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Das Münchner Abkommen als Problem des Völkerrechts | APuZ 26/1971 | bpb.de

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APuZ 26/1971 Artikel 1 Das Münchner Abkommen Zur Ungültigkeit des Münchner Abkommens Das Münchner Abkommen als Problem des Völkerrechts

Das Münchner Abkommen als Problem des Völkerrechts

Helga Seibert

/ 18 Minuten zu lesen

Mit der Frage nach der Gültigkeit des Münchner Abkommens") vom 29. September 1938 ist in erster Linie die Frage nach der Gültigkeit der Übertragung der Sudetengebiete an das Deutsche Reich im Herbst 1938 gestellt. Da das Münchner Abkommen nur einen — wenn auch besonders wichtigen und der äußeren Umstände wegen besonders spektakulären — Abschnitt in den Verhandlungen über die Abtretung der Sudetengebiete darstellt, muß die Untersuchung auch die voraufgehenden und folgenden Verhandlungen und Vereinbarungen einbeziehen.

In ihrer Erklärung vom 21. September 1938 — auf die sich das Münchner Abkommen mit dem Hinweis auf ein „bereits grundsätzlich erzieltes" Abkommen bezieht — hatte die Tschechoslowakei sich Frankreich und Großbritannien gegenüber zur Abtretung von Gebieten mit überwiegend deutscher Bevölkerung an das Deutsche Reich bereit erklärt. Die Eingangs-formel: „durch die Umstände gezwungen, dem äußersten Drängen nachgebend" weist aber bereits darauf hin, daß diese Erklärung nicht ganz freiwillig abgegeben wurde. Noch am Vortag hatte die tschechoslowakische Regierung unter Berufung auf verfassungsrechtliche und politische Bedenken die Abtretung eines Teils ihres Staatsgebietes abgelehnt und ein Schiedsverfahren gemäß dem deutsch-tschechoslowakischen Schiedsvertrag vom 16. Oktober 1925 gefordert Erst als Frankreich und England auf die Wahrscheinlichkeit eines sofortigen deutschen Einmarsches hinwiesen und eine französische Unterstützung — zu der Frankreich nach dem Bündnisvertrag vom 25. Januar 1924 und dem Garantievertrag vom 16. Oktober 1925 verpflichtet war — in Frage stellten, fügte sich die SR dem britisch-französischen Vorschlag. Schon die Erklärung vom 21. September 1938 war also eine Folge der deutschen Drohung mit einem Einmarsch, die Hitler insbesondere auf dem Reichsparteitag am 12. September und in dem ersten Gespräch mit Chamberlain am 15. September 1938 sehr deutlich ausgesprochen hatte

Im übrigen deckte die tschechoslowakische Erklärung das ohne Mitwirkung der CSR ausgehandelte Münchner Abkommen nicht, weil dieses sowohl inhaltlich als auch in dem gewählten Verfahren erheblich von den tschechoslowakischen Forderungen abwich. Die tschechoslowakische Regierung hatte nicht nur betont, daß alle Einzelheiten der praktischen Realisierung einer Gebietsänderung im Einvernehmen mit ihr festgelegt werden müßten, sondern auch zur Bedingung gemacht, daß die betroffenen Gebiete bis zu ihrer Übertragung nach der endgültigen Festlegung der Grenze tschechoslowakisches Gebiet bleiben müßten und Frankreich und Großbritannien einen Einmarsch deutscher Truppen vorher nicht dulden würden. Obwohl das Münchner Abkommen entgegen diesen Bedingungen die Besetzung der Grenzgebiete durch deutsche Truppen bereits für die ersten Oktober-tage vorsah — mit der Folge, daß die zu einem großen Teil in den Grenzgebieten gelegenen Verteidigungsanlagen der SR unzerstört in deutsche Hände fielen —, blieb der SR keine andere Wahl, als das Abkommen anzunehmen und bei seiner Ausführung, insbesondere der endgültigen Festlegung der Grenze, mitzuwirken. Die tschechoslowakische Regierung stimmte der 'Abtretung der Sudetengebiete also in allen Stadien der Verhandlungen nur angesichts der Drohung mit einem unmittelbar bevorstehenden Einmarsch und des zu erwartenden Ausbleibens einer Unterstützung zu.

