten Konsumgenossenschaften der Arbeiter und Bauern wieder aufzulösen (außer in Conakry): die Händler hatten sich ihrer bemächtigt und gingen „sous couvert de pseudocooperatives" ihren alten nichtswürdigen Ge-schäften nach. In den Städten murrten die Hausbesitzer gegen die amtlich verordneten Mietpreissenkungen. Ein abermaliger Konflikt schien alsbald unausweichlich.
VI. Das dritte Komplott (Händlerkomplott) vom Oktober 1965 Der Versuch zur Einführung einer Oppositionspartei in das Verfassungssystem
Bis zum Herbst des Jahres 1965 hatte sich die Lage Guineas, sowohl innenwirtschaftlich als auch innenpolitisch, trotz Loi-Cadre, trotz verschärfter revolutionärer Wachsamkeit, weiter verschlechtert.
Durch die Ausschaltung zahlreicher Händler, durch das Handelsverbot für alle Funktionäre des Staates, der Wirtschaft und der Partei sowie durch die Untersagung des privaten Diamantenabbaus hatte sich das Regime innerhalb und außerhalb der Grenzen Guineas zahlreiche neue Feinde gemacht.
Am 13. September hielt Sekou Toure es für geboten, die Abgeordneten der Nationalversammlung durch das B. P. N. über die mutmaßlichen Pläne der Konterrevolution zu informieren. Am Unabhängigkeitstag, dem 2. Oktober, wandte er sich, in denselben weißen Boubou gekleidet, den er am 2. Oktober 1958 getragen hatte, mit folgenden Worten an einen ausländischen Gast: „Dieser Boubou wird mir an jenem Tage, da die Konterrevolution mich liquidiert, als Leichentuch dienen. Aber mein Tod wird nicht den Untergang der guineischen Revolution bedeuten. Denn die Revolution, das bin nicht ich, nicht ich allein; die Revolution, das ist das Volk Guineas ..."
Die bis dahin auf Gerüchte angewiesene Öffentlichkeit erhielt Kenntnis von Zusammenhängen, die, wenn sie wirklich bestanden haben, ein weitverzweigtes Komplott jener kleinbürgerlichen Kreise darstellten, die durch das Loi-Cadre vom 8. November 1964 in ihren händlerischen Interessen zutiefst getroffen worden waren. Zum Wortführer dieser „Elemente" hatte sich — folgt man dem Bericht des „Comite Revolutionnaire"
Der Bericht des Revolutionskomitees, dem die Funktion einer Anklageschrift zukommt, bezeichnet ihn als den „chef de la Subversion interieure" und sagt ihm große politische Ambitionen nach: „Aufgrund der Prophezeiungen seiner Marabouts glaubte er sich zu einer großartigen Karriere berufen."
Es ist ein afrikanisches Kuriosum, daß eine solche Feststellung von der Anklageschrift eines sozialistischen Revolutionstribunals als belastendes Moment gewertet werden konnte. Immerhin war man konsequent: unter den verurteilten Tatgehilfen findet sich auch Dioubate Diely Balla, der „Griote" des Petit Toure.
In der Gründung der „Parti de l'Unite Nationale" schließlich, dem einzigen vollendeten Bestandteil des angeblich aufgedeckten Komplotts, sieht der Bericht den Versuch Petit Toures, der Konterrevolution eine „Couverture legale" zu verschaffen. Aus naheliegenden Gründen ist das Revolutionskomitee bemüht, den heiklen, weil nicht ohne weiteres strafbaren Tatbestand der Gründung einer zweiten Partei in den Hintergrund treten zu lassen. Die Anklage wird vor allem auf angebliche Pläne und Vorbereitungen zum Sturz des Regimes sowie auf konspirative Beziehungen zu ausländischen Hintermännern abgestellt. Unter den Petit Toure zur Last gelegten Plänen und Vorbereitungen zur Durchführung eines Staatsstreichs rangieren „redaction et diffusion" der P. U. N. -Statuten an letzter Stelle.
Das Schwergewicht der Anklage liegt auf einem an die Armee gerichteten Aufruf, Sekou Toure — wie Ben Bella — „einfach abzusetzen", ferner auf drei nicht zur Durchführung gelangten Plänen zum gewaltsamen Sturz des Regimes sowie auf der verschwörerischen Verbindung zu einem gewissen Kamano Kata Franqois. Dieser wird als „agent de liaison" zwischen Petit Toure und dem — nach guineischer Darstellung — eigentlichen Verantwortlichen für das Komplott, dem ivorischen Staatspräsidenten Houphouet-Boigny, bezeichnet
Damit erreicht der Rapport des Revolutionskomitees jenen Punkt, an dem das Komplott, über die Bedeutung einer inneren Angelegenheit hinaus, zur Staatsaffäre mit internationalen Konsequenzen wurde.
Das Revolutionskomitee behauptete
Frankreich entschloß sich, diese ungewöhnliche Herausforderung mit dem sofortigen Abbruch sämtlicher Beziehungen zu beantworten. Guinea seinerseits protestierte bei der Organisation für Afrikanische Einheit. Sekou Toure unterrichtete telegrafisch alle afrikanischen Staatschefs über den maßgeblichen Anteil Houphouet-Boignys an diesem Komplott. Alle seine Beschuldigungen hält er bis heute in vollem Umfang aufrecht. Sie sind zwar nie bewiesen, aber auch nie widerlegt worden.
Ob sie zutreffen oder nicht, sie gehören zur Grundausstattung des guineischen Ideologie-haushalts. Die Bedrohung durch Frankreich, und sei sie mittlerweile noch so fiktiv, ist nach wie vor eine der wichtigsten Rechtfertigungen des P. D. G. -Regimes und seiner Politik. Der französische Revanchismus, einerseits ein politischer Horror-Komplex, ist andererseits eine propagandistische Droge, deren Verabreichung das guineische Volk noch immer zur nationalen Raison gebracht hat. Aber schon 1965 reichte sie zur Beschwichtigung des nationalen Unmuts allein nicht aus.
Im Anschluß an die Verurteilung der in das Komplott verwickelten Personen
Das Regime ging nicht so weit, den Verfassungsartikel 40 in Frage zu stellen. Im Gegenteil, einer Diskussion um die Koalitionsfreiheit wich es beharrlich aus. Dagegen versuchte es, der Bevölkerung zweierlei begreiflich zu machen: die geringe Repräsentativität der P. U. N. -Gründer und die absolute Unantastbarkeit des Einparteiensystems im revolutionären Staat.
Das Einparteiensystem in Guinea wurde als das Ergebnis eines historischen Prozesses dargestellt. Die P. D. G., die alle anderen guineischen Parteien nach dem 28. September 1958 aufgesogen hatte, machte ihren Platz an der Spitze der Revolution und damit an den Hebeln der Macht in Guinea deutlich. Die Gründung einer zweiten Partei, so hieß es, impliziere die Forderung nach Umwandlung des Regimes in ein Zweiparteiensystem und damit das Verlangen nach Teilhabe an der Macht der P. D. G. Die ghanaische Konterrevolution (gegen den damals noch regierenden Nkrumah) habe sich zeitweise zur Bemäntelung ihrer Machtgier der gleichen Forderung bedient. Die Macht der Einheitspartei im progressistischen Staat aber sei unteilbar. Das guineische Einparteiensystem sei eine „neue Art von politischem Regime, nicht zu vergleichen mit jenen innerlich widersprüchlichen Einparteienregimen, die der Kapitalismus kenne: Faschismus, neokolonialistische Diktaturen wie die der Marionetten Houphout-Boigny, Yameogo
Dieses Zitat ist charakteristisch. Es verdeutlicht das dynamische Selbstverständnis, das dem Sekou-Toure-Regime eigen, und das Gefühl der moralischen Überlegenheit, von dem es beseelt ist: hier Reinheit, dort Verderbtheit.
