Die Literatur über den Imperialismus, seine Erscheinungsformen wie über seine Ursachen, ist Legion
Im folgenden wird unter Imperialismus die außereuropäische Expansion der europäischen Mächte vom Beginn der 1880er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg verstanden. Die bisher von der Forschung entwickelten Versuche zur Erklärung dieses Phänomens der europäischen Geschichte sollen in vier Gruppen zusammengefaßt werden: 1. in die ökonomische,
Kurt Jürgensen Der Nationalitätenkonflikt in Kanada .. S. 13
Hobson faßte den also nur partikularen Interessen dienenden Imperialismus nicht als unausweichliche Folge der Probleme der industriellen Produktion auf; er war vielmehr der Meinung, daß die Einkommensverteilung reformiert werden könne, indem man die Kaufkraft der Arbeiterschaft durch höhere Gewinnbeteiligung an der industriellen Produktion hebe. Damit hat Hobson die Alternative So-Abdruck einer Probevorlesung, gehalten am 21. Dezember 1970 vor der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, versehen mit den wichtigsten Belegen. zialreform oder Imperialismus klar erkannt und formuliert. Er hat durch den Hinweis auf die Expansionsfähigkeit des Binnenmarktes auch die von Politikern immer wieder zur Rechtfertigung ihrer imperialistischen Politik gebrauchte Argumentation, daß Kolonial-erwerb zur Absatzsteigerung und zur Kapitalanlage lebensnotwendig sei, in Frage gestellt.
In dieser Lösung des Problems unterschied sich der Liberale Hobson von den neomarxistischen Imperialismustheoretikern seiner Generation, besonders von Lenin, die gleichwohl in der Analyse der imperialistischen Politik dem englischen Publizisten folgten. In Lenins 1916 in der Schweiz entstandenen Schrift „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus"
In dieser von Rosa Luxemburg
Lenins Imperialismus-Interpretation wird heute noch vertreten, nicht nur weil sie zum Dogma erstarrt ist, sondern weil sie eine geradlaufende und scheinbar überzeugende Erklärung für ein schier unentwirrbares Problem anbietet. Solange man sie nicht mühseliger historischer Verifizierung unterzieht, bleibt ihre Überzeugungskraft bestehen. Indem Hobson und Lenin jedoch die unbezweifelbare territoriale Ausbreitung der europäischen Staaten in Übersee mit der ebenso unbezweifelbaren Zunahme des europäischen Kapitalexports in ursächlichen Zusammenhang brachten, vollzogen sie trotzdem einen logischen Salto mortale.
Wie steht es mit den historischen Tatsachen? Nur die wichtigsten seien hier angeführt
Wir wissen seit kurzem auch sehr genau, daß dies keineswegs auf Initiative der Bank-und Geschäftswelt, sondern unter staatlichem Druck geschah
Die Kritik hat an verschiedenen Stellen anzusetzen. Ich will nur drei Punkte herausgreifen. Was zunächst den Wert von Wehlers „kritischer Theorie" betrifft, so ist er vorab in einem der von ihm aufgestellten Kriterien äußerst zweifelhaft. Es ist methodisch unzulässig, Bismarcks Sozialimperialismus — selbst unter der Voraussetzung, daß man ihn als adäquate Erklärung für die deutschen Verhältnisse akzeptiert — gleichsam zu internationalisieren, indem man anhand einiger Zitatfetzen den englischen, französischen und amerikanischen Imperialismus — vom russischen, japanischen, belgischen, italienischen usw. ganz zu schweigen — als Ausprägungen eines und desselben Phänomens ansieht
Von zentraler Bedeutung für Wehlers These ist sein Imperialismusbegriff. Er ist einerseits zu weit gefaßt und läßt sich daher fast beliebig aufblähen, anderseits ist er zu eng und einseitig. Wehler definiert Imperialismus als „diejenige direkte-formelle und indirekte-in-formelle Herrschaft [... ], welche die okzidentalen Industriestaaten unter dem Drude der Industrialisierung mit ihren spezifischen ökonomischen, sozialen und politischen Problemen und dank ihrer vielseitigen Überlegenheit über die weniger entwickelten Regionen der Erde ausgebreitet haben"
Einseitig und problematisch erscheint mir schließlich auch Wehlers Bewertung der wirtschaftlichen Trendperiode von 1873 bis 1896 zu sein. Wehler orientiert sich zu eng an dem Vokabular der zeitgenössischen Quellen und der ihr folgenden Forschung. Der von England herrührende, auf die genannte Trendperiode angewandte Begriff der „Großen Depression" vermittelt heute jedoch ein unhistorisch einfarbiges Bild, weil er unverwischbar von dem durch und durch schwarzen Bild der Weltwirtschaftskrise von 1929 gefärbt erscheint. Wehler selbst zieht letztere — vor allem als methodologische Rechtfertigung für den Ausgangspunkt seiner „kritischen Theorie" — für sein Vorgehen auch direkt heran
Die dritte, sozialpsychologische Theorie des Imperialismus ist eigentlich keine streng logisch aufgebaute, klar umgrenzte Gedanken-konstruktion, sondern ein umfangreicher Motivkomplex, den es aus den Tiefen der National-und Sozialpsychologie oder, um einen allgemeineren Begriff zu nehmen, aus dem Zeitgeist herauszuheben gilt.