Während die Völkerrechtslehre seit langem anerkennt, daß eine Gewaltandrohung gegen die Person des Unterhändlers einer vertragschließenden Partei den aufgrund der Drohung zustande gekommenen Vertrag anfechtbar macht, ist noch heute umstritten, ob die Androhung militärischer Gewalt gegen den Staat selbst die Gültigkeit des daraufhin abgeschlossenen Vertrages beeinträchtigt. Da bis 1919 auch ein Angriffskrieg von der herrschenden Meinung für zulässig gehalten wurde, konnte auch die Drohung mit einem Angriff kaum als rechtswidrig bewertet werden. Die Situation änderte sich aber mit der Annahme der Völkerbundssatzung durch eine große Anzahl von Staaten, die sich damit unter anderem dazu verpflichteten, die Unversehrtheit des Gebietes und die politische Unabhängigkeit aller Mitglieder zu achten und zu wahren (Art. 10), alle Streitigkeiten auf friedlichem Wege zu bereinigen (Art. 12) und Sanktionen gegen jeden Angreifer zu verhängen (Art. 16). Allerdings ist fraglich, ob diese Verpflichtungen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bereits Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts geworden waren und auch Nichtmitglieder banden. Nachdem Hitler im Oktober 1933 den deutschen Austritt aus dem Völkerbund erklärt hatte, galt die Völkerbundssatzung seit Oktober 1935 nicht mehr unmittelbar für Deutschland. Dagegen blieb das Deutsche Reich an den Briand-Kellogg-Pakt von 1928 gebunden, der den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilte und die Vertragspartner verpflichtete, die Regelung aller Konflikte nur mit friedlichen Mitteln anzustreben. Da auch die SR Vertragspartei war, durfte die Sudetenfrage nur mit friedlichen Mitteln gelöst werden, und der von Deutschland angedrohte Einmarsch wäre rechtswidrig gewesen.

Die Stimson-Doktrin, die in die Resolution der Völkerbundsversammlung vom 11. März 1932 ausgenommen worden war, hatte aus dem Verbot eines Angriffskrieges die Folgerung gezogen, daß ein Vertrag nicht anerkannt werden dürfe, der durch vom Briand-Kellogg-Pakt verbotene Mittel herbeigeführt würde. Sie ist auf das Münchner Abkommen aber nicht ohne weiteres anwendbar, weil dieses bereits aufgrund der bloßen Drohung mit Gewalt geschlossen wurde und — zumindest nach der Überzeugung und Absicht Frankreichs und Großbritanniens — der Erhaltung des Friedens gerade dienen sollte. Obwohl der Briand-Kellogg-Pakt die Drohung mit einem Angriff nicht ausdrücklich verbot, verstieß aber auch eine solche Drohung bereits gegen Sinn und Zweck des Paktes. Eine ernstgemeinte Drohung bewies nicht nur, daß der drohende Staat bereit war, seine vertraglichen Pflichten zu verletzen; sie mußte auch die friedliche Beilegung der Streitigkeit erschweren bzw. ihr von vornherein einen einseitigen Aspekt verleihen. Würde die Drohung mit Gewalt nicht als Verletzung des Briand-Kellogg-Paktes gewertet und der durch Drohung erzwungene Zessionsvertrag als voll gültig betrachtet, so wäre der Pakt ein wirksames Instrument zur Erpressung schwächerer Staaten in den Händen der Staaten, die vor einer Verletzung ihrer vertraglichen Pflichten nicht zurückscheuen; denn der schwächere Staat hätte nur die Wahl, die verlangte Zessionserklärung für die Zukunft bindend abzugeben, oder es auf einen Krieg ankommen zu lassen, um nach einer Niederlage die Ungültigkeit des fremden Gebietserwerbs geltend machen zu können.