Hätte man die Partei der Nationalen Einheit gewähren lassen, so wurde weiter argumentiert, dann hätte das eines Tages „die imperialistische Diktatur mittels zwischengeschobener Gehilfen" zur Folge gehabt.
Bis dahin hatte sich Sekou Toure nur einmal — im Interview mit dem dänischen Journalisten Jorge Schleimann
Die Koalitionsfreiheit der gegenwärtigen guineischen Verfassung reicht nur so weit, als der „monopartisme", die Grundvoraussetzung und damit zugleich die Grundgesetzlichkeit des progressistischen Entwicklungsstaates nicht in Frage gestellt wird. Im progressistischen Staat wird die Koalitionsfreiheit der einzelnen durch das Koalitionsmonopol der Einheitspartei aufgehoben. Insofern war die Gründung der Partei der Nationalen Einheit verfassungswidrig. Insofern war das Regime im Recht, so fragwürdig solche Rechtstitel auch sein mögen. Aber zugleich befand es sich in echter Sorge um seine Existenz. Sekou Toure und seine Mitarbeiter haben wochenlang um ihr Leben und ihr Lebenswerk gefürchtet. Nur so läßt sich das erstaunlich freimütige Bekenntnis erklären, das in Sekou Toures Schlußadresse an den Außerordentlichen C. N. R. vom 15. November 1965 enthalten ist: „Ohne die Unabhängigkeit und ohne die Revolution . . ., was wären wir, jeder von uns? Kleine Angestellte, ganz kleine Angestellte. Zum Beispiel ich: unter dem Kolonialregime hätte ich nie mehr als 30 000 Francs verdient! Das war die Grenze für uns alle, die wir nicht einmal ein Motorrad besaßen, geschweige denn ein Auto oder ein Haus. Wer von uns hätte damals von seinem Gehalt Ersparnisse zwischen 500 000 Francs und einer Million machen können? Wir dürfen nicht vergessen, was gestern war ... Wenn von der Geschichte der Großen dieser Erde die Rede ist, dann spricht übrigens niemand von ihren Häusern, von ihren Autos oder von ihren Bankkonten . .. Dann spricht man von ihrer Bedeutung, vom Sinn ihres Lebens in der Geschichte ihrer Völker..
Bezeichnenderweise fiel dieses Zitat, das dem guineischen Präsidenten im übrigen eher zur Ehre als zur Unehre gereicht, beim Nachdruck in der unter seinem Namen erscheinenden Schriftenreihe der P. D. G.dem Zensor zum Opfer. Die Rückschau stellt die Ereignisse des Jahres 1965 als einen einzigen Sieg der fortschrittlichen Kräfte dar. Auf den Helden der Tragödie darf kein Schatten fallen.
VII. Das Aufrücken des Kleinbürgertums zum Klassenfeind im Jahre 1967/68
Bemerkenswerterweise spielte in den Auseinandersetzungen um das Händlerkomplott vom Herbst 1965 das Argument des Vorjahres, es handele sich um konterrevolutionäre Machenschaften einer „nouvelle classe bourgeoise mercantile", nicht die geringste Rolle. Die Bewußtseinslage der guineischen Bevölkerung war damals so unprofiliert, die ideologische Schulung noch so unzulänglich, das Regime noch so sehr in den statischen Vorstellungen einer klassenlosen nationalen Demokratie befangen, daß es nur über die Hilfskonstruktion vom imperialistisch-kolonialistischen Anschlag auf die nationale Unabhängigkeit zur Beschwichtigung der aufgebrachten öffentlichen Meinung gelangen konnte.
Erst 1966/67, nachdem mit einer gewissen Konsolidierung auch eine gewisse Radikalisierung der Revolution und der öffentlichen Meinung erreicht worden war
Außer ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wurzeln waren darzustellen: die ihr für den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Kampf zu Gebote stehenden Mittel, ihre ausländischen Verbündeten sowie ihr Bewußtseinsstand „en tant que classe". Aufzuzeigen waren ferner die Waffen, mit denen das guineische Volk „unter Führung der P. D. G." diese neue Klasse bekämpfen und besiegen könnte. Schließlich war darzutun, daß die Bildung einer solchen Klasse die Revolution nicht schwäche, sondern stärke.
HOROYA war beauftragt, dieses Thema der „meditation de l'ensemble des militants" zu empfehlen. Die regionalen Parteileitungen wurden aufgefordert, einen Bericht über die sozialen Gegensätze in ihrem Bereich zu erstatten. Die Grundfrage laute, so schrieb HOROYA, ob es in Afrika überhaupt soziale Klassen gäbe, und wie es sich erkläre, daß in Guinea ein „embryon dj avanc d'une classe petite-bourgeoise“ existiere, obwohl dafür eigentlich keine materielle Basis vorhanden sei. — HOROYA nahm die Antwort vorweg: „Der revolutionäre Volksstaat sieht sich gezwungen, Staatsbürger mit kleinbürgerlicher Gesinnung zu engagieren, um den Behörden-b trieb sicherzustellen..." Abschließend zi-tierte die Zeitung ein Wort Sekou Toures, wonach die Auseinandersetzung mit dem konterrevolutionären Kleinbürgertum nur im Wege des Klassenkampfes geführt werden könne; die andere Klasse sei das Volk: „La classe au pouvoir est le peuple."
Dieser HOROYA-Artikel signalisierte eine in der westlichen Welt kaum beachtete Wende. Bis zu diesem Zeitpunkt nämlich war im Dogma Sekou Toures für die Lehre vom Klassenkampf kein Platz gewesen, allerdings „weniger aus philosophischer Überzeugung, denn aus dem Wunsch heraus, um jeden Preis die afrikanische Solidarität zu retten"
Diese Solidarität, auf der Sekou Toure ursprünglich ein „kommunokratisches" Regime hatte aufbauen wollen
Als dies erstmals erkannt wurde, im November 1964, setzte ein Umdenkungsprozeß ein. Dieser mußte jedoch mit äußerster Behutsamkeit geleitet werden, um den offenbar gewordenen Klassenkampf nicht zum offenen Bürgerkrieg zu steigern. Dem Regime wurde unerwartete Hilfe zuteil. Die vielfältigen Staatsstreiche jener Periode, insbesondere der Sturz Olympios, Ben Bellas und Kwame Nkrumahs erzeugten im guineischen Volk erstmals wieder eine gewisse Solidarisierung, eine zweite, wenn auch matte Woge nationaler Schutz-und Trutzhaltung. Diese ermöglichte es dem Regime, den an der Spitze längst vollzogenen Gesinnungswandel auf die Basis auszudehnen: „Es handelt sich jetzt darum, die Theorie und die Praxis des offenen revolutionären Kampfes in die Doktrin der Partei einzubeziehen" (Sekou Toure vor dem VIII. Parteitag).