Joseph Schumpeter hat Imperialismus als Ausdruck einer kriegerischen Sozialstruktur aufgefaßt, die mit dem Wesen des Kapitalismus, der an sich friedlich sei, nichts notwendig gemein habe. Imperialismus sieht er überall dort in der Geschichte verwirklicht, wo in einem Gemeinwesen die Kriegerkaste dominiere und ihre Daseinsberechtigung in ständigem Kampf gegen äußere Gewalten erblicke. Als die klassischen Beispiele eines derart verstandenen Imperialismus zieht er die Expansionsbewegungen der ägyptischen, assyrischen, persischen, arabisch-mohammedanischen Krieger-gesellschaften und in der abendländischen Welt besonders den absolutistischen Fürsten-staat heran. Der moderne Imperialismus sei ein Restbestand solcher vergangenen Zeiten — ein Atavismus, der in die Gegenwart handlungsbestimmend hineinwirke. Schumpeter glaubt — ich zitiere aus seiner 1919 erschienenen Schrift „Zur Soziologie der Imperialismen"
Abgesehen von den zahlreichen Schwierigkeiten, die sich bieten, wenn man an eine empirische Nachprüfung dieser Theorie geht, hat sie immerhin den Wert, daß sie grundsätzlich auf das Irrationale in dem Vorgang der europäischen Ubersee-Expansion hinweist. Es ist methodisch gewiß nicht leicht, die kaum wägbaren psychologischen Ingredienzen des Imperialismus zu analysieren und vor allem ihren Einfluß auf die handelnden Staatsmänner herauszuschälen. Doch die Bedeutung folgender Thesen dürfte im allgemeinen nicht zu bestreiten sein.
Das Motiv, das in jeder Nation die imperialistische Politik direkt oder indirekt ausgelöst hat, ist „eine jeweils besondere nationale Lage" (Th. Schieder). Das Jahr 1870/71 bildet in diesem Zusammenhang eine Zäsur. Brun-schwig hat vor zehn Jahren nachzuweisen versucht, daß Frankreich durch die Niederlage gegenüber Deutschland zu forcierter überseeischer Expansion getrieben worden sei
Imperialistische Politik setzt also eine imperialistische Gesinnung voraus, „ein Denken, das die Ausdehnung über die Welt für notwendig und wünschenswert hält und in ihr einen schicksalhaften Auftrag der Europäer sieht“
Ein unübersehbares Element in diesem Bewußtsein ist der Sozialdarwinismus. Er war eine Popularphilosophie von heute schwer faßbarem Einfluß. Ihn gilt es einmal im politischen Entscheidungsprozeß umfassend nadizuweisen 18a). Nicht nur ganze Wissenschaftszweige gerieten in seinen Sog (wie die Soziologie); der Machtkampf der Gruppen (ich erinnere an Schlagworte wie „Kampf ums Dasein", „überleben des Stärkeren") wurde allgemein als ein Grundgesetz der Menschheitsgeschichte angesehen. Seine Verbindung zum Imperialismus ist sofort einsichtig: Er rechtfertigte die rücksichtslose Behandlung der „niederen Rassen" und die Nichtachtung oder Zerstörung der in den Kolonien vorgefundenen andersartigen Kultur-und Sozialformen. Daß er nicht ohne Einfluß auf den handelnden Politiker (besonders in England) war, zeigt das Beispiel Salisburys, der von den „dying nations" sprach; zeigt schließlich die Generation Wilhelms II., Theodore Roosevelts, Crispis, Leopolds II.
