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Zur Ungültigkeit des Münchner Abkommens | APuZ 26/1971 | bpb.de

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APuZ 26/1971 Artikel 1 Das Münchner Abkommen Zur Ungültigkeit des Münchner Abkommens Das Münchner Abkommen als Problem des Völkerrechts

Zur Ungültigkeit des Münchner Abkommens

Erich Röper

/ 25 Minuten zu lesen

I.

Am 29. September 1938 unterzeichneten das Deutsche Reich, Großbritannien, Frankreich und Italien das „Münchner Abkommen" *), in dem sie — unter Verweis auf frühere Vereinbarungen der Westmächte mit Prag zur Auslieferung der von mehr als 50 % Deutschen bewohnten Teile der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich — ihre Übereinstimmung zur Abtretung des Sudetenlandes und deren Modalitäten festlegten. Zugleich gaben London und Paris der amputierten Tschechoslowakei eine Grenzgarantie für den Fall eines unprovozierten Angriffs; eine Garantie der deutschen und italienischen Regierung wurde für einen Zeitpunkt nach Regelung der Ansprüche der polnischen und ungarischen Minderheiten in Aussicht gestellt, jedoch nie abgegeben. Unter dem Druck des Deutschen Reiches wie der Westmächte trat Prag dem Münchner Abkommen am 30. September durch eine mündliche Erklärung bei und entsandte einen Vertreter in den nach Nr. 3 des Abkommens gebildeten Internationalen Ausschuß. Anfang Oktober 1938 besetzten deutsche Truppen das Sudetenland (28 996 qkm mit 3, 4 Millionen Bewohnern); Ende Oktober rückten Polen ins Teschener Schlesien (rund 1000 qkm mit etwa 200 000 Menschen) und Ungarn nach Uhorod-Ungvär ein (12 400 qkm mit 1 064 000 Einwohnern). Am 2. November erging der Erste Wiener Schiedsspruch, am 21. November 1938 erfolgte die endgültige Festlegung der Grenze durch den Internationalen Ausschuß.

Schon am 5. November 1937 hatte Hitler den Befehlshabern der Wehrmacht eröffnet, er wolle Österreich und die Tschechoslowakei gleichzeitig niederwerfen (Hoßbach-Niederschrift). Am 30. Mai 1938 erklärte er seinen unabänderlichen Entschluß, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit militärisch zu zerschlagen; dem wurde seit Jahresbeginn durch militärische Vorbereitungen Nachdruck verliehen (Fall Grün).

Großbritannien und besonders Frankreich waren Prag zwar durch Bündnisverträge verbun-den, wollten aber unter allen Umständen einen Krieg mit dem Deutschen Reich vermeiden. Sie wollten sich auch nicht der, wenn auch sehr verspäteten, Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Sudetendeutschen widersetzen. Darum hatte London noch im Frühjahr 1938 unter dem Eindruck der heraufziehenden Sudetenkrise Prag — vergeblich! — zur Staats-reform zugunsten einer Föderalisierung und damit stärkeren Beteiligung der Minderheiten gedrängt: Denn bei Bildung der Tschechoslowakei 1918 war der erklärte Wille aller Minderheiten gröblich verletzt worden, und das Land betrieb seither eine minderheiten-feindliche, fast rein tschechische Innenpolitik. Als Hitler am 12. September 1938 das Sudetenland forderte, den Sudetendeutschen Hilfe anbot und die militärischen Vorbereitungen für den „Fall Grün“ aller Welt offenkundig wurden, verstärkten die Westmächte, besonders Großbritannien, den Drude auf Prag, die von Deutschen bewohnten Gebiete abzugeben. Angesichts dieses Drucks, vor allem aber der Weigerung der Westmächte, der Tschechoslowakei beim bevorstehenden deutschen Angriff beizustehen, erwog der tschechoslowakische Staatspräsident Benesch am 17. September erstmals eine Teilabtretung der von Deutschen bewohnten Gebiete. Die Westmächte befürworteten nachhaltig diesen Plan. Am 19. September verlangten sie ultimativ die Abtretung der mehrheitlich von Deutschen bewohnten Landesteile, dem Prag unter diesen Umständen am 20. September zustimmen mußte. (Diese Zustimmung wurde unter dem Druck der Bevölkerung am 22. September widerrufen.) Am 21. September erklärten die Westmächte dem immer noch zögernden Prag, eine umgehende Zession sei nötig, da London seiner Bündnisverpflichtung sonst nicht nachkommen und ein eventueller Beistand Frankreichs damit wirkungslos werde.

Am 25. September bekräftigte Hitler gegenüber dem britischen Botschafter in Berlin, Sir Horace Wilson, er werde auf jeden Fall am 1. Oktober in die Tschechoslowakei einmarschieren, es sei denn, diese stimme der Besetzung des Sudetenlandes bis zum 28. September zu. An diesem 28. September kam es dann auf Vermittlung Italiens zur Münchner Konferenz, welche dem Ultimatum Hitlers dank der „guten Dienste" der Westmächte im Münchner Abkommen den Schein der Legalität gab.

Am 5. Oktober 1938 trat Benesch als Staats-präsident zurück; am 30. November wählte die Nationalversammlung Dr. Hächa zu seinem Nachfolger. Dr. Hächa wurde am 15. März 1939 nach Berlin beordert und informiert, am nächsten Tag würden deutsche Truppen die „Rest-

Tschechei" besetzen; sollte er die Westmächte um Hilfe bitten, werde Prag zerstört werden. Dr. Hächa beugte sich dem Druck und legte in einer Gemeinsamen Erklärung mit Hitler das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes in dessen Hände.

Zur gleichen Zeit erklärte die Slowakei als Slowakische Republik ihre Unabhängigkeit; mit dem Vertrag vom 18. /23. März 1939 stellte sie sich unter den Schutz des Deutschen Reiches. Die Unabhängigkeit der Slowakei wurde wohl vom Deutschen Reich begünstigt, ging aber nicht auf eine deutsche Intervention zurück. Sie entsprach dem schon seit 1918 immer wieder manifestierten Willen weiter Kreise der slowakischen Bevölkerung.

Auf Veranlassung Hitlers besetzte Ungarn die Karpatho-Ukraine und gliederte sie ein.