Die Gruppe um den Präsidenten folgerte daraus, daß sie, möglichst nicht nur in Worten, sondern auch in Taten, einen deutlichen Schritt nach links tun müßte, wollte sie nicht eine Wiederholung des 1961 gescheiterten Umsturzversuchs von links heraufbeschwö-ren. Uber den Umfang der einzuleitenden Maßnahmen bestanden jedoch Meinungsverschiedenheiten. Eine Gruppe glaubte, dem vom guineischen Gewerkschaftsbund C. N. T. G. ’
Die Liste der negativen Momente war lang. Sie reichte vom „sentimentalisme", d. h. von der Praxis, gegenüber ärgsten Verfehlungen noch ein Auge zuzudrücken, über die skandalöse Art der Lebensmittelverteilung, über den Nepotismus in den Parteileitungen, über die Verwechslung von Autorität und Autoritarismus bis hin zum innerparteilichen Terror, mit dem jede offene Diskussion unterdrückt wird. Makassouba Moriba begründete mit diesen Anschuldigungen die Forderung nach einer unnachsichtigen Säuberung des öffentlichen Dienstes. Nur aus tiefer Besorgnis sind die folgenden Worte erklärlich: „Das Eigentum des Staates, d . h.des Volkes, wird schlecht betreut und schlecht verwaltet. Hält man sich all die Gleichgültigkeit und Sorglosigkeit vor Augen, die in der Verwaltung der öffentlichen Sachen zu konstatieren ist kann man nicht anders als sich zutiefst entrüsten ..."
Mußten bereits diese Forderungen und Feststellungen einflußreiche Gegner auf den Plan rufen, so geschah dies erst recht, als Dr. Makassouba, kaum hatte sich Guinea mit den arabischen Ländern gegen Israel solidarisiert auf das Libanesenproblem verwies. Er schrieb in der wenige Stunden nach Erscheinen beschlagnahmten HOROYA vom 27. /28. August
1967, eine „libanesische Maffia" kontrolliere den guineischen Handel.
Diese Behauptung, so unerhört sie klingt, traf zu und brachte das zum Ausdruck, was alle dachten. Aber sie rührte an einen außerordentlich heiklen und aus vielerlei Gründen tabuierten Sachverhalt. Sollte das Regime die reich gebliebenen oder reich gewordenen Libanesen und Syrer, von deren levantinischer Geschäftstüchtigkeit der revolutionäre Staat so gut zu profitieren weiß, enteignen, ausweisen, „liquidieren“?
Die Verlockung, dies zu tun, war für manches Mitglied der guineischen Staats-und Parteiführung groß. Dennoch entschied sie sich für den Rückzug. Am 6. September 1967 veröffentlichte HOROYA ein Regierungskommunique, demzufolge Dr. Makassouba Selbstkritik geübt und widerrufen hatte: „Der Minister Makassouba Moriba hat den von ihm durch Veröffentlichung einer Anzahl nichtfundierter Informationen begangenen Fehler eingestanden und die Regierung um Entschuldigung gebeten ...“
Bezeichnend ist, daß dieser Widerruf in eine Verlautbarung der Regierung und nicht in eine solche der Partei gekleidet war. Was die führenden Männer Guineas als Parteileitung billigten, mußten sie als Staatsführung und aus Staatsraison verurteilen. Denn im revolutionären Entwicklungsstaat ist das revolutionäre Element schwach. Klassenkampf als Mittel zur Austragung gesellschaftlicher Gegensätze in Guinea hat nur dann eine Chance auf Erfolg, wenn die Partei stark und — außer der guineischen Bevölkerung — auch die Libanesen-Maffia ihren Gesetzen unterworfen ist. Beide Voraussetzungen waren nicht, noch nicht gegeben. Die vorgeprellte Revolution mußte sich deshalb darauf beschränken, die Position der ideologischen Vorbereitung des Klassenkampfes weiter auszubauen.
Der VIII. Kongreß der Partei im September 1967 dogmatisierte den Klassenkampf in seiner Entschließung
Erstmals versuchte er, die beiden Seiten dieses Klassenkampfes wenigstens ungefähr zu definieren: Arbeiter, Bauern, Intellektuelle, Frauen, Jugendliche, Soldaten in der „classe de la Revolution" und die „manchmal heimtückische, manchmal arrogante, immer aber gefährliche Bourgeoisie" in der Klasse der Konterrevolution. Aber diese Definition war unzulänglich. Statt eine saubere Trennung von Freund und Freind zu ermöglichen, stiftete sie Verwirrung. Denn wer war ein Kleinbürger, wer keiner? Auf der Suche nach einem geeigneten Unterscheidungsmerkmal erfand Sekou Toure das Kriterium der „disponibilite pour la Revolution“.
Vor dem V. Kongreß der Partei-Jugend J. -R. D. A. teilte er die guineische Gesellschaft nach ihrer Ergebenheit gegenüber der Revolution in vier „soziale Kategorien"
1. die Jugendlichen (zu 100%) und Frauen (zu 95%), 2. die Arbeiter und Handwerker (zu 85 bis 88%), 3. die Beamten (zu 75 bis 80 %)
Von nun an, so sagte der Präsident, hätten die Organe der Partei diese vier Gruppen an ihrem Verhalten gegenüber den Anforderungen der Revolution zu messen, „um gegenüber jeder dieser Schichten eine geeignete Kampftaktik zu entwickeln".
Doch in erstaunlicher Abweichung von seinen Ausführungen auf dem VIII. Kongreß
Das Zurückweichen Sekou Toures hinter diese klare Linie kann daher nur als ein taktisches Manöver gewertet werden, das jedoch Rückschlösse auf die unstabilen Kräfteverhältnisse im progressistischen Entwicklungsstaat ermöglicht. Erst im Herbst 1968, nach vollzogener Integration des klassenbewußten Gewerkschaftsverbandes C. N. T. G. in die Partei, war das Regime wieder in einer Position, aus der es einen weiteren Schritt zur Radikalisierung der Revolution unternehmen konnte, und zwar „durch die Lehre und Praxis des Klassenkampfes"
Das 12-Punkteprogramm des Loi-Cadre vom 8. November 1964 wurde um weitere 12 Ge-und Verbote ergänzt
VIII. Das vierte Komplott (Militärkomplott) vom Februar 1969 Die Stellung der Armee im progressistischen E ntwicklungsstaat
Am 18. März 1969 wurde die Aufdeckung eines neuen „machiavellistischen" Komplotts sowie die Verhaftung zahlreicher hoher Offiziere und Staatsfunktionäre bekannt, deren kritische Einstellung gegenüber dem Regime seit langem ein offenes Geheimnis gewesen war
Eine Schlüsselrolle bei der Aufdeckung des Sachverhalts in seiner Gesamtheit haben die bereits mehrfach erwähnten Januar-Beschlüsse des Nationalen Revolutionsrates (C. N. R.) gespielt
Den entschlossensten Gegner der Miliz und der Politisierung der Streitkräfte, den stellvertretenden Generalstabschef Kaman Diaby, ernannte Sekou Toure zum Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Kaman Diaby, in dem Sekou Toure seinen derzeit einflußreichsten Gegner vermutete, mußte sich jetzt beugen oder als Feind zu erkennen geben: „Der Klassenkampf verlangt von uns revolutionäre Festigkeit, Klarheit in den Positionen"
Das unmittelbar nach den Vorfällen von Labe eingesetzte Revolutionskomitee gelangte sehr bald zu der Überzeugung, auf dem Umweg über die Geständnisse der verhafteten Fallschirmjäger sensationelle Beweise gegen weitere wesentlich höher gestellte Konterrevolutionäre erhalten zu können.