Die Mitwirkung der Großmächte Frankreich und Großbritannien machte die Münchner Konferenz auch nicht zu einem für die friedliche Lösung der Sudetenfrage geeigneten Schiedsverfahren. Abgesehen davon, daß das Deutsche Reich als gleichberechtigter Partner, also gewissermaßen als Schiedsrichter, daran teilnahm, während die SR ausgeschlossen war und zu diesem Verfahren nicht einmal ihre Zustimmung gegeben hatte, war die Münchner Konferenz von vornherein durch die deutsche Ankündigung belastet, spätestens am 1. Oktober 1938 in die Tschechoslowakei einzumarschieren. Ein gerechter Ausgleich zwischen den streitenden Parteien konnte unter diesen Umständen nicht erzielt werden Die Drohung Hitlers, in die Tschechoslowakei einzumarschieren, wenn diese das Sudetengebiet nicht sofort abtrat, war demnach wegen Verstoßes gegen den Briand-Kellogg-Pakt rechtswidrig. In entsprechender Anwendung der Stimson-Doktrin war die dadurch erzwungene Erklärung der SR ungültig oder zumindest anfechtbar. Jedoch ist auch die entgegengesetzte Ansicht vertretbar, daß die Drohung Hitlers die Gültigkeit der Zessionsvereinbarung nicht beeinflußte Die Stimson-Doktrin und die ihr folgende Resolution des Völker-bundes hatten in der staatlichen Praxis kaum Anwendung gefunden. So war insbesondere die Annexion Äthiopiens durch Italien von vielen Staaten anerkannt worden. Für die Folgen einer rechtswidrigen Drohung mit Gewalt gegen einen Vertragspartner fehlte es an einer eindeutigen Übung. Die Anerkennung der Eingliederung des Sudetengebietes in das Deutsche Reich seitens der überwiegenden Zahl der Staaten zeigt ebenfalls, daß sich die Überzeugung von der Rechtswidrigkeit einer durch Gewaltandrohung erzwungenen Gebietsabtretung noch nicht ganz durchgesetzt hatte oder die Staaten sich nicht in der Lage sahen, gemäß dieser Überzeugung zu handeln.

Folgt man der Auffassung, daß die SR an ihre unter Drohung abgegebene Erklärung nicht gebunden war, so ist auch das Münchner Abkommen insgesamt als ungültig anzusehen. Das Abkommen diente nur dem Zweck, die CSR zur Abtretung des Sudetengebietes zu veranlassen und die näheren Modalitäten — ohne tschechoslowakische Mitwirkung — festzulegen. Es verschärfte und sanktionierte die von Deutschland unter Verstoß gegen den Briänd-Kellogg-Pakt ausgesprochene Drohung. Das Münchner Abkommen war daher selbst rechtswidrig.

Verneint man die Ungültigkeit des Münchner Abkommens wegen der Drohung mit einem deutschen Einmarsch, so bleiben noch zwei weitere Bedenken gegen die Gültigkeit der

Gebietsabtretung: die Möglichkeit einer arglistigen Täuschung und ein Verstoß gegen tschechoslowakisches Verfassungsrecht bei Annahme des Münchner Abkommens.

Hitler hatte bei der Godesberger Unterredung mit Chamberlain versichert, das Sudetengebiet sei die letzte territoriale Frage, die Deutschland in Europa stelle. Im Zusatzabkommen zum Münchner Abkommen hatte Deutschland sich verpflichtet, nach Bereinigung der übrigen Minderheitenprobleme eine Garantie für die neuen Grenzen der Tschechoslowakei abzugeben. Diese Verpflichtung wurde nie erfüllt, obwohl die Grenzen der CSR mit Ungarn und Polen bereits im November 1938 endgültig neu festgelegt wurden und die tschechoslowakische Regierung am 22. November die deutsche Regierung an die Garantieverpflichtung erinnert hatte. Tatsächlich hatte Hitler offenbar von vornherein die Absicht, zu einem günstigen — nicht allzu fernliegenden —-Zeitpunkt auch die „Rest-Tschechoslowakei" unter deutsche Oberhoheit zu bringen, was er dann am 15. März 1939 verwirklichte. Für diese Annahme sprechen nicht nur die Äußerung Hitlers vor den Oberbefehlshabern vom 23. November 1939, ihm sei von Anfang klar gewesen, daß er sich mit dem sudetendeutschen Gebiet nicht begnügen könne, sondern auch das Hoßbach-Protokoll über die Sitzung vom 5. November 1937 und die Weisungen für den Fall „Grün" vom 21. Dezember 1937

Obwohl somit davon ausgegangen werden kann, daß Hitler nicht gewillt war, die im Münchner Abkommen als „endgültig" bezeichnete tschechoslowakische Grenze zu achten und die im Zusatzabkommen vorgesehene Garantieerklärung abzugeben, ist die Anfechtbarkeit des Abkommens wegen arglistiger Täuschung nicht ohne weiteres zu bejahen. Frankreich und Großbritannien hofften zwar, durch die Lösung der Sudetenfrage den Frieden in Europa langfristig zu wahren. Sie gingen aber auch deshalb auf die deutsche Forderung ein, weil sie sich für einen Krieg nicht ausreichend gerüstet fühlten. Es ist deshalb nicht völlig auszuschließen, daß sie das Münchner Abkommen selbst dann abgeschlossen hätten, wenn sie die Absichten Hitlers gekannt hätten. Der SR, die sich der Ge-fährdung des verbleibenden Staatsgebiets durchaus bewußt war, wäre nur dann eine andere Wahl . geblieben, wenn Frankreich ihr angesichts der deutschen Pläne seine Unterstützung zugesichert hätte. Die Frage nach der Anfechtbarkeit des Münchner Abkommens wegen arglistiger Täuschung ist deshalb ebenfalls nicht eindeutig zu beantworten, weil kaum feststellbar ist, wie sich Großbritannien und Frankreich ohne die Täuschung verhalten hätten.

