„Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sitten-schule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“ Hölderlin, Hyperion
I. Einführung
Nadi dem Untergang der nationalsozialistischen Herrschaft und der Aufdeckung der im Namen des deutschen Volkes begangenen Verbrechen trat, wie stets in Zeiten des Um-bruchs, das Verhältnis von Recht und Sittlichkeit in den Vordergrund rechtsphilosophischer und rechtswissenschaftlicher Untersuchungen. Konnte der Rechtswissenschaftler Georg Jellinek zu Ausgang des letzten Jahrhunderts dieses Thema noch als unjuristisch von sich weisen, ohne entschiedene Kritik unter den Juristen hervorzurufen, so wurde der gleichen Fragestellung in der deutschen Rechtswissenschaft nach der Pervertierung des Rechtsverständnisses während des Dritten Reiches grundsätzliche Bedeutung zuerkannt.
Die Erfahrung der Ohnmacht des Rechts in einem totalitären System hatte die im Vertrauen auf die Durchsetzungskraft und Widerstandsmacht des Rechts erzogenen Juristen in eine geistige Krise gestürzt, in der sie meinten, neue Hoffnungen nur noch aus dem Glauben an ein verbindliches „übergesetzliches Recht" schöpfen zu können. Die Verzweiflung über die vermeintlichen Konsequenzen ihres rechts-positivistischen Denkens hat sie dazu bewogen, das Heil nunmehr in den Lehren des Naturrechts zu sehen. Dieser Wandel wird bei keinem geringeren Rechtsgelehrten deutlich als dem Rechtsphilosophen Gustav Radbruch, der als repräsentativer Vertreter des Gesetzespositivismus unter dem Eindruck der grausamen und verbrecherischen Gesetze des nationalsozialistischen Staates sich dem Naturrechtsdenken zuwandte. In einer solchen historischen Situation ist es nicht verwunderlich, wenn das Naturrechtsdenken des vorigen Jahrhunderts Wiederauferstehung feiern konnte.
Damit nahm in der Bundesrepublik eine Rechtsentwicklung ihren Anfang, die jene durch den Rechtspositivismus wissenschaftlich widerlegten Lehren des naturrechtlichen Denkens wiederaufgreift, ohne sie einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Noch von der Un-sittlichkeit der eben erst abgeschüttelten staatichen Gewaltherrschaft tief betroffen, versuch-ten die Väter des Grundgesetzes, häufig durch eigenes Leiden belehrt, eine Wiederholung ähnlicher Zustände in der Zukunft zu verhindern. Derartige Mißachtungen des Menschen im Namen des Rechts auszuschließen, war das Grundbestreben des Verfassunggebers. Das sollte nicht nur durch die verfassungsrechtliche Anerkennung der Menschenwürde als Grundentscheidung der neu geschaffenen Staatsordnung sichergestellt werden, sondern auch durch die Bindung allen Rechts an das Sittengesetz. Trotz einiger Bedenken gegen den „engstirnigen Sittenrichter" war man sich in der abweisenden Haltung gegen den Rechts-positivismus der Weimarer Zeit und das „völkische" Rechtsideal der nationalsozialistischen Epoche grundsätzlich einig und auch allgemein davon überzeugt, daß ein ausdrücklicher Hinweis auf das „ethische Grundgesetz" unumgänglich sei, weil in der Rechtsnorm selbst ihr sittlicher Gehalt nur selten richtig zum Ausdruck gebracht werden könne. Auch erschien es selbstverständlich, die Grundrechte als „vorund überstaatliche Rechte", als „in der Natur und dem Wesen des Menschen angelegte Rechte", als „natürliche gottgewollte Rechte" oder „vorverfassungsrechtliche Grundrechte" zu deuten.
Diese Wiederkehr des Naturrechts haben die deutschen Gerichte, angeführt vom Bundesgerichtshof, in starkem Maße gefördert. Ihre Rechtsprechung hat in der Rechtswissenschaft teilweise überschwengliche Zustimmung gefunden und ist nur auf geringen grundsätzlichen Widerstand gestoßen. Allerdings ist dieses allgemeine Bekenntnis zum Naturrecht, das auch noch heute als vorherrschende „Ideologie" der deutschen Rechtswissenschaft angesehen werden kann, bei näherer Betrachtung äußerst brüchig, verbergen sich doch hinter diesem Naturrechtsbegriff, an dessen Stelle heute mitunter auch die „Natur der Sache" gesetzt wird, die unterschiedlichsten Strömungen. Sie reichen von aristotelisch-thomistisehen Lehren über die kantischen und hegelianischen Traditionen bis hin zu den Lehren der neuen historischen Rechtsschule, der materialen Wertethik von Max Scheler und Nicolai Hartmann und dem „realen Humanismus".
Die Vielzahl der Quellen, aus denen das Streben nach einer Rechtserneuerung gespeist wurde, wie es die Rechtswissenschaft der Nachkriegszeit kennzeichnet, konnte nicht ohne Auswirkung auf Begriff und Verständnis des in Art. 2 des Grundgesetzes genannten Sittengesetzes bleiben. Bereits die Schöpfer des Grundgesetzes hatten sich über dessen materiellen Inhalt nicht einigen können, da sich unter ihnen Vertreter der verschiedensten Weltanschauungen befanden. Deshalb mußte sich die Aufnahme des Sittengesetzes in das Grundgesetz von vornherein als ein dilatori-scher Formelkomprömiß erweisen, den anwendbar zu machen der Rechtsprechung und Wissenschaft aufgegeben wurde. Hierbei muß davon ausgegangen werden, daß einmal die Bindung des Gesetzgebers an das Sittengesetz bezweckt war, so daß sittenwidrige Gesetze unter dem Grundgesetz keine Anwendung finden sollten. Zum anderen ist das Grundrecht der Entfaltung der Persönlichkeit durch das Sittengesetz beschränkt worden, so daß der Freiheit des einzelnen von der Moral her rechtliche Schranken gezogen werden. Diese Polarität von Freiheit und sittlicher Bindung hat in der Rechtspraxis erhebliche Bedeutung erlangt. Ihren Beziehungen unter dem Grundgesetz soll deshalb nachfolgend die größere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
II. Sittlichkeit und Recht
1. Die allgemeinen Beziehungen In Zeiten gefestigter Moralanschauungen innerhalb einer Gesellschaft herrscht dort gewöhnlich die Überzeugung vor, Recht und Moral seien untrennbare Teile einer — und zwar der gerade herrschenden — menschlichen Ordnung. Eine solche Gesellschaft wird es für selbstverständlich halten, den Bestand ihrer sittlichen Vorstellungen gegen Außenseiter durch Rechtsnormen abzusichern, und dadurch weitgehende inhaltliche Übereinstimmung von Recht und Moral erreichen. Hier geht die Moral im Recht auf; das Recht ist, wie der Ungar Berna Horvath lehrt, „erstarrte Moral". Dagegen wird in den Zeiten des Umbruchs moralischer Wertvorstellungen die Identität von Recht und Sittlichkeit regelmäßig von den Neuerern geleugnet. Mit ihren neuen sittlichen Vorstellungen müssen sie nicht nur zwangsläufig in Widerspruch zu den überkommenen moralischen Anschauungen geraten, sondern auch mit solchen Rechtsnormen kollidieren, die dem Schutz der überholten Moralgrundsätze zu dienen haben. Das kann zu unerträglichen Spannungen innerhalb der Gesellschaft führen, die häufig nur durch eine „Entsittlichung" des Rechts gelöst werden können. Ein solcher Vorgang vollzieht sich gegenwärtig in der Bundesrepublik auf dem Gebiete des Sexualstrafrechts. Hier haben sich die Wandlungen in der Beurteilung dessen, was Unzucht ist, vorerst ausschließlich in der Moralordnung vollzogen, ohne daß sie unmittelbar auf das Recht eingewirkt haben. Da die neuen sittlichen Ansichten über eine Interpretation der bestehenden Gesetze keinen Eingang in das Recht fanden, vielmehr auf den Widerstand einer verhärteten höchstrichterlichen Rechtsprechung stießen, die auf einem von überholter Sexual-moral aufgestellten Recht beharrte, mußte die „Reprivatisierung" der Moral gefordert werden. Diese an den Gesetzgeber gerichtete Forderung könnte auf dem Wege der Gesetzesänderung teilweise verwirklicht werden. Änderungen in den Moralvorstellungen können aber auch die gegenteilige Entwicklung hervorrufen. Häufig wird versucht, die Wandlung ethischer Anschauungen zu unterbinden, indem die gefährdeten moralischen Normen zu Rechtsnormen erhoben und dem Schutz der Rechtsordnung unterstellt werden. Solche Veränderungen in den Beziehungen zwischen Recht und Sittlichkeit vollziehen sich vor allem dort, wo die Überzeugungskraft der sittlichen Ordnung allein nicht mehr ausreicht, das Zusammenleben der Mitglieder einer Gesellschaft zu bestimmen, so daß sie regelmäßig zum Schutz der Herrschenden mit den Machtmitteln des Staates konserviert wird.
Die Befreiung des Rechts von bestimmten moralischen Überzeugungen ist im allgemeinen nur vorübergehender Natur. Die historische Erfahrung zeigt, daß die neuen sittlichen Normen über kurz oder lang das Recht beherrschen und es neu „moralisieren". Dieser Prozeß läßt sich sehr deutlich an Hand der Entwicklung bestimmter Rechtsgebiete in den sozialistischen Staaten nachweisen. Gerade diese Staaten haben mit großer Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit das eben von bürgerlicher Moral befreite Recht durch eine sozialistische Ethik neu aufgefüllt: Hier sei nur auf das Familiengesetzbuch (FGB) der DDR verwiesen, in dessen ursprünglich vorgesehener Präambel hervorgehoben wurde, daß die Familienbeziehungen von den Grundsätzen der sozialisti sehen Moral geprägt seien. Auf diese Intention des Gesetzgebers hat der Justizminister in seiner Rede zur Begründung des FGB vor der Volkskammer ausdrücklich mit folgenden Worten hingewiesen: „Im Gesetz wird die für das Familienrecht besonders typische sehr enge Verflechtung zwischen Moral und Recht deutlich.“ „Eine solche Verflechtung von Recht und Moral ist nur möglich, weil — wie der Bericht des Politbüros der SED feststellt — die DDR ein sauberer Staat ist, in dem es unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral, des Anstandes und der guten Sitten gibt“ (NJ 1966, 1). Darüber hinaus werden alle Beziehungen der Bürger, wie Art. 19 Abs. 3 der DDR-Verfassung ausdrücklich hervorhebt, „durch die Grundsätze sozialistischer Moral geprägt".
Die sich ständig abwechselnden Perioden eines stark moralischen Rechts und einer weitgehend entsittlichten Rechtsordnung zeigen deutlich eine tatsächliche Verbindung von Recht und Moral. Rechtspflichten werden aus moralischen Gründen eingeschränkt oder neu geschaffen, sei es unmittelbar durch ausdrückliche Gesetzesänderung oder durch Gesetzesinterpretation auf der Grundlage neuer Wertvorstellungen. Insoweit besteht ein unleugbarer Zusammenhang zwischen Recht und Moral.
Das Problem einer normativen Trennung oder Verbindung von Sittlichkeit und Recht kann allerdings nicht durch eine empirische Untersuchung geklärt werden. Aus der tatsächlichen Einwirkung der Moral auf das Recht folgt nicht schon, daß die Rechtsordnung Teil der Sittenordnung ist. Ebenso kommt den durch die Erfahrung häufig festgestellten Antinomien von Rechtsnorm und Moralvorschrift keine Beweiskraft für die Trennung von Rechts-und Moralordnung zu. Durch eine Beschreibung solcher Beziehungen kann lediglich das wirkliche Verhältnis zwischen Recht und Moral, wie es in einer bestimmten geschichtlichen Situation besteht, geklärt, dagegen keine normative Trennung oder Verbindung nachgewiesen werden.