Eine Verschwörung wie diese mußte Hintermänner, Anstifter, Drahtzieher im Establishment der Revolution haben
Die von Sekou Toure seit Jahren vertretene These, wonach die Crux des progressistischen Staates in seinen Kadern liegt
Vor diesem Hintergrund gelangte die Untersuchung des Revolutionskomitees zu folgendem Ergebnis: Hinter den Attentatsplänen der in Labe verhafteten Fallschirmjäger stand, wie vermutet, eine Gruppe hoher Offiziere und leitender Staatsfunktionäre, an ihrer Spitze der stellvertretende Generalstabschef und Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Oberstleutnant Kaman Diaby, und der Staatssekretär für Landwirtschaft, Keita Fodeba. Die Abrechnung mit der Konterrevolution geriet mehr und mehr zu einer Abrechnung mit diesen beiden Männern, von denen jeder auf seine Weise eine gewisse Volkstümlichkeit besaß.
Am schwersten, am präzisesten waren die Vorwürfe gegen Kaman Diaby. Schon im Januar 1967 soll er dem Kommandeur des III. Bataillons, dem ebenfalls verhafteten Major Keita Cheik Mohamed, befohlen haben, Sekou Toure anläßlich eines Besuchs in Labe festzusetzen. Schon damals auch soll Oberstleutnant Kaman seinen militärischen Mitverschwörern die Liste einer provisorischen Regierung vorgelegt, gleichzeitig aber — was für ihn spräche — verlangt haben, die Armee solle nach vollendetem Staatsstreich in die Kasernen zurückkehren. Die Verschwörer hätten sich schließlich auf ein sog. „Programm des Nationalen Wiederaufbaus" geeinigt, das eine provisorische Zivil-Regierung unter der Kontrolle der Armee hätte durchführen sollen.
Außerdem heißt es von Oberstleutnant Kaman, er habe auf seinen Europareisen Kontakt zu der regimefeindlichen Gruppe des guineischen Weltbankdelegierten Bah Mamadou, der „eminence grise" des Komplotts, aufgenom men und über diesen auch „de maniere perfide et continuelle" mit der militanten Exilorgani sation „Front de Liberation Nationale“ korrespondiert. Des weiteren wurde dem Oberstleutnant zur j Last gejegt, nachdem die Attentatspläne für Labe sich als undurchführbar erwiesen hätten weil der Präsident die beiden Besuche absagte weitere Vorkehrungen für einen Staatsstreich getroffen zu haben.
Der Beweisführung des Revolutionskomitees'zufolge hatte der Präsident am mohammedanischen Tabaski-Fest gefangengesetzt werden sollen, sei es in Mamou, wo er seine religiösen Pflichten erfüllte, sei es in Kissidougou, sei es bei der Rückkehr auf dem Flughafen von Conakry
War dies gelungen, so sollte, folgt man dem Bericht des Revolutionskomitees
Interesse verdient, daß eine Reihe von Beschuldigungen, die unmittelbar nach seiner Festnahme gegen ihn erhoben worden waren in den offiziellen Untersuchungsbericht keinen Eingang gefunden haben. Das gilt vor allem für die von Sekou Toure am 21. März 1969 aufgestellte Behauptung, Kaman Diaby habe in Verbindung mit drei ausländischen Mächten gestanden und sei ein französischer Agent gewesen, der seine ersten Instruktionen aus Paris bereits 1958 bezogen habe, „um sich in die guineische Armee einzuschleichen und mit den Hütern der französischen Interessen Verbindung zu halten"
schallsuniform sowie ein Bildnis des Generals de Gaulle, „dem er sich mit Leib und Seele verschrieben zu haben schien", gefunden, kehrt in dem Bericht des Revolutionskomitees nicht wieder. Fallengelassen wurde auch das angebliche Geständnis Kamans, er habe schon im Oktober 1965 putschen wollen
Dafür hält der Bericht des Revolutionskomitees eine Aussage Kamans fest, wonach seine Auflehnung gegen das Regime auf eine Rede Sekou Toures zurückgeht, in der dieser die Urheber des Militärputsches gegen Kwame Nkrumah in Ghana (24. Februar 1966) geringschätzig als „kleine Söldnerkorporale" bezeichnet hatte. Als weiteren Grund für seine Haltung soll Kaman Empörung über die Gründung der Volksmiliz im Juli 1966 angegeben haben.
Aus alledem wird man schließen dürfen, daß Kaman Diaby die Möglichkeit gehabt hat, sich zu verteidigen und die Anklage in einigen, letztlich jedoch unwesentlichen Punkten zu entkräften.
Der Vorwurf, das „complot le plus machiavelique" der guineischen Geschichte geplant zu haben, ließ sich nicht widerlegen. Wie man hört, soll Oberst Kaman auch gar keinen Versuch in dieser Richtung unternommen haben. Die im Bericht des Revolutionskomitees erhobenen Vorwürfe gegen die zivile Hauptfigur des Komplotts, den Staatssekretär Keita Fodeba, sind vergleichsweise harmlos. Ihm wird zur Last gelegt, Oberstleutnant Kaman mit Informationsmaterial über Staatsstreiche in anderen Ländern versorgt und sein Haus zu einem „veritablen Hort systematischer Herabsetzung des Regimes und seiner Führer" gemacht zu haben. Der schwere Vorwurf, die eigentliche Seele des Händlerkomplotts von 1965 gewesen zu sein, findet sich nur in Reden Sekou Toures sowie in einem nicht gezeichneten Dokument, das den Titel „Qualification des Crimes du Complot 1968" trägt
Diese Formel indiziert den wahren Grund für Keita Fobedas allmählichen Niedergang (seit 1965) und seinen schließlichen Fall: Er war ein Bourgeois vom Scheitel bis zur Sohle, der Prototyp des kultivierten Afrikaners, gebildet, introvertiert und kompliziert, ein Intellektueller, eher ein Künstler als ein Politiker, zwar während langer Jahre (1957— 1965) ein guineischer Fouche, aber auch der Mann, der die guineische Nationalhymne komponiert und das guineische Ballett zum Weltruhm geführt hat, gewiß ein hochmütiger Mann, ein Mann mit vielen Feinden an den proletarischen Quellen der guineischen Revolution. Deren Kesseltreiben ist er zum Opfer gefallen, nicht anders als wenige Monate zuvor der ihm eng befreundete guineische UN-Botschafter Ashkar Marof, der seinen Sessel im Glaspalast der Vereinten Nationen auch mit einer guineischen Gefängniszelle vertauschen mußte. Beide waren sie veritable Opfer des Klassenkampfes und der Klassenjustiz. Keita Fobeda ist darüber hinaus ein persönliches Opfer, das Sekou Toure zum Nachweis seiner eigenen revolutionären Gesinnung dem linken Flügel der Partei zu bringen hatte.