Ein weiterer Grund für die Anfechtbarkeit der Gebietsabtretung ist das verfassungswidrige Zustandekommen der tschechoslowakischen Zustimmung zum Münchner Abkommen und den ihm vorausgehenden und folgenden Vereinbarungen. Nach der Verfassung der SR von 1920 bedurfte ein Vertrag, durch den das Staatsgebiet geändert wurde, der Zustimmung der Nationalversammlung mit verfassungsändernder Mehrheit Weder das Münchner Abkommen noch die später getroffene Grenzvereinbarung wurden aber der Nationalversammlung vorgelegt.

Uber die Wirkung eines Verstoßes gegen verfassungsrechtliche Bestimmungen eines Vertragspartners auf die völkerrechtliche Gültigkeit eines internationalen Abkommens besteht in der Völkerrechtslehre keine Einigkeit. Seit die Verfassungen zahlreicher Länder die Zustimmungen des Parlaments zu den wesentlichen völkerrechtlichen Verträgen fordern, setzt sich aber immer mehr die Auffassung durch, daß eine Verfassungsverletzung bei Vertragsschluß für die völkerrechtliche Wirksamkeit nicht völlig unerheblich ist Fleute wird von vielen Autoren angenommen, daß der Staat, dessen verfassungsrechtliche Bestimmungen über den Abschluß völkerrechtlicher Verträge nicht eingehalten wurden, den Vertrag anfechten kann, wenn der Verstoß für die Vertragspartner offensichtlich war. Aus der Staatenpraxis bis 1938 läßt sich nicht eindeutig schließen, ob sich diese Anschauung bereits damals so weitgehend durchgesetzt hatte, daß sie als geltendes Völkerrecht bezeichnet werden konnte

Auch zu diesem Punkt sind also verschiedene Rechtsauffassungen vertretbar. Geht man von der völkerrechtlichen Erheblichkeit einer Ver-fassungsverletzung aus, so muß die Anfechtbarkeit der tschechoslowakischen Erklärungen bejaht werden. Die SR hatte Frankreich und Großbritannien mit ihrer Note vom 20. September auf die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Gebietsänderung aufmerksam gemacht. Auch für das Deutsche Reich war klar erkennbar, daß in der parlamentarischen Demokratie der Tschechoslowakei eine Gebietsänderung, die einen erheblichen Teil des Staatsgebietes und der Bevölkerung betraf, der Zustimmung der Nationalversammlung bedurfte. Mit seiner Drohung des sofortigen Einmarsches deutscher Truppen machte das Deutsche Reich es der Tschechoslowakei aber von vornherein praktisch unmöglich, den verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu entsprechen und vor Annahme des Münchner Abkommens eine Abstimmung der Nationalversammlung herbeizuführen. Selbst wenn die tschechoslowakische Regierung angesichts der Notlage, in der sie sich befand, durch ihre Zustimmungserklärung sich nicht eines Verfassungsbruches schuldig machte, konnte sich das Deutsche Reich hierauf nicht berufen, da es selbst die Notlage herbeigeführt hatte. Die ÖSR hat auch ihr Recht, sich auf die Ungültigkeit ihrer Zessionserklärung wegen Fehlens der parlamentarischen Zustimmung zu berufen, nicht durch die Mitwirkung bei der Ausführung des Münchner Abkommens verloren denn sie fügte sich damit ersichtlich nur dem Druck, der auch zu der sofortigen Annahme des Münchner Abkommens ohne parlamentarische Zustimmung geführt hatte. Die Tschechoslowakei konnte daher noch 1945 geltend machen, daß ihre Zessionserklärung nicht wirksam erfolgt war

