Einleitung
Als am 5. Oktober 1970 der britische Handelsattache James Cross in Montreal von kanadischen Terroristen als Geisel festgesetzt wurde und einige Tage darauf, am 10. Oktober, der Arbeitsminister der Provinz Quebec, Pierre Laporte, dasselbe Schicksal erlitt, nahm dieses Geschehen auch in der Bundesrepublik in der Berichterstattung von Presse, Rundfunk und Fernsehen einen breiten Raum ein — nicht zuletzt deshalb, weil der Entschluß der kanadischen Bundesregierung in Ottawa und der Provinzialregierung von Quebec, sich nicht auf die Forderungen der Entführer einzulassen
Um die ungeheure Erregung, die die Entführung von James Cross und Pierre Laporte gerade auch in Europa ausgelöst hat, zu erklären, muß gewiß auch in Betracht gezogen werden, daß hier in einem westlichen demokratischen Staat die innenpolitische Auseinandersetzung mit terroristischen Mitteln geführt wurde. Dieser Terrorakt muß im Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung Kanadas gesehen werden. Sie ist geprägt durch den Gegensatz zwischen Anglound Franko-kanadiern und stellt in der Gegenwart die Aufgabe, die separatistischen Zielsetzungen einer radikalen Minderheit zugunsten einer Neugestaltung der bundesstaatlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Ordnung auszuschalten. Damit steht die kanadische Konföderation, wie hier ausgeführt werden soll, in der schwersten Bewährungsprobe ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte.
I. Kanada — ein Land des geschichtlich gewachsenen Nationalitätengegensatzes
überschauen wir die Geschichte Kanadas seit der Inbesitznahme des Landes durch die Europäer, so können wir — in Anlehnung an die von Robert Lacour-Gayet
Als erste kamen die Franzosen, und zwar unter Führung von Samuel de Champlain. Mit Unterstützung von König Heinrich IV. (F 1610), König Ludwig XIII. (t 1643) und seinem leitenden Minister Kardinal Richelieu holte Champlain Siedler, Händler und katholische Missionare ins Land; er gründete 1608 die Stadt Quebec und schuf erst als Statthalter (Lieutenant General), in seinen letzten Lebensjahren als kgl. Gouverneur einen großen französischen Kolonialbereich — „Neu-Frankreich" genannt — am Unterlauf des St. Lorenz-Stroms.
Dieser breite Flußlauf, der zu den großen Seen hinführt, erwies sich — so wie etwas später im Süden der Mississippi — als ein ideales Einfallstor in den nordamerikanischen Raum, und beider Ströme bedienten sich die Franzosen, um ihre große nordamerikanische Doppel-kolonie Neu-Frankreich und Louisiana zu schaffen. Ihr Wert wurde weniger in der Siedlungsmöglichkeit gesehen, als vielmehr im Nutzen für den Handel. Edelmetalle, Pelze, Gewürze, Edelhölzer u. a. m. waren für die heimische, vom sogenannten Merkantilismus geprägte Wirtschaft wichtig. Zur Zeit Colberts, des bekannten Wirtschaftsministers unter Ludwig XIV., blühte der von der französischen Westindienkompanie getragene Handel. Immerhin gab es um 1690 auch schon rund 10 000 französische Siedler in Neu-Frankreich, und diese versuchten, von den Nebenläufen des St. Lorenz-Stromes und vor allem des Mississippi in das Landesinnere vorzustoßen. Es liegt auf der Hand, daß diese Bestrebungen den englischen Interessen zuwiderliefen. Die Engländer hatten ja an der Ostküste Amerikas die Kolonie „Neu-England" gegründet, und sie suchten im hohen Norden mittels der Hudsonbay-Company nach einer Nordwestpassage.
Der britisch-französische Kolonialdualismus bestimmte das Verhältnis beider Länder im 18. Jahrhundert. Dieser Dualismus wurde während des spanischen Erbfolgekrieges und des Siebenjährigen Krieges mit Waffengewalt ausgetragen. 1713 verlor Frankreich Neu-Fund-landund Neu-Schottland, und im Pariser Frieden von 1763 verzichtete Frankreich auf seine übrigen Besitzungen in Kanada (mit Ausnahme von St. Pierre und Miquelon, zweier kleiner Inseln im Golf des St. Lorenz-Stroms, die noch heute zu Frankreich gehören). Audi Louisiana wurde damals aufgegeben. Somit endete 1763 die französische Kolonialherrschaft in Nordamerika, und etwa 63 000 französische Siedler wurden britische Untertanen. Nach dieser ersten Phase der „europäischen" Geschichte Kanadas, die im Zeichen der französischen Kolonialherrschaft stand, folgten rund hundert Jahre britischer Kolonialherrschaft (1763— 1867)
Denn nun kamen die britischen Einwanderer, als erste etwa 40 000 United Empire Loyalists, die sich vorzugsweise in Oberkanada, in der heutigen Provinz Ontario, niederließen. Diese Loyalisten waren solche Siedler, die die Lösung der britischen Kolonien an der amerikanischen Ostküste vom Mutterland (1776) und ihre nachfolgende Erhebung zur neuen Republik der Vereinigten Staaten nicht hinnehmen und Untertanen der britischen Krone bleiben wollten.