Die Frage nach einer normativen Trennung oder Verbindung von Recht und Moral hat nicht nur akademische Bedeutung. Im Gegenteil kommt ihr deshalb ein erheblicher praktischer Wert zu, weil die Rechtsprechung der Moralordnung im Gewand des Natur-rechts Vorrang gegenüber dem positiven Recht einräumt und hieraus für das menschliche Zusammenleben solche konkreten Folgerungen zieht wie das Verbot des Geschlechtsverkehrs außerhalb der Einehe. Eine Untersuchung über die Beziehungen von Grundgesetz und Sittengesetz muß deshalb vorab die Grundsätze der Beziehungen von Recht und Sittlichkeit klären. Der Gedanke einer Trennung von Recht und Moral ist verhältnismäßig jung. Noch bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts bestand die insbesondere auf die Scholastik zurückzuführende allgemeine Überzeugung, daß das Recht ein Teil der sittlichen Ordnung sei. Erst Christian Thomasius hat durch seine Unterscheidung des sittlich Guten (honestum) vom Ge-rechten (iustum) in seinem epochemachenden Werk „Fundamenta iuris naturae et gentium" die Trennung von Sittlichkeit und Recht eingeleitet. Kant hat den Gedanken einer Unterscheidung von Rechts-und Tugendlehre aufgegriffen und in der „Metaphysik der Sitten" vertieft. Diese Theorie hat Fichte in der „Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaft" vervollständigt.
Die Trennung von Recht und Sittlichkeit gehört auch, zum Credo der Rechtspositivisten. Wenn jedes Gesetz, das — der Verfassung entsprechend — erzeugt worden ist und durchgesetzt wird, Recht ist, so ist, wie Bergbohm in „Jurisprudenz und Rechtsphilosophie" ausdrücklich zugesteht, auch das „miserabelste" Gesetz Recht. Wert oder Unwert des Gesetzes ist danach keine Rechtsfrage mehr, sondern allenfalls ein ethisches Problem, da die Beurteilung der „materiellen Güte“ gesetzten Rechts eines außerrechtlichen Maßstabs bedarf. Diese Vorstellung hat in dem berühmten Wort des jüngeren Radbruch, der Richter habe „den Befehlen eines Paranoikers, der sich König dünkt, zu folgen", ihre eindringlichste Formulierung gefunden. Dagegen wird die Identität von Recht und Sittlichkeit noch heute von den Vertretern des Naturrechts behauptet. Sie sehen den Zusammenhang zwischen Rechtsgesetz und sittlicher Ordnung vornehmlich darin, daß das Rechts-gesetz auch eine sittliche Pflicht begründe und im Sittengesetz seine Verpflichtungsgrundlage und unübertretbare Schranke finde. Die Verbindlichkeit und der Inhalt der grundlegenden Rechtsnormen gründen sich nach diesen Vorstellungen auf das Sittengesetz.
Das Problem der Abhängigkeit der Rechts-regeln von den Moralvorschriften hat danach zwei wesentliche Aspekte: den der strukturellen Verschiedenheit bzw. Einheit von Rechts-und Sittlichkeitsnorm und den der Rangordnung von Recht und Sittlichkeit. Beide Gesichtspunkte sollen nachfolgend näher untersucht werden. 2. Der Dualismus von Sittlichkeit und Recht Eine Analyse der Entwicklungsgeschichte gesellschaftlicher Ordnungsgefüge, wie sie von Theodor Geiger in seinen „Vorstudien zu einer Soziologie des Rechtes" durchgeführt wurde, zeigt, daß zwischen Recht und Moral ein genetischer Zusammenhang besteht. Beide sozialen Ordnungsformen haben historisch eine gemeinsame Wurzel in der kommunitären Ordnung, aus der heraus sie sich zu besonderen Arten gesellschaftlicher Regeln entwickelt haben. Ihrer geschichtlichen Entstehung kann hier nicht nachgegangen werden, jedoch müssen ihre Begriffsmerkmale bestimmt werden, um das gegenwärtige Verhältnis von Recht und Moral festzustellen.
Die noch heute vorherrschende Meinung bemißt die Zuordnung einer sozialen Regel zum Recht oder zur Moral in Anlehnung an Thomasius und Kant nach ihrer Erzwingbarkeit. Danach sei äußerer Zwang ein Merkmal des Rechts, wohingegen das moralische Gesetz durch den in der Vernunft begründeten inneren Zwang gekennzeichnet sei. Hierbei wird allerdings übersehen, daß eine Vielzahl von Sollensanordnungen sowohl durch innere als auch durch äußere Macht erzwingbar ist und auch erzwungen wird. Auch gibt es Rechtsnormen, die — wie etwa viele Verfassungsnormen — unerzwingbar sind. Deshalb ist das Unterscheidungsmerkmal nicht in der Art des inneren und äußeren Zwanges, sondern in der Gestalt des Zwangsträgers gesehen worden, so daß Rechtsnormen dort vorliegen sollen, wo der Zwang vom Staat und nicht von der Gesellschaft ausgeübt wird.
Einen weiteren Unterschied hat man darin erblicken wollen, daß Recht und Sittlichkeit sich an verschiedene Normadressaten wenden Diesem Unterscheidungsmerkmal liegt die Vorstellung zugrunde, die Moral wende sich an die Menschen als Individuen, das Recht an die Menschen als Teile einer Gemeinschaft. Jedoch kennen wir sowohl ein Individualrecht, durch das dem einzelnen — wie in der Gewissensfreiheit — die persönliche Selbstgestaltung zuerkannt wird, und ein Sozialrecht als auch eine Individualund Sozialethik.
Auf das Verhältnis von Gesellschaft und Einzelwesen gründet sich auch die Unterscheidüng, daß das Recht Erzeugnis der Gesellschaft und die Moral Produkt der Persönlichkeit sei. Hierbei wird die Trennung von Individuum und Gemeinschaft überschätzt und übersehen, daß auch das rechtliche Werturteil sich in einem individuellen Bewußtsein gebildet haben muß, denn die Gesellschaft urteilt nur, wie Eduard Spranger dargelegt hat, durch ihre Mitglieder. Insoweit könnte auch das Recht allenfalls als Integration subjektiver Vorstellungen über richtiges Verhalten verstanden werden.
Verfolgt man den genetischen Werdegang von Recht und Moral auf ihren gemeinsamen Ursprung zurück, so lassen sich für beide Ordnungen zwei entgegengesetzte Entwicklungslinien feststellen. Während das Recht zunehmend eine Institutionalisierung und damit eine Veräußerlichung erfahren hat, indem die Reaktion auf regelwidriges Verhalten nicht mehr unmittelbar von der Gesellschaft selbst, sondern von hierzu berufenen Institutionen ausgeht, hat die Moral den Weg in die Verinnerlichung angetreten. Das hat bereits Kant gesehen und in seiner Unterscheidung der Gesetzgebung in eine „innere" (ethische) und eine „äußere" (juristische) theoretisch zu erfassen versucht. Diese Differenzierung kommt auch in der schlagwortartigen und deshalb wissenschaftlich kaum brauchbaren Formulierung zum Ausdruck: „Das Recht befasse sich mit äußerem, die Moral mit innerem Verhalten.“ Zu Recht haben so hervorragende Juristen wie Del Vecchio, Somlö und Radbruch eingewendet, daß kein Gesetz einen Menschen als Mörder verurteilt, der aus Zufall oder Unachtsamkeit einen anderen getötet hat. Der Hinweis von Hermann Kantorowicz („Der Begriff des Rechts"), daß alle ethischen Systeme im Gegensatz zum Recht eine bestimmte innere Haltung verlangten, kann ebenfalls nicht überzeugen, denn die Gesinnung als Gegenstand eines So -lenssatzes kann schon deshalb nicht das maßgebende Kriterium für die Unterscheidung von Moral und Recht sein, weil, was Kantorowicz verkennt, das gleiche äußere oder innere Ver halten sowohl sittlicher wie rechtlicher Bewertung zugänglich ist und auch von dem Recht und der Moral bewertet wird. Deshalb scheidet auch eine rein gegenständliche Trennung von Recht und Sittlichkeit von vornherein aus, da beide Normensysteme das gleiche soziale Verhalten normativ erfassen und sogar widersprüchlich regeln können.
Eine theoretisch haltbare und praktisch brauchbare Differenzierung von Recht und Moral darf den genetischen Entwicklungsprozeß des Rechts in die Veräußerlichung und der Moral in die Verinnerlichung nicht unberücksichtigt lassen. Die hiernach begrifflich zu fassende Unterscheidung beider sozialer Ordnungsgefüge kann — wie dargelegt — weder vom Zweck noch vom Gegenstand oder der Quelle her bestimmt werden. Auch die Geltung kann kein Anknüpfungspunkt sein, weil hierin lediglich die spezifische Existenz eines Sollens gegenüber der Existenz des Seins zum Ausdruck gebracht wird. Der von der Wiener Schule entwickelte normative Geltungsbegriff dient nur zur Begründung der Annahme, eine Norm fordere Verbindlichkeit: Eine Norm gilt, das heißt existiert nur, soweit sie sich aus einer anderen Norm ableiten läßt. Diese Methode bezieht sich nicht nur auf Rechtsnormen, sondern trifft auf alle sozialen Normen zu, so daß dieser Geltungsbegriff die verschiedenen Normgefüge wie Rechts-und Sittenordnung und damit ihre Differenzierung voraussetzt.
Das Unterscheidungsmerkmal von Recht und Moral kann deshalb nur in der Struktur der jeweiligen Normen und in der Art und Weise ihrer Wirksamkeit gesucht werden. Betrachtet man unter diesen Gesichtspunkten Rechtssätze näher, so zeichnen sie sich vor anderen Normen durch ihren Zwangscharakter aus. Die Rechtsordnung versucht nämlich, ein bestimmtes Verhalten herbeizuführen, indem sie für den Fall abweichenden Verhaltens einen Zwangsakt statuiert, was den Moralnormen völlig fremd ist. Zwar mißbilligt auch die Gesellschaft häufig die Übertretung von Moralvorschriften durch Sanktionen und setzt ihre Mitglieder durch Androhung von erheblichen Nachteilen unter Druck, um sie zu einem bestimmten, als moralisch angesehenen Verhalten zu zwingen. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Normarten besteht aber darin, daß im Recht der Zwangsakt nicht nur von vornherein gewollt, sondern auch gesollt ist, wohingegen die Struktur der Moralnorm den gesollten Zwangsakt als Sanktion nicht kennt.
Typisches Kennzeichen für jede Rechtsnorm ist der Befehl, bei Mißachtung des vorgeschriebenen Verhaltens den in der Norm angedrohten Zwangsakt durchzusetzen und die Durchsetzung zu dulden. Hiernach soll der Verbrecher seine Strafe erleiden und der Schuldner die Vollstreckung in das Vermögen zulassen. Dagegen sieht die Moralnorm einen irgendwie gearteten Zwangsakt nicht vor. Sie will den Adressaten nur zu einem bestimmten Verhalten veranlassen, ohne daß sie irgend jemand für den Fall der Zuwiderhandlung ermächtigt, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, die der Normadressat zu dulden verpflichtet wäre. Daß es innerhalb der Rechtsordnung auch Normen gibt, die selbst unmittelbar keine Sanktion vorsehen, steht dieser Darlegung nicht entgegen. Denn auch diese Vorschriften bestimmen die Bedingungen, unter denen ein rechtmäßiger Zwangsakt ergehen darf, indem sie als „unselbständige" Normen Teil solcher Normen sind, die bestimmte Zwangsakte statuieren. Auch sanktionslose, aber als Rechts-pflichten anerkannte Naturalobligationen (z. B. Ehemaklerlohn), die nicht einklagbar sind, aber den Rechtsgrund für die einmal erbrachte Leistung bilden, lassen sich ohne Schwierigkeiten in dieses System einordnen, erkennt man sie als Einschränkungen einer ansonsten Sanktionen begründenden Norm.