Es sprechen also verschiedene Gründe für die Ungültigkeit des Münchner Abkommens oder zumindest für seine rückwirkende Vernichtbarkeit; eine völkerrechtlich unanfechtbare Beurteilung ist jedoch nicht möglich, weil stets auch die Gegenauffassung zumindest vertretbar ist. Es mag unbefriedigend sein, daß das Völkerrecht eine Rechtsfrage nicht eindeutig beantworten kann. Da das Völkerrecht mangels eines obersten Durchsetzungsoder auch nur Rechtsprechungsorgans weitgehend auf seine Entwicklung durch die Staatenpraxis angewiesen ist, ist ein solches Ergebnis aber unvermeidlich. Zudem ist das Völkerrecht seit 1919 in besonders starkem Maße im Wandel begriffen, so daß es äußerst schwierig ist, für einen bestimmten Zeitpunkt eindeutig festzustellen, ob noch das alte bis 1919 fast einmütig anerkannte Recht galt oder ob sich die neuen Anschauungen bereits soweit verfestigt hatten, daß von einer völkerrechtlichen Norm ausgegangen werden kann.

Folgt man der Auffassung, daß das Münchner Abkommen oder zumindest die tschechoslowakische Abtretungserklärung ungültig war oder von der Tschechoslowakei rückwirkend angefochten werden konnte, hat das Deutsche Reich das Sudetengebiet nicht kraft eines Zessionsvertrages erwerben können. Ein Gebiets-erwerb durch Annexion scheidet ebenfalls aus. Für einen Gebietserwerb, dem kein Krieg vorausgegangen ist, ist ein Vertrag in der Regel die einzig zulässige Rechtsgrundlage

Ist ein Zessionsvertrag ungültig, so ist die In-1 besitznahme des Gebietes rechtswidrig und kann nicht die fehlende vertragliche Grundlage ersetzen. Ein Gebietserwerb ist allenfalls nach längerem Zeitablauf gemäß dem Prinzip der Effektivität möglich. Auch die Anerkennung des Gebietserwerbs durch eine große Anzahl von Staaten kann einen Zessionsvertrag nicht ersetzen, sondern nur die effektive Herrschaft erleichtern. Die Zeitspanne bis zum Zweiten Weltkrieg reichte nicht aus, um die deutsche Herrschaft über das Sudetengebiet endgültig zu sichern.

Die Ungültigkeit der Abtretung der Sudetengebiete und die Unwirksamkeit einer Annexion bedeuten jedoch nicht, daß alle Folgen der Eingliederung dieser Gebiete in das Deutsche Reich als nicht eingetreten zu betrachten sind. Das Völkerrecht kann noch weniger als das innerstaatliche Recht vollendete einfach ignorieren. Gerade im Interesse der Erhaltung des Friedens ist es vielfach unmöglich, alle eingetretenen Folgen eines rechtswidrigen Verhaltens wieder rückgängig zu machen. Das gilt in besonderem Maße in den Fällen, in denen ein völkerrechtlicher Vertrag nicht ohne weiteres nichtig, sondern nur anfechtbar ist — wie im Falle der arglistigen äuschung — oder die Unwirksamkeit der Erärung zumindest erst geltend gemacht weren muß — wie bei einer Verletzung verfassungsrechtlicher Bestimmungen. Selbst die Un-gültigkeit wegen Gewaltandrohung führt nicht zur Nichtigkeit aller deutschen Akte im Sudetengebiet. So vertritt etwa der Schweizer Völkerrechtler Guggenheim die Auffassung, daß die Vermutung nicht dafür spreche, daß alle Akte, die nach einem völkerrechtswidrigen Gebietserwerb von dem erwerbenden Staat gesetzt wurden, rückwirkend nichtig