Selbstverständlich wurde der Sozialdarwinismus auch als herrschend in den Beziehungen der europäischen Völker untereinander anerkannt und erklärt daher zu einem guten Teil die Übersteigerung des Nationalismus und des Prestigebedürfnisses der einzelnen Kolonialmächte. (Man denke nur an den Sport oder, wenn man will, den Kult des Flaggenhissens — damals auf irgendeinem Südsee-Atoll oder in einer Wüsten-Oase, heute in einem Mondkrater.) Schließlich gehören in diesen Zusammenhang auch Urtriebe des Menschen wie Forschergeist, Eroberungsdrang und Abenteurerlust der Kolonialpioniere — Phänomene, die unabdingbare Voraussetzungen für den okzidentalen Imperialismus gewesen sind, mit Monopolkapitalismus oder „Sozialimperialismus" aber kaum etwas zu tun haben. Nur mit den mächtigen Geistesströmungen der Zeit läßt sich der Einfluß des größenwahnsinnigen Carl Peters auf die öffentliche Meinung in Deutschland, lassen sich das hiero-phantische Gebaren um den Leichnam eines David Livingstone, das Zittern fast einer ganzen Nation um den totgeglaubten Emin Pascha und die schrillen Töne der „gelben Presse" nach der Tragödie Gordons vor Khartum hinreichend erklären.
Die Eroberung der meisten nach 1880 noch bestehenden weißen Flecken auf der Erde bis hin zum Südpolargebiet ist nicht ohne national-und sozialpsychologische Faktoren wie Kompensationsbedürfnis, Prestigeverlangen, Rivalität und elementaren Forscherdrang auszudeuten. Der Faktor der Rivalität führt uns zu unserem vierten und letzten Erklärungsversuch des Imperialismus, dem politisch-historischen. Er ergibt sich aus der unverkennbaren Kontinuität der europäischen Kolonialgeschichte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert
Obwohl die Motive für die Bildung und den Erwerb von Kolonien in den vier Jahrhunderten seit den ersten portugiesischen Entdeckungen außerordentlich vielschichtig sind, kann man sie in zwei allgemeine Kategorien zusammenfassen. Zuerst einmal gab es das rein wirtschaftliche Motiv, das Ziel, einen für das Mutterland gewinnbringenden Handel in Gang zu setzen; eine Kolonie wurde gleichsam als Milchkuh angesehen. Typischer Ausdruck die-ses Bestrebens war die Faktorei, die zumeist an der Küste der fremden Kontinente entstand. Diese Handelsniederlassung hatte die Tendenz, sich ins Hinterland auszudehnen, sofern Gründe militärischer Sicherheit, der Schutz der Eingeborenen in den Grenzräumen oder die Notwendigkeit besserer Verwaltung es erforderten.
Der fließende Übergang zur zweiten Kategorie von Beweggründen für Kolonialerwerb wird hieran bereits deutlich. Für die Merkantilstaaten des 17. Jahrhunderts — und das trifft in ganz besonderem Maße auf Frankreich zu — waren Gewinn und Erhaltung politischer Macht und Größe ebenso wichtig wie die Si-
cherung wirtschaftlicher Vorteile. Im 18 Jahrhundert ist Kolonialpolitik großenteils der Reflex des Hegemoniekampfes zwischen England und Frankreich. Der Kampf um die territoriale Vorherrschaft in Indien und Nordamerika war mehr das Ergebnis politischer als rein wirtschaftlicher Rivalität. Die Entscheidung Englands von 1763, Kanada für das blühende Guadeloupe einzutauschen, mag als Hinweis für den Primat der Politik genügen.
