I. Die Entwicklungsproblematik
Nach zwanzig Jahren des erbitterten Kampfes um die politische und sozio-ökonomische Zukunftskonzeption der sogenannten Dritten Welt beginnen sich unter den Beteiligten erst jetzt Einsichten durchzusetzen, die bei nüchterner Betrachtung und ohne den verhängnisvollen Zwang zur Parteilichkeit schon am Anfang der Orientierung hätten stehen können: Die banale Einsicht beispielsweise, daß die Aufhebung des Status politischer Abhängigkeit nicht identisch ist mit der Aufhebung sozioökonomischer Unterentwicklung, oder die Einsicht, daß es vergeblich ist, politische und wirtschaftliche Systeme auf sozio-kulturelle Grundstrukturen transplantieren zu wollen, deren Entwicklungsstand dies nicht erlaubt, daß es vergeblich ist, Fortschritt unter Ausschluß revolutionärer Umwälzungen zu kalkulieren, vor allem aber die Einsicht, daß es sich hier um ein Menschheitsproblem handelt, von dessen humaner Lösung der Fortbestand der Zivilisation in einem kaum weniger direkten Sinne abhängig ist als von der Verhinderung der atomaren Selbstvernichtung.
Die Entwicklung der Dritten Welt ist in einem sehr direkten und unmittelbaren Sinn zu einer internationalen Angelegenheit geworden. Ja mehr noch, sie ist in gewisser Hinsicht Teil der inneren Angelegenheiten auch zahlreicher Industrieländer geworden und zwar in einem Maße, das die klassische Interdependenz von Innen-und Außenpolitik bei weitem übersteigt: Die große gesellschaftliche Breite des ökonomischen, technischen und kulturellen Kooperationsprozesses zwischen Industrie-und Entwicklungsländern (neben staatlichen und privaten Partnern ist eine Vielzahl von gesellschaftlichen und korporativen Gruppen beteiligt); langfristige Bindung an gemeinsame Entwicklungsprojekte; die im Hinblick auf eine Arbeitsteilung geplante ökonomische Strukturveränderung in den Metropolen selbst (Produktionseinschränkung oder -verzieht); nicht zuletzt die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Entwicklungsproblematik stellen neben vielem anderen in ihrer Gesamtheit einen sehr viel engeren Interessenzusammenhang zwischen den Beteiligten her, als es für das traditionelle internationale Verhältnis zwischen souveränen Völkerrechtssubjekten typisch war.
Der Prozeß ist nicht auf das Verhältnis Entwicklungsländer— Industrieländer beschränkt. Die ökonomisch-politischen Integrationsbewegungen in den Industrieländern (EWG, EFTA) sind ein anderer Teil dieses Prozesses. Im Beziehungsrahmen Entwicklungspolitik zeigt sich indessen mit besonderer Schärfe die Tendenz eines tiefgreifenden Transformationsprozesses in den internationalen Beziehungen: die Verwischung der Grenzen von innerer und äußerer Politik. Die Inneren Angelegenheiten sind nicht mehr ein isoliertes Reservat nationaler Souveränität.
Im Zeitalter der rapide schwindenden nationalen Souveränitäten und der nur noch fiktiven Unantastbarkeit von nationalen Inneren Angelegenheiten ist die sozio-politische Organisation und die ideologische Orientierung eines Landes längst eine Sache von internationalem Belang geworden. Der Antagonismus konträrer gesellschaftlicher Systeme, politische und ideologische Blockbildungen, ökonomische und strategische Abhängigkeiten oder Kooperationsverhältnisse, der Zwang zur Bewältigung globaler Probleme (Verseuchung der Kontinente und Meere, Weltraumprobleme etc.) bilden einen stets dichter werdenden internationalen Interessenzusammenhang, der die klassische Autonomie nationalstaatlicher Souveränität weithin aufhebt oder doch erheblich relativiert. Die wachsende Multidimensionalität der Internationalen Beziehungen schafft Räume sozialer Interaktion, die treffender als „transnationale Beziehungen" (Karl Kaiser) zu kennzeichnen wären und die tendenziell auf eine „Weltinnenpolitik" (v. Weizsäcker) zu weisen scheinen. Gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und innenpolitische Willensbildungs-und Entscheidungsabläufe — weiland klassische Domänen der Inneren Angelegenheiten — berühren vitale Interessenbezüge formal fremder nationaler oder internationaler Entitäten, wie umgekehrt erstere von letzteren beeinflußt werden. Das Wechselverhältnis ist sicherlich kein Novum in der Geschichte, die qualitative Vielfalt des Interaktionsprozesses und seine universale Erscheinungsform setzt indessen neue Maßstäbe, die in den traditionellen Beziehungsmustern von Kooperation und Domination nicht mehr zur Gänze zu erfassen sind. Freilich spielt das politische und ökonomische Gewicht der am transnationalen Interaktionsvorgang beteiligten Partner nach wie vor eine große Rolle, und es macht einen Unterschied, ob die . beschränkte Souveränität'mit militärischen oder ökonomischen Druckmitteln einseitig durchgesetzt wird oder im Einvernehmen aus dem Kooperationsverhältnis erwächst. Die zwei zurückliegenden Jahrzehnte entwicklungspolitischer Kooperation bestätigen dies zur Genüge. Das Übergewicht der Industrienationen diktierte noch stets die Konditionen der Zusammenarbeit, wenigstens dort, wo Interessen von einiger Relevanz im Spiele waren. Eine allmähliche Umorientierung scheint jetzt immerhin im Gange; und wenn schon nicht aus einem plötzlich gewachsenen „weltinnenpolitischen" Verantwortungsbewußtsein, so doch aus der Einsicht in das „wohlverstandene und konstruktive Eigeninteresse"
Aber die Belastung dieser Jahrhundertaufgabe mit schweren Hypotheken aus der Vergangenheit (Kolonialismus) und der Gegenwart (Kalter Krieg), ihre kaum überschaubare Verflechtung mit zahllosen politischen und wirtschaftlichen Interessen, mit ideologischem Messianismus und überkommenen Vorurteilen haben die Perspektiven in einem Maße verzerrt, daß ihre eigentliche Bedeutung dahinter weithin verschwand. Wenn ein verantwortlicher Minister der in der Entwicklungshilfe an zweiter Stelle rangierenden Industrienation im Jahre 1969 beschwörend betonen muß, Entwicklungspolitik sei nicht „Mission für unsere Gesellschaftsform"
Die Bilanz nach zwanzig Jahren ist ernüchternd — wenigstens was die investierten Hoffnungen und Erwartungen der Beteiligten angeht. Die erste umfassende Bestandsaufnahme, der Pearson-Bericht, spricht von „Enttäuschung und Mißtrauen"
Nicht anders ließen sich die Erfahrungen der jungen Nationen an. Die neu gewonnene Freiheit erwies sich sehr schnell als prekär, wo nicht illusorisch, wenn sie mit den Interessen der etablierten Industrienationen kollidierte. Ein Imperialismus neuen Stils drohte mit subtileren Mitteln in desto unentrinnbarere Abhängigkeiten zu führen. Gleichzeitig wurde viele Male drastisch bewiesen, daß im Bedarfsfall auch die klassischen Requisiten der Kolonialpolitik durchaus noch zur Hand sind. Grund genug zu Enttäuschung und Mißtrauen also. Der Weg zum Verständnis der Entwicklungspolitik als des zentralen Problems einer zukünftigen „Weltinnenpolitik" oder auch nur, wie es schon vor mehr als zwanzig Jahren bescheidener formuliert wurde, als „eines Gemeinschaftsunternehmens aller fortgeschrittenen Länder der Welt" (Truman), ist dornig und bei weitem noch nicht zurückgelegt.
Immerhin gibt es seit langem kaum noch ernsthafte Meinungsverschiedenheiten über das allgemeine Ziel der Entwicklung. Sie soll den bislang Zurückgebliebenen und Unterprivilegierten per saldo „ein besseres Leben für sich selbst und für ihre Kinder" sichern, wie es etwa in der schlichten Sprache des Pearson-Berichtes heißt. Auch über den konkreten Sinn des „besseren Lebens" ist man sich weithin einig. Gemeint ist die gesellschaftliche Gewährleistung materieller Lebensbedingungen, die eine menschenwürdige Existenz nach den Maßstäben der industriellen Zivilisation ermöglichen. Differenzen darüber scheinen endgültig ausgeräumt. Die materiellen Errungenschaften der industriellen Zivilisation und damit ihre prinzipielle ethische Wertorientierung — Entfaltung des gesellschaftlichen Reichtums zur Erhöhung des individuellen Glückspotentials, um es auf den allgemeinsten Nenner zu bringen — konstituieren das allgemein akzeptierte Vorstellungsbild vom Fortschritt und vom „besseren Leben".
Hinter die industrielle Zivilisation will heute niemand mehr zurück — sieht man ab von den „Drop outs" intellektueller Subkulturen in den Metropolen oder einigen kulturpessimistischen Literaten. Ganz sicher gilt diese Feststellung für die politischen Führungsschichten überall in der Dritten Welt. Niemand von Rang hat darüber nach Mahatma Ghandi Zweifel gelassen. Und kein anderer als Nehru hat den Appell seines Lehrers zum Rückzug aus der technischen Welt des „Westens" in die vorgebliche Spiritualität vorindustrieller Zustände als atavistischen Romantizismus abgelehnt. Man mag seine Zweifel haben an der Welt der Maschinen und Automaten; man mag seine energischen Vorbehalte äußern gegen die westliche Zivilisation soweit sie mehr ist als Technologie — den Industrialismus selbst mit seinen materiellen Verheißungen stellt heute niemand mehr als erstrebenswertes Entwicklungsziel in Frage. So wird schwerlich jemand die Autoren des Pearson-Berichtes europäischer Arroganz oder des „Kulturimperialismus" bezichtigen, wenn sie von der Voraussetzung ausgehen: „Die ärmeren Länder der Welt haben sich für die Entwicklung entschieden; das heißt für jene materiellen Erwartungen, wirtschaftlichen Formen und technischen Errungenschaften, die vor rund 400 Jahren von. Europa ihren Ausgang genommen haben und seitdem von den industrialisierten Staaten weiterentwickelt wurden und werden."