Mit der Struktur der Rechtsordnung als Zwangsordnung verbunden ist die spezifische Art ihrer Wirksamkeit. Sie ist wirksam, wenn die Sollensordnung freiwillig befolgt oder der Zwangsakt durchgesetzt wird, ohne daß es darauf ankäme, aus welchem Grund der von der Norm verfolgte Zweck erfüllt wird. Dagegen ist die Wirksamkeit einer moralischen Norm ausschließlich davon abhängig, daß sie vom einzelnen beobachtet wird. Zwar kann auch die Erfüllung eines moralischen Verhaltens erzwungen werden, aber dieser Zwang ist nicht normativ statuiert. Handelt deshalb jemand allein aufgrund des tatsächlich angedrohten Zwangs und nicht, weil er dieses Gebot als verbindlich betrachtet, so liegt keine Handlung vor, die als Verwirklichung der Moral-norm gewertet werden kann — die Moralordnung ist trotz ihrer tatsächlichen Realisierung insoweit unwirksam. Notwendige Voraussetzung ist, daß der einzelne den an ihn ergangenen Befehl befolgt, weil er ihn als für sich verpflichtend erkannt hat. Hierbei ist jedoch gleichgültig, ob die sittliche Norm vom eigenen Gewissen gesetzt oder von Außenstehenden an ihn herangetragen worden ist; sie gilt als sittliche Sollensanordnung unbedingt. Jedoch ist sie nur wirksam, wenn und soweit sie vom einzelnen als Pflicht anerkannt und befolgt wird.
Sind die Normen des Rechts und der Moral verschieden strukturiert und werden sie in spezifischen Formen wirksam, so daß sie als unterschiedliche Normensysteme erkannt sind, dann können sie in verschiedene Beziehungen zueinander treten. Betrachtet man die tatsächlich bestehenden Verbindungen zwischen Recht und Sittlichkeit, so regeln beide Normensysteme überwiegend das gleiche soziale Verhalten. Hierbei stimmen regelmäßig einige Vorschriften inhaltlich überein, andere schreiben dem einzelnen ein gegensätzliches Verhalten vor. Da beide Arten von Normen ihre Befolgung fordern, ist eine Konfliktlösung dort notwendig, wo sich beide Normen widersprechen. Nur ein Scheinkonflikt liegt vor, wenn bei einem Widerspruch von Rechts-und Moral-norm das Recht oder die Moral der jeweils anderen Ordnung den Vorrang einräumt. Derartige systemimmanente Lösungen ermöglichen zahlreiche Rechtsordnungen, indem sie in Generalklauseln wie „Treu und Glauben", „Verkehrssitte", „gute Sitten" u. a.den sittlichen Vorstellungen Eingang in das Recht verschaffen. Eine hervorragende Bedeutung kommt hierbei der in Art. 4 GG garantierten Gewissens-und Bekenntnisfreiheit zu, die es dem einzelnen ermöglicht, seine sittlichen Vorstellungen gegen widersprechende Rechtsnormen durchzusetzen.
Auch die Aufnahme des Sittengesetzes als Grundrechtsschranke in das Grundgesetz dient der Lösung von Konflikten des Grundrechts auf allgemeine Handlungsfreiheit mit den vom Sittengesetz statuierten Verboten. Darüber hinaus kann das Recht Widersprüche von Recht und Moral auch für die gesamte Rechtsordnung und nicht nur für einzelne Sachbereiche lösen, indem es seine Verbindlichkeit von der Vereinbarkeit mit sittlichen Normen abhängig macht. Eine solche Konfliktlösung kommt in der Radbruchschen Formel zum Ausdruck, wonach ein positives Gesetz als „unrichtiges Recht" dann der Gerechtigkeit weichen müsse, wenn der Widerspruch zwischen Gesetz und Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreicht habe. Diesen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht als ungeschriebene Norm des Grundgesetzes festgestellt, so daß für unsere Rechtsordnung davon ausgegangen werden kann, ein extrem „unsittliches" Gesetz sei verfassungswidrig. Andererseits kann auch das Moralgesetz den einzelnen anweisen, einem bestimmten Rechts-gebot den Vorrang gegenüber dem Sittenver-bot zuzubilligen. Ein Wert kommt jeder Rechtsnorm unabhängig von ihrem Inhalt schon deshalb zu, weil sie als Ordnungsvorschrift zumindest Sicherheit insoweit gewährt, als jeder Normadressat erkennen kann, welches Verhalten von ihm erwartet wird. Damit erst wird eine Koordination und Berechenbarkeit des Gebarens überhaupt möglich, so daß der einzelne auch die Konsequenzen absehen kann, die ihn für den Fall eines von der Regel abweichenden Verhaltens treffen. Deshalb sind Moralnormen denkbar, die den einzelnen um der Rechtssicherheit und damit der allgemeinen Ordnung willen anweisen, auch — in gewissen Grenzen — unsittliche Rechtsvorschriften zu befolgen.
Diese Auflösungen eines Widerstreits zwischen rechtlichen und sittlichen Normen sind jedoch ausschließlich systemimmanent, so daß bei genauerer Betrachtung in diesen Fällen unsittliche Rechtsnormen und rechtswidrige Moralnormen im Grunde gar nicht wirksam werden können.
Aber nicht immer finden Konflikte sittlicher Normen mit Rechtsvorschriften eine systemimmanente Lösung; häufig stehen sich beide Ansprüche unversöhnlich gegenüber, weil weder die Rechts-noch die Moralnorm der entgegenstehenden Regelung den Vorrang einräumt. In dieser Situation wird beständig behauptet, die Rechtsnorm könne kein Recht sein, wenn das gebotene Verhalten nicht auch „richtig" sei. Dabei geht man von der Voraussetzung aus, Moral-und Rechtsordnung ständen in einem Uber-und Unterordnungsverhältnis. Auf dieser Grundlage ist die Schlichtung eines Widerstreits von Recht und Moral theoretisch jedoch nur möglich, sofern eine beiden Normensystemen übergeordnete Ordnung nachgewiesen werden kann. Nur in einer Recht und Moral umfassenden Ordnung, die der Moral gegenüber dem Recht einen höheren Rang zuordnet, könnte die Trennung beider Systeme aufgehoben und ein Konflikt normativ gelöst werden. Eine solche Ordnung, in der Recht und Moral lediglich Teilordungen wären, läßt sich aber wissenschaftlich ebensowenig nachweisen wie die Richtigkeit der Behauptung, die Rechtsordnung sei ein Teil der Sitten-ordnung, aus der das Recht seine Verbindlichkeit ableite.
Es gehört zu den großen Verdiensten Kants, nachgewiesen zu haben, daß Sein und Sollen zwei unterschiedliche Kategorien sind. Sein und Sollen stehen in einer formallogischen Unüberbrückbarkeit zueinander, die es unmöglich macht, aus den vorhandenen Seinsgegebenheiten auf eine bestimmte verbindliche Sollensordnung zu schließen. Wie aus dem, was sein soll, nicht folgt, daß etwas ist, folgt nicht aus dem, was ist, daß es sein soll. Normen schreiben vor, daß etwas sein soll. Sie zielen darauf ab, einen anderen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. Sollenssätze sagendes halb nichts aus über etwas, das ist oder nicht ist; sie beschreiben nicht die Wirklichkeit, sondern wollen auf die Wirklichkeit einwirken. Eine Überwindung dieses Gegensatzes zwischen Sein und Sollen, Denken und Wollen, Wahrheit und Geltung ist der menschlichen Vernunft nicht zugänglich; vielmehr ist dieser grundsätzliche Unterschied dem rationalen Denken als unaufhebbarer Dualismus unmittelbar vorgegeben. Eine Einheit von Erkenntnis und Willen, Sein und Sollen kann nur in einer außermenschlichen Vernunft begründet sein. Ein Träger einer absoluten Vernunft, die zugleich Erkenntnis-und Willensfunktion ist, läßt sich aber vom wissenschaftlich rationalen Standort nicht beweisen, so daß jede wissenschaftliche Erkenntnis einer dem Menschen vorgegebenen Sollensordnung ausgeschlossen ist. Eine den Menschen vorgegebene und von ihnen hinzunehmende Ordnung unwandelbarer und unabänderbarer Normen als Ausdruck einer göttlichen oder natürlichen Ordnung kann nur gedacht oder geglaubt werden. Es muß daher von vornherein jeder wissenschaftliche Versuch scheitern, aus der Natur oder dem Wesen des Menschen verbindliche Sollensanordnungen zu deduzieren. Auch kann auf keine absolute Norm zurückgegriffen werden, weil sie einen absoluten Willen voraussetzt, dessen Sinn allenfalls im Glauben als Gottes-wille erfahren werden kann. Deshalb muß jede Aussage über den Inhalt eines solchen Willens Spekulation bleiben. Läßt sich aber die Geltung einer absoluten, Recht und Moral übergeordneten Normordnung nicht nachweisen, so ist ein Konflikt zwischen beiden Ordnungen normativ nicht zu lösen.
Die Entscheidung über den Vorrang der gegensätzlichen Anforderungen von Rechts-und Moralnorm ist deshalb ausschließlich ein Problem der Durchsetzung und damit eine Macht-frage. Hierüber bestimmt vorerst das Individuum selbst, indem es seinen psychischen Intentionen entsprechend den moralischen oder rechtlichen Anforderungen nachkommt. Nur sofern es die rechtliche Norm unbeachtet läßt, setzt es sich den angedrohten Zwangsmaßnahmen des Staates aus. In diesem Fall hängt der Ausgang des Widerstreits von der Effektivität des Rechts ab.
Hiernach ist die weit verbreitete Ansicht, daß der Rechtspositivismus als Wissenschaftstheorie für das Versagen der Juristen während der nationalsozialistischen Herrschaft verantwortlich sei, nicht haltbar. Jede Rechtsnorm tritt unabhängig von ihrem Inhalt mit dem Anspruch auf, befolgt zu werden. Ob der einzelne Normenadressat jeder Anordnung nachkommt, entscheidet er selbst. Insoweit kann die Rechtsnorm Gegenstand eines sittlichen Urteils sein, wobei sich das Ergebnis dieser Entscheidung ausschließlich nach der sittlichen Überzeugung desjenigen bemißt, an den sich die Rechtsvorschrift wendet.
Die Rechtsvorschrift „Befehl ist Befehl" besitzt demnach für den einzelnen nur den Wert, der ihr nach seinen sittlichen Vorstellungen zukommt. Wenn die Juristen während des Dritten Reiches auch unmenschliche Gesetze befolgt haben, weil es nach den rechtspositivistischen Lehren Rechtsbestimmungen waren, so beruht dieses Versagen ausschließlich auf der sittlichen Überzeugung des Individuums, auch unmenschliche Befehle ausführen zu müssen. Nicht die Auffassung des Rechtspositivismus vom Gesetz und seiner Geltung hat die Juristen und das Volk wehrlos gegen die grausamen und verbrecherischen Gesetze gemacht, sondern die falsche sittliche Einstellung zum Recht; denn der Stellenwert des Rechts in der Wertordnung des Richters oder Staatsanwaltes bestimmt sich ausschließlich nach seiner sittlichen Beurteilung.
Das Naturrechtsdenken vermag in der konkreten Anwendung eines verbrecherischen Gesetzes keine grundsätzlich andere Lösung anzubieten, was schon daraus folgt, daß das Naturrecht selbst nur Ausdruck bestimmter sittlicher Vorstellungen ist. Selbst wenn man in dem naturrechtswidrigen Gesetz kein Recht sehen wollte, wäre jedem einzelnen die Entscheidung, dem rechtswidrigen Gesetzesbefehl zu gehorchen oder den Gehorsam zu versagen, nicht abgenommen. Vielmehr müßte er entweder aufgrund der Norm der Sittlichkeit oder der des Naturrechts darüber befinden, ob er die unsittlichen Rechtsnormen bzw. die natur-rechtswidrigen Gesetzesbefehle befolgt. In beiden Fällen wird er die gesetzlich angedrohten Zwangsmaßnahmen auf sich nehmen müssen, falls er den Gesetzesbefehl mißachtet und dem Gebot des Naturrechts folgt. Die Flucht in das Naturrecht bietet keinen Ausweg aus dem aufgezeigten Dilemma. Das Naturrecht verschiebt die Probleme lediglich auf eine andere begriffliche Ebene, ohne ein in der Sache anderes Lösungsmodell entwickelt zu haben. Ein erfolgreicher Widerstand der Juristen gegen die nationalsozialistischen Gesetze hing — abgesehen von den tatsächlichen Machtverhältnissen — nicht von der bloßen Anerkennung oder Ablehnung eines Naturrechts ab; denn der Satz „Befehl ist Befehl, Gesetz ist Gesetz" kann auch als ein Gebot des Naturrechts behauptet werden, das insoweit für den einzelnen ebenso verbindlich sein kann, wie die gegenteilige Regelung. Jedes dieser Gebote steht dem Richtigen gleich nah und gleich fern — es sei denn, es gäbe ein für alle Menschen verbindliches Sittengesetz, das als allgemeiner und objektiver Maßstab für richtiges Verhalten zur Beurteilung herangezogen werden kann. 3. Das Sittengesetz Sind Recht und Moral als zwei Arten von Normensystemen erkannt worden, die als Sollensordnungen unabhängig voneinander gelten, so können sie gleichwohl zueinander in engste Beziehung treten. Das geschieht beispielsweise im Grundgesetz durch Art. 2 Abs. 1, der das Sittengesetz als Grundrechtsschranke bestimmt. Hier wird der Moral eine rechtliche Geltung zuerkannt, so daß sie unmittelbar rechtliche Wirksamkeit entfalten kann. Allerdings bleibt offen, was unter dem Sittengesetz im Sinne des Grundgesetzes zu verstehen ist. Dabei geht es nicht nur um das Problem, ob alle vorhandenen Moralvorschriften in das Grundgesetz einbezogen worden sind, sondern vorrangig um die grundsätzliche Frage nach der Geltung nur eines Sittengesetzes oder verschiedener Sittengesetze. Gilt nur ein einziges Sittengesetz, so kann das Grundgesetz nur auf dieses Bezug genommen haben; im übrigen müßte untersucht werden, welches von mehreren es meint.