Das Deutsche Reich errichtete in der „Rest-Tschechei" das Protektorat Böhmen und Mähren. Die Tschechoslowakei (Rest-Tschechei) /Protektorat Böhmen und Mähren behielt ihren Staatspräsidenten, eine eigene Regierung, Behörden, Staatsbürgerschaft, Währung und gewisse Autonomie in inneren Angelegenheiten. Die Wahrnehmung der auswärtigen Interessen lag völlig, die letzte Entscheidung über die Innenpolitik weitgehend und im Verlauf des Krieges nahezu ganz bei dem von Hitler eingesetzten Reichsprotektor.

Am 19. März 1939 erklärte Benesch im US-amerikanischen Rundfunk das rechtliche Fortbestehen der Tschechoslowakei. Am 3. September 1939 verkündete er, diese befände sich seit dem 15. März 1939 im Kriegszustand mit dem Deutschen Reich. Das mit ihm als Staats-präsident als provisorische Regierung gebildete tschechoslowakische Nationalkomitee mit Sitz zunächst in Paris, seit 1940 in London, wurde im Juli 1940 vorläufig, im Juli 1941 endgültig von London anerkannt, jedoch blieben die Rechtskontinuität und die künftigen Grenzen offen. Uneingeschränkt als Regierung der Tschechoslowakei in den Grenzen vom 28. September 1938 wurde sie im Juli 1941 von Moskau und im Dezember 1941 von den USA anerkannt.

Am 5. August 1942 kündigte London das Münchner Abkommen: Da das Deutsche Reich seine Vertragspflichten bewußt gebrochen habe, sehe es sich daran nicht mehr gebunden; das Abkommen dürfe die endgültige Festlegung der tschechoslowakischen Grenzen nicht beeinflussen.

Am 29. September 1942 erklärte die „Exil-Regierung de Gaulles" das Münchner Abkommen für null und nichtig. Frankreich erkenne dessen Gebietsveränderungen nicht an und werde dafür eintreten, daß die Tschechoslowakei in den Grenzen von 1938 wiederhergestellt j werde.

Auch Italien bezeichnete das Münchner Abkommen nach dem Übertritt ins alliierte Lager im Jahre 1944 für null und nichtig.

Am 5. Mai 1945 kam es zum Aufstand tschecho-i slowakischer Widerstandsgruppen in Prag. Die letzten deutschen Truppen wurden vertrieben, Regierung Dr. Hächa verjagt. Die mit den sowjetischen Truppen am 25. Februar 1945 ins I Land zurückgekehrte und im April 1945 in der von der Roten Armee besetzten ostslowaki-I sehen Stadt Kaschau zusammengetretene „ExilRegierung der Nationalen Front der Tschechen und Slowaken" unter Benesch, welche dort am 5. April die „Proklamation über die leitenden Grundsätze für den Wiederaufbau der Tschechoslowakei", das Kaschauer Statut, beschlossen hatte, konstituierte sich in Prag als Regierung. Am 9. Mai rückten sowjetische Truppen dort ein. Das Sudetenland sowie die von Polen und Ungarn eingegliederten wurden von tschechoslowakischen . Truppen besetzt, die 3, 5 Millionen Sudeten-durch das am 2. August 1945 in getretene Dekret Nr. 33 mit Wirkung diesem Tage ausgebürgert, enteignet und vertrieben. Die von Ungarn besetzte Karpatho-Ukraine wurde von der Sowjetunion annektiert und in die Ukrainische Sowjet-Republik eingefügt.

Die deutsche Bundesregierung erklärte mehrfach, so während der Genfer Außenministerkonferenz 1959, in der Friedensnote vom 25. März 1966 oder der Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966, Hitler habe das zwar unter Androhung von Gewalt, aber nicht nur nach deutscher Auffassung legal zustande g kommene Münchner Abkommen, dessen Rechtsnatur umstritten sei, durch den Ein marsch deutscher Truppen in die „RestTschechei" zerrissen. Es sei für Bonn daher (politisch) ungültig und habe keine territoriale völkerrechtliche Bedeutung mehr. Eine Nichtigkeitserklärung von Anbeginn an wird jedoch abgelehnt, vor allem wegen der noch ausstehenden Lösung von Problemen wie dem der Staatszugehörigkeit; unabhängig davon bestehe ein Anspruch der Sudetendeutschen auf Verwirklichung ihres Heimat-und Selbstbestimmungsrechts. Bonn hat also Prag gegenüber zwar keine territorialen Ansprüche, hat das Sudetenland aber auch in keiner Form rückübertragen.

In ihrem Abkommen mit Prag vom 23. Juni 1950, der Prager Deklaration, betonte auch die DDR, sie habe keine Ansprüche gegen die Tschechoslowakei; die Vertreibung der Sudetendeutschen sei im übrigen unabänderlich, gerecht und endgültig.

Die vertriebenen Sudetendeutschen verlangen zwar seit 1946 — damals etwa in den Leitsätzen der Ackermann-Gemeinde — die Rückkehr und Einräumung des Heimatrechts, verzichteten aber auf die Anwendung von Gewalt; so mit den übrigen Ostdeutschen in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950.

II.

(1) Das Münchner Abkommen zwischen dem Deutschen Reich, Großbritannien, Frankreich und Italien ist gültig; (2) der Beitritt der Tschechoslowakei aber (ex tune) nichtig; (3) die Besetzung des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich war eine Annexion. (1)

Die vier Großmächte haben das Münchner Abkommen durch übereinstimmende Willenserklärungen mehrerer Völkerrechtssubjekte als völkerrechtlichen Vertrag geschlossen; es gibt keine Gründe für eine Ungültigkeit: Sie waren sich darüber klar, was sie taten, waren von Hitler weder arglistig über den Vertragsinhalt getäuscht, noch durch Zwang gegen die vertragschließenden Personen oder Staaten zur Unterschrift gebracht worden. Hitlers Drohung, anderenfalls werde das Deutsche Reich die Tschechoslowakei gewaltsam besetzen, richtete sich nicht gegen die am Münchner Abkommen beteiligten Staaten. Die Westmächte wurden Zwar durch ihr Nachgeben ünter Verleugnung ihrer Bündnisverpflichtungen mit der Tschechoslowakei 6hhe_Not zürn politischen Offenbarungseid gezwungen, waren in ihrer Entscheidung aber frei.