Erstaunlich mag sein, daß sich das französischsprachige Kanada an der revolutionären Loslösung von Großbritannien nicht beteiligte, obgleich es doch erst relativ kurze Zeit zuvor gewaltsam unter britische Herrschaft gekommen war. Dafür gibt es drei Gründe: zum ersten das Gefühl des Verlassenseins von Frankreich, das in der Äußerung Voltaires, Frankreich habe in Kanada nur „wertlose Schneefelder" verloren, eine aufschlußreiche Bestätigung findet
Und 1965 lesen wir im vorläufigen Bericht einer von der damaligen Regierung unter Premierminister Lester B. Pearson eingesetzten Kgl. Untersuchungskommission, die in den vorausgegangenen zwei Jahren eine systematische Befragung der Bevölkerung durchgeführt hatte: „Du ct francophone, les premiers contacts n'ont rien rvl d'inattendu, si ce n’est l'extrme mefiance avec laquelle une grande partie du Quebec regarde tout ce qu’accomplit Ottawa, et un grand scepticisme quant ä la faculte et la volonte du Canada anglais de comprendre le Canada franais.“
(„Die bisherigen Gespräche mit den Franko-kanadiern haben nichts überraschendes gebracht; sie haben aber das tiefe Mißtrauen aufgedeckt, mit dem große Bevölkerungsteile Quebecs alles, was sich in Ottawa tut, beobachten, und sie haben den starken Zweifel, ob das englischsprachige Kanada überhaupt das französischsprachige begreifen will und kann, offenkundig gemacht.
Zwischen diesen beiden Aussagen liegt natürlich kein völlig geradliniger Weg, und wir dürfen auch die Untersuchungsergebnisse der Kgl. Kommission nicht in allen Teilen als typisch für die ganze kanadische Gesellschaft ansehen, gibt es doch im 19. und 20. Jahrhundert durchaus fruchtbare Ansätze, den Antagonismus der beiden Nationen in Kanada zu . überwinden.
Als ein solcher Ansatz darf zwar der Union Act von 1840 noch nicht gelten, weil mit ihm — auch das war eine Anregung Lord Dur-hams — nur die beiden Landesteile Ober-und Unterkanadas wieder zu einer Verwaltungseinheit zusammengefaßt wurden. Wohl aber erbrachte die 1847 von Lord Elgin durchgesetzte Form des responsible government sowohl die kulturelle als auch die politische Gleichstellung mit den Anglokanadiern; das heißt: der dem Gouverneur beigegebene Exekutivrat war der von der gesamten Bevölkerung — ohne sprachliche Diskriminierung — gewählten gesetzgebenden Körperschaft verantwortlich.
Mit dieser Form der kolonialen Selbstverwaltung wurde die Loyalität gegenüber der britischen Krone gestärkt. Zugleich wurde die Voraussetzung geschaffen für die Gründung eines kanadischen Dominions, das dem Land die volle Autonomie nach innen gab, ohne daß dabei die äußeren Bindungen an Großbritannien in der Gemeinsamkeit der Krone und bezüglich der von London bestimmten Außenpolitik in Frage gestellt wurden.
Dabei kehrte man wieder zur Teilung des Landes in Unterkanada, jetzt Quebec, und Oberkanada, jetzt Ontario genannt, zurück und versuchte, diese Provinzen mit den maritimen Kolonien Britisch-Nordamerikas in eine Föderation zu bringen. In einer bundesstaatlichen Form wurde 1867 in der Tat das neue Dominion geschaffen, und zwar nach vorausgegangenen jahrelangen Beratungen in Charlottetown auf der Prinz-Eduard-Insel, die unter dem Eindruck des amerikanischen Sezessionskrieges und möglicher Invasionsgefahren gestanden hatten. Wortführer der Anglokanadier war J. A. Macdonald; auf frankokanadischer Seite war dies G. E. Cartier
Nach der Ratifizierung durch das britische Parlament in London trat am 1. Juli 1867 auf der konstitutionellen Grundlage der soge-nannten „Britischen Nordamerika-Akte” die kanadische Konföderation — bestehend aus den vier Bundesstaaten (offiziell „Provinzen" genannt) Ontario, Quebec, Neu-Schottland und Neu-Braunschweig — ins Leben. Damit beginnt die dritte Phase der kanadischen Geschichte, die des autonomen Kanada.
Diese dritte Phase ist geprägt von der Ausdehnung Kanadas zu dem riesigen Land a rnari usque ad mare, wie es im kanadischen Wappenspruch lautet, einer Ausdehnung vom atlantischen zum pazifischen Ozean, bedingt durch den Anschluß bzw. durch die Gründung neuer Provinzen: 1870 Manitoba, 1871 Bri-tisch-Kolumbien, 1873 Prinz-Eduard-Insel, 1905 Alberta und Saskatchewan, 1949 Neufundland. Die 1885 nach mehr als zehnjähriger Arbeit in Betrieb genommene, über 4000 km lange transkontinentale Eisenbahn hat sich dabei — wie der St. Lorenz-Strom — als wirtschaftlicher und politischer Einigungsfaktor erwiesen. Es ist denkbar, daß eines Tages die der Bundesgewalt unterstehenden riesigen, noch fast menschenleeren arktischen Gebiete, die sogenannten North'west Territories und das Yukon Territory, — in dem Maße, wie ihre wirtschaftliche Erschließung Siedler ins Land bringt, — als elfte und zwölfte Provinz die Konföderation mittragen werden.
Diese dritte historische Phase ist weiterhin geprägt von der Fortentwicklung der britischen Nordamerika-Akte von 1867 und ihrer Anpassung an neue Aufgaben und Vorstellungen durch die Gesetzgebung des britischen Parlaments und der kanadischen Gesetzgebungskörperschaften sowie durch die Verfassungstradition, so daß Kanada — ähnlich wie Großbritannien — keine geschlossene, in einer Rechtssatzung kodifizierte Verfassung hat; diese setzt sich vielmehr aus einer Vielzahl von Akten, Gesetzen und parlamentari-sehen Bräuchen zusammen
Kanada besitzt also — insgesamt gesehen — eine parlamentarische bundesstaatliche Ord-nung, in der die Regierungen und Parlamente der zehn Provinzen eine Art Gegengewicht zur Bundesgewalt darstellen und — mit unterschiedlicher Intensität — das politische, wirtschaftliche und kulturelle Eigenleben der jeweiligen Provinz sicherstellen.