Die Geltung eines allgemeinverbindlichen Sittengesetzes wird von den Vertretern des Wert-Objektivismus bejaht. Sie gehen davon aus, daß es außer subjektiven Werten, die nur gelten, weil sie von Individuen gesetzt sind, auch übersubjektive, also objektive gebe, die zeitlose Geltung besäßen. Diese Wertordnung wird entweder als im Sein begründet gesehen oder als unabhängige Welt des „Geltens" gedacht. Demgegenüber leugnet der ethische Relativismus jede Existenz objektiver Werte und anerkennt deshalb auch keine absoluten Wertmaßstäbe. Danach gibt es weder ein an sich Gutes oder Gerechtes noch Böses oder Ungerechtes, vielmehr kann zu verschiedenen Zeiten bei verschiedenen Völkern dasselbe für gut und schlecht, gerecht und ungerecht gehalten werden, wie die Geschichte der Völker und Kulturen zeigt, Zu Recht ist gegen diese Begründung eines ethischen Relativismus eingewendet worden, daß die Wandlungen und Entwicklungen im sittlichen Leben der Menschen noch kein Beweis gegen den Wertobjektivismus sind. Daß unterschiedliche Wertungen vorgenommen und damit verschiedene Werte gesetzt werden, schließt nicht schon die Geltung solcher Werte aus, die verbindlich vorschreiben, wie gewertet werden soll. Ebensowenig zutreffend ist aber auch der als Gegenbeweis vorgebrachte
Einwand, daß es trotz aller Modalitäten moralischer Vorstellungen einen Kern sittlicher Wertungen gebe, der selbst von primitiven Kulturen als verbindlich anerkannt werde; denn auch hier kann nicht aus der bloßen inhaltlichen Übereinstimmung moralischer Normen auf die Existenz eines objektiven und absoluten Sittengesetzes geschlossen werden. Es ist bereits bei dem Problem der Trennung von Recht und Moral festgestellt worden, daß eine absolute Wertordnung wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden kann. Die dazu gemachten Ausführungen stehen auch der Annahme eines ethischen Absolutismus entgegen. Will man nämlich von einer objektiven und absoluten ethischen Wertordnung ausgehen, die in Inhalt und Geltung nicht durch Wertungsakte des Individuums bedingt ist, so muß belegt werden, daß sittliche Werte außerhalb und unabhängig von menschlichen Willensakten gelten. Allgemeine Übereinstimmung besteht darüber, daß es sittliche Werte gibt, die nur existieren, weil sie von Menschen gesetzt sind. Sie gelten entweder nur für einen einzelnen, oder aber bestimmtes Verhalten wird gleichzeitig von mehreren Menschen als positiv oder negativ bewertet. Streitig ist, ob es darüber hinaus sittliche Werte gibt, die zeitlos gelten und an jeden einzelnen mit der Forderung herantreten, wie er selbst zu werten und dann demgemäß zu handeln hat.
Die Geltung solcher Werte läßt sich nicht allein aus der Natur des Menschen begründen und kann deshalb nur als dem Menschen vorgegeben behauptet werden. Insoweit aber setzt ein absolutes Sittengesetz wie jede absolute Norm einen absoluten Willen voraus, denn nur außerhalb eines menschlichen Wollens kann das absolute sittliche Sollen als Sinn eines Willens gelten, wie bereits früher nachgewiesen wurde. Diese Denkweise setzt die Existenz einer außerweltlichen Wirklichkeit voraus, die unmittelbar in das weltliche Geschehen einwirkt. Sie anerkennt, wie Maihofer zutreffend formuliert hat, die „Wirklichkeit eines überwirklichen". Ein solches mythologisches Denken muß von einer übernatürlichen Ethik ausgehen, die sich ihrerseits auf die Vorstellung gründet, daß durch eine überweltliche Macht Ordnung gestiftet wird. Damit kann ein absolutes Sittengesetz nur als theonome Moral verstanden werden, die das Sittengesetz auf Gott zurückführt. Nur von einer außer-menschlichen Autorität können Normen statuiert werden, denen alle verbindlich unterworfen sind, so daß sie Maßstab auch für von Menschen gesetzte Werte sein können. Der Nachweis einer göttlichen Vernunft oder eines göttlichen Willens läßt sich wissenschaftliih jedoch nicht führen. Das Dasein Gottes kann nur außerhalb einer rationalen Erkenntnis erfahren werden. Aber selbst wenn man von der Existenz eines absoluten Gesetz-gebers ausgehen wollte, so könnten inhaltlich bestimmte Normen nur unter der unbeweisbaren Voraussetzung abgeleitet werden, daß der Mensch die Fähigkeit zur Erkenntnis dieser vorgegebenen Ordnung absoluter Werte besitzt. Theorien, die sich auf derartige Voraussetzungen gründen, verbleiben im Bereich religiöser Interpretationen und müssen vom Standort der Wissenschaft als Spekulation unbeachtet bleiben. Jedes System, das eine solche Arbeitshypothese ablehnt, muß die Anerkennung eines absoluten Sittengesetzes ausschließen. Eine allein auf die Autonomie des Menschen gegründete Moral muß dagegen grundsätzlich relativ sein, weil sie das Produkt individueller Wertung ist. Keiner Wertsetzung unter Menschen kann deshalb absolute Richtigkeit zuerkannt werden.
Dieses Ergebnis wird nicht schon dadurch widerlegt, daß der Wertskeptiker selbst davon überzeugt sein kann, eine bestimmte Wertung sei „objektiv" richtig. Die Relativität der Werte bedeutet nur, daß von einem wissenschaftlich-rationalen Standort aus unwandelbare und unabänderbare Werte nicht erkannt und bewiesen werden können. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß der einzelne in anderer Weise ein Empfinden haben kann, das ihm die Gewißheit vermittelt, gut oder schlecht zu handeln. Eine solche innere Überzeugung ist auch für viele Relativisten die Grundlage ihrer tatsächlichen Werthaltung gewesen. So hat Max Weber, der mit Entschiedenheit die Überzeugung vertreten hat, daß Wertfragen wissenschaftlicher Erkenntnis nicht zugänglich seien, gefordert, keiner dürfe willkürlich handeln, sondern habe das im einzelnen ausgeprägte Menschentum zu entfalten. Nur innerhalb dieser persönlichen Werterfahrung, nicht aber im Bereich wissenschaftlich-rationaler Erkenntnis kann deshalb von einer „Objektivität der Werte" gesprochen werden.
Kann demnach vom Standpunkt des Wert-relativismus eine absolute Sittenordnung nicht anerkannt werden, so ist damit nur der absoluten Geltung von ethischen Normen entgegengetreten, nicht aber die Existenz jeglicher Werte geleugnet worden. Sittliche Werte existieren nämlich dort, wo sittliche Sollensanordnungen gelten, die vorschreiben, wie man sich zu verhalten hat. Damit können eine Vielzahl sich auch widersprechender Sittenordnungen nebeneinander bestehen, ohne daß eine von ihnen für sich in Anspruch nehmen kann, eine andere Wertsetzung sei unmöglich. Zulässig ist lediglich die Beurteilung einer solchen Wertung am Maßstab einer anderen Moralordnung. Insoweit kann auch eine Rechtsordnung moralisch oder unmoralisch oder beides zugleich sein.
Steht damit fest, daß in einer Gemeinschaft mehrere Sittengesetze nebeneinander gelten können, so ist es ausschließlich eine Frage der positiv-rechtlichen Regelung, welche sittlichen Normen vom Grundgesetz mit Rechts-wirkung ausgestattet worden sind. Die Antwort darauf muß das Grundgesetz erteilen.
III. Das Sittengesetz im Grundgesetz
1. Das Sittengesetz im Verständnis der Rechtsprechung und Rechtswissenschaft Die Trennung von Recht und Sittlichkeit gestattet es grundsätzlich nicht, Normen der Sittlichkeit bei der Entscheidung von Rechtsfragen anzuwenden. Nur ausnahmsweise können solche Nonnen in das Recht unmittelbar einwirken, dann nämlich, wenn das Recht sie in seinen Geltungsbereich einbezieht. Soll deshalb ein sittliches Gebot rechtliche Bedeutung erlangen, so muß es der Gesetzgeber ausdrücklich aussprechen. Die Verbindlichkeit der Moralnorm im Rechtsbereich gründet sich in diesem Fall auf eine rechtliche Vorschrift, die allein deren Anwendung rechtfertigt.
Auch die deutsche Rechtsordnung enthält einige Rechtsnormen, die ausdrücklich auf sittliche Regeln verweisen. Unter diesen Bestimmungen kommt Art. 2 Abs. 1 GG, der die Entfaltung der Persönlichkeit gewährleistet, eine hervorragende Bedeutung zu, weil dort das Sittengesetz als Grundrechtsschranke anerkannt wird. Der Einfluß des Sittengesetzes auf die Rechtsordnung ist besonders dann gewichtig, wenn man mit der herrschenden Rechtsprechung und Rechtslehre das Sittengesetz als Schranke auch aller anderen Grundrechte anerkennt und ihm die Priorität gegenüber der „verfassungsmäßigen Ordnung" einräumt. Es ist deshalb für die Reichweite der Grundrechte von außerordentlicher Bedeutung, was unter „Sittengesetz" im Sinne des Grundgesetzes zu verstehen ist, zumal nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts sämtliche sittenwidrigen Gesetzesnormen nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung gehören.
Offensichtlich aus Sorge um den Bestand christlich-abendländischer Sittlichkeit hat der Bundesgerichtshof sich in seinem bekannten Urteil zum Geschlechtsverkehr unter Verlobten (BGHSt 6, 46) zur außergeschichtlichen absoluten Geltung des Sittengesetzes bekannt und damit einen dem ethischen Wertrelativismus, der weitgehend für den vermeintlichen Sittenverfall verantwortlich gemacht wird, entgegengesetzten ideologischen Standpunkt eingenommen. Wenn dort vom Sittengesetz gesagt wird, sein Inhalt könne sich „nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln“, sondern es gelte „aus sich selbst heraus", so wird den sittlichen Normen eine unbedingte Geltung zuerkannt, die sich auf eine dem Menschen vorgegebene und von ihm hinzunehmende „Ordnung der Werte" gründet. Dementsprechend versteht der Bundesgerichtshof in Anlehnung an die orthodoxen Lehren des Neuthomismus und anderer traditioneller philosophischer Denkrichtungen sowie einer metaphysischen Moraltheologie unter dem Sittengesetz eine „hinzunehmende Ordnung der Werte und der das menschliche Zusammenleben regierenden Sollenssätze", die dem Menschen erkennbar vorgegeben und unabhängig von der Anerkennung der Rechts-genossen oder dem Wechsel der Anschauungen über das jeweils Gültige allgemein verbindlich sind.