Das Münchner Abkommen war ein Vertrag zu Lasten Dritter. Der am Münchner Abkommen nicht beteiligten Tschechoslowakei konnten gegen ihren Willen also keine Verpflichtungen zur Abtretung verschiedener Gebiete auferlegt werden; das Abkommen konnte ihre Rechte nicht aufheben und nicht zu ihrem Nachteil verändern. Als Vertrag zwischen den vier Großmächten blieb es aber sehr wohl gültig. Es konnte völkerrechtliche Wirkung (also die Übertragung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich), die von seiner Gültigkeit zu unterscheiden ist, aber nur entfalten, wenn Prag dem Vertrag zustimmte: Denn dem Wortlaut nach verteilten zwar die vier Großmächte ein-verhehmilich tschechoslowakisches Gebiet an seine Nachbarn, wozu sie keinerlei Legitimation besaßen. Tatsächlich verpflichteten die Westmächte sich daher, Prag mit Hilfe deutschen Drucks zur Abtretung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich zu veranlassen. Die Verpflichtung war nicht unmöglich. Zum einen konnte sich Prag theoretisch dem Ansinnen widersetzen. Zum anderen war (und ist?) es in der Politik auch der Westmächte durchaus üblich, ohne Befragen über Schicksal und Territorium kleinerer Verbündeter zu verfügen; so etwa bei der Westverschiebung Polens oder der Einräumung der 1905 verlorenen Kolonial-rechte ih China ah die Sowjetunion.

Die Kündigung des Münchner Abkommens durch die Westmächte, die es zumindest bis März 1939 als verbindlich behandelten, war eine politische Maßnahme, rechtlich war sie irrelevant; tatsächlich kündigten London und Paris es ja auch erst 1942. Da der Vertrag erfüllt war, hat auf seine Gültigkeit auch die Okkupation der „Rest-Tschechei“ am 16. März 1939 keinen Einfluß. Politisch war sie zwar für die Westmächte das entscheidende Signal, Hitler von nun an Einhalt zu gebieten; rechtlich gab sie nicht einmal einen Kündigungsgrund, da Berlin eine Garantieerklärung der neuen tschechoslowakischen Grenzen im Münchner Abkommen zwar in Aussicht gestellt, aber nie abgegeben hat. Es damit als hinfällig oder von Hitler zerrissen zu bezeichnen ist eine politische, keine rechtlich relevante Feststellung.

Das Münchner Abkommen hatte ein relativ enges Vertragsziel: die territoriale Übergabe des Sudetenlandes. Dieses Vertragsziel war durch die Ausdehnung der Gebietsherrschaft des Deutschen Reichs auf das Sudetenland erreicht, der Vertrag erfüllt, eine nachträgliche Kündigung also unmöglich. Daher ist die von Prag immer wieder erhobene Forderung, Bonn solle das Münchner Abkommen als von Anfang an null und nichtig bezeichnen, völkerrechtlich undurchführbar. Es kann heute nicht mehr rückwirkend für null und nichtig erklärt, sondern nur seine Nichtigkeit (ex tune) festgesteellt werden Mit seiner Erfüllung durch die Gebietsübergabe und Grenzprotokollierung im Oktober 1938 wurde es völkerrechtlich Geschichte. Da es völkerrechtlich erfüllt worden ist, kann eine nachträgliche Kündigung seine Rechtsfolgen nicht mehr beseitigen. Eine Nichtigkeitserklärung durch Bonn, sei es ex tune oder ex nunc, wäre daher nur eine völkerrechtlich irrelevante politische Manifestation guten Willens zur Überwindung der Folgen der Vergangenheit, also ohne rechtliche Folgen für das vergangene Geschehen. (2)

Nur unter dem militärischen Druck des Deutschen Reichs und der Westmächte — Italien versah nur politische Mittlerdienste und war ohne Einfluß auf das eigentliche Geschehen-war Prag zum Beitritt zum Münchner Abkommen bereit. Die mündliche Beitrittserklärunq war völkerrechtlich ein Vertragsbeitritt. Dieser durch völkerrechtserheblichen rechtswidrigen , Zwang zustande gekommene Vertrag aberist im Verhältnis zur Tschechoslowakei nichtig, und nicht nur ungerecht zustande gekommen wie viele deutsche Politiker meinen — dem das hieße letztlich, daß der Vertrag (Beitritt Prags) seinerzeit bei seinem Abschluß dod gültig gewesen wäre. Dabei ist unerheblich, ob Prag schon durch geringeren Druck zur Abtretung kleinerer Gebietsteile hätte gezwungen werden können.

Der Zwang, dem durch militärische Maßnahmen Nachdruck verliehen wurde, und der sich nicht auf diplomatische Mittel beschränkte, ging vom Deutschen Reich aus. Durch die Weigerung, ihre Bündnispflichten zu erfüllen, nahmen die Westmächte zudem der Tschechoslowakei die letzte Chance erfolgversprechen-den Widerstands und zwangen sie zum Beitritt. Dieser Zwang verstieß gegen den allgemeinen Völkerrechtsgrundsatz des Interventionsverbots sowie gegen mehrere positive Völkerrechtsnormen:

— Artikel 10 (Garantie der Selbständigkeit und territorialen Integrität der Mitgliedsstaaten) und 20 der Völkerbundssatzung (Verbot des Abschlusses von Verträgen, die gegen die Satzung verstoßen); — Artikel 1 des Schiedsspruchabkommens von Locarno vom 16. Oktober 1925 zwischen der Tschechoslowakei und dem Deutschen Reich, wonach alle Streitfragen durch Schiedsspruch zu lösen waren; Berlin hatte es noch am 12. März 1938 als gültig bezeichnet;

— Artikel 2 des Briand-Kellogg-Kriegsverzichtsvertrags vom 27. August 1927, den alle fünf Signatarmächte des Münchner Abkommens unterzeichnet hatten: Die Regelung von Streitigkeiten konnte nur noch mit den herkömmlichen Mitteln der friedlichen Streiterledigung erfolgen.