Die Zeit ab 1867 ist geprägt von der wachsenden Unabhängigkeit Kanadas, das in den ersten Jahrzehnten als Dominion stark an das britische Mutterland gebunden war und seiner Außen-und Verteidigungspolitik folgen mußte. Premierminister Wilfried Laurier, der erste frankokanadische liberale Regierungschef von 1896 bis 1911, nahm es zwar auf sich, aus Solidarität mit dem Mutterland ein 7000-Mann-Heer zur Unterstützung der britischen Interessen gegen die Buren nach Südafrika zu entsenden; aber auf der Empire-Konferenz nach Beendigung des Burenkrieges trat Laurier mit Erfolg dem Zollunionsplan und gemeinsamen Verteidigungsplan für das britische Weltreich entgegen
Die hier eingeleitete Entwicklung zur außen-politischen Handlungsfreiheit Kanadas ist auf der Empire-Konferenz von 1926 und durch das sogenannte Westminster-Statut vom Dezember 1931 sanktioniert worden
Die über hundert Jahre seit 1867 sind aber auch von dem Unvermögen bestimmt, ein alle Landesteile und Bevölkerungskreise gleichermaßen umfassendes kanadisches Staatsbewußtsein auszubilden
In den zwanziger und dreißiger Jahren, die zeitweise von der weltweiten wirtschaftlichen Rezession bestimmt waren, machte sich insbesondere das wirtschaftliche und soziale Gefälle zum Nachteil der frankokanadischen Landesteile bemerkbar. Natürlich öffneten sich -damals wie heute — die anglokanadischen Provinzen mehr dem amerikanischen Kapital als die Provinz Quebec, und ohnehin war die puritanische Mentalität der anglokanadischen Bevölkerung — Max Weber hat es überzeugend erklärt
Maurice Duplessis, der Chef der von ihm gegründeten konservativen Partei der Provinz Quebec (mit dem bezeichnenden Namen Union Nationale) und Ministerpräsident der Provinz von 1936 bis 1939 und von 1944 bis 1959, hat diesem exklusiven Nationalismus starke Impulse zu geben vermocht
In die Zeit der Amtsführung von Ministerpräsident Daniel Johnson fällt die Reise des französischen Staatspräsidenten de Gaulle nach Kanada. Dieser Besuch erregte bekanntlich weltweites Aufsehen. — De Gaulle kam Ende Juli 1967 aus Anlaß des einhundert-jährigen Bestehens der kanadischen Konföderation — bezeichnenderweise auf dem Kreuzer „Colbert" — nach Quebec und ließ sich dort und danach auf dem 300 km langen historischen „Königsweg" am Nordufer des St. Lorenz Stromes zwischen Quebec und Montreal und schließlich in dieser Metropole des Frankokanadiertums von begeisterten Menschenmassen umjubeln. Die Weiterreise nach der Bundeshauptstadt Ottawa (wo der Staatsbesuch eigentlich — nach dem Protokoll — hätte beginnen müssen) brach er ab und kehrte vorzeitig nach Paris zurück. Er zeigte sich gekränkt, weil die Bundesregierung des Ministerpräsidenten Pearson über die häufig gebrauchte Anrede „kanadische Franzosen" entrüstet war. Pearson hatte gegen die Worte von der angeblich notwendigen „Befreiung" Quebecs protestiert und war dem Ausspruch entgegengetreten, den de Gaulle am 24. November 1967 vom Balkon des Rathauses von Montreal aus einer vieltausendköpfigen Menge zugerufen hatte: „ Vive le Quebec libre!“
Es sei dahingestellt, ob de Gaulle diesen Ruf — wie angenommen wird
Nur, so fragte man sich doch auch: In welchem Sinne sollte das geschehen? Würde „Freiheit“ etwa zugleich „Bindung" an Frankreich bedeuten? Widersprach nicht die Bezeichnung , Frangais du Canada“ auch dem Selbstverständnis der separatistisch eingestellten Frankokanadier? Die meisten verantwortlichen Politiker distanzierten sich deshalb mehr oder weniger deutlich von den Worten des französischen Präsidenten.