An zweiter Stelle unter den Zivilisten stand der noch jugendliche Staatssekretär für öffentliche Arbeiten, Karim Fofana. Er hat, folgt man dem Bericht des Revolutionskomitees, sich selbst bezichtigt, der Ideologe der subversiven Gruppe gewesen zu sein. Der Bericht sieht als erwiesen an, daß er die in das Komplott verwickelten Offiziere durch Katastrophen-meldungen zur Wirtschaftslage Guineas in ihren Absichten bestärkt habe. Außerdem wird ihm Sabotage und Korruption zur Last gelegt. Wahrscheinlich wurde ihm zweierlei zum Verhängnis: seine enge Freundschaft mit Keita Fodeba und seine intime Feindschaft mit dem Halbbruder des Präsidenten, Ismael Toure. Außerdem fand sich sein Name in der bei Oberst Kaman sichergestellten Vorschlagsliste für ein neues Kabinett.
Angeführt wurde diese Liste übrigens von Barry Diawadou, dem ehemaligen Abgeordneten in der französischen Nationalversammlung, dem „mal-elu"" von 1953. Er hatte Sekou Toure jahrelang als Minister und Botschafter gedient und sich gerade zur Ruhe gesetzt, über die Inhaftierung dieses alten Widersachers verlor Sekou Toure kein Wort, weder eines der Genugtuung noch ein solches der Schmähung: auch dieser muselmanische Grandseigneur, ein Klassenfeind par excel-lence, ist ein Opfer seiner Klassengegner geworden. Wie der Bericht des Revolutionskomitees tadelnd hervorhebt, bediente er sich „der mohammedanischen Religion sowie anderer Mittel, um Propaganda für sich selbst zu machen".
Der Nationale Revolutionsrat (C. N. R.), der durch ein Gesetz der Nationalversammlung vom 11. Mai 1969 zum „Tribunal Rvolutionnaire" erhoben worden war, faßte die Ermittlungen des Revolutionskomitees in zwei Tatbestände zusammen:
1.den Plan zur Ermordung des Präsidenten und zum Sturz des „regime populaire, dmocratique et revolutionnaire installe en Guinee“; 2.den Plan zur Auslösung eines Bürgerkriegs durch Sezession von Fouta Djallon und Wald-region im Einverständnis mit ausländischen Mächten.
Die Erhebung des Revolutionsrates zum Revolutionsgericht rechtfertigt Sekou Tour mit dem Argument, dieses höchste Gremium der Partei zwischen zwei Kongressen habe nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, alle Entscheidungen, die die nationale Einheit und die Revolution gebieten, selbst zu treffen. Der Nationale Revolutionsrat unterzog sich der ihm aufgetragenen „responsabilite supreme* mit zumindest äußerer Korrektheit. Nach Anhörung des Revolutionskomitees, der Angeklagten und der Delegationen der Jugend, der Frauen, der Arbeiter, des Generalstabs, der Garnisonen, der Nationalversammlung und der Parteiorganisationen verkündete er sein drakonisches Urteil: Von den Angeklagten wurden 13 zum Tode
Das Revolutionskomitee glaubte, damit das „innere Skelett der Konterrevolution" zumindest zu 90 °/o zerschlagen und eine der gefährlichsten Phasen des vom französischen Imperialismus gegen Guinea betriebenen „Com-plot permanent" überwunden zu haben
IX. Das fünfte Komplott (Invasionskomplott) vom 22. November 1970
Rasch häuften sich jedoch die Hinweise auf ein nächstes „Komplott". Spätestens ab Sommer 1970 wußte die P. D. G., daß diesmal mit einer härteren Bewährungsprobe gerechnet werden mußte. Am 28. September kündigte Sekou Toure ein portugiesisches Landeunternehmen an. Der Zeitpunkt war präzise vorauszuberechnen: nach der Regenzeit, aber noch vor Ende des mohammedanischen Fastenmonats Ramadan, d. h. Mitte bis Ende November. Dennoch traf man — außer Aufrufen zur „revolutionären Wachsamkeit" — keinerlei Vorkehrungen. Weder die beargwöhnte Armee noch die Miliz wurden mobilisiert. Sowohl der äußere als auch der innere Feind wurden im unklaren gelassen. Das darin enthaltene Risiko scheint der P. D. G. kalkulierbarer gewesen zu sein als die Mobilmachung der Armee und Miliz.
Der erwartete Angriff kam daher, so paradox dies klingt, völlig überraschend. — Von den guineischen Küstenwachen unbemerkt, erschien am späten Abend des 21. November 1970 eine aus zwei größeren und mehreren kleineren Einheiten bestehende Invasionsarmada auf der Reede von Conakry. Die mitgeführten Landetruppen in Stärke von ca. 350 Mann, ausgerüstet mit Handfeuerwaffen, Panzerfäusten und Granatwerfern, versuchten tags darauf die strategisch wichtigen Objekte der Hauptstadt zu besetzen. Zu regelrechten Kämpfen kam es zunächst nur im Bereich des Hauptquartiers der P. A. I. G. C.
Der Bericht des vom Weltsicherheitsrat eingesetzten Untersuchungsausschusses spricht von einer „gut vorbereiteten" und mit „Sachkenntnis und Präzision" durchgeführten Operation
Hatten die Angreifer wirklich einen Staatsstreich geplant? Wer waren diejenigen überhaupt, die das Hauptquartier der P. A. I. G. C. verwüsteten, die Freizeitresidenz Sekou Toures in Brand schossen, die zwei Kasernen, das E-Werk und die Post besetzten, die Gefangenen befreiten, statt des Funkhauses einen längst aufgegebenen Sender „einnahmen" und von der Besetzung des Flughafens aus offenbar recht unmilitärischen Gründen absahen? Nach einer kurzen Periode ungläubigen Zögerns hat sich die Öffentlichkeit, auch die nach Conakry entsandte Mission des Weltsicherheitsrates, entschlossen, eine „Aktionsgemeinschaft“ zur Kenntnis zu nehmen, wie sie disqualifizierender — jedenfalls in afrikanischen Augen — kaum gedacht werden kann: Es handelte sich L um portugiesische Kriegsschiffe unter portugiesischem Kommando mit vorwiegend weißer Besatzung, 2. um reguläre portugiesische Truppen aus Bissao mit überwiegend schwarzen Mannschaften, aber weißen Offizieren und 3. um ein Kontingent guineischer „Dissidenten", die in Bissao zuvor eine militärische Ausbildung erhalten hatten
Dieses Bündnis war, wie sich herausstellen sollte, ein nicht wiedergutzumachender politischer Fehler, den allenfalls der Erfolg hätte heilen können. Aber dieser blieb aus. Die Beteiligung portugiesischer Truppen führte in der Bevölkerung Conakrys und auch der anderen Städte, in denen Kampfhandlungen stattfanden, zu einem großartigen Solidarisierungseffekt. Sekou Toure brauchte fortan um den Bestand seines Regimes nicht mehr zu fürchten. Alle politische Unzufriedenheit trat in den Hintergrund: das Vaterland war in Gefahr, man mußte es retten; die nationale Unabhängigkeit war bedroht, man mußte sie verteidigen.
„Peuple de Guinee", so heißt es in Sekou Toures erstem Aufruf am Morgen nach der Invasion, „Du bist seit 2 Uhr morgens in Deiner Hauptstadt Conakry Opfer einer Aggression von seifen der imperialistischen Kräfte ...der portugiesische Kolonialismus dient als Brückenkopf dieser Aggression ..." Solchen und ähnlichen Appellen konnte sich niemand entziehen. Selbst von einigen der befreiten politischen Häftlinge wird berichtet, sie hätten unter diesen Umständen darauf verzichtet, von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen.