Die Warnungen an die Adresse der Entwicklungsplaner, etwa von Seiten der Ethnologie, die „Macht des Gestern" nicht zu unterschätzen und allzu unbekümmert den forcierten „Kahlschlag aller Traditionen" zu betreiben, haben natürlich ihren Sinn — ihren taktischen Sinn. Sie sind nützlich und wichtig für den Gang des Akkulturationsprozesses, und sie mögen vor Enttäuschungen bewahren. Die „Entscheidung für den Fortschritt" in dem beschriebenen Sinn setzt indessen Energien frei, die nach einer sozio-kulturellen Totaltrans-formation drängen; darin sind sich alle „Sozialstrategen in Ost und West“ in der Tat einig
Ein größeres Problem als die Mobilisierung der Bereitschaft zum Wandel ist heute vielleicht schon die . Revolution der steigenden Erwartungen': „Die eigentliche Tragödie, meine ich, besteht darin, daß ihre Erwartungen schneller wachsen als irgendeine menschliche Führung oder Institution sie erfüllen könnte", meinte jüngst Robert McNamara, der Präsident der Weltbank
Auf den ersten Blick scheint die Antwort unproblematisch. Wenn es darum geht, den materiellen Entwicklungsstand der etablierten Industrienationen zu erreichen, so bieten sich vernünftigerweise deren Erfolgsrezepte zum Nachvollzug an. Der Entwicklungsprozeß scheint ohnehin mit quasi-naturgesetzlicher Logik zu verlaufen, folgt man etwa dem Marx-Wort, wonach „das industriell entwik-kelte Land ...dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft“ zeigt
Den minder Entwickelten bieten sich als Vehikel zum ersehnten . besseren Leben'theore-tisch zwei kontroverse sozioökonomische Modelle an — nicht zu reden von den zahlreichen Varianten dazwischen. Hat der Fortschritt sich im kapitalistischen oder sozialistischen Entwicklungsrahmen zu vollziehen oder sind gesellschaftliche Sonderformen denkbar, die sich aus der Eigenart der sozio-kulturellen Situation der Dritten Welt ergeben? Weiter: Welches wären die politischen Bedingungen für die optimale Entbindung der Entwicklungspotenzen? Parlamentarische Demokratie, , Füh-rungdemokratie', Volksdemokratie oder . Entwicklungsdiktatur'? Hierüber entbrennt noch immer der Streit, wenn auch in der Praxis diese theoretischen Alternativen weit weniger Gewicht besitzen, als es von der engagierten Literatur her erscheinen mag.
Die Frage, auf die der Kapitalismus-Sozialismus-Streit letztlich konkret ökonomisch hinausläuft, nämlich die Alternative, ob eine Entwicklungsgesellschaft sich der freien Marktwirtschaft oder der staatlichen Planwirtschaft verschreiben soll, ist längst pragmatisch entschieden. So gut wie alle Entwicklungsländer haben einen strategischen Gesamtplan für die Wirtschaftsentwicklung aufge-stellt oder verfügen wenigstens über eine Planungsorganisation. Albert Waterston nennt bereits für 1965 nur ein Land, das überhaupt keine staatliche Planifikation betreibt, das afrikanische Ruanda
Wie tief die Entwicklungsproblematik der Dritten Welt in das Geflecht ideologischer Antagonismen verstrickt ist, veranschaulicht die empörte Verwahrung der kommunistischen Seite gegen das Ansinnen westlicher Staatsmänner, auf dem Felde der Entwicklungspolitik zu kooperieren. Ost-West-Kollaboration in der Dritten Welt hieße, ideologischer Aufweichung und gefährlichen revisionistischen Konvergenztheorien zu erliegen. Die Aufforderung zu gemeinsamer west-östlicher Entwicklungsstrategie stellt sich den östlichen Ideologen als „raffinierter antikommunistischer Trick, von dem einzig und allein die imperialistischen Kräfte profitieren", dar
Neben der Bestandsaufnahme der komplizierten politischen und ideologischen Verflechtungen und Rivalitäten erscheint die rein ökonomische Bilanz der bisherigen Entwicklungsanstrengungen nicht ganz so negativ, wie es vielfach behauptet oder vermutet wird. Die Erwartungen, die man angesichts der Größe der Aufgabe vernünftigerweise hegen könnte, wurden zwar bei weitem nicht überall erfüllt, doch zeigte sich, daß in zahlreichen Fällen ökonomische Wachstumsprozesse wesentlich durch Entwicklungshilfe in Gang gesetzt oder stimuliert wurden, „überall dort, wo bedeutende Fortschritte verzeichnet wurden, war die Auslandshilfe wesentlich beteiligt", faßt der Pearson-Bericht zusammen
Andererseits hat die Entwicklungshilfe manchen unterentwickelten Ökonomien schwere Belastungen aufgebürdet. Die Verschuldung erreichte im Jahre 1968 eine Gesamtsumme von 47, 8 Milliarden US-Dollar. Die Zins-und Tilgungsleistungen machen in verschiedenen Ländern bis zu 15 % des gesamten Export-erlöses aus. In Südamerika verschlingt der Schuldendienst durchschnittlich 87 % der neu zufließenden Kredite, in Afrika 73 °/o. Bei gleichbleibenden Konditionen wäre in naher Zukunft abzusehen, daß der über den Schuldendienst zurückfließende Kapitalstrom die neuen Entwicklungsleistungen bei weitem übersteigen würde
Ein drittes, ebenso schwerwiegendes wie komplexes Handicap für die Ökonomien der Entwicklungsländer liegt indessen auf einem Gebiet, das nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe zu stehen scheint: es handelt sich um ihre Position als Rohprodukterzeuger auf dem Weltmarkt. Nahezu 90 % ihres Exporterlöses entfallen auf Rohstoffe. In manchen Ländern sind es nur einzelne Produkte, die das Deviseneinkommen bestimmen, beispielsweise Kaffee in Kolumbien zu 72 %, Kakao in Ghana zu 70 %. Die Preistendenz auf dem Weltmarkt für einen Großteil dieser Rohstoffe ist seit langem fallend
Man hat errechnet, daß durch die Verschlechterung der , Terms of Trade'den Rohstoffproduzenten zwischen 1950 und 1961 Verluste von-26 % in Relation zu den , Terms of Trade'der Fertigwaren erwachsen seien, was einem Rückgang der Kaufkraft von 13, 1 Milliarden US-Dollar entspräche oder nahezu der Hälfte der in diesem Zeitraum den Entwicklungsländern zugeflossenen Hilfeleistungen
Der innere Zusammenhang zwischen Entwicklungsproblematik und Weltmarktmechanismus wurde in den Industrieländern nur zögernd anerkannt, und es dauerte noch Jahre, bis man sich zu halbwegs adäquaten Einsichten durch-rang. Für die linke Radikalkritik wurden die Thesen Prebischs zu einem Hauptargument gegen den . Imperialismus neuen Stils'. Dieser sei heute nicht mehr als direkte Domination eines Landes über ein anderes zu begreifen, sondern er habe sich zum internationalen arbeitsteiligen System entwickelt, in dem auf der einen Seite die Gesamtheit der Industrienationen als Ausbeuter, auf der anderen Seite die Entwicklungsländer als Ausgebeutete stehen.
„Der Imperialismus wird mehr und mehr zu einem ökonomischen Faktum: er impliziert bestimmte Beziehungen in der internationalen Arbeitsteilung, die Austauschverhältnisse und die Kapitalbewegungen. Länder wie Schweden oder die Schweiz, die weder jemals Kolonien besaßen, noch auf ein unterentwickeltes Land mehr Einfluß nahmen als andere Länder, sind deshalb qualitativ nicht weniger imperialistisch als die USA und Großbritannien."
In der öffentlichen Diskussion über die Entwicklungspolitik in den Industrienationen hat sich in den letzten Jahren eine deutliche Sensibilisierung gegenüber den Ambivalenzen der . Hilfe'bemerkbar gemacht. Vorbei sind die Bekundungen betulicher Zufriedenheit über die'eigene Selbstlosigkeit, weniger vernehmlich der populäre Unwille über die . verschenkten Milliarden'. Aber der Wandel im Verständnis der Entwicklungsproblematik der Dritten Welt hat noch etwas sehr viel Nachhaltigeres bewirkt: Er hat auch erheblich zur kritischen Reflektion nach innen beigetragen. Er hat das Bewußtsein sowohl für die strukturellen Mängel der eigenen sozio-politischen Verfassung geschärft, als auch das überkommene ethische Wertesystem einer kritischen Überprüfung unterworfen. Von der Einsicht in die bestürzenden Realitäten der Dritten Welt erhielt die studentische Rebellion entscheidende Impulse
Von der Dritten Welt geht bereits eine merkbare Rückwirkung auf den politischen und sozio-kulturellen Prozeß der . Ersten'Welt aus. Im dialektischen Bezugsrahmen der einen Welt ist die Entwicklung der . Dritten'im Begriff, zugleich zur Entwicklung der . Ersten'beizutragen.
II. Die Kritik an der westlichen Entwicklungspolitik von links und rechts
Kritik sowohl am Gesamtkonzept der Entwicklungshilfe als auch an ihrer Gestaltung hat es von Anfang an gegeben. Noch zu Beginn der fünfziger Jahre, als die Dimensionen der Entwicklungsproblematik für die Offent-lichkeit kaum zu übersehen waren und es noch keine eklatanten Enttäuschungen über ausbleibende Erfolge oder politische Fehlentwicklungen gab, wurden die Ansatzpunkte einer grundsätzlichen Kritik konzipiert, aus denen noch heute die wesentlichen Argumente geschöpft zu werden pflegen.
In den Anfängen wurde die Diskussion fast ganz beherrscht von der politischen Zweckmäßigkeit der Entwicklungshilfe als eines Instrumentes des Kalten Kriegs, und erst an sehr nachgeordneter Stelle folgten Erwägungen über die eigentliche Entwicklungsproblematik. Selbst in der Theorie wurde die Entwicklungsproblematik überlagert vom politischen Eigeninteresse. Die kommunistische Propaganda machte dem , Neo-Imperialismus des Westens'den moralischen Prozeß, und im Westen wogte der Streit der Meinungen über Wert und Un-wert der Entwicklungshilfe zur Errichtung antikommunistischer Bastionen. In einer zweiten Phase — etwa seit Mitte der fünfziger Jahre — begann sich der kritische Bezug formal in Richtung auf eine größere Sachorientierung zu verschieben. Die politischen und ideologischen Intentionen traten mit dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität auf und suchten den Nachweis ihrer Richtigkeit mit ökonomischen, soziologischen und anthropologischen Fakten zu erbringen. Es begannen die polemischen Schlachten um die Statistiken und ihre richtige Auslegung, um die Prioritäten in der Entwicklung auf agrarischem oder industriellem Sektor, um die richtigen Voraussetzungen für die Erhöhung von Spar-und Investitionsraten, um die Tendenz der , Terms of Trade'für die Rohstoffmärkte und schließlich um die Grundbedingungen für die Transformation der sozialen und psychologischen, der intellektuellen und technologischen Infrastrukturen in den unterentwickelten Gesellschaften.