Allenfalls mochte de Gaulle den Unabhängigkeitswillen in der ständischen Vertretung des Frankokanadiertums, die in den Etats Generaux du Canada trangais gegeben ist und die im Herbst 1967 in Montreal eine große Sitzung abhielt, wirklich gestärkt haben
Das Geschehen vom Sommer 1967 erscheint heute bereits als ein Stück Geschichte, zumal die damals handelnden Männer — wie der kanadische Ministerpräsident Pearson, der Ministerpräsident von Quebec, Daniel Johnson, der französische Staatspräsident de Gaulle — von der politischen Bühne abgetreten sind. Doch der innere Konflikt schwelt weiter; der Nationalitätengegensatz besteht nach wie vor. Gewiß haben vor allem die Bundesregierung unter Ministerpräsident Trudeau (die seit April 1968 besteht) und die Provinzregierung von Quebec unter Ministerpräsident Bourassa (die seit Mai 1970 im Amte ist) große Anstrengungen gemacht, die innere Krise zu überwinden. Trotzdem kann man auch heute — wie schon seit Jahren — von einer „Zerreißprobe" sprechen, der die kanadische Konföderation unterworfen ist
II. Die kanadische Konföderation in der gegenwärtigen Bewährungsprobe
Wer den geschichtlichen Weg Kanadas bis in unsere Zeit hinein verfolgt hat, stellt folgendes fest: Seit geraumer Zeit steht die Einheit Kanadas auf dem Spiel. Auch die jetzt in sechs Büchern vorliegenden Untersuchungsergebnisse der Königlichen Kommission, die Premierminister Lester B. Pearson im Juli 1963 eingesetzt hatte, lassen daran keinen Zweifel. Die kanadische Regierung hatte der zehnköpfigen Kommission die Aufgabe zugewiesen, „die gegenwärtige Situation der Zweisprachigkeit und der zwei Kulturen in Kanada zu untersuchen, darüber zu berichten und Vorschläge zu machen, was für Schritte unternommen werden sollen, um zu erreichen, daß sich die kanadische Konföderation aufgrund einer gleichen Partnerschaft zwischen den zwei Gründerrassen entwickle"
Der Konflikt besteht nicht — auch das wird in dem Untersuchungsbericht deutlich gesagt — zwischen einer angiokanadischen Mehrheit und einer frankokanadischen Minderheit, sondern zwischen zwei groupes majoritaires, ist doch die Provinz Quebec zu 82 % französischsprachig und befindet sich in ihr die englisch-sprachige Bevölkerung — so gewichtig auch ihre wirtschaftliche Position ist — in einer Minderheitenstellung. Allein die Sonderstellung Quebecs kann aber — so wird argumentiert — sicherstellen, daß diese Provinz ihren französischen Charakter behält und intensiviert. Und wird diese Sonderstellung nicht im Rahmen einer modifizierten kanadischen Konföderation gewährt, ist die Autonomie Quebecs vorzuziehen, so wie Daniel Johnson es im März 1966 in einem Wortspiel gesagt hat: „Pas necessairement le separatisme, mais le spara tisme si necessaire."
Schon bei der ersten Teilnahme an Provinz-wahlen, am 29. April 1970, hat sich gezeigt, daß der Parti Quebecois eine starke Resonanz in der frankokanadischen Bevölkerung gefunden hat
Diese Umschichtung der Wählerkreise hat unter den Bedingungen des Mehrheitswahlrechts und einer sehr unterschiedlichen Wahlkreiseinteilung der liberalen Partei unter dem jungen Parteiführer Robert Bourassa große Vorteile gebracht. Denn während auf die Union Nationale nur 16 und auf die Quebec-partei nur noch 7 Mandate entfielen, erreichte die liberale Partei mit 45 0/0 der für sie abgegebenen Stimmen 72 Sitze; sie verfügt damit in der Assemblee Nationale Quebecs über eine klare Mehrheit
Die gleichartigen Regierungsverhältnisse auf Bundesebene
Ministerpräsident Trudeau handelte sofort und kompromißlos und machte davon am 16. Oktober dem kanadischen Unterhaus und der kanadischen Bevölkerung in einer Weise Mitteilung, die jeder demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft, die sich gegen Terror und politischen Radikalismus schützen will, zur Lehre gereichen kann: " I m speaking to you at a moment of grave crisis, when violent and fanatical men are attempting to destroy the unity and the free-dom of Canada. One aspect of that crisis is the threat which has been made on the lives of two innocent men. These are matters of the utmost gravity and I want to teil you what the Government is doing to deal with them. ..
It has now been demonstrated to us by a few misguided persons just how fragile a demo-cratic society can be, if democracy is not prepared to defend itself, and just how vulnerable to blackmail are tolerant, compas-sionate people. . .
At the moment the FLQ is holding hostage two men in the Montreal area, one a British diplomat, the other a Quebec Cabinet Minister. They are threatened with murder. Should the Governments give in to this crude blackmail we would be facing the breakdown of the legal System, and it's replacement by the law of the jungle. The Government's decision to prevent this from happening is not taken just to defend an important principle. It is taken to protect the lives of Canadians from dangers of the sort I have mentioned. Freedom and personal security are safeguarded by laws; those laws must be respected in order to be effective. ..
If a democratic society is to continue to exist, it must be able to root out the cancer of an armed, revolutionary movement that is bent on destroying the very basis of our freedoms. ..
This Government is not acting out of fear. It is acting to prevent fear from spreading. It is acting to maintain the rule of law without which freedom is impossible. It is acting to make clear to kidnappers, revolutionaries and assassins that in this country laws are made and changed by the elected representatives of all Canadians — not by a handful of seifselected dictators — those who would gain power through terror, rule through terror. The Government is acting, therefore, to protect your life and your liberty."
Mit der Verhängung des Kriegsnotstandsrechts, des sogenannten War Measures Act, eröffnete sich die Bundesregierung — mit Zustimmung fast des ganzen kanadischen Parlaments — die Möglichkeit, die örtlichen Polizeikräfte durch Soldaten zu verstärken, Haus-durchsuchungen durchzuführen, sofortige Verhaftungen vorzunehmen und den Front de
Liberation du Quebec (FLQ) aufzulösen
Natürlich ist es als unbefriedigend empfunden worden, daß in Friedenszeiten zur Bekämpfung 30 eines inneren Notstands das Kriegsrecht herangezogen werden mußte. Demgemäß hat sich die Regierung Trudeau beeilt, ein Notstandsgesetz vorzulegen, dessen parlamentarische Beratung mit der Zustimmung von Seiten fast aller Unterhausabgeordneten Anfang Dezember 1970 abgeschlossen wurde. Dieses Gesetz ist nur bis zum 30. April 1971 befristet und bedarf bei Verlängerung oder gar Neufassung eines neuen Parlamentsbeschlusses. Nach Maßgabe dieses Gesetzes muß gegen jede inhaftierte Person spätestens innerhalb von sieben Tagen Anklage erhoben werden, wobei es dem öffentlichen Kläger obliegt, die Schuld des Beklagten festzustellen, und nicht umgekehrt dem Beklagten, seine Unschuld zu beweisen. Nach angelsächsischer Rechtsauffassung liegt die Beweispflicht beim Kläger.