Der Zwang kann nicht mit dem Nationalitätsprinzip gerechtfertigt werden Es ist zwar seit dem 19. Jahrhundert ein Gestaltungselement der internationalen Beziehungen, aber kein Völkerrechtssatz. Die Nation ist im allgemeinen Verständnis ein politischer Begriff un entzieht sich damit einer unmittelbaren recht liehen Qualifizierung. Sie ist keine Völker rechtliche Institution. Ein darauf basierendes Nationalitätsprinzip zur Rechtfertigung Von Gewaltmaßnahmen gibt es daher völkerrechtlich erst recht nicht. Tatsächlich gehen darauf viele internationale Konflikte zurück, und es war immer eine vorzügliche „Begründung" für imperialistische Bestrebungen. (Das gilt vor allem für die sowjetischen Annexionen in Osteuropa: die Annexion der Karpatho-Ukraine 1945 unterscheidet sich von der deutschen Annexion des etwa gleich großen Sudetenlandes nur darin, daß das eine Gebiet im Osten, das andere im Westen der Tschechoslowakei liegt.)

Audi das Selbstbestimmungsrecht vermag keine Rechtfertigung für die Annexion abzu-geben. Zumal im Bereich des ehemaligen Österreich-Ungarn stellte es zwar unbestritten ein politisches und wohl auch moralisches Postulat dar. Es ist aber In der vom Deutschen Reich geltend gemachten Form keine Völker-rechtsnorm. Nach dem auch damals geltenden Völkerrecht ist die Unantastbarkeit der Unabhängigkeit und territorialen Unverletzlichkeit bestehender Staaten ein unumstritten geltender Satz. Wenn das Völkerrecht diese Integrität bestehender Staaten garantiert, kann es nicht gleichzeitig erlauben, daß sie unter dem Gesichtspunkt des Selbstbestimmungsrechts eines Bevölkerungsteils beeinträchtigt wird.

Die Verletzung von Minderheitsrechten der Sudetendeutschen, Polen, Ungarn und auch Slowaken hätte eine humanitäre Intervention oder Interzession — also politische Beeinflussung — der betroffenen Staaten erlaubt. Denn nationale, sprachliche, religiöse und kulturelle Minderheiten sind nach einem dem Gebot der Humanität entsprechenden Mindeststandard zü behandeln und vor Diskriminierung, also rechtlich unzulässiger unterschiedlicher Behandlung, zu schützen. Eine dem widersprechende Innenpolitik gab etwa dem Deutschen Reich das Recht zu Gegenmaßnahmen, eventuell durch mittelbaren Zwang wie wirtschaftlichen Druck oder militärische Demonstrationen, um eine diesem Mindeststandard widersprechende oder diskriminierende Handlungsweise abzustellen. Es rechtfertigt aber nicht die Annexion der betroffenen Gebiete.

Insoweit stellen Ost-Berlin und Prag in Arti-kel 7 des Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand Vom 17. März 1967 zutreffend fest, das Münchner Abkommen sei nichtig, da es unter Androhung eines Krieges sowie der Anwendung Von Gewalt gegenüber der Tschechoslowakei Zustande gekommen sei. (3)

Das Deutsche Reich hat das Sudetenland vollständig und endgültig annektiert. Daß der Besitz keine sieben Jahre dauerte, nimmt der Inbesitznahme im Oktober 1938 nicht die Endgültigkeit (Endgültigkeit bezeichnet den rechtlich abgeschlossenen Vorgang). Die Beendigung des deutschen Besitzes beruhte auf späteren, mit der Annexion im Oktober 1938 zumindest rechtlich nicht in Zusammenhang stehenden Ereignissen. Die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft war insofern wichtig, als diese nicht nur der Annexion keinen Widerstand leistete, sondern durch die Unterschrift ihrer mächtigsten Vertreter unter das Münchner Abkommen ihre Stabilität und Effektivität bestätigte. Auch die Proteste der Sowjetunion, die die Unterschrift verweigerte, konnten sie nicht beeinträchtigen.

Die Annexion war ein einseitiger Akt der Gewalt durch das Deutsche Reich. Daß ihr das Münchner Abkommen und das „Einverständnis" Prags zur „Abtretung" des Sudetenlandes den Schein der Legalität gaben, kann ihren wahren Charakter nicht verbergen: Von einer durch den militärischen Druck zwar motivierten, rechtlich aber freiwilligen Gebietsübertragung durch Prag zu sprechen, heißt die für jedes Vertragsrecht nötige Freiheit der Vertragsparteien ad absurdum führen.

Durch die Annexion erwarb das Deutsche Reich einen originären Rechtstitel über das Sudetenland, der sich aus dem Willen der Tschechoslowakei als der vorhergehenden Staatsgewalt nicht ableiten läßt. Es wurde unmittelbar deutsch mit allen Rechtsfolgen für seine Bewohner: Sie wurden damit, und nicht erst durch die deutschen Naturalisierungsdekrete vom 10. Oktober 1938, unmittelbar deutsche Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten, auch der Kriegsdienstpflicht, soweit sie nicht auswanderten oder vom Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft ausdrücklich ausgeschlossen wurden. Völlig unbegründet ist daher die Furcht, durch die Feststellung der Nichtigkeit des Münchner Abkommens im Verhältnis zur Tschechoslowakei könne die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit wieder aufleben.

Das Eigentum an den Gegenständen des Gemeingebrauchs, vor allem das öffentliche Verwaltungsvermögen, ging mit der Annexion auf das Deutsche Reich über, die privaten Eigentums-und Vertragsverhältnisse wurden nicht berührt. Alle danach geschlossenen Verträge sind nach deutschem (Zivil-) Recht zu beurteilen, werden durch die Feststellung der Nichtigkeit des Münchner Abkommens im Verhältnis zu Prag also nicht berührt. Die Personalhoheit der Tschechoslowakei — also die Herrschaftsgewalt über ihre bisherigen Staatsangehörigen im Sudetenland und alle damit verbundenen Rechte und Pflichten, etwa die Wehr-dienstpflicht — erlosch mit der der Annexion. Vor allem können die Sudetendeutschen vom Oktober 1938 bis zum Mai 1945 keine sich aus der Personalhoheit ergebenden tschechoslowakischen Gesetze verletzt haben: Die Sudetendeutschen, die in der Deutschen Wehrmacht Dienst geleistet haben, können nicht als Hoch-und Landesverräter verfolgt werden, und Prag kann seine ehemaligen (Sudeten-) deutschen Bewohner von 1938 bis 1945 weder der Verletzung tschechoslowakischer Gesetze zeihen noch die legal nach dem allein in jener Zeit geltenden deutschen Recht geschlossenen Verträge für ungültig erklären. Rechtsstaatliches Verhalten der tschechoslowakischen Regierung vorausgesetzt, kann also auch in personen-und familienrechtlichen Fragen bei einer Feststellung der Nichtigkeit des Münchner Abkommens im Verhältnis zur Tschechoslowakei keine Rechtsunsicherheit entstehen.