In jedem Falle diente die Kritik an der praktizierten Entwicklungspolitik dem Nachweis entweder der üblen Absichten der kapitalistischen Geberländer oder — auf der Gegenseite — ihrer Unwirksamkeit, „die betreffenden Länder aufnahmebereit und aufnahmefähig für westliche Lebensformen zu machen“
Seither wurde dieses Leitmotiv in einer kaum noch zu überblickenden radikal-kritischen Literatur unzählige Male in allgemeinen Entwicklungstheorien oder in speziellen Fallstudien wiederholt und mit erheblichem Materialaufwand zu belegen versucht. Das Resultat ist stets das gleiche: unter dem Etikett moralisch-humanitärer Uneigennützigkeit ist westliche Entwicklungshilfepolitik Fortsetzung kolonialer Ausbeutung mit subtileren Mitteln In der ebenfalls zum linken Klassiker avancierten Arbeit von Pierre Jalee (Die Ausbeutung der Dritten Welt, 1965) heißt es lapidar, Entwicklungshilfe „bleibt politisch und wirtschaftlich repressiv"
1. Entwicklungshilfe wurde und werde gegeben nicht nach Maßgabe der Bedürfnisse des Empfängers, sondern a) nach militärisch-strategischen Gesichtspunkten des Gebers, respektive nach politischem Wohlverhalten des Empfängers, b) im wohlverstandenen sozial-und konjunkturpolitischen Interesse des Gebers.
2. Mit der Entwicklungshilfe sei ein neues System der Ausbeutung und Domination dergestalt entstanden, daß die ökonomischen Verbindungen von Geber-und Empfängeriand letzteres in eine immer größere Abhängigkeit bringe: durch fortschreitende Verschuldung, durch Fixierung des Empfängerlandes auf ruinöse Monokultur-Produktion, durch Bindung an die Produktionsgüterindustrie des Geber-landes etc.
3. Entwicklungshilfe verfolge das strategische Ziel, das sozio-ökonomische System der Geberländer, also das marktwirtschaftlich-kapitalistische, auf die Empfängerländer zu transplantieren. Sie stehe also ipso facto im Widerspruch zu den progressiven Kräften der unterentwickelten Gesellschaften. Von daher die Allianz mit dem reaktionären Establishment! Entwicklungshilfe erfülle damit „die Funktion, halbfeudale, korrupte und unfähige Gesellschaftssysteme überlebensfähig zu erhalten und damit jede Entwicklung zu verhindern"
Massive Kritik hat die Entwicklungshilfepolitik der Industrienationen in den fünfziger und sechziger Jahren auch von . rechts'erfahren. Sie trat in dem Augenblick auf, als unabhängige junge Staaten wirtschaftspolitische Entscheidungen mit einschneidenden Konsequenzen für fremde etablierte Interessen trafen. Nationalisierungen, Entliberalisierung des Handels, monetäre Zwangswirtschaft etc. provozierten in den Industrienationen heftige Reaktionen. Als auch Enttäuschungen über den politischen Kurs der Jungen Nationen hinzutraten, wurde die Kritik an der Entwicklungshilfe zum populären Entrüstungs-Thema in den Geberländern. So etwa nach der Verstaatlichung des Suez-Kanales 1956, den Kongo-Wirren 1962 oder dem selbstbewußten Auftreten der Entwicklungsländer auf den Welthandelskonferenzen von Genf 1964 und Neu Delhi 1968. Der Erkenntnisertrag dieser Art von Kritik ist naturgemäß gering. Es handelt sich in der Mehrzahl um verärgerte Kommentare und düstere Prognosen zumeist apologetischen Inhalts und ohne eigentlichen Bezug zur Entwicklungsproblematik.
Selbst in der Fachliteratur dominierte gelegentlich Enttäuschung über die sachliche Analyse und man gelangte zu so erstaunlichen Ergebnissen wie etwa zur nachträglichen Rehabilitation des Kolonialismus. Es wurden aufwendige Apologien geschrieben, in denen nichts geringeres . bewiesen'wurde als daß Kolonialismus und ökonomische Ausbeutung nichts miteinander zu tun gehabt hätten und ganz im Gegenteil die wirtschaftliche Bilanz des Kolonialismus entschieden negativ für die Mutterländer abgeschlossen habe. Ende der fünfziger Jahre machte in Frankreich der sogenannte , Cartierismus‘ viel von sich reden — eine Art Antikolonialismus von rechts — der das konsequente Disengagement der Ersten von der Dritten Welt predigte, da Entwicklungshilfe wirtschaftlich und politisch keinerlei Erträge bringe und lediglich den Metropolen das bitter nötige Kapital entziehe
Die neo-liberale Kritik und mit ihr der größere Teil der nichtmarxistischen Kritik überhaupt orientiert sich am vorgegebenen Muster westlicher Entwicklung — von den geistigen Traditionen des . abendländischen Menschen'bis hin zu seiner stolzesten Hervorbringung, der „Freien Marktwirtschaft"
Auch dort, wo die freie Marktwirtschaft nicht unbedingt als Konkretisierung ökonomischer Vernunft zur Nachahmung empfohlen wurde, führte eine Art von kultur-anthropologischem Vorbehalt zu Pessimismus und Zweifel. Edgar Salin meinte in einem damals vielbeachteten Aufsatz, es hieße einem neuen Mythos verfallen, die Normen westlicher Entwicklung für universal erreichbar zu halten. Die westlich-ethischen Determinanten für wirtschaftliches Wachstum — Arbeits-und Sparwille der Bevölkerung -— gehörten eben zum sozio-moralischen „Erbgut" des „jüdisch-christlichenKulturkreises", so daß es ihm sehr zweifelhaft er-schien, „ob es außer Israel und Portugal heute unterentwickelte Gebiete gibt, welche diese entscheidenden Aufbaukräfte besitzen". Konsequenter als die Neo-Liberalen folgerte Salin hieraus die unbehebbare Fortexistenz von „Zonen bleibenden Agrarkulturstandes", also quasi-schicksalhafter Unterentwicklung, und empfahl Hilfe nur nach dem Maß der Zukunftsträchtigkeit wirtschaftlichen Entwicklungsvermögens
Marxistische und neo-liberale Kritik sind sich einig in der radikalen Ablehnung praktizierter Entwicklungshilfe. Aus denkbar unterschiedlichen Gründen, wie sich versteht, aber doch mit bemerkenswert ähnlicher Argumentation. Entwicklungshilfe hemme oder verhindere den Fortschritt, sie perpetuiere die Infantilsituation der Unterentwickelten — durch Ausbeutung hier, durch „Untergrabung des Selbstvertrauens" dort — sie diene suspekten politischen Absichten. Während bei der linken Kritik der Neo-Imperialismus als das undisputierbare Grundmotiv für westliche Entwicklungshilfe feststeht, finden sich in der Kritik von rechts mitunter ebenfalls düstere Vermutungen über hintergründige Absichten
Eine eigene Spezies theoretischer Entwürfe zur Entwicklungsproblematik hat sich aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den sozio-ökonomischen, sozio-psychologischen oder kulturell-anthropologischen Problemen der Dritten Welt entwickelt. Auch ihre Anfänge reichen in die frühen fünfziger Jahre zurück, und auch ihre Theoreme wurden in der Regel aus der Kritik an der praktizierten Entwicklungspolitik gefolgert. In den sechziger Jahren schwoll die wissenschaftliche Literatur zur Entwicklungstheorie zur kaum noch überschaubaren Flut an. Es zählen hierzu Arbeiten, die weltweite Diskussionen auslösten und gelegentlich selbst Markzeichen für die Entwick-lungspolitik dieser oder jener Industrienationen setzten, wie etwa die Bücher von Raul Prebisch, Gunnar Myrdal, Walt Rostow oder Richard Behrendt
III. Die US-Auslandshilfe — Antikommunistische Weltstrategie und ökonomischer Expansionismus
Die Entwicklungshilfe — im US-Sprachgebrauch „Auslandshilfe" (Foreign Aid) — ist eine amerikanische Entdeckung. In den Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg ausschließlich von den USA getragen, machte der amerikanische Anteil in der . ersten Entwicklungsdekade'(1960— 1970) noch immer knapp die Hälfte aller im Westen aufgebrachten Mittel aus. Schon im Jahre 1965 schätzte man den Gesamtbetrag aller ins Ausland geflossenen Mittel auf die gigantische Summe von rund 100 Milliarden US-Dollar
Die US-Entwicklungspolitik widerspiegelt in Theorie und Praxis alle Phasen des Aufstieges der Vereinigten Staaten zum weltumspannenden Imperium. Sie ist in erster Linie Mittel zum nationalen Zweck. Sie wurde und wird verstanden als Instrument zur Eindämmung des Kommunismus, zur Förderung der inneren und äußeren ökonomischen Expansion, insgesamt zur Durchsetzung der . amerikanischen Ideale'in der von einer Gegenideologie bedrohten Welt. In der nationalen Legende heißt Auslandshilfe „jenes noch nicht dagewesene Unternehmen, mit dem Amerika den Not-schrei der Welt beantwortet" (Kennedy). Auch innenpolitisch ist sie ein beliebtes Demonstrationsfeld dessen, was nach Ansicht von Parteien, gesellschaftlichen Gruppen und . wichtigen Persönlichkeiten'Amerikas Bestimmung in dieser Zeit zu sein habe.