Nachdem sich die verschiedenen Regierungsinstanzen auf Bundes-, Provinz-und kommunaler Ebene in der schweren Krise vom Herbst 1970 durchgesetzt, den Front de Liberation du Quebec aufgelöst, die Mörder von Pierre Laporte gefaßt und unter Anklage gestellt haben, liegt die Vermutung nahe, daß die kanadische Einheit damit bereits ihre Zerreißprobe bestanden hat. Doch dies ist mehr in einem machtpolitischen Sinne geschehen und nicht in einer von allen Bürgern bekundeten Bejahung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung Kanadas.
Gewiß, die Regierung fand im Oktober 1970 bei ihren energischen Maßnahmen eine breite Zustimmung in der kanadischen Bevölkerung, auch in der Provinz Quebec. Denn mit den terroristischen Praktiken und der maoistischanarchistischen Ideologie des F. L. Q. wollten auch diejenigen Frankokanadier, die ein autonomes Quebec wünschen und parteipolitisch dem Parti Quebecois nahestehen, nicht identifiziert werden. Diese Frankokanadier sind zumeist kleinbürgerliche oder bäuerliche Nationalisten, deren Abneigung gegen das englisch geprägte Kanada aus der Wertschätzung ihrer französischen Kultur, aus einem konservativen Katholizismus und nicht zuletzt aus dem Gefühl der sozialen Ungleichheit zwischen dem englisch-und dem französischsprachigen Kanada resultiert. Nach der Ermordung von Pierre Laporte beeilte sich Rene Levesque, der Chef der Quebecpartei, darüber öffentlich seiner Abscheu Ausdruck zu geben und einen deutlichen Trennungsstrich zwischen seiner Partei und den Terroristen, die er als ganz kleine, isolierte Gruppe sieht, zu ziehen.
Augenscheinlich hat sich sehr schnell die von Premierminister Trudeau am Abend des 16. Oktober 1970, also gleich nach Ausbruch der Krise, getroffene Voraussage bestätigt, daß nicht die Spaltung Kanadas die Folge der Gewaltakte seien, sondern umgekehrt die kanadische Gesellschaft in sich geschlossener, das Land gefestigter sein werde
In einem ähnlichen Sinne hat sich Professor Gilles Lalande, Montreal, ein Parteifreund von Premierminister Robert Bourassa, Ende November 1970 in einer Artikelserie geäußert. Sie beginnt mit der Feststellung, die separatistische Welle habe sich mit den Terrorakten diskreditiert und selber zugrunde gerichtet
Daraus ergibt sich für Lalande die Schlußfolgerung, aus der Oktoberkrise gehe der kanadische Föderalismus gestärkt hervor. Es habe sich gezeigt, wie das Zusammenwirken der provinziellen und bundesstaatlichen Regierungsebenen die Interessen der Einzelstaaten und des Gesamtstaates gewahrt und dem einzelnen schutzbedürftigen Bürger in der schweren Krise Sicherheit gewährt habe. Der Föderalismus — so meint Gilles Lalande in kriti-scher Distanz zu der von Rene Levesque vorgetragenen Skepsis — sichere die Zukunft des Frankokanadiertums
Man mag sich aber fragen, ob nicht Gilles Lalande die Entwicklung in Kanada und speziell in der Provinz Quebec zu optimistisch beurteilt. Schließlich ist auch zu fragen, ob nicht die einhellige Verurteilung der Terrorakte in der gesamten anglo-und frankokanadischen Öffentlichkeit mit dem Schock, den eben diese Gewaltakte ausgelöst haben, zu erklären ist. Auch Gilles Lalande kann nicht übersehen, daß der umfassende Einsatz kanadischer Truppen in der Provinz Quebec mit einer „militärischen Besetzung" verglichen worden ist und daß Rene Levesque das Ausmaß der Bundesentscheidungen zur Überwindung des Notstandes in Quebec scharf verurteilt hat
Es wäre wohl zu optimistisch, wollte man glauben, die kanadische Konföderation habe allein schon mit der Überwindung der Herbstkrisis von 1970 die Bewährungsprobe bestanden. Hierzu ist mehr erforderlich, vor allem der Nachweis, daß es sinnvoll und notwendig ist, die Einheit Kanadas zu wahren und zu festigen. Es fehlt nicht an entscheidenden Argu-menten für diese Einheit! Drei Gründe mögen besonders herausgestellt werden: 1. Die geographische Lage und die damit im Zusammenhang stehenden wirtschaftlichen Bedingungen.— Der St. Lorenz-Seeschiffahrts-weg verbindet die maritimen Provinzen, Quebec und Ontario, zu einer geographischen und ökonomischen Einheit. Wollte sich Quebec tatsächlich von seinen angiokanadischen Nadibarprovinzen im Westen und im Osten lösen, würde es schwere wirtschaftliche Einbußen erleiden. Die nur politische Sezession bei gleichzeitigem Fortbestehen der wirtschaftlichen Einheit würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so viele Gegensätze, Trennungslinien, Feindschaften, ja möglicherweise sogar eine bürgerkriegsähnliche Situation heraufbeschwören, daß darüber auch die Wirtschaftseinheit zerbräche, überdies kommen in der Nutzung der natürlichen Reichtümer an öl, Erdgas, Edelmetallen u. a. m. in den weiten arktischen Gebieten Aufgaben auf Kanada zu, die es nur erfüllen kann, wenn seine zehn Provinzen eine Einheit bilden. 