seien, vielmehr sei für jeden Rechtsakt die Nichtigkeit besonders zu begründen. Um dem Interesse an Rechtssicherheit einerseits und dem an der Beseitigung der Folgen eines rechtswidrigen Gebietserwerbs anderseits Rechnung zu tragen, wird man differenzieren müssen zwischen solchen Rechtsakten, die an sich rechtlich zulässig sind und nur als Ausschluß der tatsächlichen Herrschaft über das Gebiet von dem erwerbenden Staat erlassen wurden, und solchen Rechtsakten, die der Ausnutzung der rechtswidrig erlangten Macht dienten und über die laufende Verwaltung des Gebiets hinausgingen Zu den zuerst genannten Akten, die weiterhin als wirksam anzusehen sind, gehören neben regulären Gerichtsentscheidungen in Zivil-und Strafsachen z. B. Eheschließungen, staatliche Prüfungen und andere laufende Verwaltungsakte. Zu der anderen Gruppe von Rechtsakten wird man u. a. politische Strafurteile, politisch bedingte Enteignungen u. ä. Maßnahmen zählen müssen. Selbst diese Akte werden häufig nicht völlig rückgängig gemacht werden, sondern nur zu einer Entschädigungspflicht führen können. Besondere Probleme wirft die Verleihung der Staatsangehörigkeit an die Bewohner des übernommenen Gebietes auf. Die Einbürgerung ist kein Akt der laufenden Verwaltung, sondern Folge der Inanspruchnahme des Gebietes als eigenes Staatsgebiet. Daher gehört die Verleihung der Staatsangehörigkeit an sich zu den Akten, die wieder rückgängig zu machen sind. Anders als die Verleihung der Staatsangehörigkeit im Laufe eines Krieges, die von vornherein wegen des noch völlig ungesicherten Besitzes offensichtlich nichtig ist — wie etwa die Einbürgerung der Elsässer und Luxemburger während des Zweiten Weltkrieges —, kann jedoch die Einbürgerung der Bewohner eines Gebietes, das aufgrund eines ungültigen Zessionsvertrages in Besitz genommen wurde, nicht als ohne weiteres nichtig angesehen werden. Der deutsch-tschecho-* slowakische Staatsvertrag vom 20. November 1938 setzt zwar die Gültigkeit der Gebietsabtretung vöraus und begründet nicht unabhängig von der rechtlichen Zugehörigkeit des Gebietes die deutsche Staatsangehörigkeit seiner Bewohner; dieser Vertrag war aber nicht offensichtlich nichtig. Wegen des unmittelbaren Zusammenhanges mit dem ungültigen Zessionsvertrag hätte die SR allerdings der Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft an die Sudetendeutschen ihre Anerkennung verweigern und die Sudetendeutschen als eigene Staatsangehörige in Anspruch nehmen können. Die tschechoslowakische Regierung hat jedoch im Gegenteil mit Dekret vom 2. August 1945 bestimmt, daß „tschechoslowakische Staatsangehörige deutschen oder ungarischen Volkstums, die entsprechend den Vorschriften einer fremden Besatzungsmacht die deutsche oder ungarische Staatsangehörigkeit erworben haben", mit dem Tage einer derartigen Erwerbung die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit eingebüßt haben. Damit hat die SR die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an die Sudetendeutschen im November 1938 anerkannt, so daß die deutsche Staatsangehörigkeit im Verhältnis zwischen Deutschland und der SR als voll wirksam anzusehen ist