So mußte auch die Hoffnung der „Dissidenten“ fehlschlagen, die politischen Gefangenen, unter denen sich namhafte Politiker befanden, würden sofort die II. Republik proklamieren. Abgesehen davon, daß man das Funkhaus nicht hatte, wären diese auch nicht bereit gewesen. Denn welcher afrikanische Politiker wird seine Macht auf eine Intervention Portugals gründen wollen (und können)?
Andererseits dürfte der Kampfauftrag der portugiesischen Invasionstruppe auf das Kommandounternehmen gegen die P. A. I. G. C. und die Befreiung der portugiesischen Kriegs-gefangenen beschränkt gewesen sein. Ihr Rückzug auf die in sicherer Entfernung ankernden Schiffe ist anders nicht zu erklären.
Die portugiesischen Streitkräfte in Bissao, zunehmend bedrängt durch die in der Manier des Volkskrieges
Daß das Regime mit dieser Situation fast ebenso schnell fertig wurde, wie sie entstanden war, überraschte sowohl ihre Urheber als auch diejenigen, die sie sich als Auftakt zum Staatsstreich zunutze machen wollten. Die vielgeschmähten guineischen Streitkräfte waren es, die, obwohl erst Stunden nach der Landung zur Stelle, die guineische Revolution vor dem Untergang bewahrten und auch bei den im Landesinnern aufflackernden Kämpfen (Forcariah, Koundara) ihrem Eid die Treue hielten. Unter den Angeklagten des bereits erwähnten Prozesses war nicht ein Angehöriger der Armee. Das läßt den Schluß zu, daß die vom VIII. Parteikongreß verordnete Heeresreform ihren Zweck, nämlich das Militär mit der Partei zu amalgamieren, bereits anderthalb Jahre später in ausreichendem Maße erfüllt hatte. Die der „Commission d'Enquete" vorgeführten Oppositionellen haben allem Anschein nach keinerlei nennenswerte Verbindungen zu Armeekreisen gehabt; und diese wiederum waren nach der Reorganisation und Säuberung des Jahres 1969 noch nicht wieder so fest gefügt, daß etwaige Unzufriedene gewagt hätten, die 1969 bezogene „volle“ Deckung schon wieder zu verlassen.
Scheint also das Komplott zwischen portugiesischem Kolonialregime und guineischen „Dissidenten", bei denen es sich allerdings eher um Söldner im schlichten Wortsinn als um politisch motivierte F. L. N. G. -Mitglieder gehandelt haben dürfte, hinreichend erwiesen, steht die Beweisführung der „Commission d'Enquete" hinsichtlich der Mitverschwörung hoher Funktionäre des Regimes und der Beteiligung mehrerer „fünfter Kolonnen“ nicht auf festen Füßen. Außerdem hinkt sie nach.
Noch in dem Bericht, den das B. P. N. -Mitglied Ismael Toure vor dem O. A. U. -Ministerrat in Lagos (9. Dez. 1970) erstattete, findet sich kein Wort über eine derartige Ausweitung des Kreises der Verantwortlichen. Ismael Toure behauptete immer wieder, es habe sich, im Gegensatz zu 1969, wo sich der Imperialismus auch auf reaktionäre Kräfte im Landesinneren stützen konnte, diesmal um eine reine „agres-
sion extrieure" gehandelt. Vor dem O. E. R. S. -Ministerrat gar, der unmittelbar nach dem portugiesischen Kommandounternehmen in Conakry zusammentrat, versicherte kein geringerer als Sekou Toure selbst, in Guinea gäbe es gar keine Opposition. Dessenungeachtet wurde der Dezember 1970 zu einem Monat plötzlicher Inhaftierungen und gefürchteter Verhöre. Ihr erstes, noch dunkles, aber schon unheilverkündendes Resultat war Anfang Januar 1971 die Einordnung der Vorgänge in das Konzept des Klassenkampfes, die Identifizierung des äußeren Feindes mit seinen „allies de classe ä l'interieur
Diese örtlichen Mitverschwörer, deren Haupt-kontingent von z. T. namhaften Staats-und Parteifunktionären gestellt wird, spielen in der Sicht des Regimes keineswegs eine subsidäre Rolle; ihr angeblicher Tatbeitrag war von durchaus zentraler Bedeutung. Denn nicht die 350 Mann starke Landungstruppe, sondern sie, die „complices locaux", hatten den Bestand des Regimes in Frage gestellt, genauer: sie hätten ihn in Frage stellen können. Aber das Komplott, das sie miteinander und mit den drei anderen Gruppen verbunden haben soll, kam, wenn es überhaupt bestanden hat, nicht zum Zuge. Die nachgeschobene Behauptung vom Bestehen einer „Organisation contrervolutionnaire interieure complice des envahisseurs trangers"
Mit Makassouba Moriba, Barry III, Camara Loffo, Habib Tall, Gnan Felix Mathos, Baldet Ousmane, Camara Sekou, Jean Paul Alata und vielen anderen, darunter auch Exil-Politikern wie Conte Saidou, fraß die Revolution eine ganze Anzahl ihrer Kinder, zumeist Freunde des Präsidenten, aus denen, wenn nicht Feinde, so doch Kritiker geworden waren, einst mächtige Leute, die man jetzt ungestraft „Renegaten“ und „verräterische Komparsen" nennen durfte. Dabei ist anzunehmen, daß sie nicht so sehr Sekou Toure gefährlich erschienen, als vielmehr jenem unerbittlichen Apparat der nach oben und nach links drängenden jüngeren .. Apparatschiks",
Der Erosionsprozeß der alten Garde, denen die Genannten zugerechnet werden dürfen, ist unaufhaltsam. Aus den Erklärungen, die die B. P. N. -und Kabinettsmitglieder Sekou Toures im Januar 1971 vor der Nationalversammlung abgegeben haben, bevor diese sich zum Revolutionstribunal konstitutierte, ist abzulesen, wer von ihnen glaubt, noch eine Zukunft zu haben, und wer bereits fürchten muß, bei nächster Gelegenheit werde die Revolution auch ihn verschlingen. An einem B. P. N. -Mit-glied, das es für nötig hält, sich der Nationalversammlung des progressionistischen Entwicklungsstaates, der für Verdienste nur ein Achselzucken hat, als „votre serviteur“ zu präsentieren, der der Partei seit ihrer Gründung angehöre, seit 1950 Führungspositionen bekleide und seit 1957 Kabinettsmitglied sei, der es im Unterschied zu allen anderen für nützlich hält, sich der „titres de noblesse“ zu rühmen, die seine „modeste personne“ nur mit dem Beistand des Volkes zu tragen vermöge, der gleichzeitig seine „disponibilite entiere et inconditionelle" beteuert und eindringlich auf das „Privileg" seiner engen persönlichen Freundschaft mit S. Toure verweist — an einem solchen B. P. N. -Mitglied kann der bittere Kelch der Inquisition nur knapp vorübergegangen sein
Die Angeklagten des Januar-Prozesses hatten dieses letzte „Rechtsmittel" der Unterwerfungsgeste, der Berufung auf Verdienste, nicht mehr. Uber sie war der Stab gebrochen, noch ehe sie dem Untersuchungsrichter vorgeführt wurden. Durch ihre Aussagen rissen sie eine Anzahl von Randfiguren mit sich in den Untergang. Treffen die Geständnisse des Hauptangeklagten Baldet Ousmane, so wie sie im guineischen Weißbuch wiedergegeben sind, zu, dann haben sie alle in enger Verbindung mit dem „Front de Liberation Nationale de la Guindes" gestanden, dessen „groupe regional interieur" sie bildeten, wobei aber ein Über-einkommen dahin gehend bestand, die oberste Führung den Exilpolitikern zu überlassen.