Das Sudetenland wurde Anfang Oktober 1938 durch Annexion, nicht durch Zession (Abtretung) der Tschechoslowakei deutsch. Der Nürnberger Interalliierte Militärgerichtshof bezeichnete es im Urteil vom 30. September/1. Oktober 1946 daher zutreffend als seit Oktober 1938 deutsches Staatsgebiet — im Gegensatz zum Protektorat Böhmen und Mähren.

III.

(1) Die Tschechoslowakei (Rest-Tschechei) ging durch die Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren sowie die Sezession der Slowakei nicht als Völ-kerrechtssubjekt unter; (2) sie war auch kein Kriegsgegner des Deutschen Reichs; (3) Aniang Mai 1945 hat sie das deutsche Protektorat einseitig und gewaltsam beendet sowie das Sudetenland, die von Polen und Ungarn annektierten Gebiete und die Slowakei (re-) annektiert. (1)

Die Errichtung eines Protektorats ist keine Annexion; es wird also kein Teil der Protektoratsmacht. Es ist aber nicht nur die äußere Form, sondern der Wille des das Protektorat errichtenden Staates entscheidend. Artikel 1 des Führererlasses über die Verfassung des Protektorats Böhmen und-Mähren vom 16. März 1939 — ein Reichsgesetz dazu ist nie ergangen — sagt zwar, dieses gehöre zum Großdeutschen Reich und trete als Protektorat unter seinen Schutz. Es ist aber eben nicht annektiert worden wie wenig später etwa Westpreußen, Luxemburg, Eupen-Malmedy oder Elsaß-Lothringen.

Für die Tschechoslowakei (Rest-Tschechei) wurde ein vom übrigen Reichsgebiet (einschließlich der später annektierten Territorien) unterschiedlicher Status geschaffen. Ihre völkerrechtliche Handlungsfähigkeit wurde durch die Gemeinsame Erklärung vom 15. März 1939 im Sinne eines vollständigen Protektorats eingeschränkt. Sie verlor die außenpolitische Handlungsfähigkeit völlig (Artikel 6 Absatz 1 Führererlaß), über ihre Macht nach innen verB fügte weitgehend und im Verlauf des Krieges nahezu ganz der von Hitler bestimmte Reichs-protektor (Artikel 5). Sie blieb aber trotz beschränkter Hoheitsgewalt ein selbständiges Völkerrechtssubjekt.

Das Deutsche Reich bezog das Protektorat Böhmen und Mähren zwar in die Grenzen sei-I nes inneren Hegemonialbereichs ein, es wurde aber kein deutsches Gebiet zu gleichen Rechten und Pflichten wie andere Reichsteile. Es hatte eine Sonderstellung, war autonom und verwaltete sich selbst (Artikel 3 Absatz 1 seine Gesetze blieben in Kraft, soweit sie nicht dem Sinn der Protektoratserrichtung widersprachen (Artikel 12); es hatte einen eigenen Staatspräsidenten, der auch als solcher behandelt wurde, aber Hitlers Vertrauen benötigte (Artikel 4); ferner eigene Ministerien, Organe und Behörden mit eigenen Beamten zur Verwaltung und mit Rechtssetzungsbefug nis, die seine Hoheitsrechte wahrnahmen (I tikel 3 Absatz 3), sowie eine eigene, wenn auch von Berlin gelenkte Währung (A 1 kel 10). Die Bewohner, soweit sie nicht Vo 5 deutsche im Sinne des Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935 waren, hatten ein eigene Staatsangehörigkeit (Artikel 2), die eine Eindeutschung automatisch ausschloß; sie waren dem Deutschen Reich nicht wehrdienst-pflichtig und den Nürnberger Gesetzen nicht unterworfen.

Die Anwesenheit der deutschen Truppen war eine iriedliche Besetzung (occupatio pacifica), also eine außerhalb des zeitlichen Geltungsbereichs des Kriegsrechts vollzogene militärische Besetzung. Ihre Begründung beruhte auf der Gemeinsamen Erklärung vom 15. März. Auch sie begründete weder eine deutsche Gebietshoheit oder gar Gebietsherrschaft, noch eine über eine gewisse Gehorsamspflicht hinausgehende Verpflichtung für die Bewohner. Die von den deutschen Truppen ausgeübte Staatsgewalt war eine von derjenigen der Tschechoslowakei (Rest-Tschechei) als besetztem Staat verschiedene. Aber selbst der Verlust der Gebietshoheit hätte ihr die Gebiets-herrschaft und damit die Möglichkeit zur Wiedererlangung der vollen Gebietshoheit nicht genommen.

Um Dr. Hächa zur Unterschrift unter die Gemeinsame Erklärung zu veranlassen, wurden Gewalt gegen ihn selbst angewandt und militärische Maßnahmen einschließlich der Zerstörung Prags angedroht. Wie beim Münchner Abkommen kann auch hier davon ausgegangen werden, daß dieser Vertrag wegen Anwendung völkerrechtserheblichen rechtswidrigen Zwangs gegen den vertragschließenden Staat sowie seinen Repräsentanten nichtig sei. Aber auch dann ist es zur Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren gekommen; dieses bezeichnet unbeschadet seines Zustandekommens durch einen Protektoratsvertrag oder eine militärische Besetzung einen faktischen Zustand und ist daher von der Gültigkeit des Protektoratsvertrages unabhängig. Die dann nicht mehr auf der Gemeinsamen Erklärung als Vertragsbesetzung beruhende deutsche militärische Besetzung ist aber auch dann — ähnlich derjenigen durch die Truppen des War-schauer Pakts am 21. August 1968 —-eine friedliche Besetzung. Denn eine occupatio pacifica kann außerhalb des zeitlichen Geltungsbereichs des Kriegsvölkerrechts auch auf einem Gewaltakt fußen.