Allerdings fehlt in der Urteilsbegründung jeder Nachweis für die Richtigkeit der höchst-richterlichen Werterkenntnis. Wird vom Gericht die Einehe gefordert, „weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist", so könnte Grundlage der abgeleiteten Norm die „Natur der Sache" sein. Gerade hieraus aber läßt sich mit guten Gründen ebenso die Viel-ehe folgern. Andererseits könnte sich das Urteil auch auf eine absolute Anthropologie gründen, heißt es doch darin, die Einehe sei dem Menschen um der personalen Würde und der Verantwortung der Geschlechtspartner willen gesetzt. Das Bekenntnis des BGH zu einer christlichen Anthropologie kommt auch in seinem Gutachten (BGHZ 11 Anhang S. 34) zur Gleichberechtigung der Geschlechter zum Ausdruck, wenn dort ausgeführt wird: „Streng verschieden sind (Mann und Frau), aber nicht nur im eigentlich Biologisch-Geschlechtlichen, sondern auch in ihrer seinsmäßigen, schöpfungsmäßigen Zueinanderordnung zu sich und dem Kind in der Ordnung der Familie. Die Familie ist von Gott gestiftet und deshalb für den menschlichen Gesetzgeber undurchbrech-bar. Die Familie ist nach der Schöpfungsordnung eine streng ihrer eigenen Ordnung folgende Einheit; Mann und Frau sind , ein Fleisch'.... Innerhalb der strengen Einheit der Familie sind Stellung und Aufgabe von Mann und Frau durchaus verschieden. Der Mann zeugt die Kinder, die Frau empfängt, gebiert und nährt sie und zieht die Unmündigen auf. Der Mann sichert, vor allem nach außen gewandt, Bestand, Entwicklung und Zukunft der Familie; er vertritt sie nach außen hin, in diesem Sinne ist er ihr , Haupt'. Die Frau widmet sich, vorwiegend nach innen gewandt, der inneren Ordnung und dem inneren Aufbau der Familie.“
Der Bundesgerichtshof hat sich mit seinem Bekenntnis zu einem absoluten Sittengesetz und seiner Erkennbarkeit nicht begnügt. Er hat aus seiner Beschreibung solche konkreten Normen abgeleitet wie das Verbot des Geschlechtsverkehrs außerhalb der Einehe, Gebot des ehelichen Verkehrs ausschließlich zum Zwecke der Zeugung, Verbot des Selbstmordes und Gebot zur gegenseitigen Hilfeleistung.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich dem Bekenntnis des Bundesgerichtshofes zur Geltung eines absoluten Sittengesetzes nicht angeschlossen. In seiner Entscheidung über die Homosexualität (BVerfGE 6, 389) versteht es das Sittengesetz als eine von Menschen gestaltete zeit-und raumgebundene Ordnung die von den jeweiligen Wertungen der Gesellschaft abhängig sei. Jedoch hat das Gericht bisher eine vollständige Definition des Sittengesetzes nicht gegeben.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn in der übrigen Rechtsprechung die unterschiedlichsten Anschauungen über Begriff und Inhalt des Sittengesetzes bestehen. So soll, beispielsweise nach dem Bayerischen Obersten Landes-gericht (BayObLGnF 1963, 60), das sich ausdrücklich auf das Bundesverfassungsgericht beruft, ein Verstoß gegen die Sittlichkeit vorliegen, sobald feststeht, daß die soziale Gemeinschaft die Handlung als im Widerspruch zu der vom Volk als verbindlich anerkannten sittlichen Wertordnung stehend betrachtet. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwGE 10, 164) versteht unter dem Sittengesetz die „allgemeinen grundlegenden Anschauungen über die ethische Gebundenheit des einzelnen in der Gemeinschaft", wohingegen das Oberverwaltungsgericht (OVG) Hamburg (DVB 1. 1953, 538) betont, daß sich das nach Art. 2 Abs. 1 GG maßgebliche Sittengesetz nicht in der Respektierung ethischer Normen erschöpfe, sondern auch die Wahrung der Sittlichkeit i. S herrschender Moralvorstellungen vor allem au geschlechtlichem Gebiet umfasse.
Auch in der Rechtswissenschaft gehen die Meinungen über das, was als Sittengesetz zu verstehen ist, weit auseinander. Zu ihnen gehört die Vorstellung vom „ewigen" Sittengesetz, das von Gott als dem Urheber jeder sit liehen Norm in die Herzen der Menschen ein geschrieben sei, ebenso wie die vom „wandelbaren" Sittengesetz, das sich nach den jeweils herrschenden Ansichten bestimme. Inhaltlich wird das Sittengesetz mit der christlichen, natürlichen oder abendländischen Sittenordnung gleichgestellt, wobei offen bleibt, welche Normen zu welchem Kodex gehören. Uneinigkeit besteht auch darüber, ob sich das Sittengesetz auf die zeitlosen ethischen Normen beschränkt, ob es sich nur auf die zehn Gebote bezieht oder auch die Regeln von Treu und Glauben umfaßt. Ebenso unklar ist, wonach sich die Verbindlichkeit der Anschauung bemißt, wenn einerseits die Anschauungen der Mehrheit des Volkes zur Begründung des Sittengesetzes nicht für erheblich gehalten werden, andererseits die Geltungsfrage letztlich statistisch behandelt werden soll. Andere lehnen die Geltung eines Sittengesetzes überhaupt ab und leugnen deshalb jede rechtliche Bedeutung dieser Grundrechtsschranke.
Eine Klärung dieser nur beispielhaft angeführten widersprüchlichen Ansichten in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft kann für den Juristen kein ethisches oder rechtsphilosophisches Problem, sondern nur eine juristische Frage sein. Das Sittengesetz ist hier ein . Rechtsbegriff des Grundgesetzes, so daß sein Inhalt in dieser Rechtsordnung durch juristische Auslegung zu erschließen ist. 2, Das Sittengesetz als absolute sittliche Odnung Die von den Vätern des Grundgesetzes gehegte Hoffnung, durch eine Bindung des Rechts an das Sittengesetz der Gesellschaft eine Rechtsordnung gegeben zu haben, die in allgemeingültigen und unveränderlichen Werten gegründet ist, konnte sich von vornherein nicht erfüllen. Ihre Absicht, der „Gerechtigkeit" in der staatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik einen ständigen Wirkungsbereich zu sichern, mußte schon an der Unmöglichkeit der Erkenntnis einer unabdingbaren Wertordnung scheitern. Nur durch die Geltung eines absoluten Sittengesetzes aber könnte der Rechtsordnung die angestrebte Wertbeständigkeit gewährleistet werden; denn ist das Grundgesetz an ein sich wandelndes Sittengesetz gebunden, ist es selbst diesen sich verändernden sittlichen Vorstellungen unterworfen.
Konnte es ursprünglich angesichts des vom Dritten Reich hinterlassenen Chaos als erstrebenswert erscheinen, dem neuen deutschen Staat ein Grundgesetz zu geben, das an unabdingbare sittliche Werte gebunden war, so mußte der Gedanke einer normativen Bindung an ein unwandelbares Sittengesetz bald von einer stetigen Wandlungen unterworfenen Gesellschaft als unerträglicher Zwang empfunden werden, entspricht doch die Vorstellung vom unveränderlichen Sittengesetz den historischen Vorbildern gesellschaftlicher Ordnungen statischen Charakters. Eine so angelegte Rechtsordnung muß allen Erfordernissen einer modernen Gesellschaft entgegenstehen, die sich durch einen pluralistischen und dynamischen Wesenszug ausweist. Die Differenzierung in allen menschlichen Lebensbereichen, die als Ausdruck kultureller Entwicklung in der modernen Gesellschaft wachsenden Einfluß gewinnt, hat auch vor den Werthaltungen der Menschen unserer Tage nicht haltgemacht. Die sich im Zeichen der fortschreitenden Technik dauernd wandelnde Umwelt erfordert vom einzelnen ständig eine neue sittliche Beurteilung der Wirklichkeit, die den spezifischen Eigenheiten der jeweiligen Situation gerecht werden muß. Hierdurch wird fortwährend eine Änderung auch der moralischen Normen ausgelöst, so daß die Vorstellung vom absoluten Sittengesetz ihre kulturgeschichtliche Aufgabe erfüllt zu haben scheint; denn eine zeitgemäße Ordnung muß den stetigen Wandel der sittlichen Normen als Wesenselement der modernen Gesellschaft anerkennen.
Die Gefahr, die von einem moralischen Absolutismus ausgeht, wird dann in voller Tragweite spürbar, wenn sich die staatliche Gewalt mit dieser Mythologie identifiziert und sie zur Ideologie der staatlich verfaßten Gesellschaft macht. Dieser ideologische Charakter des überkommenen Naturrechts, das nichts weiter als das Sprachrohr bestimmter sittlicher Überzeugungen ist, die auf Verwirklichung in der Gesellschaft drängen, wird deutlich, vergegenwärtigt man sich, daß aus derselben als vorgegeben behaupteten Ordnung der Wert der Sklaverei als gott-und naturgegebene Institution und eine freiheitliche Arbeitsverfassung abgeleitet worden ist. Unter den gleichen theoretischen Voraussetzungen sind die Herrschaft des Adels und die Macht des Bürgertums aus der natürlichen Ordnung abgeleitet und die Rechtssysteme des Feudalismus und Kapitalismus als Verwirklichung gottgewollter Gebote gerechtfertigt worden. Hier werden von einem begrenzten religiösen und weltanschaulichen Standort aus gewonnene Einsichten über einige Ordnungsfaktoren verabsolutiert und als Erkenntnisse einer umfassenden Ordnung ausgegeben. Eine solche ideologisierte Rechtsprechung widerspricht dem pluralistischen Charakter unserer staatlichen Grundordnung. Kein oberstes Rechtsprechungsorgan darf seine Entscheidung auf eine bestimmte theologische und philosophische Denkrichtung gründen, insbesondere dann nicht, wenn sie im grundsätzlichen Gegensatz zu sämtlichen modernen Strömungen der Psychologie und Philosophie steht. Für eine restriktive Auslegung des Grundgesetzes auf einer derartigen Basis ist kein Raum. Zwar vermag eine so konservativ interpretierte Rechtsordnung gesellschaftliche Veränderungen auf die Dauer nicht aufzuhalten, sie kann aber zu einer unerträglichen „Moraldiktatur" führen, unter der zumindest vorübergehend die Entwicklungen neuer erforderlicher Gesellschaftsformen zum Stillstand gebracht werden, wie der MacCarthyismus in den USA beweist. Hiermit ist notwendigerweise eine unangemessene Beschränkung der persönlichen Entfaltungsfreiheit des einzelnen verbunden, da es erfahrungsgemäß zu denEigenschaften fast jedes politischen Systems gehört, das seine Ordnungsvorstellungen für allein richtig ausgibt, nicht nur oberste Leitprinzipien aufzustellen, sondern auch engste Lebensbereiche verbindlich zu regeln. Solche Normen zu befolgen oder nicht zu beachten, muß aber der Entscheidung jedes mündigen Menschen Vorbehalten bleiben, weil es nicht Angelegenheit des Staates ist, seine Bürger bestimmten ethischen Lehren zu unterwerfen. Offen bleiben muß bei der Anerkennung eines absoluten Sittengesetzes, was als sittliche Regel allgemein zu beachten ist. Da eine Erkenntnis absolut geltender Normen grundsätzlich ausgeschlossen ist, kann die als richtig angewendete sittliche Norm nur diejenige sein, die nach der Einbildungskraft des jeweiligen Machtträgers als unveränderlich begriffen wird. Das ist nicht zu umgehen, weil weder der Richter, der letztlich das Sittengesetz anzuwenden hat, noch der Bürger, der sich dem Sittengesetz entsprechend verhalten soll, wissen kann, welche Normen zum Sittengesetz gehören, wenn es nicht möglich ist, sie in gesicherter Weise festzustellen. Darf sich der Richter bei seiner Entscheidung nicht auf bestimmte praktizierte moralische Anschauungen in der Gesellschaft zurückziehen, sondern wird er dazu angehalten, auf eine vorgegebene und hinzunehmende Ordnung der Werte zurückzugreifen, so ist er notwendig gezwungen, solche sittlichen Vorstellungen als Normen anzuwenden, die er selbst als dem Menschen vorgegeben zu erkennen glaubt. Damit wird er regelmäßig seine von