2. Die Nachbarschaft zu den USA. — Kanada lebt — wie es am deutlichsten am Kapitalmarkt erkennbar ist — im Sog seines mächtigen Nachbarn im Süden. Ein geteiltes Kanada könnte sich diesem Sog wahrscheinlich nicht widersetzen. Will Kanada seinen eigenen „europäischen" Charakter, der sich vom amerikanischen „Schmelztiegel", von den Rassen-gegensätzen und von dem amerikanischen Republikanismus unterscheidet, bewahren, so muß es auf seinen staatlichen Zusammenhalt bedacht sein und auch die Bindungen an die britische Krone und das Commonwealth aufrechterhalten. 3. Das Gewicht der geschichtlichen Tradition, durch die bis in die persönlichsten Lebens-bezirke hinreichende Bindungen geschaffen wurden. — Die Teilung des Staates wäre zugleich auch die Teilung einer geschichtlich gewachsenen Einheit des Volkes. Am ärgsten betroffen wären Hunderttausende Franko-kanadier außerhalb der Provinz Quebec undHunderttausende Anglokanadier in der Provinz Quebec; sie würden als Minderheiten den bisherigen Rückhalt an ihrer jeweiligen groupe majoritaire weitgehend verlieren. Im Unterschied zur „separatistischen Ideologie", die bloße Theorie ist, kann der kanadische Föderalismus für sich in Anspruch nehmen, sich trotz mancher Schwächen geschichtlich bewährt zu haben, um das Verhältnis von Franko-und Anglokanadiern in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Diese Feststellung, die einer überzeugenden Aussage von Gilles Lalande folgt
Die kanadische Konföderation kann demnach ihre Bewährungsprobe nur bestehen, wenn ein dreifaches durchgreifendes Reformwerk bewerkstelligt wird, und zwar im sozialen, konstitutionellen und nationalen Bereich. Das ist im einzelnen zu begründen:
Das soziale Reformwerk Zwischen der Provinz Quebec und dem übrigen Kanada gibt es ein soziales Gefälle, das nur durch erhöhte Investitionen ausgeglichen werden kann. Die Arbeitslosenquote liegt in Quebec um 3 % über dem Bundesdurchschnitt (nämlich bei 8— 9%), nicht zuletzt auch als Folge der separatistischen Agitation. Denn diese hat viele . in-und ausländische Kapitalgeber von Investitionen abgehalten. Andererseits leistet die hohe Arbeitslosenquote und das — im Vergleich zum Bundesdurchschnitt — niedrigere Bruttosozialprodukt dem Separatismus Vorschub. So gesehen, lebt Quebec in einem „Teufelskreis" (Gerd Ruge). Die nationalistische Propaganda schadet der Wirtschaft; deren Schwächung wiederum gibt dem Nationalismus Auftrieb. Um diesen „Teufelskreis" zu durchbrechen, will der Ministerpräsident von Quebec, Robert Bourassa, in diesem Jahre 100 000 neue Arbeitsplätze schaffen. Dieser junge, dynamische liberale Politiker, der sich als Professor für Jurisprudenz, Sozial-und Wirtschaftswissenschaften einen Namen gemacht hat, mag befähigt sein, sein Versprechen einzulösen
Bourassa hat als Weg den „wirtschaftlichen Föderalismus" vor Augen. Durch Schaffung eines verbesserten Finanzausgleiches unter den zehn kanadischen Provinzen und mit Hilfe eines aus Bundessteuern zu speisenden Konjunkturfonds soll die Voraussetzung dafür geschaffen werden, daß mehr kanadische Dollar für Investitionszwecke nach Quebec fließen. In der gleichmäßigen Nutzung, Mehrung und Verteilung der Reichtümer Kanadas sieht Bourassa den hauptsächlichen Sinn für den staatlichen Zusammenschluß der zehn Provinzen zu einer engen Konföderation. Der politische Föderalismus muß also zugleich auch ein „wirtschaftlicher" bzw. „gewinnbringender" Föderalismus sein, der ein gleichmäßiges wirtschaftliches Wachstum und einen gleichmäßigen Ertrag für den einzelnen Bürger — unabhängig von der jeweiligen Steuerkraft der einzelnen Provinz — sicherstellt. Die kanadische Selbsthilfe muß der ausländischen Kapitalhilfe vorausgehen. Daß Bourassa natürlich um ausländische Investitionen, auch gerade aus der Bundesrepublik, bemüht ist, beweist seine Europareise im Frühjahr dieses Jahres, die die Reise des Bundesministers für Industrie und Handel, Jean-Luc Pepin, in die Bundesrepublik im April dieses Jahres ergänzt
Die konstitutionelle Reform Gegenüber den Tendenzen der Abkapselung und der Sezession muß sich der föderative Staatsgedanke durchsetzen. In Ottawa finden seit einigen Jahren regelmäßig Verfassungskonferenzen statt, die von der Bundesregierung in Ottawa und von den Provinzregierungen beschickt werden.
Bei diesen Beratungen geht es unter anderem darum, den vorliegenden Grundgesetzen der Britischen Nordamerika-Akte eine Revisionsklausel hinzuzufügen, die mit Zustimmung des Britischen Parlaments das Recht der Verfassungsänderung ausschließlich den gesetzgebenden Körperschaften Kanadas zuweist. Diese einzige konstitutionelle Bindung an das britische Parlament, die gegenwärtig in der Frage der Verfassungsänderung noch besteht, ist nicht deshalb schwer zu lösen, weil etwa britischerseits daran festgehalten wird. Vielmehr bereitet es bei den bisher in Kanada ausgearbeiteten Vorschlägen Schwierigkeiten, eine Formel zu finden, die — ohne einer Provinz Sonderrechte zuzubilligen — eine Majori-sierung der frankokanadischen Bevölkerung durch die Anglokanadier verhindert
Unbeschadet dieser rechtlichen Revisionsprobleme wird ausgiebig über eine Neugestaltung des Verhältnisses von Bund und Provinzen beraten, wobei Fragen der angemessenen Steuerverteilung einen breiten Raum einnehmen.