Die Entstehung der Slowakischen Republik war eine Sezession. Sie löste sich von der sdiechoslowakei und bildete einen eigenen Staat mit beschränkter außenpolitischer Handungsfähigkeit als abgeschwächtes Protektorat es Deutschen Reichs, manifestiert unter anderem im Vertrag vom 18. /23. März 1939. Aber auch damit verlor die Tschechoslowakei (Rest-Tschechei) nicht ihre Völkerrechtssubjektsqualität; sie blieb rechtlich und tatsächlich in den nun sehr viel kleineren Grenzen bestehen. Die Erklärung ihres ehemaligen Staatspräsidenten Benesch am 19. März 1939 über das rechtliche Fortbestehen der Tschechoslowakei war daher völkerrechtlich irrelevant.

Mit dieser Darstellung eines faktischen Zustands verbindet sich keine Aufwertung der deutschen Zwangsherrschaft in der und über die Tschechoslowakei (Rest-Tschechei) oder eine Idealisierung der tatsächlichen politischen Möglichkeiten des Protektorats Böhmen und Mähren von 1939 bis 1945. Dieses völkerrechtliche Ergebnis kommt den Umständen aber am nächsten: Würde eine völkerrechtlich wirksame Annexion und damit der Untergang der Tschechoslowakei angenommen werden (es fand eine vollständige und endgültige Besetzung statt und die internationale Staatengemeinschaft beschränkte sich auf zwar wütende, aber doch papierne Proteste), wäre die „Rest-Tschechei" wie auch das Sudetenland noch heute deutsches Territorium, das der Tschechoslowakei, genauer: der dann rechtlich noch immer schwer faßbaren tschechoslowakischen Exil-Regierung, von den Großmächten nur zur Verwaltung zugewiesen, dessen Rückübertragung nur in die Wege geleitet, aber noch nicht völkerrechtlich verbindlich für Deutschland vollzogen worden sei und über dessen Status in einem Friedensvertrag noch entschieden werden müsse. (Nur die Slowakei war nach dieser Betrachtungsweise unstreitig niemals deutsches Territorium.) Denn während der rechtlichen Dauer des (Zweiten Welt-) Kriegs können bis zum Abschluß eines Friedensvertrags — der bis heute noch nicht erfolgt ist— Gebietsveränderungen der krieg-führenden Staaten nicht erfolgen.

Auch wenn in den Kriegsbeendigungs-und Souveränitätserklärungen der Westmächte gegenüber der Bundesrepublik wie der Sowjetunion gegenüber der DDR einen Friedensvertrag zumindest partiell ersetzende Vereinbarungen gesehen werden sollten, beträfen diese doch nicht den — darin gar nicht erwähnten — Status der deutschen Gebietsherrschaft über die Tschechoslowakei (Rest-Tschechei) und das Sudetenland, zumal bei letzterem eine Rückübertragung auch nie stattgefunden hat. Diese Folgerung, von einer deutschen Gebietsherrschaft über das Sudetenland und das Protektorat Böhmen und Mähren auszugehen, wäre offensichtlich absurd. Die hier und auch vom Nürnberger Interalliierten Militärgerichtshof vertretene Meinung, die Tschechoslowakei (Rest-Tschechei) habe als Protektorat rechtlich fortbestanden (die deutsche Besetzung mußte sich nach den Regeln der Haager Landkriegsordnung richten) scheint die einzig vertretbare Lösung zu sein.

Die von Prag vertretene These der ungebrochenen völkerrechtlichen Kontinuität der Tschechoslowakei von 1939 über 1945 hinaus ist also im Ergebnis richtig, ebenso wie die Behauptung der Nichtigkeit ihres Beitritts zum Münchner Abkommen; wenn auch nicht wegen des Fehlens der parlamentarischen Ratifikation. Die von der ÖSSR und dem kommunistischen Lager behauptete Nichtigkeit des Münchner Abkommens zwischen den vier Großmächten, des Wiener Schiedsspruchs, der polnischen und ungarischen Annexionen, der Bildung des Protektorats Böhmen und Mähren und seiner angeblichen Eingliederung in das Deutsche Reich sowie der Errichtung der Slowakischen Republik findet jedoch im geltenden Völkerrecht keine Basis und ist im wesentlichen politische Deklamation. (2)

Die Tschechoslowakei (Rest-Tschechei) war kein Kriegsgegner des Deutschen Reichs. Sie war zu einer Kriegserklärung weder tatsächlich noch völkerrechtlich imstande. Die Erklärung des früheren Staatspräsidenten Benesch am 3. September 1939, seit dem 15. März 1939 befände sich die Tschechoslowakei im Kriegszustand mit dem Deutschen Reich, mag politische Bedeutung haben, völkerrechtlich war sie nicht-existent. Benesch war am 5. Oktober 1938 offiziell und rechtswirksam zurückgetreten und hatte daher keine innerstaatliche oder internationale Legitimation zur Abgabe einer rechtsverbindlichen Erklärung für die Tschechoslowakei. Zudem ist eine rückwirkende Kriegserklärung nicht möglich.

Benesch war ein politisch bedeutsamer Privatmann, die von ihm gebildete „Exil-Regierung" eine Gruppe politisch vielleicht gewichtiger tschechoslowakischer Bürger; ihre Erklärungen, einschließlich der Kriegserklärung an das Deutsche Reich oder das Verfassungsdekret Nr. 11 von 1944, demzufolge alle Verfügungen der deutschen „Okkupationsverwaltung" nichtig seien, waren völkerrechtlich bedeutungslos. Es war dies keine Exil-Regierung im Rechts-sinn, sondern wurde nur politisch von den AlB liierten als eine solche behandelt. (Von einer Exil-Regierung kann nur gesprochen werden wenn eine bestehende Regierung imKriege vorübergehend ins Ausland geht.) Ihre ausdrückliche Anerkennung hielten sogar die Alliierten — wie bei den Freien Franzosen de Gaulles -für nötig. Diese Anerkennung verlieh ihr einen gewissen internationalen Status; sie wurde im Verhältnis zu den sie anerkennenden Alliierten Träger eines durch die Anerkennung konstituierten Kriegsführungsrechts im juristisch untechnischen Sinn. Gegenüber den übrigen Staaten, vor allem also dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten, wurde sie jedoch nicht einmal eine „Organisation mit beschränktem Kriegsführungsrecht", war weiter ein völkerrechtliches „nullum’. Die Übernahme ihrer politischen Forderungen durch die Alliierten war eine Kriegszielerklärung. Der Aufstand in Prag am 5. Mai 1945 und die Vertreibung der deutschen Truppen führte innerstaatlich zum gewaltsamen Sturz der Regierung Dr. Hächa, international zum Ende des deutschen Protektorats über Böhmen und Mähren und damit zur Wiederherstellung der vollen außen-und innenpolitischen Handlungsfähigkeit der Tschechoslowakei (Rest-Tschechei). Die Bildung der provisorischen Regierung unter Benesch wurde am 5. Mai 1945 wirksam. Sie bedurfte zu ihrer Legitimation nicht mehr der Bestätigung durch Hitler (Artikel 4 Absatz 2 Führererlaß vom 16. März 1939), da das Protektoratsverhältnis beendet war. Ihre innerstaatliche Legitimation war völkerrechtlid unerheblich, da sie die effektive Macht im und über das Staatsgebiet ausübte.