ihm als verbindlich erkannten Vorstellungen über das, was gut und böse ist, als allgemeines Sittengesetz ausgeben müssen. Hierdurch wird aber gerade das hervorgerufen, was die Anerkennung eines absoluten Sittengesetzes verhindern soll, die Erhebung der subjektiven Wertungen des einzelnen zum allgemein verbindlichen Sittengesetz. Das Verbot, die herrschenden Anschauungen unter den Rechtsgenossen zur Richtschnur der richterlichen Entscheidungen zu machen, hat deshalb zur Folge, daß die Vorstellungen eines einzelnen oder einer kleinen Gruppe darüber, was jedermann sittlich zu tun hat, rechtlich relevant werden. Damit aber würde eine Wirkungsmöglichkeit gerade für diejenigen eröffnet, die sich für besonders begnadet halten und berufen fühlen, der Gesellschaft die echten und wahren Werte aufzwingen zu müssen. Die als unveränderlich und allgemeinverbindlich ausgegebenen Normen brauchen nicht immer nur einer Sicherung überkommener und überholter Anschauungen zu dienen. Es können auch zukunftsorientierte Normen sein, die einer Gesellschaft neue Ziele setzen und ihr neue Impulse geben, wie es häufig in den durch Revolutionen zur Durchsetzung gebrachten Moralvorstellungen geschieht. Solche fortschrittlichen Forderungen haben etwa die iberischen Spätscholastiker mit der Lehre des Naturrechts aufgestellt, um die unchristliche Stellung der Indianer zu verbessern. Auch das säkulare Vernunftrecht hat revolutionäre Züge getragen. In diesen Fällen scheint der Lehre vom absoluten Sittengesetz eine dynamische Eigenschaft zuzukommen. Jedoch wird ihr statistischer Charakter spätestens dann offenbar, wenn die angestrebte Ordnung verwirklicht und neue Verhaltensformen zur Bewältigung der neuen Ordnungsprobleme erforderlich werden. Die vermeintliche Dynamik liegt also nicht im System begründet, sondern erscheint nur als eine Folge der angestrebten Änderung der bestehenden sittlichen Überzeugungen. Eine allgemeine Beurteilung der Lehre vom absoluten Sittengesetz als konservativ oder revolutionär ist schlechthin unmöglich. Das Urteil hierüber hängt weitgehend vom Inhalt der als vorgegeben behaupteten sittlichen Normen und der geschichtlichen Situation ab, in der die sittlichen Forderungen geltend gemacht werden. Da jedoch die absolute Ordnung beansprucht, Kriterien zu enthalten, nach denen menschliche Konflikte ein für allemal beigelegt werden und dadurch auch ein bestimmtes Herrschaftssystem auf Dauer legitimiert wird, weil jede Ordnung gesellschaftlicher Verhältnisse weitgehend aus über-und untergeordneten Beziehungen besteht, enthält sie einen grundsätzlich statischen Wesenszug. 3. Das Sittengesetz als objektive sittliche Ordnung Die Abneigung gegen jeden Wertrelativismus und das Streben nach einer objektiven Wert-ordnung kennzeichnet den Versuch, den Inhalt und die rechtsverpflichtende Kraft des Sittengesetzes aus den von der Allgemeinheit als richtig erkannten Kulturanschauungen abzuleiten. Dieser insbesondere vom Bundesverfassungsgericht verfolgte Weg, das Sittengesetz für das Grundgesetz fruchtbar zu machen, will nicht einer bestimmten philosophischen Maxime folgen, sondern auf eine soziologische Betrachtung zurückgehen. Damit lehnt das höchste deutsche Gericht zwar eine aus sich selbst heraus geltende Sittenordnung als rechtlich irrelevant ab, sieht aber in dem empirisch festgestellten Sittengesetz mehr als nur einen soziologischen Sachverhalt.
Das Gericht gesteht ausdrücklich zu, daß sich sittliche Anschauungen ändern können. Insoweit erkennt es auch das Sittengesetz als eine vom Menschen gestaltete zeit-und raumgebundene Ordnung an, die von den jeweiligen Wertungen der Gesellschaft abhängig ist. Das Sittengesetz steht nicht unveränderlich fest, sondern ist dem Wandel der Anschauungen über das, was als sittlich gilt, unterworfen. Danach kann, was früheren Vorstellungen sittenwidrig erschien, heute dem Sittengesetz entsprechen, und was heute gegen das Sittengesetz verstößt, zukünftig als sittlich anerkannt sein. Jede Epoche hat ihr eigenes Sittengesetz, so daß sein Inhalt stets neu festgestellt werden muß.
Nicht deutlich wird, wessen Anschauungen für die Beurteilung dessen, was als unsittlich empfunden wird, maßgebend sein sollen. Zu Recht erkennt das Gericht dem sittlichen Gefühl des Richters keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu, denn eine Beurteilung des Sittlichen allein nach den sittlichen Vorstellungen des zuständigen Richters erhebt ihn zum sittlichen Gesetzgeber. Eine solche Stellung des Richters ist dem Grundgesetz jedoch fremd. Zwar bindet das Grundgesetz die recht-sprechende Gewalt ausdrücklich nur an Recht und Gesetz, nach den gegenwärtigen Vorstellungen von der richterlichen Funktion hat der Richter aber grundsätzlich nicht sein eigenes Wollen durchzusetzen, sondern das ihm aufgegebene Sollen zu verwirklichen. Unberücksichtigt bleiben sollen bei der Feststellung des Sittengesetzes auch die Anschauungen einzelner Volksteile. Noch im „Sün-derin" -Fall hatte die Rechtsprechung ursprünglich bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit des Films ausschließlich auf die vorherrschenden sittlichen Überzeugungen am Aufführungsort abstellen wollen. Ein solches „lokales" Sittengesetz wird jedoch dem überregionalen Wirkungskreis des Grundgesetzes nicht gerecht, das eine einheitliche Regelung innerhalb seines Geltungsbereichs beansprucht, so daß eine Auflösung des Sittengesetzes in eine Vielzahl regional geltender Moralvorstellungen ausgeschlossen ist.
Es wäre aber falsch, wollte man hieraus bereits folgern, daß es für den Inhalt des Sittengesetzes niemals auf die Anschauungen eines Bevölkerungsteiles ankommen könne. Die . moralischen Ansichten eines einzelnen Volksteiles mögen für die Feststellung eines objektiv geltenden Sittengesetzes nicht ausreichen, sofern der Bevölkerungsteil als zahlenmäßige Minorität betrachtet werden muß, deren sittliche Überzeugungen sich von den allgemeinen moralischen Auffassungen abheben. Die von einer sich durch gemeinsame Strukturmerkmale auszeichnenden Gruppe getragene ethische Gesinnung hat keine Bedeutung für das objektive Sittengesetz, wenn diese Anschauung nicht Ausdrude der allgemeinen Überzeugung ist. Das Problem stellt sich aber anders dar, falls diese Gruppe zum Repräsentanten der Allgemeinheit wird. Hierbei ist nicht an eine gehobene Klasse oder Gesellschaftsschicht zu denken, deren Weltanschauung für die Beurteilung dessen, was objektiv als sittlich oder unsittlich gilt, mitunter jedenfalls von dieser selbst als maßgebend empfunden wird. Ausgangspunkt ist vielmehr die Feststellung, daß es Verhaltensweisen gibt, die ihrem Inhalt nach auf bestimmte Gruppen — Medizinier, Juristen, Soldaten u. a. — innerhalb der Gesamt-gesellschaft beschränkt sind. Die in diesen Gruppen geltenden Wertanschauungen über sittliches Verhalten ihrer Gruppenmitglieder bestimmen, soweit sie sich ausschließlich auf den zuständigen Sachbereich der Gruppe beziehen, den Inhalt des allgemeinen Sittengesetzes. Sie unterscheiden sich damit von den nur regional geltenden Moralvorstellungen und denen, die in einzelnen Kreisen gepflegt werden, dadurch, daß hierzu außerhalb ihrer Gruppe keine moralischen Regeln entwickelt werden. Zumindest unter dieser Voraussetzung könnte auch die sittliche Anschauung eines Bevölkerungsteiles für die Feststellung dessen, was allgemein innerhalb dieses Lebensbereiches als sittlich oder unsittlich gilt, maßgebend sein.
In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Homosexualität bleibt offen, was unter der „Allgemeinheit", auf deren Anschauung bei der Feststellung des Sittengesetzes abzustellen sei, zu verstehen ist. Deshalb kann eine auch in der Rechtswissenschaft anzutreffende Auslegung dieser Entscheidung nicht von vornherein ausgeschlossen werden, nach der unter der „Allgemeinheit" weder die Summe noch die Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder, sondern eine darüber hinausgehende selbständige Größe verstanden wird. Offensichtlich soll durch den Rückzug auf die Anschauung der „Allgemeinheit" oder„Offent-lichkeit" eine Verobjektivierung des Sittengesetzes erreicht werden, so daß die sittlichen Vorstellungen der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft unbeachtlich wären und es nur noch auf die moralischen Anschauungen der Gesellschaft als Träger eines eigenen Bewußtseins ankäme. Hierdurch wird versucht, den Subjektivismus in der Gesellschaft zu überwinden und ein wandelbares, aber für die Regelung der innergesellschaftlichen Beziehungen objektiviertes Sittengesetz zu begründen. Dieser Versuch ist bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt, weil er nicht von der Werterfahrung des einzelnen ausgeht, sondern sich auf ein angebliches Bewußtsein eines vermeintlich bestehenden selbständigen Ganzen stützt. Weder die Allgemeinheit noch die Öffentlichkeit können aber Träger eines Allgemeinbewußtseins sein, da die Erkenntnis-möglichkeit ausschließlich dem Individuum vorbehalten ist. Jedenfalls kann ein Wille oder eine Vernunft der Gesellschaft als Allgemeinheit oder Öffentlichkeit kein Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sein. Deshalb können von der Allgemeinheit oder Öffentlichkeit als einer dem einzelnen übergeordneten und selbständig gedachten Einheit keine Anschauungen über das, was vom Sittengesetz geregelt wird, erwartet werden. Denkbar ist allenfalls, daß die sittlichen Anschauungen bestimmter einzelner vom Recht für die gesamten Rechtsgenossen als Sittengesetz der Rechtsgemeinschaft verbindlich angeordnet werden. Das hätte zur Folge, daß die herrschenden sittlichen Normen die der Herrschenden sind. Eine solche rechtliche Konstruktion widerspräche aber dem Grundgesetz, das für den Bereich der Sittlichkeit keine Kompetenznorm enthält, die eine Repräsentation zuläßt. 4. Das Sittengesetz als herrschende sittliche Ordnung Läßt sich ein inhaltlich bestimmtes absolut Richtiges nicht nachweisen und ist auch ein der Erkenntnis eines Allgemeinbewußtseins zugängliches objektives Sittengesetz nicht begründbar, so muß der Ansatz für eine ausschließlich vom Einzelmenschen ausgehende Lösung gesucht werden.
Ist auch für das sittliche Sollen festgestellt worden, daß es Sinn eines Willensaktes ist, so kann eine bestimmte sittliche Norm nur Sinn eines menschlichen Willens sein. Läßt man außerdem für die Geltung einer sittlichen Norm die Erklärung des Willens als ausreichend erscheinen, dann gibt es eine Vielzahl von Sittengesetzen. Ein so verstandener Begriff des Sittengesetzes ist jedoch für das Grundgesetz unbrauchbar, weil damit dem Richter kein verbindlicher Maßstab zur Verfügung gestellt wird, sondern ihm allgemein die Entscheidung überlassen bleibt, welche Sittlichkeitsnorm er anwendet. Das widerspräche aber dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes. Selbst wenn man nur jene sittlichen Normen als dem Sittengesetz zugehörig betrachten wollte, die Wirksamkeit erlangt haben, weil sie vom einzelnen als ihn verpflichtend erkannt und befolgt worden sind, ließe sich zumindest in unserer Gesellschaft eine einheitliche Sittenordnung nicht feststellen. Audi hier bliebe offen, welche von mehreren sittlichen Normen im Recht angewendet werden sollen.