Mit wechselnden Inhalten ist die US-Entwicklungspolitik doktrinär — wie alle US-Außenpolitik. Und wie auch bei dieser stellt ihr ideologischer überbau ein eigentümliches Gemisch von imperialem Machtbewußtsein, moralisierendem Missionsdrang und bestem Geschäftsgewissen dar — begleitet ohne Zweifel von einem starken Element der Generosität. Die genannten Ingredienzien, unauflöslich ineinander verflochten, haben ihre Geschichte, die weit zurückreicht vor die Zeit der eigentlichen Entwicklungspolitik. In der Entwicklungsideologie wurden sie nur neu akzentuiert. Ein klassisches Merkmal im amerikanischen außenpolitischen Verhalten hat noch stets darin bestanden, im Vollgefühl der eigenen Rechtschaffenheit und Redlichkeit, vor allem des eigenen Erfolges, anderen Natio-nen Belehrungen und Zensuren zu erteilen: eine Folge des oftmals beschriebenen geistes-geschichtlichen Erbes, der eigenen Revolution •und der puritanischen Grundlagen der eigenen sozio-ökonomischen Dynamik. Lange vor dem Aufstieg zum Hegemon der westlichen Welt wurde Amerikas . Manifest Destiny'im eigenen Land darin gesehen, der restlichen Menschheit exemplarisch ihre Möglichkeiten vorzuleben und ihr als Hort der Freiheit und Gerechtigkeit zu gelten
Aus der antikommunistischen Statthalterschaft erwuchs ein imperialer Ordnungsanspruch, der für seine Welthälfte quasi-polizeiliche Zwangs-gewalt reklamierte. Das politische Weltgeschehen und gelegentlich auch die innere Entwicklung der der westlichen Hemisphäre zugerechneten Nationen wurden der US-Ober-aufsicht unterworfen, die nach ihren eigenen Kriterien von antikommunistischer Nützlichkeit darüber befand. Der gewaltsame Eingriff in eine unliebsame Entwicklung erschien danach natürlich und legitim. Hinter dem „Wächteramt auf den Wällen der Welt" (Kennedy) wurde in der Etappe rigoros US-Ordnung durchgesetzt. Weltweite , Ruhe und Ordnung'wurden zum Hauptinteresse der US-Außenpolitik wie immer dieser Zustand an Ort und Stelle auch aussehen mochte. Mit Notwendigkeit mußte diese Art von Pax Americana mit den Emanzipationsstrebungen im Prozeß der Dekolonisation hart Zusammenstößen. Unter dem Zwang der antikommunistischen Fixierung gerieten nationale und sozialrevolutionäre Aspirationen unweigerlich zur roten Subversion und damit in die Polizeizuständigkeit der USA. Das Diktum McNamaras, wonach Vietnam beispielsweise nichts anderes als die Statuierung des antirevolutionären Exempels ist, liegt in der Logik der übernommenen Rolle
Erst nachdem imperiale Mißerfolge und eine weltweite Kritik zur Überprüfung der Grundlagen zwangen, wurde den tatsächlichen Entwicklungsbedürfnissen der Empfänger mehr Beachtung geschenkt. Denn wie gewaltig der materielle Einsatz war und ist, der Entwicklungseffekt scheint fragwürdig und der politische Nutzen für die USA insgesamt eher negativ. So ist die Ernüchterung nach zwei Jahrzehnten Auslandshilfe groß und das im Lande selbst gezogene Fazit deprimierend
Die Einbeziehung der Auslandshilfe in die politisch-ideologische Strategie imperialer Interessen läßt besonders deutlich den Umschlag einer ursprünglich freiheitlich-progressiven Intention in eine reaktiv-repressive Obsession erkennen, wie er für die US-Weltpolitik der zwei Jahrzehnte nach dem Weltkrieg charakteristisch wurde. Der missionarische Optimismus, dem Rest der Welt die Segnungen des amerikanischen Zivilisationsmodells vermitteln zu müssen, entartet unter dem Zwang globaler antikommunistischer Statthalterschaft zur antirevolutionären Status-Quo-Ideologie. Der alte liberale Glaube an die Fortschritts-Allmacht des Free-Enterprise realisierte sich in der Entwicklungspraxis als unbekümmerte Exploitation der wirtschaftlich Schwächeren. Das in den Anfängen noch deutliche antikolo-nialistische und antiimperialistische Motiv verschwand hinter der neo-imperialen Staatsräson. Als Präsident Truman im Januar 1949 sein , Punkt-Vier-Programm'verkündete — es gilt als Geburtsurkunde der Entwicklungshilfe im eigentlichen Sinn — hatte Amerika schon beträchtliche Erfahrungen auf dem Gebiet militärischer und ökonomischer Hilfeleistungen an fremde Staaten gesammelt. Von den , Lendand Lease'-Abkommen des Zweiten Weltkrieges über die Praktizierung der Truman-Doktrin (Militär-und Wirtschaftshilfe in den kritischen Randzonen des Eisernen Vorhanges, vornehmlich in Griechenland und in der Türkei) bis zum European-Recovery-Program (Mar-shall-Plan) hatten die Vereinigten Staaten enorme Mittel für langfristige politische Investitionen freigestellt. Alles in allem mit Erfolg und zu allseitiger Zufriedenheit unter den beteiligten Partnern.
Das Punkt-Vier-Programm war nach Anlage und Absicht eigentlich nichts anderes als die Anwendung des E. R. P. -Erfolgsrezeptes auf ein universales Terrain, das heißt, die Fortsetzung der antikommunistischen Containment-(Eingrenzungs-) Strategie durch die Induktion ökonomischer Prosperität überall dort, wo kommunistische Einbrüche zu befürchten standen. Das Neue der erweiterten Containment-Strategie bestand darin, Weltgegenden, die bis dahin allenfalls als Zonen der Exploitation ökonomisch von Interesse waren, aus übergeordneten politischen Gründen zu wirtschaftlichem Wachstum zu verhelfen. Ausdrücklich verbannt aus diesem Unternehmen sollten alle imperialistischen Hintergedanken sein, die angebotene Entwicklungspartnerschaft sollte auf einer Grundlage des , democratic fair dealing’ stehen
Trumans Initiative war fraglos der erste „kühne Schritt" in einem Unternehmen, das auf die Dauer die Transformation der internationalen Beziehungen, ja der Weltpolitik selbst bewirken sollte. Die Geburtsfehler machten sich freilich von Anbeginn an bemerkbar. Die Förderung der ökonomisch Zurückgebliebenen war primär ja nicht Selbstzweck — trotz des in ihr angelegten humanitären Elementes — Foreign Aid war konzipiert als Mittel zu weltpolitischem Zweck und stand damit von vornherein unter dem entwicklungs-fremden Primat antikommunistischer Strategie. Dies bedeutete einmal, daß Auslandshilfe zur Abwehr unmittelbar — vermeintlicher oder tatsächlicher — kommunistischer Aggressionsgefahren zunehmend in Gestalt von Militärhilfe geleistet wurde, zum anderen, daß sie als Waffe im ideologisch-ökonomischen Kampf der Systeme, also zur Durchsetzung des kapitalistisch-privatwirtschaftlichen Modells eingesetzt wurde. Zwei Fixierungen, die die Effektivität des gewaltigen Einsatzes erheblich relativieren sollten.
Mit dem Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950 gewann der Militäraspekt der Auslandshilfe absolute Präponderanz. Die subtilere Stra-tegie der Eindämmung durch soziale Immunisierung, wie sie Truman entworfen hatte, schien gänzlich ungeeignet, dem roten Expan-sionismus Grenzen zu setzen. China war gerade verlorengegangen, in Korea mit knapper Not ein Desaster vermieden worden, in den USA selbst nahm die Kommunistenfurcht die panischen Züge der Massenhysterie an („McCarthyism"). Es schien allerhöchste Zeit, der roten Herausforderung mit massiveren Mitteln zu begegnen. Im November 1952 wurde zum ersten Mal nach 20 Jahren ein republikanischer Präsident, General Eisenhower, gewählt, und mit ihm begann die im Wahlkampf versprochene Neuorientierung der US-Außenpolitik, die als , Dulles-Ära'in die Geschichte des Kalten Krieges eingegangen ist. Außenminister Dulles stellte seine Version des antikommunistischen Containment ganz auf eine militärstrategische Basis. Militär-pakte und Beistandsabkommen sollten das sozialistische Lager zernieren und die Ausbreitung des kommunistischen Bazillus mit Waffengewalt verhindern, womöglich befallene Weltgegenden wieder desinfizieren helfen (Roll-Back-Strategie). Auf Trumans Punkt-Vier-Programm folgte die Eisenhower-Doktrin — ein eindeutiger Rückschritt auf die nichts als militärpolitisch intendierte Allianz mit antikommunistischen Machthabern.
In der Containment-Strategie der Ära Dulles bewies sich wieder einmal das konservative Unvermögen, progressistische Strebungen anders zu begreifen denn als tückisch eingefädelte Subversionen von außen. Von daher das fatale Allianzsystem mit vielen, in jeder Beziehung höchst fragwürdigen Regimen, das, je länger desto mehr, den Charakter der Allianz gegen Freiheit und Fortschritt in den Bündnis-ländern selbst annahm. Auslandshilfe verkümmerte in dieser Zeit faktisch zur Militär-hilfe. Eine . Hilfe', die überdies oft genug zu einem ganz anderen als dem beabsichtigten Zweck diente
Henry Kuss, der Leiter des Amtes für den Verkauf von Waffen im Pentagon, erklärte 1966 vor dem Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten des Repräsentantenhauses: „Unsere Waffenverkäufe sind schwach, verglichen mit unserem jährlichen Rüstungsbudget, von dem sie 4 0/0 ausmachen. Doch die Einnahmen aus den Rüstungsverkäufen machen innerhalb der Zahlungsbilanz ungefähr die Hälfte der Kosten unserer Machtentfaltung in der Welt aus. Die Fähigkeit dieses Landes, eine dynamische Strategie durchzuführen, hängt stark von der mit dieser Strategie verbundenen Devisenausfuhr ab. So sind die Rüstungsverkäufe ans Ausland für unser Land von großer Bedeutung, da sie Maßnahmen für unsere Sicherheit in der Welt ermöglichen."