Daß im 19. Jahrhundert bis in die siebziger Jahre der Freihandel die Beziehungen der europäischen Mächte zu den Kolonien, das heißt vor allem zum Britischen Empire kennzeichnet (England wurde mit einem „aufgeblasenen Quäker" verglichen „rubbing his hands at the roaring trade") und daß in England ein anti-imperiales Bewußtsein herrschte, mag der Grund dafür gewesen sein, daß Hobson und seine Epigonen die Diskontinuität zwischen dem imperialistischen Zeitalter und der Epoche davor so scharf hervorhoben. Doch in Wirklichkeit war nur ein kurzfristiger Wechsel in den Methoden überseeischer Reichsbildung eingetreten Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts zeugt von einer Rückkehr zur antagonistischen Expansion des 18. Jahrhunderts. Imperialistische Politik ist insofern, als Fortsetzung der europäischen Großmächtepolitik, kein neuartiges Phänomen. Und diese antagonistische Struktur des Imperialismus ist keine beiläufige, „sondern eine fundamentale Erscheinung" (Th. Schieder). Nur der Kreis der Konkurrenten wurde jetzt größer. Dieser Umstand erklärt besser als alles andere die Beschleunigung, ja Hektik der imperialistischen Expansionsbewegung, die durch den schon zeitgenössischen Ausdruck „scramble" treffend gekennzeichnet ist, der sowohl „Wettlauf, aber halsbrecherischer, als auch „Balgerei, Rauferei" bedeutet. Man kann sagen, daß überseeischer Territorialerwerb spätestens seit 1885, nachdem durch die Einrichtung internationaler Konferenzen eine diplomatische Kolonialbörse, auf der man Kolonien handelte, geschaffen worden war, in erster Linie durch den Faktor der Mächterivalität zustande gekommen ist, durch das ständige Spiel des Preavenire, durch einen „preclusive imperialism" — ich erinnere an Fashoda, die ernsteste Krise der Kolonialpolitik. Im Gegensatz zu Hobson erkennt man somit, daß gerade die Existenz der verschiedenen bislang als lästig empfundenen „pressure groups" als diplomatische Trumpfkarte verwendet wurde, ließen sie sich doch als willkommene Rechtfertigung für koloniale Ansprüche gebrauchen. Hinzu trat dann bald als mächtige Wirkkraft der mystische Glaube an den Wert eines überseeischen Reiches, ein Glaube, den man nur schwer in Hülle und Kern wird zergliedern können.
Ich komme zum Schluß und gestehe, daß ich der zuletzt angedeuteten Erklärungsmöglich-keit den Vorzug vor allen anderen gebe; denn sie bietet die klarste Inhaltsbegrenzung des Imperialismusbegriffes. Versucht man, Imperialismus von politisch-territorialer Kontrolle zu trennen, gerät die historische Substanz ins Schwimmen
Imperialismus sollte m. E. synonym für die politisch-territoriale Aneignung und Angliederung der noch nicht beherrschten Regionen der Welt durch die okzidentalen Mächte gebraucht werden. Wenn man ihn wesentlich anders definiert und Begriffe wie Finanzimperialismus und Sozialimperialismus einführt, gelangt man rasch zur Inflation, das heißt zur Entwertung des Imperialismusbegriffs. Wenn Imperialismus irgendeine vage Form der Einmischung von Geschäftsleuten und Bankiers in die Angelegenheiten eines anderen Landes sein soll oder wenn man ihn als Konflikt-ideologie auffaßt, soll man ihn getrost auf andere Formen von Beeinflussung und Manipulation ausdehnen. Man muß dann aber auch konsequenterweise die Existenz von Erscheinungen wie Kulturimperialismus, Religionsimperialismus, Gesinnungsimperialismus usw. postulieren. Ich persönlich ziehe mit dem amerikanischen Historiker Langer die Verwendung eines meßbaren, handlichen Imperialismusbegriffs seiner Expansion in diesem Sinne vor. Dabei ist es selbstverständlich, daß die Ursachen der imperialistischen Politik zwischen 1880 und 1914 in einem höchst komplexen Wirkungsfeld interdependenter Kräfte liegen.