Als eine Lösungsmöglichkeit hietet sich die Anwendung des jeweils herrschenden Sittengesetzes an. Damit würde aus der Zahl der wirksamen Sittengesetze jenes rechtlich verbindlich zu betrachten sein, das vorherrschend ist. Fraglich bleibt hierbei, wonach sich bestimmt, welche sittlichen Normen die herrschenden sind.
Das könnte einmal rein statistisch festgestellt werden, indem jeweils die sittlichen Normen als herrschend betrachtet werden, die die Mehrzahl der Bevölkerung anerkennt. Bei dieser Untersuchungsmethode käme es auf die Anschauung jedes einzelnen ohne Rücksicht auf Bildung, Stand, Religionszugehörigkeit u. a. an. Im Ergebnis müßte sich jedei Außenseiter, unabhängig davon, ob er besonders strenge oder freizügige Vorstellungen über sittliches Verhalten entwickelt hat, den von der Mehrheit getragenen Ansichten unterwerfen. Nicht auf die tatsächlichen Anschauungen der einzelnen kommt. es für die Feststellung des herrschenden Sittengesetzes an, wenn für maßgebend erachtet wird, was „anständige" Leute darüber denken und empfinden, wie „man sich gehörig unter gesitteten Menschen" verhält. Ähnliches kommt in der auch vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwGE 10, 164) verwendeten Formulierung zum Ausdrude, in der auf die „vom Herkommen und Erziehung geformte und selbständig fortgebildete Anschauung verständiger, billig und gerecht denkender Menschen in einem Rechts-und Kulturkreis“ abgestellt wird. Hier werden die sittlichen Über-zeugungen „normierter" Menschen zum Sittengesetz erhoben.
Der Versuch, das herrschende Sittengesetz von der Anschauung des „anständigen Durchschnittsmenschen" abhängig zu machen, erweist sich deshalb spätestens an dieser Stelle als gescheitert, weil sich hieran unmittelbar die Frage anschließen muß, wie die Normen festgestellt werden können, die verbindlich die Auswahlkriterien festlegen, nach denen der „anständige Durchschnittsmensch" zu bestimmen ist. Das gilt auch für den vom Bundesgerichtshof (BGHSt. 5, 346 f.; GA 1961, 240) erzeugten „künstlerisch aufgeschlossenen oder zumindest um Verständnis bemühten, wenn auch literarisch nicht besonders vorgebildeten Menschen", dessen Kunstverständnis für die Beurteilung eines Kunstwerkes zugrunde zu legen sei. Will man hier nicht empirisch die Anschauung des „realen" Menschen erforschen und zur Grundlage für seine Entscheidung machen, so ist man gezwungen, entweder auf eine vermeintlich vorgegebene Wertordnung zurückzugreifen oder aber eine selbständige Wertentscheidung zu treffen. Wollte man sich auf vorausgesetzte Wertmaßstäbe zurückziehen, so wäre das von vornherein ebenso ausgeschlossen wie der Rückgriff auf ein absolutes Sittengesetz, weil sie als dem Menschen vorgegebene Normen wissenschaftlich nicht bewiesen werden können. Gerade diese letzte Lösung scheint aber den Gerichten allein erstrebenswert zu sein, wenn dem Richter die Aufgabe zufallen soll, selbst zu beurteilen, wie ein „Kunstwerk" auf diese gedachte Person wirkt. Die sich dahinter verbergende Abneigung des Richters, einzelne Frauen und Männer als Zeugen über ihre Eindrücke von dem Werk zu vernehmen, kann, so verständlich diese Haltung auch ist, diese Methode nicht rechtfertigen. Im übrigen ist auch bei einer rein soziologischen Betrachtung der Aufmarsch von Zeugen zur Erforschung der herrschenden Anschauung nicht erforderlich. Die andere Möglichkeit, den,, Durchschnittsmenschen" normativ durch den Richter bestimmen zu lassen, ist in einer auf die Erkenntnis vorhandener Normen ausgerichteten Untersuchung keine Lösung. Sie ist im Bereich des Grundgesetzes auch nicht zulässig, weil der Richter nach Art. 20 GG nur an Gesetz und Recht gebunden ist und nicht ohne Ermächtigung derartige Normen setzen darf.
Solche in Rechtsprechung und Wissenschaft immer wieder anzutreffenden Formeln sind nicht nur rechtlich unbrauchbar, sie sind auch politisch höchst bedenklich, wenn die „Anschauungen des billig und gerecht denkenden" Menschen als die moralischen Überzeugungen der „maßgebenden pflichtbewußten Kreise" ausgegeben werden. Hier wird das „Allgemeingut der abendländischen Kultur" mit der Ansicht der „kulturtragenden" Bevölkerungsschicht von diesem „Allgemeingut"
gleichgestellt. Daß damit die sittlichen Über-zeugungen einer bestimmten Gesellschafts-
Schicht zum allgemeinverbindlichen Sittengesetz erhoben werden, ist offensichtlich. Nur so wird verständlich, daß die gewandelten Anschauungen in der Bevölkerung insbesondere auf dem Gebiete der Sexualität noch als Mißstände und nicht als Ausdruck sittlichen Verhaltens behandelt werden.
Für eine befriedigende Lösung dieses Problems steht daher nur der Weg offen, die tatsächlichen Anschauungen der einzelnen Menschen zur Grundlage der Erforschung dessen zu machen, was allgemein als Sittengesetz in der Rechtsgemeinschaft anerkannt wird. Das bedeutet jedoch nicht, daß die bestehenden sittlichen Zustände mit dem Sittengesetz gleichgesetzt werden müssen. Durch die Erfassung dieser Zustände kann nur festgestellt werden, wie man sich verhält, aber nicht, wie man sich verhalten soll. Maßgeblich können deshalb nur die Anschauungen darüber sein, was als sittlich gebotenes Verhalten gefordert wird. Nur bei der Feststellung dieser Erwartung kommt dem tatsächlichen Verhalten insoweit eine beachtliche Bedeutung zu, als daraus auf eine bestimmte Überzeugung vom sittlich für geboten erachteten Verhalten gefolgert werden kann. Die bestehenden Verhältnisse in einer Gesellschaft sind deshalb nur als ein Indiz für die vorherrschenden Anschauungen zu betrachten, wobei ihnen jedoch in dieser Funktion große Erheblichkeit zukommt.
Sind die bestehenden sittlichen Anschauungen der Rechtsgemeinschaft empirisch festzustellen, so bleibt offen, unter welchen Voraussetzungen zwischen verschiedenen sittlichen Über-zeugungen eine als herrschend betrachtet und als allgemeinverbindliches Sittengesetz rechtlich angewendet werden kann. Fraglich bleibt auch, ob alle sittlichen Normen zum Sittengesetz im Sinne des Grundgesetzes gehören oder nur eine bestimmte Auswahl. 5. Das Sittengesetz als ethisches Minimum Das Grundgesetz enthält keine ausdrückliche Vorschrift, aus der sich unmittelbar entnehmen ließe, welche sittlichen Normen als Sittengesetz rechtlich verbindlich sind. Dagegen umfaßt es eine Reihe von Bestimmungen, die anordnen, unter welchen Voraussetzungen Befehle der gesetzgebenden Organe rechtliche Verbindlichkeiten erlangen. Von diesen Vorschriften sind für das hier anstehende Problem die Verfahrensregeln über das erforderliche Quorum von besonderem Interesse. Sie bringen zum Ausdruck, daß die Anschauung über das, was Recht sein soll, Recht wird, wenn eine vorgeschriebene Anzahl von Menschen der Überzeugung ist, daß eine bestimmte Verhaltensregel Gesetz werden soll. Wird dagegen das vorgeschriebene Quorum nicht erreicht, so ist niemand an diese Verhaltens-vorschrift rechtlich gebunden.
Es liegt nahe, den in diesen Verfassungsnormen zum Ausdruck kommenden Gedanken auf die Feststellung des herrschenden Sittengesetzes zur Anwendung zu bringen. Dafür spricht vor allem, daß es auch hierbei darum geht, bestimmte Verhaltensregeln mit Rechtswirkung auszustatten. Zwar wird die sittliche Geltung der Verhaltensnormen vorausgesetzt, die mögliche Vielzahl sich widersprechender Moralauffassungen zwingt aber zu einer Auswahl unter rechtlichem Gesichtspunkt. Es ist deshalb nur konsequent, die Auswahl nach dem im Grundgesetz für die Gesetzgebung vorgeschriebenen Mehrheitsprinzip zu treffen. Das erscheint auch geboten, weil dieses Prinzip Ausdruck des demokratischen Staatsverständnisses ist und insoweit ein allgemeines Strukturprinzip des Grundgesetzes bildet. Einer Anwendung dieses Grundsatzes bei der Übernahme sittlicher Normen in das Grundgesetz steht auch nicht das Repräsentationsprinzip entgegen. Hiernach ist zwar für den Erlaß von Gesetzen ausschließlich ein verfassungsmäßig bestelltes Organ berufen, das im Namen des Volkes handelt. Dieses Prinzip gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Die Erzeugung von Rechtsnormen kann sich auch außerhalb des Repräsentationsorgans unmittelbar in der Gemeinschaft vollziehen, wie die Entstehung von Gewohnheitsrecht beweist. Da die Bildung von Gewohnheitsrecht weitgehend der sittlicher Normen-entspricht und das Grundgesetz selbst keine Regeln für die Erzeugung rechtlich relevanter Moralvorschriften enthält, ist das Repräsentationsprinzip für die Juridifizierung des Sittengesetzes ohne Bedeutung.
Eine entsprechende Anwendung des Mehrheitsprinzips erfordert nicht, bereits solche Anschauung in das Sittengesetz aufzunehmen, die von einfachen Mehrheiten der Bevölkerung getragen werden. Das Majoritätsprinzip besagt vorerst nur, daß jedenfalls nicht nur solche Überzeugungen zum Sittengesetz gezählt werden dürfen, die von der Gesamtheit getragen werden. Wollte man allein die übereinstimmend anerkannten Moralnormen für rechtlich verbindlich erklären, wäre von vornherein eine rechtliche Relevanz des Sittengesetzes ausgeschlossen. Andererseits erscheint eine nur von einer einfachen Mehrheit getragene Überzeugung wegen der dem Sittengesetz im Grundgesetz zukommenden Bedeutung nicht ausreichend'; hierfür bedarf es der Zustimmung größerer Bevölkerungsteile. Daß qualifizierte Mehrheiten bei solchen Vorschriften für notwendig erachtet werden, ist der Verfassung selbst nicht fremd, wie die verfassungsändernden Bestimmungen, die beispielsweise eine Zwei-Drittel-Mehrheit erfordern, beweisen. Deshalb muß — wird mit dem Bundesverfassungsgericht das Sittengesetz zum Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze erhoben — eine sittliche Norm in der Rechtsgemeinschaft breite Anerkennung finden, bevor sie in das Rechtsgefüge aufgenommen werden darf.
Die für eine Juridifizierung erforderliche Anerkennung sittlicher Normen durch die Bevölkerung kann nicht in einem bestimmten Prozentsatz verbindlich ausgedrückt werden. Es braucht auch nicht zu ihrer Feststellung eine Volksbefragung oder eine Meinungsumfrage durchgeführt zu werden. Ausreichend, aber notwendig für die Aufnahme der sittlichen Normen in die Rechtsordnung ist die Evidenz ihrer allgemeinen Anerkennung. Hiernadi muß die Zugehörigkeit eines sittlichen Verhaltens zum Sittengesetz offenkundig sein. Dies in eigener Verantwortung zu ermitteln, ist Aufgabe des zuständigen Richters. Dabei darf er sich allerdings nicht auf seine höchst-persönlichen Empfindungen verlassen, sondern muß sich bemühen, einen überprüfbaren Nachweis seiner Entscheidung zu bringen. Es genügt deshalb insbesondere in Zeiten des sittlichen Wertwandels nicht, sich auf die überkommenen Anschauungen zurückzuziehen. Auch ist eine bloße Behauptung wie diejenige, die gleichgeschlechtliche Betätigung verstoße gegen das Sittengesetz, völlig unzureichend, wenn nachweislich gerade über diese Frage verschiedenste Anschauungen unter der Bevölkerung bestehen. Untragbar sind mithin z. B. auch richterliche Entscheidungen, die den Geschlechtsverkehr unter Verlobten für unsittlich erklären, wenn nach statistischen Erhebungen 98 0/0 der Bevölkerung ihn grundsätzlich billigen. Gleiches gilt für die Beurteilung der Tubenligatur, die entgegen der Rechtsprechung von immerhin 48 °/o der Befragten für zulässig und nur von 18 0/0 für unsittlich gehalten wird. Es wird deshalb vor allem von den Umständen des Einzelfalles abhängen, welche Anforderungen an einen Nachweis der Geltung einer Norm des Sittengesetzes durch den Richter zu stellen sind. Ist die Evidenz zweifelsfrei nicht festzustellen, muß immer zugunsten der Freiheit des einzelnen entschieden werden.