Juan Bosch, ehemaliger Präsident der Dominikanischen Republik, entwickelte seine Theorie vom . Pentagonismus'als . fortgeschrittener Spielart'des klassischen Imperialismus am Befund des Ineinanderwachsens militärisch-finanziell-industrieller Interessen in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg: „Vom Jahre 1951 an machten die Militärausgaben in jedem Jahr mehr als die Hälfte der Steuereinnahmen aus. In dieser Proportion liegt die Wahrheit des politischen Phänomens, das wir als Verschiebung der realen Macht in den Vereinigten Staaten bezeichnen können von den Händen der Zivilmacht — der Bundesregierung — in die der Militärmacht — des Pentagon.“ Zum Wandel im imperialistischen Interesse heißt es: „Was man sucht, ist nicht ein Gebiet, wo man überschüssiges Kapital vorteilhaft anlegen kann; was man sucht, ist der Zugang zu den zahlreichen wirtschaftlichen Mitteln, die für die industrielle Rüstungsproduktion aufgewendet werden. Man sucht den Profit dort, wo die Waffen produziert, nicht wo sie angewendet werden. Dieser Profit läßt sich in der pentagonistischen Metropole erzielen und nicht in dem angegriffenen Land."
Die Eigendynamik des . militärisch-industriellen Komplexes'scheint längst stark genug, den Reformansätzen der politischen Führung zu widerstehen. Alles, was Präsident Kennedy durchzusetzen vermochte, war die statistische Trennung der Militärhilfeleistungen von der allgemeinen Auslandshilfe. Im Umfang ist die erste weiter gestiegen, während die eigentliche Entwicklungshilfe stagnierte oder rückläufig wurde
Ähnliche Auswirkungen auf die Entwicklungseffizienz amerikanischer Auslandshilfe hatten die politisch-ideologischen Auflagen. Auslandshilfe, so war es bereits in Trumans Punkt-Vier-Programm angelegt, sollte die privatwirtschaftlich-kapitalistische Wirtschafts-und Gesellschaftsorientierung der Empfängerländer fördern und sie damit gegen kommunistische Anfälligkeiten resistenter machen. Das hieß konkret, daß mit US-Hilfe nur zu rechnen haben sollte, wer den westlichen sozio-ökonomischen Entwicklungsgang einzuschlagen bereit war. Planwirtschaftliche, gar sozialistische Neigungen galten als Wegbereiter des Kommunismus. Trumans Außenminister, Dean Acheson, brachte die frühe US-Entwicklungsideologie auf die knappe Formel: „Hilfe bringt nur dann materielle Früchte, wenn die Welt unser System akzeptiert."
Ganz in der Logik dieses . Systems'lag die Konzeption des amerikanischen Entwicklungsbeitrages. Truman hatte vor allem an Privat-investitionen gedacht, und unter vorwiegend privatwirtschaftlichen Maximen wurde der zivile Sektor der US-Entwicklungspolitik im ersten Jahrzehnt auch betrieben. Der Bericht einer Sachverständigenkommission bestätigte dem Präsidenten, daß „Privatinvestitionen die wünschenswerteste Entwicklungsmethode“ seien und daß „der Raum für Privatinvestitionen so groß wie möglich" gehalten werden müsse
Die große Wende sollte die Ära Kennedy bringen, wenigstens der Absicht nach. Die politisch-ideologische Motivation blieb im Grunde freilich dieselbe — Eindämmung des Kommunismus und Demonstration der Überlegenheit des politisch-ökonomischen westlichen Modells — aber die strategische Konzeption wurde radikal geändert. Kennedy brach mit dem Dogma von der Transplantation des amerikanischen Systems und suchte Anschluß an den endogenen Entwicklungsprozeß der zurückgebliebenen Gesellschaften. Im Gegensatz zur imperialen Status-Quo-Politik der fünfziger Jahre sollte mehr auf die sozialen Bewegungselemente in der Dritten Welt gesetzt werden.
Kennedys dramatische Wendung in Sachen Entwicklungspolitik resultierte nicht nur aus der Einsicht in die Vergeblichkeit der antirevolutionären Strategie ä la Dulles, es lag ihr auch eine Entwicklungstheorie eigener Prägung zugrunde. Im Jahre von Kennedys Regierungsantritt erschien das Buch des amerikanischen Wirtschaftshistorikers Walt Rostow „The Stages of Economic Growth", (Stadien wirtschaftlichen Wachstums") mit dem Untertitel „Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie"
Die neue antikommunistische Entwicklungsstrategie hätte also nicht den innergesellschaftlichen Innovations-und Transformationspotenzen entgegenzuwirken, sondern sich mit ihnen zu verbünden. Das bedeutete nach dem realen Stand der Dinge eine radikale Umkehr amerikanischer Bündnispolitik in der Dritten Welt. Die Partner in der Entwicklungsallianz hätten künftig nicht mehr die demokratisch fragwür-digen und sozial reaktionären Machthaber der Vergangenheit zu sein, die durch nichts als ihren militanten Antikommunismus ausgewiesen waren, sondern die Träger des gesellschaftlichen Wandels. „Der Campesino auf den Feldern, der Obrero in den Städten, der Estu-diante in den Universitäten} bereitet eure Köpfe und Herzen vor auf die Aufgaben, die vor uns liegen."
Die Probe aufs Exempel sollte das große Gemeinschaftswerk mit den Republiken Lateinamerikas sein, die . Allianz für den Fortschritt'. Selbst von Kritikern der USA als „das wohl kühnste und größte außenpolitische Unternehmen in der Geschichte der USA" (Krippendorff) begrüßt, sollte die . Allianz'nicht nur eine neue Ära in den interamerikanischen Beziehungen eröffnen, sondern vor allem eine friedliche Revolution des Kontinents einleiten mit der Bestimmung, „die Grundbedürfnisse aller Amerikaner zu befriedigen: nach Wohnung, Arbeit und Ackerland, nach Gesundheit und nach Schulen — techo, trabajo y tierra, salud y escuela"
Kennedy entwickelte in einem Zehn-Punkte-Programm Planungsperspektiven für ein Entwicklungsdezennium, das mit jährlich einer Milliarde US-Dollar unterstützt werden sollte. Als wesentlichste Voraussetzung für das . historische Jahrzehnt des demokratischen Fortschritts'nannte er die Bereitschaft der Partner, umfassende Reformen in ihrer Sozialstruktur zu realisieren, ja, er erklärte sie zur „Vorbedingung für jede Zuteilung von Mitteln"
Kennedy gab sich erdenkliche Mühe, vor seinen Landsleuten die nationalen und sozialen Emanzipationsstrebungen zu rehabilitieren und den Sinngehalt des Begriffes Revolution von der traumatischen Verbindung zum Kommunismus zu lösen. Er suchte die eigene revolutionäre und humanitäre Tradition zu diesem Zweck zu reaktivieren
Aber das hochherzige Projekt Kennedys wurde in seiner zentralen Absicht — sozialer und demokratischer Fortschritt in Lateinamerika auf der Basis panamerikanischer Solidarität — nicht erfüllt, konnte vermutlich unter den bestehenden Bedingungen auch nicht erfüllt werden. Kennedys Appell zum maßvollen Progressismus erregte im eigenen Lande und bei den Verbündeten im antikommunistischen Lager Mißtrauen, bestenfalls Skepsis
Die Erfahrung mit der Etablierung eines kommunistischen Regimes in der eigenen Hemisphäre (Kuba) ließ die guten Vorsätze zur Förderung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit rasch wieder in Vergessenheit geraten. Wie in alten , Roll-Back'-Tagen setzte die US-Politik auf Allianzpartner, die mit Fortschritt nur in negativem Sinn in Zusammenhang zu bringen waren. Gelegentliche halbherzige Maßnahmen, wie die vorübergehende Einstellung der Hilfe nach der Errichtung von Militärdiktaturen, blieben Verlegenheitsgesten ohne grundsätzliche Bedeutung. Im Jahre 1967, also sechs Jahre nach der Inaugurierung der . Allianz', stellte ein Bericht des Senatsausschusses für Außenpolitische Angelegenheiten fest: „Im Laufe der letzten fünf Jahre ist Lateinamerika von einer neuen Welle des Militarismus heimgesucht worden. Zwischen März 1962 und Juni 1966 wurden neun bürgerliche Präsidenten, die verfassungsmäßig gewählt worden waren, durch Militärputsche gestürzt."
Auch das ökonomische Resultat blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Das Durchschnittswachstum des Bruttoinlandsproduktes pro Kopf der Bevölkerung sank sogar noch unter die zwischen 1950 und 1961 erreichten Raten ab
Die von Kennedy beabsichtigte „friedliche Revolution'ist in ziemlich allen Stücken gescheitert. Nach seinem Tode gewann die alte Über-zeugung wieder die Oberhand, daß alles, was für die USA gut ist, auch für die Welt gut ist und daß ohnehin gut für die USA ist, was General Motors nützt. „Es scheint so, daß das westliche Wirtschaftskonzept unbedingt international durchgesetzt werden muß, um die Menschenwürde zu schützen — und als Folge davon auch ein profitables Privatunternehmertum", schrieb 1966 ein Professor der Minnesota-Institute of Technology
Gleichzeitig aber mehrten sich innen wie außen die Stimmen der Kritik. Das vietnamesische Debakel, die gewaltsamen Interventionen in Lateinamerika, die schweren inneren Konflikte versetzten dem Selbstbewußtsein des liberalen Teils der amerikanischen Bevölkerung schwere Stöße, während für die kritische Intelligenz in den Metropolen und den Ländern der Dritten Welt die USA die monströsen Züge des Feindes der Menschheit annahmen. Die Johnson-Vision einer weltweiten , Great Society'bei gleichzeitiger Kriegs-eskalation in Südostasien erregte nur noch bitteren Hohn. US-Auslandshilfe geriet unter das pauschale Verdikt des Neo-Imperialismus. Am Ende der von Kennedy proklamierten . ersten Entwicklungsdekade'wurde der Nation selbst von gemäßigten Kritikern der sehr zweifelhafte Nutzen ihrer Anstrengungen bestätigt. Am Anfang der . zweiten Entwicklungsdekade'scheint wieder der Wille zu einer Neuorientierung zu stehen. Präsident Nixon hat im September 1970 in einer Sonderbotschaft an den Kongreß die „grundlegende Reform der Auslandshilfe der Vereinigten Staaten" angekündigt, „damit sie einer neuen Außenpolitik entspricht"
Gemessen an Kennedys . revolutionärem'Entwurf nimmt sich Nixons Programm bescheiden aus. Ob es dafür realistischer ist, wird sich erweisen müssen. Denn der sozio-politische Kontext, in den die US-Auslandshilfe gebettet ist, hat sich in seinen Strukturen nicht geändert.