Ein Ende dieser Beratungen ist nicht abzusehen, und es ist nicht einmal möglich zu sagen, ob den vorliegenden Verfassungsgesetzen, insbesondere den British North America Acts, eine modifizierende Akte hinzugefügt wird, ob einer neugeschriebenen kodifizierten Gesamtverfassung der Vorzug gegeben werden soll und ob für die Provinz Quebec ein Sonderstatut zu verlangen ist. Erkennbar ist aber, daß die Reformvorstellungen auf eine Neubeiebung des föderativen Staats-gedankens hinauslaufen, auf dessen Grundlage sich allein — so Premierminister Bourassa — die frankokanadische Wirtschaft und Kultur entfalten können
Das Wesen des Föderalismus liegt bekanntlich in der Aufteilung der Kompetenzen zwischen einzelstaatlichen Regierungen und der Gesamtregierung, die zur Kooperation verpflichtet sind. Dadurch trägt der Föderalismus der regionalen Vielfalt eines Landes und zugleich seiner staatlichen Einheit Rechnung. Er gibt der Bevölkerung eines Landes Gelegenheit, im Sinne des Selbstverwaltungsgedankens unmittelbar am öffentlichen Geschehen und an der Wahl seiner leitenden Männer Anteil tu nehmen. Ferner stützt der Föderalismus die politische Freiheit, weil die Hauptgewalten im Staate, die exekutive, die legislative und die jurisdiktioneile Gewalt, nicht nur in der Vertikalen, sondern auch in der Horizontalen geteilt sind. Bei der konstitutionellen Reform in Kanada geht es eigentlich gar nicht in erster Linie um diese oder jene textliche Änderung der Verfassungsgesetze, sondern vielmehr darum, die Werte des Föderalismus — sie sind in der Zusammengehörigkeit von Freiheit und Föderalismus, von Einheit und Vielfalt (anstelle von Uniformität und einseitigem staatlichen Dirigismus) gegeben sind — deutlich zu machen.
Genau das geschieht unter der jetzigen Provinzregierung von Quebec. Der enge Mitarbeiter und Parteifreund des Ministerpräsidenten von Quebec, Gilles Lalande, weist darauf hin, wie anspruchsvoll die föderative Regierungsform ist, weil sie ständig auf der Suche nach tragbaren Kompromissen ist. Andererseits aber ist der Föderalismus seinem Wesen nach befähigt, die praktischen Probleme im Wirtschafts-und Sozialbereich in Angriff zu nehmen, hat er doch demokratisch legitimierte und miteinander kooperierende Instanzen auf verschiedenen Ebenen zur Verfügung
Die nationale Reform Bei Fortbestand der Nationalitäten, und zwar der englisch-und der französischsprachigen Kulturnation, muß der Prozeß der übergrei-fenden politischen Nationbildung im Sinne eines gesamtkanadischen Bewußtseins ermöglicht bzw. gestärkt werden.
Das eigenstaatliche Bewußtsein war anfänglich in den einzelnen angiokanadischen Provinzen so stark, daß etwa die kleine Prinz-Eduard-Insel, die nur reichlich doppelt so groß ist wie das Saarland, erst nach Jahren der Konföderation beitrat, obwohl seinerzeit in ihrer Hauptstadt die entscheidenden Verfassungsberatungen stattgefunden hatten. Die Gleichartigkeit der Sprache, Kultur, Religion, Lebensauffassung und die heute wesentlich erleichterten Kommunikationsmöglichkeiten (vor allem durch das Flugzeug, das in Kanada ein wesentlicher Verkehrsträger ist) haben die „angiokanadische Nation" entstehen lassen. Das führte dazu, daß die Anglokanadier nicht in „provinziellen Kategorien" denken und weit mehr als die Frankokanadier bereit sind, einzelstaatliche Entscheidungen den Bundes-organen in Ottawa zu übertragen, zumal in ihnen — rein zahlenmäßig — das anglokana-dische Element bei weitem überwiegt
Demgegenüber verstehen sich die Frankokanadier auch als eine Nation, und sie möchten aus der Provinz Quebec ihren „nationalen Staat“ machen, wie Daniel Johnson gesagt hat. Die von ihm ausgegebenen Parolen „faire du Quebec un Etat national“, „aspirer ü la souverainete“ („Gestalten wir Quebec um zu einem nationalen Staat", „Streben wir doch zur Souveränität!") können aber eine große Sprengkraft besitzen, wenn es nicht gelingt, diese Vorstellungen klar gegenüber dem Seperatis-mus abzugrenzen und einer übergreifenden politischen Nationbildung — bei Fortbestand der beiden Kulturnationen — Raum zu geben.