Erst seit dem 5. Mai 1945 sind ihre Maßnahmen mehr als nur politische Willenserklärungen. Die bis dahin ergangenen Akte, etwa das Kaschauer-Statut oder die „Kriegserklärung vom 3. September 1939, wurden aber nicht rückwirkend rechtskräftig, da die Machtübernahme im Mai 1945 konstitutiv wirkte Auch unmittelbar nach dem 5. Mai 1945 wurde eine Kriegserklärung gegenüber dem Deutschen Reich weder direkt noch indirekt ausgesprochen. Deutschland befand und befindet sich mit der Tschechoslowakei also nicht im Kniegszustand. (3)

Mit der Vertreibung der deutschen Truppe'aus Böhmen, Mähren und der Slowakei en 5 len die deutschen Protektorate: Als Protektoratsmacht mußte Berlin über sie tatsächlich seine Macht ausüben. Da es dazu seit dem 5. Mai 1945 unzweifelhaft nicht mehr imstande war, gingen die Protektoratsverhältnisse, unbeschadet der grundsätzlichen Kündigungsmöglichkeit des Protektoratsvertrags, unter.

Die völkerrechtlich wieder voll handlungsfähige Tschechoslowakei (Rest-Tschechei) besetzte das Sudetenland, die von Polen und Ungarn 1938/39 annektierten Territorien sowie die Slowakei. Ihre Annexionen waren vollständig und endgültig. Die internationale Staatengemeinschaft leistete ihnen nicht nur keinen Widerstand, sondern stimmte ihnen in zahlreichen Erklärungen vorher (Kriegszielerklärungen) und nachher zu und bestätigte damit ihre Stabilität und Effektivität. So sagten die Siegermächte etwa in der interalliierten Erklärung über die Besatzungszonen in Deutschland vom 5. Juni 1945 wie auch im Zonenprotokoll über Deutschland der European Advisory Commission vom 12. September 1944, Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 werde in Besatzungszonen eingeteilt; für sie waren also Österreich und das Sudetenland nicht zu Deutschland gehörige Gebiete.

Audi die Bundesrepublik Deutschland (und die DDR), Polen und Ungarn als Geschädigte stimmten der Besetzung des Sudetenlandes und der übrigen von Polen und Ungarn 1938/39 annektierten Territorien durch die Tschechoslowakei Anfang 1945 zu. Die Slowakische Republik ging unter.

Die Annexionen waren rechtlich einseitige Akte der Gewalt. Durch sie erhielt die Tschechoslowakei (Rest-Tschechei) originäre Rechts-titel über die annektierten Gebiete, die sich aus dem Willen der vorhergehenden Staats-gewalten nicht herleiten lassen. Sie wurden unmittelbar tschechoslowakisch mit allen Rechtsfolgen für die Bewohner. Diese wurden tschechoslowakische Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten, soweit sie nicht vorher das Land verließen, vertrieben, vom Erwerb der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen oder ausgebürgert wurden. Die im Dekret Nr. 33 vom 2. August 1945 verfügte rückwirkende Aberkennung der tschechoslowakischen Staats-

ürgerschaft mit dem Tag des Erwerbs der eutschen aber ist unwirksam, da deren ErWerb nicht auf einer freiwilligen Individual-Entscheidung (Option) beruhend den Erhalt er tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft ° nehin ausschloß; diese wurde allenfalls durch die (Re-) Annexion wiedererworben. Die Frage des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit nach dem 2. August 1945 ist nach deutschem Recht zu beurteilen.

Die Wirksamkeit der Annexionen war von der Reaktion der Bevölkerung nur insoweit abhängig, als deren Widerstand ihre Effektivität hätte in Frage stellen können. Soweit diese im Lande blieb, ist es ihrerseits nicht zu Maßnahmen gekommen, welche zu Zweifeln an der Effektivität der Annexion führen könnten. Auch die vertriebene deutsche Bevölkerung kann sie von außen nicht in Frage stellen, zumal sie mehrfach ausdrücklich auf jede Gewaltanwendung verzichtet hat. Sollte es durch einen Nachbarn der Tschechoslowakei abermals zu Maßnahmen gegen diese oder zu einer „Abtretung“ von Gebietsteilen kommen, wie sie etwa nach der Invasion durch die Warschauer-Pakt-Mächte am 21. August 1968 im Gespräch war, wäre das eine erneute Intervention oder Annexion. Die Annexionen des Mai 1945 würden davon nicht berührt.

Verschiedentlich wird ein allgemeines Annexionsverbot behauptet, als Völkergewohnheitsrecht in neuerer Zeit etwa aus Artikel 2 Ziffer 4 der UNO-Charta abgeleitet. Danach ist jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt einschließlich von Gebietsveränderungen ohne Zustimmung der betroffenen Bevölkerung untersagt. Es wurde jedoch auch nach 1945 nirgend beachtet; ihm fehlt die für die Konstituierung als Gewohnheitsrecht notwendige allgemeine Anerkennung. Auch die Friedensverträge nach dem Zweiten Weltkrieg sahen für keine Gebietsveränderung ein Plebiszit vor; die Alliierten gingen tatsächlich vom Bestehen eines freien Annexionsrechts aufgrund militärischer Eroberung aus. Unbeschadet dessen galt jedoch im Mai 1945 noch nicht einmal die UNO-Charta. Zudem kann ein Annexionsverbot jedenfalls dann nicht bestehen, wenn solche Gebiete annektiert werden, die wenig zuvor, wenn auch völkerrechtswirksam, dem annektierenden Staat weggenommen worden waren.