IV. Cooperation: Die Entwicklungspolitik der V. Republik — Postkolonialer Zivilisationsmissionarismus und , Gaullismus in Sachen Afrika
Trotz schwerer Belastungen aus seiner gerade überwundenen kolonialen Vergangenheit (von Indochina bis Algerien) und trotz des Scheiterns seiner Anstrengungen zur Kanalisierung der Dekolonisation (. Union Fran-
aise‘, . Communaute'Nouvelle Commu-naute'), scheint es Frankreich am ehesten gelungen zu sein, bruchlos vom Kolonialregiment auf die . Cooperation'umzuschalten. Die öffentlichen Aufwendungen für Entwicklungshilfe sind — gemessen am Bruttosozialprodukt — die mit Abstand höchsten, die ein Geberland leistet oder geleistet hat
sation gegen die Kolonialmacht; in der Unabhängigkeit erst beginnt sich ihr langfristiger Erfolg zu zeigen.
Die feste Verankerung der französischen Sprache und der französischen Zivilisation in den Führungsschichten der jungen Nationen hat es vermocht, nach allen Krisen die intime Beziehung zur alten Metropole zu erhalten und sogar noch zu vertiefen. Selbst die Enrages des Antikolonialismus bekennen sich als dankbare Zöglinge der Civilisation Franaise. Es ist keineswegs nur eine rhetorische Floskel, wenn ein afrikanischer Staatschef im Jahre 1968 bekennt, daß er sich zwei Vaterländern zugehörig fühle, seinem eigenen und Frankreich
Das mag der psychologische Grund dafür sein, daß die französische Entwicklungspolitik während der sechziger Jahre in Theorie und Praxis besseren Gewissens erklärt nationale Interessen verfolgte, als es anderen Geber-ländern noch für möglich oder opportun erschien. Das Ziel französischer Entwicklungspolitik ist die Konsolidierung und womöglich die Vertiefung der . Presence Franaise'in seinen alten Besitzungen, Präsenz in kultureller, aber auch in ökonomisch-politischer Hinsicht. Was anderswo in dieser Deutlichkeit für offiziellen Gebrauch nur gedämpft zu hören ist, daß Entwicklungspolitik nämlich auch und zuvorderst nationale Interessenpolitik ist, gehört in Frankreich zur offiziellen Entwicklungsdoktrin Zahllose Male wurde der Nation von der Regierung versichert, daß es sich um die Förderung der heimischen Industrie handele, wenn man in Afrika investiere, und selbst oppositionelle Sozialisten verteidigten die . Cooperation'als Garantie für die Erhaltung der alten kolonialen Märkte
Auch die politischen Absichten werden nicht verheimlicht. Französische Entwicklungspolitik war in der Ara de Gaulle integraler Bestandteil der auf vielen Ebenen unternommenen Versuche, Frankreich wieder zur selbständigen Großmachtposition zu verhelfen. Der Vorstellung einer . Dritten Kraft'zwischen den beiden Supermächten lag bekanntlich das Kalkül des Generals zugrunde, Frankreichs politischen Führungsanspruch auf das materielle Fundament des westeuropäischen, besonders des westdeutschen Industriepotentials zu gründen. Als dies am Widerstand der Westeuropäer scheiterte, suchte der General Ersatz für die fehlende Machtbasis in der Dritten Welt Dort war der Boden für Warnungen vor dem westlichen Hegemon Amerika ganz anders bereitet als bei den um ihre Absicherung durch die atlantische Allianz besorgten NATO-Partnern. Was in Westeuropa als gefährlicher Anachronismus eines Exzentrikers erschien, wurde in der Dritten Welt als mutiger Realismus begrüßt. In Asien, in Afrika und selbst in der Arabischen Welt mit ihren frischen Erinnerungen an den französischen Imperialismus, fand de Gaulles Appell zum Widerstand ge gen den allmächtigen Hegemon warmes Interesse. Mit ihrem eigenwilligen Engagement in den kritischen Fragen der Weltpolitik — Vietnam, Naher Osten etc. — empfahl sich die V. Republik für die Rolle des Mandatars derjenigen, die zwischen den Interessen der Supermächte aufgerieben zu werden drohten. Die Kooperation'mit den Staaten des ehemaligen Kolonialreiches fügte sich glänzend in diese Strategie. Französische Präsenz in der Dritten Welt habe, so der General, vor allem den Sinn, die junge Unabhängigkeit vor dem Abgleiten in die Machtbereiche der . beiden Hegemonien 1 zu bewahren °
Was die Erwartungen auf neuen Großmacht-Status via Führungsrolle einer . Dritten Kraft'angeht, so mögen sie unter dem Realisten Pompidou bescheidener geworden sein, der Anspruch auf politische Weltgeltung ist geblieben. Die pathetischen Ausrufungszeichen hinter der Formel von der besonderen französischen Mission sind kleiner geworden, verschwunden sind sie nicht. Die Akzente sind etwas anders gesetzt. Coopration heißt jetzt für den französischen Hausgebrauch Moral und Geschäft anstatt, wie unter dem General, Macht und Geschäft
Die Anlage und die Geschichte französischer Entwicklungspolitik machen dies ohnehin deutlich. Die sektoralen und geographischen Schwerpunkte, der Modus der Kooperation und die Bedingungen, unter denen Entwicklungshilfe geleistet wird, waren und sind unter die Prämisse des nationalen Interessenzusammenhanges gestellt.
Zum überwiegenden Teil fließen die offiziellen französischen Leistungen in den Sektor „Kulturelle und Technische Kooperation" (im Vergleichsjahr 1967 ca. die Hälfte der Gesamtleistungen, nämlich 402, 7 Millionen US-Dollar von 825, 5 Millionen US-Dollar). Den mit Abstand größten Posten in dieser Summe machen die Ausgaben für die Personalkosten der Experten aus (170 Millionen US-Dollar gegen 21 Millionen für Studenten und Praktikanten). Im Vergleichsjahr 1967 weisen die „statistischen Tabellen für den Jahresbericht 1969 über die Entwicklungshilfe der OECD" 46 363 fran-zöische Experten aus, darunter 32 717 Lehrpersonen aller Art (Vergleichszahlen: BRD 5622; USA 29 941). In den offiziellen Verlautbarungen zur französischen Entwicklungspolitik sind die zitierten Zahlen beliebter Nachweis für die besondere Uneigennützigkeit der französischen Entwicklungshilfe. Tatsächlich läßt sich ein unmittelbarer ökonomischer Nutzen für das Geberland aus dem kostspieligen Unterhalt von nahezu 50 000 Experten kaum begründen. Indessen hat die Kalkulation auch eine andere Seite. Die Arbeit französischer Experten wird als langfristige, durchaus profitable Investition für die Interessen der französischen Wirtschaft betrachtet. „Die uneigennützigsten Investitionen sind nicht solche, die nichts einbringen: die Mithilfe Frankreichs zur Heranbildung von Führungskräften in ungenügend entwickelten Ländern zielt auf ein günstiges Klima zur Verbreitung unserer Techniken und folglich unserer Waren ab und dies auf Grund der kulturellen Durchdringung", heißt es in einer ministeriellen Begründung
Mindestens für ebenso profitabel wird die politische Wirkung der . Kulturellen Durchdringung'eingeschätzt. Die Bildung der politischen und intellektuellen Eliten, der technischen Kader und ganz allgemein die breite Vermittlung der französischen Zivilisation soll ein Bewußtsein kultureller Zugehörigkeit und grundsätzlicher Solidarität vermitteln. Der Nutzen liegt auf der Hand. Die Einpflan-zung eines bestimmten ethischen und sozialen , Wertesystems'auf allen Stufen des Erziehungs-und Bildungsprozesses prädisponiert die sozialen und politischen Verhaltensweisen in hohem Maße. Das Denk-und Ausdrucksvermögen, geschult an der Zucht französischer Methodik und Begrifflichkeit, formt einen unverlierbaren intellektuellen Kontext. Daß es eben wesentlich auf das . Wertesystem'und die . intellektuelle Formation'ankommt und nicht nur auf die Vermittlung von technischen Fähigkeiten oder naturwissenschaftlichen Kenntnissen, wird stets betont
Die Transplantation der Werte hat seit der De-kolonisation schon manche politischen Früchte getragen. Die frankophonen Staaten Schwarz-afrikas sind — mit Ausnahme Guineas — alles in allem Musterschüler der alten Metropole. Innen-wie besonders außenpolitisch wird französischen Interessen in weitem Umfang Rechnung getragen. Beispielsweise vor dem wichtigen Forum der Weltpolitik, der UNO-Vollversammlung. Die soeben in die Unabhängigkeit entlassenen frankophonen afrikanischen Staaten • schlossen sich — mit Ausnahme Guineas — zur sogenannten . Brazzaville-Gruppe'zusammen. Sie bildeten im Rahmen der Vereinten Nationen die bedeutendste und in sich geschlossenste Gruppe, sorgsam betreut und beraten von der französischen Delegation
Auch das geographische Auswahlprinzip zeigt den Primat nationalen Interesses. So gut wie die gesamte französische Hilfe geht an die Staaten des ehemaligen Kolonialreiches, dorthin also, wo wirtschaftliche Konnexionen weiterbestehen und/oder wo die . Kulturelle Durchdringung'politischen Nutzen verspricht (zum Vergleichsjahr 1967 weisen die Zahlen der OECD für das ehemalige französische Afrika 445, 05 Millionen US-Dollar aus, für ganz Südamerika hingegen nur 8, 35 Millionen US-Dollar)