Nach den Reformen gefragt, die sie durchgeführt hätten, wenn sie an die Macht gekommen wären, nannten die Angeklagten erstmals in der Geschichte des permanenten Komplotts rein technokratische Anliegen, die aus der geringen Effizienz des sozialistischen Staats-und Wirtschaftsapparats resultieren: Änderung der Verwaltungsmethoden, Einsatz der verfügbaren Kader nach ihren Fähigkeiten, Teilprivatisierung des Binnenhandels zwecks Schaffung eines dem Verbraucher zugute kommenden Wettbewerbs, Übergang zur Bildungsplanung. — In seiner Grundentscheidung für den Sozialismus, in seinen politischen Organisationen hätten sie das Regime, so Baldet Ousmane, nicht angetastet.
Uber die bevorstehende Invasion waren sie, ihren Aussagen zufolge, auf konspirativem Wege im voraus informiert. Doch sind Barry III, Makassouba Moriba und Camara Loffo offenbar die einzigen, die unumwunden eingestanden haben, an einem Komplott zum Sturze des Regimes beteiligt gewesen zu sein. Viele wichtige Geständnisse fehlen ganz, insbesondere die von Gnan Felix Mathos, Jean Paul Alata, Camara Sekou und Erzbischof Tchidimbo, dem angeblichen Führer einer sog. „ 5eme Colonne Vaticane". Die Geständnisse und Protokolle, die man im Weißbuch nachlesen kann, lassen Fragen und Zweifel aufkommen, statt sie zu beantworten.
Am weitesten gehen die Aussagen des nach eigener Angabe „coordinateur general du Front interieur", Baldet Ousmane; wegen seiner ungewöhnlichen Geständnisfreudigkeit wird er als Zeuge der Anklage präsentiert, obwohl das direkte Bekenntnis, an einem Komplott zum Sturze des Regimes teilgenommen zu haben, gerade in seiner Aussage fehlt. Aber er will dem F. L. N. G. bereits seit 1965 angehören und schon seit 1966 wissen, daß F. L. N. G. und portugiesische Regierung nach gemeinsamer Übereinkunft zu einer gemeinsamen Invasion der Republik Guinea rüsten. Er gibt seine F. L. N. G. -Kontakte sowohl außerhalb als auch innerhalb Guineas preis — darunter Makassouba Moriba, Camara Loffo, Barry III, Camara Sekou — und gesteht, über Mittelsmänner in Dakar an der Planung des Angriffstermins mitgewirkt zu haben. Von ihm erhält die „Commission d'Enquete" schließlich eine — wenn auch unvollständige — Kabinettsliste, nach der im Falle des Erfolges eine provisorische Regierung hätte gebildet werden sollen.
Das Verhör von Barry III scheint weniger ergiebig gewesen zu sein. Neben dem bereits erwähnten Bekenntnis („je reconnais etre lün des principaux acteurs de ce complot") beschränkt er sich auf knappe, allerdings schwerwiegende Eingeständnisse. Danach hat er Mit-verschwörer geworben, mit ihnen die Bildung einer neuen Regierung vorbereitet, Kontakte zu Exilpolitikern unterhalten, für sich den Posten des Premierministers und für Kaman Diaby das Präsidentenamt angestrebt und am 22. November 1970 einem portugiesischen Kommando den Weg zum Gefangenenlager der P. A. I. G. C. gewiesen. — Auffallend ist, daß Barry III, obwohl von Baldet Ousmane als führender Mitverschwörer im Rahmen des F. L. N. G. genannt, weder diese Organisation noch Baldet Ousmane selbst erwähnt und z. T. auch mit einer ganz anderen Gruppe von Exil-politikern in Verbindung gestanden hat als jener.
Ebenso Camara Loffo, die sich zwar bereits im ersten Satz der Mitverschwörung bezichtigt („Je reconnais avoir participe au complot arme .. aber ihre — von Baldet Ousmane behauptete — Tätigkeit als „Frauensekretärin'des F. N. L. G. nicht erwähnt und offenbar auch nicht danach gefragt worden ist. Camara Loffo, damals schon todkrank und dem Vernehmen nach noch vor Eröffnung der Hauptverhandlung im Hause ihrer Familie verstorben, gehörte — ihrer Aussage nach -— zum Freundeskreis Makassouba Moribas. Lange Zeit nur und darauf bedacht, wenn schon mit Makassouba, so doch nicht mit den politischen Gegnern aus der Zeit vor 1958 (Barry III, Tall Habib) zu konspirieren, hatte sie schließlich, nach Verlust ihrer Ämter, zugestimmt, auch aktiv am Sturze der Regierung S. Toure (nicht des P. D. G. -Regimes!) mitzuarbeiten. Dabei ist es allerdings, abgesehen von gelegentlicher Kritik am Regime und unregelmäßigen Treffen mit Makassouba, Tall u. a. geblieben. — Ein exemplarischer Fall von Gesinnungsstrafrecht also, getreu Sekou Toures Wort, wo-nach die Konterrevolution sich weniger in Gewehren und Bomben, als vielmehr in einem ganz bestimmten „etat d'esprit" manifestiere. Nicht anders ist es im Falle Tall Habibs, der, nach Angabe von Barry III, für den militärischen Teil der Verschwörung verantwortlich war, aber offensichtlich nicht veranlaßt wurde oder nicht veranlaßt werden konnte, über diesen wesentlichen Sachverhalt ein Geständnis abzulegen. Seiner Aussage nach — der kürzesten von allen — war er kaum mehr als ein Mitwisser und Sympathisant. Dennoch wurde er zum Tode verurteilt.
Auch der Tatbeitrag Makassouba Moribas bleibt letztlich unklar. Baldet Ousmane, dessen engster Mitarbeiter er doch gewesen sein so , spielt in seinen Aussagen keine Rolle. Als die ihm im Rahmen des Komplotts zugefallene Aufgabe bezeichnet Makassouba die Werbung von Sympathisanten. Dies entspricht wenigstens den Aussagen untergeordneter Mitverschwörer wie Keita Kara und Badary Aly. Auch er nennt Namen. Darunter sind wohl Camara Loffo, Barry III und Tall Habib. Aber Baldet Ousmane fehlt. Es ist so, als kenne er weder ihn noch seine Aussagen noch den F. L. N. G. Das kann das Unbehagen der Offent-
lichkeit, die das guineische Weißbuch von der Begründetheit und von der Rechtmäßigkeit der verhängten Strafen überzeugen soll, nur vergrößern. Denn die „Commission d'Enquete" hätte doch das größte Interesse haben müssen, die belastenden Aussagen Baldets in die Anklage mit einzubeziehen und sie ihm vor-zuhalten — zur Herbeiführung eines Geständnisses. Aber dies ist entweder unterblieben, oder es hat das zur Stützung der These vom Komplott mit dem F. L. N. G. erforderliche Geständnis nicht erbracht.