Die allgemeine Anerkennung einer sittlichen Norm berechtigt allerdings nicht schon, sie zum Sittengesetz im Sinne des Grundgesetzes zu zählen. Als Bestandteil des Grundgesetzes steht das Sittengesetz in einem Kontext zu den übrigen Verfassungsbestimmungen. Daher dürfen nur solche Moralvorschriften juridifi-ziert werden, die nicht im Widerspruch zu den Rechtsnormen des Grundgesetzes stehen. Es kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, daß der Verfassungsgeber die Geltung der erlassenen Verfassungsbestimmungen von den zukünftigen sittlichen Anschauungen jedenfalls insoweit abhängig machen wollte, daß sie widersprechende Verfassungsbestimmungen außer Kraft setzen. Hierfür spricht nicht nur seine Überzeugung, daß das Grundgesetz im Einklang mit dem zeitlos geltenden Sittengesetz steht, sondern auch das verfassungsrechtlich normierte Verfahren einerGrundgesetzänderung. Danach ist eine Änderung solcher Grundsätze, die in der »Ewigkeitsklausel'1 des Art. 79 Abs. 3 GG verankert sind, durch eine bloße Wandlung der moralischen Überzeugungen vom Wert dieser Verfassungsprinzipien ausgeschlossen; denn der Sinn der Perpetuierung würde in sein Gegenteil verkehrt, wollte man die Verfassungsgrundsätze, die der Kompetenz des Verfas-sungsänderers entzogen worden sind, dem Wandel des Sittengesetzes unterwerfen. Aber auch die abänderbaren Verfassungsbestimmungen können nur im hierfür vorgesehenen Verfahren und nicht außerhalb dieser Vorschriften durch widersprechende sittliche Normen geändert werden. Rechtliche Verbindlichkeit erhalten solche Moralbestimmungen erst, wenn die widersprechenden Verfassungsnormen hiermit in Einklang gebracht worden sind. Danach kommt dem Sittengesetz im Grundgesetz nur Verfassungsrang zu, so daß es zwar dem Gesetzesrecht, nicht aber dem Verfassungsrecht vorgeordnet ist. Deshalb ist das so verstandene Sittengesetz mit den übrigen Verfassungsbestimmungen gleichrangig. Das Grundgesetz enthält insoweit keine Verfassungsbestimmung, die gegen das Sittengesetz, wie es im Grundgesetz verankert ist, verstoßen könnte. Von einer sittenwidrigen Verfassungsbestimmung kann überhaupt nur gesprochen werden, wenn man von solchen sittlichen Normen ausgeht, die nicht in das Grundgesetz inkorporiert worden sind. Derartige Bestimmungen sind jedoch rechtlich irrelevant, weil sie unmittelbar keine rechtliche Wirkung besitzen. Deshalb mag denjenigen, die glauben, daß Schwarze Angehörige einer niederen Rasse seien und somit nicht mit den gleichen Rechten wie die Weißen ausgestattet werden dürften, das Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes als sittenwidrig erscheinen; jedoch ist diese „sittliche" Beurteilung der Verfassungsbestimmung rechtlich ohne Bedeutung. Überhaupt sind sittliche Bindungen des Verfassungsgebers rechtlich nicht beachtlich. Zwar werden sittliche Vorstellungen der an der Verfassungsgebung beteiligten Personen darüber, wie die gesellschaftlichen Beziehungen zu regeln sind, über das Rechtsetzungsverfahren in die Verfassung als Rechtsvorschrift umgesetzt, aber die Vorstellungen erlangen erst mit dem Inkrafttreten der Verfassung rechtliche Geltung. Das folgt notwendig aus der prinzipiellen Trennung von Rechts-und Sittenordnung. Verstoßen hiernach einzelne Grundgesetzbestimmungen gegen sittliche Normen, so muß davon ausgegangen werden, daß der Verfassungsgeber ihnen keine rechtliche Bedeutung zugemessen hat, da er solche sittlichen Normen widersprechende Vorschriften im Grundgesetz für rechtlich verbindlich erklärt hat. Derartige Moralnormen gehören nicht zum Sittengesetz im Sinne des Grundgesetzes.
Einer Einbeziehung aller allgemein anerkannter Moralnormen in das vom Grundgesetz inkorporierte Sittengesetz sind durch verschiedene Grundrechte Schranken zugunsten auch individueller sittlicher Überzeugungen gezogen worden. Hierzu zählt vorrangig Art. 4 Abs. 1 GG, der die Gewissens-und Bekenntnisfreiheit gewährleistet. Dieses Grundrecht garantiert dem einzelnen einen bestimmten Rechtsbereich, innerhalb dessen er sein Leben in Übereinstimmung mit seiner Überzeugung vom sittlichen Wert seines Verhaltens einrichten darf. Innerhalb dieses Lebensbereichs ist er dem Sittengesetz ebensowenig unterworfen wie dem Rechtsgesetz. Hier wird den Forderungen des Einzelgewissens Vorrang gegenüber den entgegenstehenden Rechts-und Sittengeboten eingeräumt. Die Berufung auf das Grundrecht unterliegt keiner rechtlich relevanten sittlichen Bewertung mehr, so daß eine Bindung der Gewissens-und Bekenntnisfreiheit an irgendwelche sittlichen Grundanschauungen nicht besteht.
Unabhängig von der Freiheit des Gewissens garantiert auch Art. 1 Abs. 1 GG, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, dem einzelnen einen Freiheitsraum, der keiner Fremdbestimmung zugänglich ist. Das Grundrecht anerkennt damit einen uneinschränk-baren Anspruch, sich selbst zu bestimmen und die Umwelt zu gestalten. Innerhalb dieses Bereichs kann der einzelne nach seinen eigenen sittlichen Vorstellungen leben ohne Rücksicht darauf, ob sie mit den allgemein anerkannten Moralgrundsätzen übereinstimmen oder ihnen entgegenstehen. Nur so kann dieser Artikel verstanden werden, denn anderenfalls würde die Einzelpersönlichkeit zwar gegenüber Eingriffen durch Rechtsnormen geschützt, den möglicherweise weitergehenden Beschränkungen des Sittengesetzes aber unterworfen sein.
Daher gehören solche sittlichen Normen nicht zum Sittengesetz im Sinne des Grundgesetzes, die den durch Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Freiheitsraum berühren. Auch Art. 2 Abs. 1 GG gestattet eine Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit nicht durch jede anerkannte Moralbestimmung. Eine sittliche Norm kann nur die Handlungsfreiheit beschränken, wenn der Gemeinschaft ein vorrangiges Interesse an der Durchsetzung der korporativen Moralordnung zuerkannt werden kann. Nur dort, wo sich der einzelne in Widerspruch zu allgemein anerkannten sittlichen Normen verhält, die für die Bestandssicherung der Gemeinschaft notwendig sind, muß er hinter das Sittengesetz zurücktreten. Allein unter diesen Voraussetzungen ist ein Rückgriff auf das Sittengesetz im Grundgesetz zulässig, das die Autonomie der sittlich bestimmten Persönlichkeit zur Grundentschei-düng erhoben hat. Damit hat der Verfassungsgeber nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen der nationalsozialistischen Herrschaft, unter der „Gemeinnutz" und „gesundes Volksemp-finden" unbedingten Vorrang vor der Einzel-persönlichkeit hatten, darauf verzichten wollen, den einzelnen durch das Recht dem Gebot ethischer Gesinnung zu unterwerfen. Das Sittengesetz findet daher unter dem Grundgesetz nur als „ethisches Minimum" rechtliche Anwendung.
IV. Zusammenfassung
Es gehörte nicht zum Gegenstand dieser Untersuchung, anhand der entwickelten Kriterien das positiv geltende Sittengesetz festzustellen. Hierzu hätte es umfassender empirischer Untersuchungen bedurft. Auch ging es nicht um eine Beantwortung der Frage, warum Menschen ein Verhalten allgemein als richtig und gut angesehen haben und noch ansehen und warum sie absolute Geltung für ihr Normen-System beanspruchen. Diese Probleme zu klären sind Aufgabe der Psychologen, Soziologen und Historiker, nicht aber der Juristen. Ihre Klärung trägt zur Beantwortung der hier angeschnittenen Frage, wie der Begriff des Sittengesetzes im Sinne des Grundgesetzes zu verstehen sei, unmittelbar nichts bei.
Von dem erörterten Problemkreis zu trennen ist auch die Suche nach Maßstäben, mit Hilfe derer zukünftig geltende Ordnungen entworfen werden könnten. Solche konkreten Utopien wollen nicht beschreiben, was sein soll, sondern erklären, was sein sollte. Sie zielen darauf ab, Aussagen über die Ordnung von morgen zu machen und Motor für eine juristische Evolution zu sein. Die Aufstellung von Entwürfen über das, was noch nicht Sittengesetz und Rechtsordnung ist, aber Sittengesetz und Rechtsordnung sein soll, ist grundsätzlich zu unterscheiden von dem Streben, festzustellen, was als Sittengesetz jetzt und hier gilt. Das Ziel dieser Untersuchung war es, juristisch erhebliche Kriterien aufzuzeigen, nach denen das geltende Sittengesetz bestimmt werden kann.
Das hier dargelegte Modell eines Sittengesetzes im Sinne des Grundgesetzes enthält weitgehend nur formelle Kriterien. Es gründet auf der Einsicht, daß die Erkenntnis eines inhaltlich vorgegebenen und allgemein verbindlichen Sittengesetzes wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden kann. Daher mußte bei der Auslegung des Sittengesetzes davon ausgegangen werden, daß es eine Vielzahl möglicher, sich auch widersprechender sittlicher Vorstellungen gibt — was auch empirisch ohne Schwierigkeit nachweisbar ist —, ohne daß dem einen oder anderen sittlichen Normen-system von vornherein ein Vorrang eingeräumt werden kann. Das ist schlechterdings unmöglich, weil vom Standpunkt des Wert-relativismus eine absolute Wertordnung als allgemeinverbindlicher Maßstab nicht erkennbar ist.
Eine Erklärung des im Grundgesetz verankerten Sittengesetzes erfordert notwendig eine Auswahl unter den geltenden sittlichen Normen, weil sich widersprechende Vorstellungen nicht gleichzeitig Bestandteil einer Ordnung sein können. Die hierfür maßgeblichen Auswahlkriterien müssen ausschließlich rechtlicher Art sein, denn das Problem der Zugehörigkeit von Rechtsnormen zu einem geltenden Rechtssystem ist eine Rechtsfrage und daher mit den rechtlichen Interpretationsmethoden zu lösen. Hierbei ging es vorrangig darum, die formellen Kriterien aufzuzeigen, die notwendig sind, um die Zugehörigkeit einer Moralvorschrift zum rechtlich relevanten Sittengesetz bestimmen zu können. Ohne die Offenlegung des formellen Auswahlverfahrens lassen sich nämlich keine Aussagen über den Inhalt der zum Sittengesetz gehörenden Sittennormen machen. Insoweit ist bewußt an die Vorstellung angeknüpft worden, die hinter dem Gesetzgebungsverfahren des Grundgesetzes steht. Allerdings wird die entsprechende Anwendung dieses formellen Verfahrens durch die materiellen Vorschriften der Grundrechte ergänzt. Sie verbieten, solche sittlichen Normen in das Grundgesetz zu inkorporieren, die ihnen widersprechen. Auf dieser Grundlage kann festgehalten werden, daß das Sittengesetz als ethisches Minimum verstanden werden muß.