Die Sudetendeutschen wurden als fremde, auf tschechoslowakischem Gebiet lebende Staatsangehörige des Landes verwiesen. Ihre Vertreibung erfolgte daher nicht aufgrund eines formellen Gesetzes, sondern eines Erlasses des Prager Innenministers nach dem Grundsatz, daß dieser üblicherweise das Recht habe, fremde Staatsbürger auszuweisen, von denen zu Recht oder Unrecht angenommen wird, daß sie sich auf irgendeine Weise gegen das Land betätigen. Selbst wenn das zutraf, entband es Prag allerdings nicht von der Verpflichtung zur Beachtung der üblichen völkerrechtlichen Regeln zum Schutz der Menschen-und Bürger-rechte auch gegenüber einer zumindest nach dem subjektiven Verständnis der Eroberer feindseligen Bevölkerung.

Das Verhalten der tschechoslowakischen Behörden bei der Vertreibung der Sudetendeutschen widersprach zahlreichen humanitären Grundsätzen und Völkerrechtsbestimmungen, hat auf den Rechtsstatus der annektierten Gebiete aber keinen Einfluß. Umgekehrt hat auch die Feststellung der Nichtigkeit des Münchner Abkommens weder auf die Völkerrechtsverletzungen bei der Vertreibung der Sudetendeutschen, noch auf die eventuellen Reparationsforderungen Prags einen Einfluß, da sie auf verschiedenen Rechtsgrundlagen beruhen. Das gleiche gilt für die Mißachtung ihrer privaten Eigentums-und Vertragsverhältnisse, da diese völkerrechtlich durch die Annexionen nicht berührt wurden.

Zwischen dem Deutschen Reich (Polen, Ungarn und der Slowakei) sowie der Tschechoslowakei bestand und besteht kein Kriegszustand. Die Unmöglichkeit rechtswirksamer Grenzveränderungen zwischen kriegführenden Staaten während der rechtlichen Dauer des Krieges, also grundsätzlich bis zum Abschluß eines Friedensvertrages, gilt also nicht für die von der Tschechoslowakei (Rest-Tschechei) annektierten Gebiete. Sie hat Anfang Mai 1945 außerhalb des Zweiten Weltkriegs, an dem sie rechtlich nicht teilgenommen hat — daß unter dem Befehl der „Exil-Regierung Benesch" auf Seiten der Alliierten tschechoslowakische Truppen kämpften, machte die Tschechoslowakei nicht zum kriegführenden Staat —, ihren Gebietsstand vom 28. September 1938 völkerrechtlich wirksam wiederhergestellt. (Die Frage der von der Sowjetunion annektierten Karpatho-Ukraine soll hier dahingestellt bleiben.)

Die Tschechoslowakei kann daher kein Partner von Friedensvertragsverhandlungen mit dem Deutschen Reich sein. Eine „Übertragung“ des Sudetenlandes an sie durch Deutschland wäre, ähnlich wie eine nachträgliche „Null-und-nichtig-Erklärung" des Münchner Abkommens, nur eine — völkerrechtlich irrelevante— politische Manifestation. Da das Sudetenland seit Mai 1945 wieder tschechoslowakisch ist, könnte ein Friedensvertrag insoweit auch keine Bestimmung enthalten wie etwa der Versailler Vertrag zugunsten Dänemarks hinsichtlich Schleswigs, der festlegte, daß dort die 1864 nicht durchgeführte Volksabstimmung stattfinden mußte. Prag kann an einem Friedensvertrag also allenfalls politisch teilnehmen.

IV.

Das Völkerrecht ist kein Mittel zur Lösung politischer Konflikte, wie innerstaatliches Recht keine sozialen Konflikte lösen kann. Es ist ein Mittel, um politisches Handeln völkerrechtlich zu qualifizieren und politische Tatbestände völkerrechtlich transparent zu machen. Internationale Politik kann zwar nicht mit den Maßstäben des Grundbuchamts getrieben werden; ohne Berücksichtigung völkerrechtlicher Zusammenhänge ist sie jedoch imperialistisch, jedenfalls aber prinzipienlos. Das Völkerrecht kann, wie gezeigt wurde, für schwierige politische Sachverhalte gangbare und den Umständen gerecht werdende Lösungswege aufzeigen. Sie durchzusetzen aber verlangt politische, oft vor allem innenpolitische Maßnahmen.

Das gilt besonders für das deutsch-tschechoslowakische Verhältnis. Es wurde aus verschiedenen, zum Teil recht durchsichtigen, Gründen von allen Seiten so sehr überfrachtet, daß menschlich bedeutsame, völkerrechtlich aber periphäre Probleme den Blick aufs ganze verstellen. Das gilt für das „Heimatrecht“ der Sudetendeutschen wie für die Forderung nach einer „Null-und-nichtig-Erklärung des Münchner Abkommens von Anbeginn an".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ein nicht gültig abgeschlossener (ungültiger) Vertrag gilt als nichtig, also nie zustandegekommen. Er begründet für die „Vertragspartner" grundsätzlich keine Rechtspflichten, ist insoweit unwirksam. Die Nichtigkeit (Ungültigkeit), begriffsnotwendig ex tune (von Anbeginn an), wird festgestellt. Ein wegen eines Form-oder inhaltlichen Mangels anfechtbarer Vertrag ist nicht nichtig. Die Anfechtung wirkt grundsätzlich ex tune, kann bereits entstandene Rechtsfolgen aber nicht beseitigen.

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Erich Röper, Dr. jur., geb. 1939, Assessor, Referent im Institut für Internationale Solidarität der Konrad-Adenauer-Stiftung, Schriftleiter der Schriftenreihe des Instituts für Internationale Solidarität; Studium der Rechtswissenschaften, Neueren Geschichte und Politologie in Hamburg, Würzburg, Mainz und an der Verwaltungshochschule in Speyer; 1967/68 stellvertretender RCDS-Bundesvorsitzender, Mitglied des Gesamtvorstands der Gewerkschaft öffentlicher Dienst im Christlichen Gewerkschaftsbund Bonn, kooptiertes Mitglied im Bundesfachausschuß öffentlicher Dienst der CDU, Mitbegründer des Baumschulkreises Bonn.