Selbst wenn man von der Ungültigkeit der Abtretung des Sudetengebietes an Deutschland ausgeht, werden also weder die von 1938 bis 1945 im Sudetengebiet ergangenen Gerichtsurteile, die dort vorgenommenen Trauungen, notariellen Beurkundungen usw. rückwirkend nichtig, noch wird den Sudetendeutschen die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Die Anerkennung der völkerrechtlichen Ungültigkeit des Münchner Abkommens von Anfang an würde auch nicht bedeuten, daß die Vertreibung der Sudetendeutschen als rechtmäßig anzusehen ist; denn die Vertreibung der dort ansässigen Bevölkerung kann in keiner Weise mit der ununterbrochenen Zugehörigkeit des Gebietes zur Tschechoslowakei begründet oder gerechtfertigt werden. Folge einer Anerkennung der Ungültigkeit der Abtretung des Sudetengebietes von Anfang an könnte dagegen sein, daß die Bun-desrepublik von der SR auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird

Folgt man der ebenfalls vertretbaren Auffassung, daß das Münchner Abkommen und seine Annahme durch die tschechoslowakische Regierung trotz Gewaltandrohung, trotz falscher Zusicherung und trotz des Fehlens der parlamentarischen Zustimmung zunächst gültig war, bleibt die Frage nach der rechtlichen Bedeutung der weiteren Entwicklung, insbesondere der deutschen Besetzung Böhmens und Mährens im März 1939, zu beantworten, Mit dem Einmarsch verstieß das Deutsche Reich sowohl gegen die „endgültige“ Festlegung der Grenzen aufgrund des Münchner Abkommens als auch gegen seine Verpflichtung, der ÖSR eine Garantie seiner neuen Grenzen zu geben. Die Pflicht zur Achtung des verkleinerten tschechoslowakischen Staatsgebietes war zwar nicht ausdrücklich im Münchner Abkommen niedergelegt, ergab sich aber aus den genannten Verpflichtungen und aus den Umständen, die zu seinem Abschluß führten. Die Verletzung dieser für die anderen Vertragspartner wesentlichen Pflicht durch Deutschland berechtigte die übrigen Unterzeichnerstaaten zum Rücktritt vom Münchner Abkommen, zumindest aber zur Berufung auf die Clausula rebus sic stantibus. Der Berufung auf die Clausula rebus sic standibus stand nicht entgegen, daß das Sudetengebiet bereits in das Deutsche Reich eingegliedert und det eigentliche Zessionsvertrag damit erfüllt war, Durch die Unterwerfung der „Rest-Tschechei" war die Grenzfrage von Hitler selbst neu aufgeworfen worden. Obwohl Böhmen und Mähren als Protektorat bezeichnet wurden und in vielfacher Hinsicht einer besonderen Regelung unterlagen — etwa hinsichtlich der Staatsangehörigkeit und des Wehrdienstes —, war das Gebiet weitgehend dem Deutschen Reich eingegliedert. In dieser Situation hatte die Berufung auf die Clausula rebus sic stantibus die Bedeutung, daß die Vertragspartner bei Wiedererstehen einer unabhängigen Tschechoslowakei nicht mehr an die Grenzziehung aufgrund des Münchner Abkommens gebunden waren und die SR bei Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit 1945 befugt war, das Sudetengebiet wieder in Besitz zu nehmen, ohne damit eine völkerrechtswidrige Annexion zu begehen. Bis zur erneuten Inbesitznahme durch die Tschechoslowakei blieb das Sudetengebiet jedoch bei diesem rechtlichen Ausgangspunkt deutsches Staatsgebiet. Daher kann weder die Wirksamkeit deutscher Hoheitsakte zwischen 1938 und 1945 noch die Verleihung der Staatsangehörigkeit an die Sudetendeutschen in Zweifel gezogen werden; auch Schadensersatzansprüche wegen deutscher Maßnahmen im Sudetengebiet bis 1945 kämen nicht in Betracht. Die Ansicht, das Münchner Abkommen sei gültig zustande ge-kommen, die Bindung der übrigen Vertragspartner sei jedoch später wegen der Verletzung der vertraglichen Pflichten durch das Deutsche Reich und die daran anknüpfenden Erklärungen der Vertragspartner entfallen, führt also teilweise auch hinsichtlich der Rechtsfolgen zu anderen Ergebnissen.

Da das Völkerrecht auf die Frage nach der Gültigkeit der Abtretung der Sudetengebiete keine eindeutige Antwort geben kann, vielmehr unterschiedliche und sogar einander entgegengesetzte Rechtsauffassungen vertretbar sind, läßt sich das Problem des Münchner Abkommens nicht allein durch Berufung auf die Rechtslage lösen. Letztlich handelt es sich bei der Frage, welche Rechtsauffassung man sich zu eigen macht, um eine politische Entscheidung. Für diese Entscheidung ist das Gewicht der rechtlichen Argumente für die eine oder andere Auffassung ebenso von Bedeutung wie die mit jeder Auffassung verbundenen Rechtsfolgen. Es ist jedoch legitim, auch politische Erwägungen in die Betrachtung einzubeziehen. Auf jeden Fall kann die juristische Analyse nur die Entscheidung vorbereiten und erleichtern, ihr Ergebnis jedoch nicht vorwegnehmen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das Abkommen ist u. a. in Bd. 12 der Reihe . Ursachen und Folgen — vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart" (zitiert: Das sudetendeutsche Problem) abgedruckt (S. 452 ff.), der eine Fülle weiterer Dokumente zur sudetenfrage enthält. Von den zahlreichen juristischen Veröffentlichungen zum Münchener Abkommen seien hier nur genannt: Hermann Raschhofer, Die Sudetenfrage, München 1953, und Erhard pengler, Zur Frage des völkerrechtlich gültigen ustandekommens der deutsdi-tschechoslowaki-schen Grenzregelung von 1938, Berlin 1967 (mit zahlreichen weiteren Literaturhinweisen). Tschechoslowakische Stellungnahmen sind in dem Band ion Otto Kimminich, Das Münchener Abkommen der tschechoslowakischen wissenschaftlichen i eratur seit dem 2. Weltkrieg, München 1968, zusammengestellt.

  2. Vgl. Das sudetendeutsche Problem, S. 363.

  3. Vgl. Das sudetendeutsche Problem, S. 356.

  4. Der Ansicht Raschhofers, S. 183, die CSR habe vor München gleichberechtigt an den Verhandlungen teilgenommen, kann deshalb nicht zugestimmt werden.