Der , Bilateralismus‘ freilich ist der kapitalste Stein des Anstoßes innerfranzösischer Kritik an der Entwicklungspolitik der V. Republik. Schon 1964 nannte Jean Lacouture in der Zeitung Le Monde die Praxis der Zweiseitigkeit „neokolonialistisch" und die Absicht dahinter eine „Politik der Größe und der Klientel"
Die sichtbarste und massivste Verquickung von Entwicklungshilfe und direktem ökonomischen Interesse stellen die Bindungsklauseln dar. Gewiß sind die mit der Hilfevergabe gekoppelten Bezugsverpflichtungen keine französische Spezialität (vgl. oben S. 9). Frankreich indessen operiert auch hier ziemlich unbefangen. Praktisch 100% der vergebenen Kapitalhilfe fließen als Exporterlöse in die nationale Wirtschaft zurück
V. Entwicklungshilfe in der Bundesrepublik — Theoretische Bestimmungen zwischen , Hallsteindoktrin'und , Weltinnenpolitik
In zweifacher Hinsicht war die Ausgangssituation der Bonner Entwicklungspolitik anders als die der westlichen Großmächte. Weder gab es ein koloniales Erbe wie bei Frankreich, noch ein unmittelbares weltpolitisches Engagement wie bei den USA. Beim prinzipiellen Verzicht auf eine eigenständige Außenpolitik im ersten Jahrzehnt der Bonner Republik konzentrierte sich die Verfolgung nationaler Eigeninteressen via Entwicklungspolitik auf die Präsentation der Deutschlandfrage in der Dritten Welt und die Statuierung der Hallstein-Doktrin. Deutsche Entwicklungspolitik, so hieß es noch im Jahre 1964, habe vor allem der „Verwirklichung einer Reihe von außenpolitischen Zielsetzungen der Bundesrepublik, wie Wiedervereinigung, Nichtanerkennung der Sowjetzone und Nichteinbeziehung der Entwicklungsländer in die östliche Einflußsphäre“ zu dienen
Die Sanktionen blieben im Ernstfall freilich lau. Als die . Aufwertung'der DDR-Präsenz bei verschiedenen Ländern ins Haus stand, in denen man sich besonders engagiert hatte (Tansania, Indien, Ägypten), beließ es die Bonner Regierung mehr oder weniger bei verbalen Protesten
Die Erfolgschancen wurden durchaus günstig beurteilt. Man glaubte, mittels eines Super-Marshallplanes den antikommunistischen Im munisierungserfolg der ersten Nachkriegsjahre im Weltmaßstab wiederholen und einmal mehr die glänzende Überlegenheit des westlichen Wirtschaftssystems demonstrieren zu können. Die besondere bundesrepublikanische Verpflichtung, so wurde häufig hervorgehoben, ergebe sich moralisch aus der Hilfe, die man selbst in den kritischen Jahren erhalten habe, politisch aus der hier zu beweisenden Solidarität mit dem Westen im gemeinsamen antikommunistischen Kampf. Letzteres Motiv— die antikommunistische Solidarität-genoß besonderen Rang, ohne allerdings von den Bundesgenossen immer recht gewürdigt zu werden. Mehr als einmal wurde die Bonner Regierung ermahnt, ihren antikommunistischen Bekenntnissen bedeutendere Taten in klingender Münze folgen zu lassen
Die Konzeption von der Entwicklungshilfe als zeitgemäßer Weltstrategie gegen kommunistische Subversion gründete auf der Überzeugung von der universalen Wiederholbarkeit des westlichen sozio-ökonomischen Entwick-lungsganges, die zum festen Bestandteil der , Freien-Welt'-Ideologie wurde. Der Marshallplan-Erfolg schien den Nachweis erbracht za haben, daß desolate ökonomische Verhältnisse durch Kapitaleinsatz und Stimulierung unternehmerischer Initiative zu beheben und gleichzeitig kollektivistisch-totalitäre Neigungen zu verhindern seien. In angemessener Abwandlung müßte sich diese Rezeptur auch in der Dritten Welt bewähren. Die Reproduktion des privatwirtschaftlichen Modells würde ipso facto gesellschaftliche und politische Verhältnisse hervorbringen, wie sie im Westen gediehen. Den Kern der strategischen Absicht umriß Hans Otto Wesemann im Jahre 1960 folgendermaßen: „Hinter allen Bemühungen, den unterentwickelten Ländern zu helfen, steht selbstverständlich die Überlegung, nicht nur die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zu verbessern, sondern die betreffenden Länder aufnahmebereit und aufnahmefähig für westliche Lebensformen zu machen."
Der harte Kern im ideologischen Schema hieß indessen . Freie Marktwirtschaft'. Das langfristige politische Orientierungsziel bundesrepublikanischer Entwicklungshilfe habe die Durchsetzung, zumindest die Förderung liberaler Wirtschaftsformen in der Dritten Welt zu sein
Die These von der demokratischen Schöpferkraft der Freien Marktwirtschaft fand ihren Niederschlag in Regierungserklärungen, Parteiprogrammen und in einer umfangreichen wissenschaftlichen Literatur
Die Argumentation lief folgendermaßen: Die Trägergruppe des sozio-ökonomischen und politischen Fortschritts in Europa war die unternehmerische Bourgeoisie gewesen. Ihre historischen Errungenschaften — Kapitalakkumulation und bürgerliche Freiheiten — hatte sie im Kampf gegen den Staatsabsolutismus durchgesetzt. Wo sie nicht als sprengendes Element auftrat, gab es keine Überwindung der autokratischen oder etatistischen Fesselung der gesellschaftlichen Potenzen. Folgerung: Sollen in der Dritten Welt ökonomischer und politi-scher Fortschritt gedeihen, so gilt es einen analogen Prozeß zu stimulieren. Das heißt, eine Entwicklungspolitik, die sich den Orientierungsmarken des optimalen wirtschaftlichen und freiheitlich-politischen Wachstums verpflichtet weiß, muß Sorge tragen, daß sie durch ihre Leistungen die potentielle Trägergruppe des Fortschritts nicht hemmt sondern fördert. Konkret: Nicht die Staatsapparaturen der jungen Nationen sind zu fördern, sondern es ist darauf hinzuwirken, daß „jene Gattung von Menschen herangebildet wird, die späterhin imstande wäre, die wichtige Funktion des Unternehmers — wenn auch anfangs in bescheidenstem Stil — zu übernehmen. Nur so läßt sich der staatsfreie Bereich der Gesellschaft zu einem Gewicht entwickeln, das den ohnehin schnell wachsenden Einfluß des Staates auf ökonomischem und sozialem Gebiet ausgleicht und eine Balance zwischen Staat und Gesellschaft herbeiführt, wie sie zur Schaffung und Bewahrung demokratischer Lebensformen unentbehrlich ist.“
Diese Einübung des Kapitalismus sei durch eine Entwicklungspolitik, die sich primär der öffentlichen Hilfe bedient, nicht zu leisten. Nur im unternehmerischen Partnerschaftsverhältnis könnten sich ökonomische Verhaltensweisen entwickeln, die zum Demiurgen von Fortschritt und Freiheit prädisponiert sind. Kurz: Westdeutschlands Entwicklungspolitik hat die Aufgabe, der freien unternehmerischen Initiative die Wege zu ebnen
Bis etwa 1961 war dies der unbezweifelte Inhalt der offiziellen Entwicklungshilfedoktrin. Kräftig unterstützt wurde das Regierungskonzept von der Wirtschaft, die soeben die Dritte Welt als interessantes Feld ökonomischer Durchdringung zu entdecken begann. Die Vertreter ihrer Spitzenverbände forderten mit politisch-ideologischer Begründung eine Entwick. lungspolitik, die das Interesse der Privatwirtschaft in den Mittelpunkt stelle
Eine erste Bresche in das liberalistisch-missio-narische Weltbild bundesrepublikanischer Entwicklungspolitik wurde von unvermuteter Seite geschlagen. Die westlichen Alliierten forderten etwa seit 1960 fast ultimativ ein drastisch erhöhtes Engagement der Bundesrepublik in der Dritten Welt
Nach den Bundestagswahlen vom September 1961 wurde ein eigenes Ressort geschaffen, das sich vornehmlich mit Fragen der Entwicklungshilfe zu befassen hatte, das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Ins Leben gerufen wurde dieses Ministerium teils aus der Notwendigkeit, den Wirrwarr der Kompetenzen und die Vielfalt der Institutionen und Initiativen auf dem Felde der Entwicklungshilfe zu ordnen, teils aus koalitionsarithmetischen Gründen. An seine Spitze trat der FDP-Politiker Walter Scheel. Unter seiner Ägide erhielt die offizielle Entwicklungsdoktrin einen deutlichen ambivalenten Charakter. Einerseits suchte Scheel seinem politischen Herkommen treu zu bleiben, indem er fortfuhr, Planismus, Zentralismus und Dirigismus in die fatale Beziehung zum Totalitarismus zu setzen
Während der Dauer seiner Geschäftsführung (1961— 1966) nahm der Umfang der von der Bundesrepublik geleisteten Hilfe erheblich zu und der Anteil privater Leistungen daran erheblich ab
Wischnewski kompensierte seinen politischen . Radikalismus'mit tröstlicher Versicherung auf ‘anderem Felde. Die Absage an den „politisch-
ideologischen Eigennutz" sollte dem ökonomischen Eigennutz durchaus nicht im Wege stehen. Im Gegenteil: Die Geschäftsperspektive habe im entwicklungspolitischen Zusammenhang ihren wichtigen und legitimen Platz, erklärte der Minister. Mit dem Zusatz allerdings, man möge das Geschäft ehrlicherweise als solches bezeichnen und es nicht in den Rang humanitärer Großtaten hochstilisieren.