Dafür setzt sich — wie seine Amtsvorgänger — der heutige Ministerpräsident Bourassa mit Nachdruck ein; doch er nennt einleuchtende Voraussetzungen, die dafür erfüllt sein müssen: die absolute Gleichstellung der franzö-sisdien Sprache mit der englischen in den Bundesorganen (Regierung, Parlament, Oberste Gerichtshöfe, Streitkräfte u. a. m.) und die Vorrangigkeit der französischen Sprache in der Provinz Quebec. Seitdem Ministerpräsident Lester B. Pearson 1963 die Kgl. Kommission zur Untersuchung der Verhältnisse der beiden Sprachen und Kulturen eingesetzt hat, sind große Anstrengungen gemacht worden, in allen Bundesorganen auch die französische Sprache zur Geltung zu bringen. So hat heute die Bundeshauptstadt Ottawa auch nach außpn hin mehr den Charakter einer zweisprachigen Stadt, als es noch Anfang der sechziger Jahre der Fall war. Der Nachfolger von Pearson, der liberale Ministerpräsident Pierre Trudeau, verkörpert in seiner Person vorzüglich den angestrebten bilinguisme und biculturalisme, und er gibt wie viele Kanadier, die sich zur geistigen und politischen Elite des Landes rechnen, damit ein Vorbild ab. Heute dürften sehr viel mehr als nur 4 % der Anglokanadier die französische Sprache sprechen, wie es die letzte Erhebung von 1961 erwiesen hat
Um die führende Stellung der französischen Sprache in der Provinz Quebec sicherzustellen, muß sie auch zur herrschenden Sprache in der Arbeitswelt werden. Die Tatsache, daß das Kapital überwiegend in amerikanischer oder angiokanadischer Hand ist, hat dazu geführt, daß in den Betrieben Quebecs die leitenden Stellungen oft von Anglokanadiern besetzt sind und daß diese generell auf das Englische als Betriebssprache Wert legen. Diesen Tatbestand hält Bourassa — in Übereinstimmung mit wohl allen Frankokanadiern — für untragbar
Obwohl die kanadische Konföderation schon über hundert Jahre alt ist, steht der Prozeß der übergreifenden Staats-und Nationbildung noch an seinem Anfang. Wird dieser Prozeß mit Erfolg weitergeführt werden können? Es gibt Anzeichen, die bedenklich stimmen Und am Erfolg aller Reformanstrengungen — im sozialen, konstitutionellen und nationalen Bereich — zweifeln lassen können
Gerade in den geistig führenden Schichten Quebecs — so in den Universitätskreisen — gibt es Frankokanadier, die an eine grundlegende Verfassungsreform und an die Herstellung einer equal partnership unter allen Kanadiern nicht oder nicht mehr glauben, so etwa Jacques-Yvan Morin, Professor für Jurisprudenz und politische Wissenschaften an der Universität Montreal. Er befürwortet heute den „demokratischen und geordneten Weg“ zur Unabhängigkeit, während er noch vor einigen Jahren für ein Sonderstatut Quebecs als angemessener Form des „institutionalisierten Dualismus" eintrat; letzteres hieß seinerzeit: nach einem „Jahrhundert der Illusionen" sollte eine tatsächliche, von zwei Nationen getragene lose Konföderation geschaffen werden
Seguin stellt die Geschichtswissenschaft in den Dienst ganz einfacher, aber letztlich unbewiesener Thesen: Das zahlenmäßig schwächere Volk sei in einer Föderation immer ein „annektiertes“ Volk. Die „anglo-amerikanische Eroberung" um 1760 sei als „furchtbarste Katastrophe" über das französische Kanada hereingebrochen. Die Unabhängigkeitsbewegung der Gegenwart gehe von der „geschichtlichen Realität" des vor 1760 gegebenen „Separatismus" aus, der verstanden wird als das Alleinsein der Frankokanadier in ihrem Lebensraum. Aufgrund der britischen Eroberung seien sie der Möglichkeit beraubt worden, einen echten .französischen Staat" in Nordamerika zu bilden. Die Selbstverwaltung Quebecs in der Konföderation von 1867 sei eine zeitbedingte „Zwischenlösung", um mit Hilfe der britischen Krone dem Übergriff der USA zu entgehen. Aber die Rückkehr des französischen Kanada zum Etat separe bleibe die geschichtliche Aufgabe
Hier fließen in die Betrachtung des geschichtlichen Weges Kanadas seit dem 18. Jahrhundert so viele Emotionen und Aversionen ein, daß eine rationale Auseinandersetzung mit der Schrift, wie sie Professor Gilles Lalande ver-sucht hat, den Autor selbst wohl niemals von seinen Vorstellungen abbringen wird. Aber gewiß trägt Lalande dazu bei, die Wirkung einer solchen Schrift zu mindern
In dieser kritischen Auseinandersetzung, die viel Beifall gefunden hat,
Schließlich ist auch das folgende nicht zu übersehen: Sowohl die Untersuchungsergebnisse der Kgl. Kommission als auch die von nur wenigen Terroristen herbeigeführte Staatskrise im Herbst 1970 haben viele Kanadier wachgerüttelt. Der Säkularisierungsprozeß, der bei den Franko-und bei den Anglokanadiern gleichermaßen zu beobachten ist und gewiß seine bedauerlichen Seiten hat, vermindert andererseits den starken Einfluß des konservativen katholischen Klerikalismus bzw.des protestantischen Puritanertums auf das öffentliche Leben — und auch aus diesem Grunde ist es denkbar, daß sich die angiokanadische und die frankokanadische Gesellschaft einander stärker angleichen, als das bisher geschehen konnte. Wenn die Doppelsprachigkeit des Landes die Chancengleichheit im gesamten beruflichen Leben ermöglicht und wenn eine wechselseitige Überfremdung kultureller oder weltanschaulicher Art nicht mehr befürchtet wird, kann endlich die fruchtbare Begegnung von Anglound Frankokanadiertum stattfinden.
Noch steht die kanadische Konföderation in der Bewährungsprobe. Diese kann erst als bestanden gelten, wenn die Gründe, die für die staatliche Einheit Kanadas sprechen, wenn die soziale Disparität im Lande überwunden ist, der Föderalismus die innerstaatliche Kooperation garantiert und der Prozeß der übergreifenden Nationsbildung gelingt. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, eröffnen sich dem in sich gefestigten Kanada große politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Möglichkeiten; wie kaum ein anderer Staat dieser Erde ist Kanada „ein Land der Zukunft". Wenn Kanada als ein Land und als eine politische Nation, die die beiden Kulturnationen umschließt, seine Kräfte zu entfalten und sein großes internationales Ansehen zur Geltung zu bringen vermag, dann kann es nach Ansicht des Geschichtsprofessors Ballantyne aus Montreal