  5. Hierauf wies Quincy Wright, American Journal of International Law, 33 (1939), S. 23, hin. Die Ansicht Spenglers, es habe sich um eine Anwendung des „peaceful change" gehandelt, trägt ebenso wie Raschhofers Bewertung des Münchener Abkommens als Adjudikation diesen schwerwiegenden Verfan rensmängeln nicht Rechnung. Bedenkt man, oa Hitler durch Ermutigung der Unnachgiebigkeit un der rechtswidrigen Aktionen der Sudetendeutsee Partei erheblich zur Verschärfung der Sudetenkris beigetragen hatte, wird die Fragwürdigkeit Verfahrens noch offensichtlicher.

  6. So etwa Spengler, S. 112. Die Unterzeichner des Munch ner Abkommens haben zur Frage seiner utigkeit unterschiedlich Stellung bezogen. Wäh-rend das französische Nationalkomitee am 29. 9. 1944 das Münchner Abkommen als „nul et non avenue" Qsi 26« nete und die italienische Regierung am M“ 9. 1944 ebenfalls von einer Ungültigkeit des d unchner Abkommens und der daraus resultierenen Übereinkommen sprach, erklärte die britische sagierung 1942, Deutschland habe die 1938 zu-

  7. Die Ansicht Spenglers, S. 116 ff., das vorliegende Aktenmaterial lasse nicht den Schluß zu, daß Deutschland von vornherein das Münchner Abkommen nicht voll erfüllen wollte, ist deshalb schwer verständlich.

  8. § 64 Abs. 1; deutscher Text bei Spengler, S. 79.

  9. Vgl. Guggenheim-Marek, Verträge, völkerrechtliche, V B 3, in: Strupp-Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts.

  10. Vgl. hierzu die eingehenden Ausführungen Spenglers, S. 90 ff.

  11. Anderer Ansicht ist Kimminich, S. 25, ohne allerdings auf das Problem des äußeren Zwanges einzugehen. ,

  12. So u. a. Brügel, Außenpolitik 1965, S. 765L Michal bei Kimminich, S. 55; Spengler bejaht ne Wirksamkeit der tschechoslowakischen Erklärung hält aber auch die entgegengesetzte Auffassung tu vertretbar.

  13. S Bindschedler, „Annexion-in: Strupp-Schlo-

  14. La validite et la nullite des Actes Juridiques Internationaux, Recueil des Cours 74 (1949), 195, S. 260 ff.

  15. Guggenheim unterscheidet zwischen an sich erlaubten und an sich unerlaubten Akten.

  16. RGBl. 1938, II, S. 896.

  17. Vgl. BVerfGE 1, 322, 330; ebenso Schätzel, Archiv des öffentlichen Rechts 74 (1948), S. 273, S. 298; Makarov, Juristenzeitung 1952, 403; anderer Ansicht: Hoffmann, NJW 1950, S. 815, mit der Begründung, die Staatsangehörigkeit der Sudetendeutschen sei untrennbar mit dem staatsrechtlichen Schicksal der Sudetengebiete verbunden.

  18. Der tschechoslowakische Autor Michal (Kimminich, S. 63 f.) erwähnt bei der Aufzählung « rechtlichen Konsequenzen die Staatsangehörigketts frage nicht. Außer der Rechtsfolge, daß ein Fes densvertrag mit Deutschland die Zugehörigkeit e Sudetengebiets zur Tschechoslowakei nur Konst tieren, nicht aber begründen könne, nennt er v allem die Verantwortlichkeit und die Schaden ersatzpflicht Deutschlands für alle Schäden, seine Organe seit der Besetzung verursacht ha

  19. Sehr deutlich kommt diese Zielsetzung in der Erklärung der britischen Regierung vom 5. 8. 1942 gegenüber der tschechoslowakischen Exilregierung zum Ausdruck, die britische Regierung betrachte sich — nachdem Deutschland die Abmachungen zerstört habe — als frei von jeglicher Verpflichtung und werde sich bei der endgültigen Festlegung der tschechoslowakischen Grenzen nach Kriegsende nicht von irgendwelchen Änderungen, die 1938 erfolgt sind, beeinflussen lassen.

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Helga Seibert, LL. M., geboren 1939 in Witzenhausen/Werra. Sprachstudium und Studium der Rechtswissenschaft in Germersheim, Berlin und Marburg; 1965— 66 Studium am Bologna Center der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins Univer-sity, 1966— 67 Studium an der Yale Law School. 1964— 65 und 1968— 70 wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für öffentliches Recht der Universität Marburg; seit November 1970 Referentin beim Arbeitskreis Rechtswesen der SPD-Bundestagsfraktion.