So geschah es, daß unter einem sozialdemokratischen Minister der Geschäftsgesichtspunkt der , Hilfe'erklärtermaßen zu einer der „drei Säulen" bundesrepublikanischer Entwicklungspolitik erhoben wurde
Wischnewskis öffentliche Stellungnahmen eigneten sich in der Tat als Belegzitate für das, was zur gleichen Zeit (1967— 1969) gegen die westliche Entwicklungshilfe von links vorgebracht wurde. Deutsche Entwicklungshilfe, so der Minister, habe die Aufgabe, der „. . . einheimischen Industrie Partner zu schaffen und Märkte zu öffnen"
Trotz der Erklärungen zur politisch-ideologischen Abstinenz waren die alten Lieblings-vorstellungen von der Transplantation des westlichen Modells auch im Entwicklungskon-zept der Großen Koalition nicht gänzlich geschwunden. . Freies Unternehmertum', , Private Initiative', der . Mensch in der Mitte usw. wurden den Entwicklungsländern weiterhin angedient — wenn auch erheblich gedämpfter und nur als wohlmeinende Empfehlung
In der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik war unter dem Eindruck weltweit bekanntgewordener wissenschaftlicher Analysen (Myrdal, Rostow) mittlerweile die Einsicht so weit gediehen, daß Planwirtschaft und Staatssozialismus in der Dritten Welt nicht unbedingt als „Triumphe des Weltbolschewismus" (Röpke) zu gelten hätten. Es begann die Erkenntnis zu dämmern, daß die entwicklungshemmenden Strukturen des gesamtgesellschaftlichen Rahmens unterentwickelter Länder möglicherweise evolutionär nicht zu verändern sind, daß vielleicht die praktizierte Entwicklungshilfe eher zu einer Zementierung der Unterentwicklung dienlich sei. Die alten Vorstellungen vom Nachvollzug des westlichen Entwicklungsganges gerieten in ihren wissenschaftlichen Prämissen ins Wanken und wurden in ihrem ideologischen Zusammenhang erkannt. Richard Behrendt, dessen „Soziale Strategie für Entwicklungsländer" in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre großen Einfluß auf die Entwicklungsdiskussion in der Bundesrepublik hatte und den Minister Wischnewski gern als Referenz zitierte, hatte schon 1965 die alte liberalistische Transplantationstheorie in Frage gestellt und vorsichtig die Vermutung formuliert: „Der sozio-ökonomische Ordnungsrahmen, gewöhnlich Kapitalismus genannt, in dem die dynamische Wirtschaft und Gesellschaft zum ersten Mal in Europa und Anglo-Amerika zum Durchbruch kam, braucht nicht notwendigerweise auch derjenige zu sein, in dem die sozio-ökonomische Dynamik in den bisherigen dynamischen Randländern verwirklicht wird. Wahrscheinlich wird er es nicht sein können.“
Freilich, den revolutionären Weg der Total-transformation wollte Behrendt vermieden wissen, da er nur die Alternative zwischen »Chaos oder Diktatur" eröffnen könne. Deshalb liege es weiter im Interesse des Westens, ,... nach Kräften an der Konzeption und Erprobung einer Entwicklungsstrategie mitzuwirken, die eine Chance für entschiedenen Strukturwandel in Gesellschaft wie im Technischen und Wirtschaftlichen ohne soziale Revolution bietet, und die Überlegenheit nicht-
kommunistischer Methoden überall dort zu erweisen, wo nicht gewaltsame Revisionen der traditionellen Gesellschaftsordnung möglich sind.“
lungspolitik der Großen Koalition dem Dilemma . Revolution'zu begegnen. Eine Förderung der Revolution via bundesrepublikanischer Entwicklungspolitik könne schon deshalb nicht in Frage kommen, weil „selbst wenn man eindeutig wüßte, daß diese Revolu-I tionierung zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und zu größerer sozialer Gerechtigkeit führte, ... die Verantwortung für die Opfer, die die Revolution fordern würde, nicht zu tragen (ist)“
In der dritten, der gegenwärtigen Phase deutscher Entwicklungspolitik sollte dieser Punkt jedoch zum Anlaß heftiger öffentlicher Kontroversen werden. Denn mit der sozial-liberalen Koalition erfuhren die Prinzipien deutscher Entwicklungspolitik erneut einen Wandel. Die erklärten politischen Grundmotive blieben zwar dieselben (der neue Bundesminister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Eppler: „Entwicklungspolitik ist Ansatz zu einer Weltinnenpolitik ... Entwicklungspolitik zielt auf Frieden ..."), aber die entwicklungspolitische Gesamtproblematik wurde in einem weit umfassenderen sozio-politischen Kontext reflektiert, als dies bis dahin geschehen war. In Epplers Konzept erscheint die Geberseite nicht nur mit den klassischen Interessen politischer, wirtschaftlicher und vielleicht humanitärer Art am Entwicklungsgeschehen engagiert — nicht nur als aktives Subjekt in einem fremden Akkulturationsvorgang —, sondern sie wird selbst begriffen als Objekt im Entwicklungsprozeß. Das eigene sozio-politische System einschließlich seiner ökonomischen Grundlagen und seines Überbaues von ethischen Werten soll mit einbezogen sein in den dialektischen Transformationsablauf einer wechselseitigen Entwicklungshilfe, die Eppler als „Integrationsprozeß" zur „einen Welt" verstanden wissen will
Für Eppler sind Kommunismus-Trauma und Transplantationshoffnungen ausgestanden. Ebenso die nationale Interessenmotivation. („Hallstein-Doktrin .. . [ist] ... so sehr eine Angelegenheit der Geschichte wie die Hallstein-Zeit.“) Den missionarischen Wirtschaftsliberalismus Erhardscher Prägung hatte er schon vor seiner Amtszeit verworfen und sich für die geplante Entwicklung erklärt
Als der Minister schließlich gar forschen Revo. lutionsjargon zur Beschreibung seiner Entwicklungsstrategie benutzte („Der Grundsatz der Partisanenstrategie. wonach der Guerilla wenigstens von einem Teil der Bevölkerung unterstützt oder zumindest toleriert werden muß, um in der Gesellschaft wie ein Fisch im Ozean zu schwimmen, gilt auch für die Pro-motoren der Entwicklungshilfe"), schien das Maß voll. Eppler wurde verdächtigt, Entwick. lungspolitik unter dem „Druck innenpolitischer Pressure-Groups der radikalen Linken zu betreiben, "die Entwicklungspolitik in ihrem neo-marxistisches Schema einpasssen, um Hebel einer weltweiten Revolution machen 'möchte" (Christ und Welt vom 20. 11. 70). Die FAZ argwöhnte, daß „anscheinend mit bundesdeutscher Hilfe revolutionäres Gedankengut exportiert werden" soll und knüpfte daran Mutmaßungen über einen linksradikalen bundesrepublikanischen Messianismus („Am deutschen Wesen soll, so scheint es, wieder einmal die Welt genesen, dieses Mal die soge-nannte Dritte Welt"), der als „Machtpolitik’ verstanden werden könne (FAZ v. 24. 12. 1970). In die gleiche Richtung, nur noch um einiges massiver, argumentierte ein deutscher Ethnologe mit diskretem Hinweis auf gleichlaufende AA-Besorgnisse: Der Epplersche Progressismus könne als Fortsetzung der Hitler sehen Weltstrategie gegen die , Plutokratien aufgefaßt werden. Dies müßte das „Mißtrauen gegen die Deutschen ins Ungemessene vergrößern . . . Sollte sich nun die Bundesrepublik im Rahmen ihrer Entwicklungspolitik bewußt und offen für die Unterstützung solcher Versuche entscheiden . . . dann würde dies zweifellos von den machtpolitisch orientierten Großmächten als Anzeichen angesehen, daß sie bestrebt sei, die von Hitler versäumte Chance wahrzunehmen."
Wie sich versteht, kommen diese krausen Verdächtigungen nicht nur von . rechts. Die Orientierung bundesrepublikanischer Entwic lungspolitik auf realistischere und gleichzeitig umfassenderere Zielsetzungen können der linken Radikalkritik nur als besonders übler Trick des westdeutschen Spätkapitalismus erscheinen. Epplers Sympathie für die Planifikation in der Dritten Welt beispielsweise ist danach alles andere als Ausweis progressistischer Gesinnung, sondern wohlkalkulierte Strategie im Interesse des westdeutschen Monopolkapitals: „Die Absage an die . Ideologie Ludwig Erhards'im Zusammenhang der Diskussion um Entwicklung in Ländern der Dritten Welt und die Forderung nach . Planung und Koordination'besagen vor allem, daß das Interesse des westdeutschen Kapitals in der Entwicklungspolitik nur dann ausreichend berücksichtigt werden kann, wenn bei , libera-
listischer’ Politik in den Metropolen (Privat-verfügung über die Produktionsmittel und den Verteilungsapparat) in den Entwicklungsländern die für eine profitable Kapitalverwertung notwendigen Voraussetzungen bestehen oder geschaffen werden. Anders als das US-Kapital oder englisches und französisches Kapital in den ehemaligen Kolonien, ist das westdeutsche auf staatliche Förderung angewiesen, die auf die Bedingungen in den Entwicklungsländern einwirkt, ohne durch Sanktionen oder militärische Aktionen die dortigen herrschenden Gruppen unter Druck setzen zu können."
Der theoretische Motivationswandel hat seine Entsprechung in den anvisierten Perspektiven praktischer Politik. Entwicklungspolitik als Integrationsmittel im dialektischen Bezugsrahmen . Erste und Dritte Weit'soll nicht Verbalprogressismus bleiben, sondern sich in konkreten Maßnahmen realisieren. Die vielbe-redeten . Strukturanpassungen'in den Metropolen zur Förderung der Marktposition der Unterentwickelten haben im Perspektivplan der Bundesregierung wenigstens umrißhaft Gestalt gewonnen. Uber die Verpflichtung zum Abbau tarifärer und nicht-tarifärer Handels-hemmnisse (Zölle, Kontingentierungen, Subventionen etc.) hinaus will die Bundesregierung auch „langfristige Raumordnungs-und Strukturmaßnahmen" im eigenen Land in ihre Entwicklungspolitik miteinbeziehen (so in der vom Kabinett verabschiedeten Konzeption der Bundesregierung vom 11. 2. 1971). Da es sich hier um innenpolitisch überaus heikle Fragen handelt, bleiben die Formulierungen einigermaßen allgemein. Die Richtung ist indessen schon angedeutet, wenn es weiter heißt: „Strukturveränderungen, die durch die verstärkte Integration der Entwicklungsländer in die internationale Arbeitsteilung ausgelöst werden, dürfen nicht aufgehalten werden; sie müssen, wenn erforderlich, durch angemessene strukturpolitische Maßnahmen unterstützt werden. Insbesondere darf die Abwanderung von Arbeitskräften und Kapital aus Wirtschaftszweigen, bei denen Anpassungen an die geänderten Marktverhältnisse notwendig sind, nicht durch Erhaltungssubventionen verhindert werden."
Endgültig ausgeräumt wurde die alte These von der Entwicklungspolitik als Mittel zu außenpolitischem Zweck („Sie taugt nicht als Instrument kurzfristiger außenpolitischer Erwägungen"
Reinhard Kapferer wird den vorliegenden Beitrag durch einen zweiten ergänzen, in dem er die Problematik der Entwicklungshilfe aus der Sicht ihrer Empfänger beschreibt. Diese Untersuchung, für die der Arbeitstitel „Sozialismusmodelle in Afrika — Ägypten, Tansania, Guinea" gewählt wurde, erscheint hier voraussichtlich im August dieses Jahres.