Gleichwohl ist die Aussage Makassoubas in der offiziellen Gesamtbewertung der Ereignisse zu einem wesentlichen Baustein geworden. Mit seinen sensationellen Angaben über eine angebliche Mitbeteiligung der BRD-Botschaften in Conakry und in den Nachbarländern
In der mysteriösen Angelegenheit des Waffen-transports z. B. gibt es eine Reihe besonders eklatanter Widersprüche
Es ist eben zweierlei, das Bild eines gigantischen Komplotts in Reden, Aufrufen und Tagesbefehlen zu beschwören und hierüber ein Weißbuch zu veröffentlichen, das der kritischen Lektüre — und der Nachwelt — standhalten soll.
Insbesondere die Konstruktion einer Mitverschwörung von Behörden der Bundesrepublik Deutschland hätte größerer Anstrengungen bedurft
Als ersten Anhaltspunkt für eine deutsche Beteiligung wertet die Untersuchungskommission
An zweiter Stelle steht die durch nichts bewiesene Behauptung, ein deutscher Projektleiter in Conakry, Graf Tiesenhausen, der in der Invasionsnacht ebenso zufällig und tragisch ums Leben gekommen ist wie ein Legationsrat von der DDR-Botschaft, habe den Tod gefunden bei Erfüllung seiner „mission d'appui operationnel aux commandos de debarquement ..."
An dritter Stelle steht eine angeblich bei dem deutschen Projektleiter in Kankan, Hermann Seibold, sichergestellte Aufzeichnung aus dem Bonner Auswärtigen Amt. Abgesehen davon, daß Zweifel an seiner Echtheit bestehen, liefert dieses Dokument, das im Weißbuch nachgelesen werden kann, von den nach Auffassung der „Commission d'Enquete" darin enthaltenen Beweisen nicht einen: weder den für die angebliche Mission des Grafen Tiesenhausen noch den für die behaupteten Zusammenhänge zwischen dem Scheitern der Invasion und dem Freitod des Botschafters Schmidt-Horix in Lissabon.
Als Beweis für eine regelrechte Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an der portugiesischen Invasion ist das Dokument, selbst wenn es echt sein sollte, erst recht nicht zu gebrauchen. Denn es enthält nicht mehr als eine Unterrichtung über die erste portugiesische Reaktion auf die Nachricht vom Scheitern des Landeunternehmens sowie vorsichtige Mutmaßungen über eine mögliche Verschlechterung der deutsch-guineischen Beziehungen infolge des NATO-Bündnisses, das die Bundesrepublik mit Portugal verbindet. Außerdem befürchtet der Verfasser, die Bundesrepublik könne durch Beutewaffen deutscher Herkunft kompromittiert werden; er empfiehlt deshalb die Beteiligung Portugals an den Ereignissen vom 22. November 1970 offiziell zu dementieren.
Daß ein solches Dokument, selbst wenn es gefälscht ist, im ersten Augenblick heftige Emotionen und auch Assoziationen auslöst, wird niemanden wundern. Aber die Auffassung der Untersuchungskommission, wonach das Dokument „de faon eclatante la participation consciente et active du gouvernement de Bonn dans l'agression armee du 22 novembre 1970"
Was bleibt, sind die schweren Beschuldigungen gegen einzelne deutsche Experten (Hermann Seibold, Adolf Marx etc.), die jedoch, selbst wenn sie zuträfen, nicht unmittelbar gegen die Bundesrepublik Deutschland als solche verwendet werden können. Was besagt es gei gen einen Staat, wenn einer seiner Bürger in Konflikt mit den Gesetzen oder mit der Politik eines anderen Staates gerät?
Weder Hermann Seibold noch Adolf Marx ! waren Beamte oder Angestellte des Bundes. Seibold war für die Organisation „Jugenddorf" des evangelischen Pastors Dannemann tätig, Marx für eine französische Brauereigesellschaft. Die Ausweisung aller Westdeutschen und den einseitigen Abbruch der diplomatischen Beziehungen haben sie nicht zu verantworten. Ihr tragisches Schicksal — Seibold verstarb auf ungeklärte Weise in der Untersuchungshaft, Marx wurde zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt — ist nicht Ursache, sondern Folge eines Aushöhlungsprozesses, dem die Beziehungen zwischen Bonn und Conakry seit langem ausgesetzt waren. Dieser Prozeß erreichte seinen kritischen Punkt, als Guinea Anfang September 1970 die DDR anerkannte und die Bundesregierung dies mit der in solchen Fällen üblichen Formel quittierte, sie werde ihr Verhalten gegenüber Guinea hinfort an ihren eigenen Interessen orientieren.
Guinea erblickte darin eine kaum verhüllte Drohung, „welche die Grenzen der wirtschaftlichen Erpressung überschreitet, deren sich der Imperialismus schon oft bedient hat, um die afrikanischen Staaten einzuschüchtern"
Soviel ist sicher: Innerer Friede, soziale und wirtschaftliche Entwicklung zu bescheidener Prosperität werden durch solche Urteile nicht begründet. Vielmehr laden sie das „permanente Komplott" mit immer neuen Energien auf. Schon hat Sekou Toure am 26. April 1971 eine neue Säuberungswelle in Aussicht gestellt. Diesmal wird sie die Parteikader erfassen. Das Bild vom Skorpion, der in der äußersten Bedrängnis den Stachel gegen sich selber kehrt, drängt sich auf. Schon ist von neuen Attentatsplänen gegen den „Premier Responsable" der guineischen Revolution die Rede.
Schon beunruhigt er selbst die Öffentlichkeit aufs neue mit düsteren Ankündigungen: neue Angriffe von außen stünden bevor. Die Saat der Gewalt geht prächtig auf. Kaman Diaby, Keita Fodeba, Fofana Karim und Barry Diawadou, die als Führer des Militärkomplotts von 1969 zum Tode verurteilt worden waren und trotzdem im Kalkül der Opposition von 1970 noch eine Rolle gespielt hatten, sind nicht mehr unter den Lebenden. Das wissen wir aus dem erschütternden Bericht des Hauptmanns Amou Soumah, der — ehemaliger Adjutant S. Toures und als Kommandeur des 4. Bataillons im Zusammenhang mit dem Militärkomplott ebenfalls inhaftiert — während der Novemberwirren aus seinem Gefängnis in Conakry entkommen konnte
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Abkürzungen B A. G. Bloc Africain de Guinee (Rechtspartei der Kolonialzeit)
C. N. T. G. Confederation Nationale de Travailleurs de Guinee (Einheitsgewerkschaftsbund, seit 1968 nur noch Gliederung der Partei P. D. G.)
J. O. R. G. Journal Officiel de la Republique de Guinee J. -R. D. A. Jeunesse du Rassemblement Democratique Africain (Einheitsjugendverband, Gliederung der Partei P. D. G.)
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O. E. R. S. Organisation des Etats Riverains du Fleuve Senegal (Organisation der Senegalanrainerstaaten Mauretanien, Mali, Guinea und Senegal)
P-A. I. G. C. Parti Africain pour Tlndependance de la Guinee et du Cap Vert (von Conakry aus operierende Unabhängigkeitsbewegung für Portugiesisch-Guinea)
•. N. Parti de l'Unite Nationale (Partei der Nationalen Einheit, Versuch der Einführung einer Oppositionspartei in das guineische Verfassungssystem, 1965 gescheitert)