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Die Berlin-Frage -Grundstrukturen eines zentralen internationalen Problems | APuZ 21/1971 | bpb.de

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APuZ 21/1971 Die Berlin-Frage -Grundstrukturen eines zentralen internationalen Problems Herrschaftssystem und Staatsapparat der Sowjetunion zwischen dem XXIII. und XXIV. Parteitag

Die Berlin-Frage -Grundstrukturen eines zentralen internationalen Problems

Gerhard Wettig

/ 82 Minuten zu lesen

Die europäische Entspannung und Berlin

Boris Meissner Herrschaftssystem und Staatsapparat der Sowjetunion zwischen dem XXIII. und XXIV. Parteitag . . . . S. 35

Ein Abbau der politischen Konfrontation in Europa ist seit langem der Wunsch der westlichen Öffentlichkeit und das Bestreben der westlichen Regierungen. Bereits in den Jahren 1966 und 1967 schien die sowjetische Führung auf derartige Dispositionen eingehen zu wollen, als sie unter der Parole der „europäischen Sicherheit" eine gesamteuropäische Annäherung und eine Überwindung der europäischen Spaltung proklamierte. Der sowjetische Kurs war jedoch in erster Linie darauf ausgerichtet, die westeuropäische Öffentlichkeit gegen die amerikanisch-atlantischen Bindungen ihrer Länder zu beeinflussen. Im Verhältnis zu den westlichen Staaten und ihren Regierungen erschien eine Entspannung nur insoweit angebracht, wie diese durch ihr Verhalten den Prozeß einer Lösung von den USA und von der NATO begünstigten. Dementsprechend wurde das gaullistische Frankreich hofiert, während die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik Deutschland als angebliche Erz-widersacher des Friedens und der Entspannung in Europa angegriffen wurden. Außerdem zeigte sich immer deutlicher, daß die sowjetische Führung die propagierte gesamteuropäische Annäherung und Überwindung der europäischen Spaltung, was ihren europäischen Machtbereich betraf, keinesfalls im Sinne westeuropäischer Erwartungen als einen wechselseitigen Ausgleich bestehender struktureller Antagonismen oder einen wechselseitigen Abbau bisheriger konfrontativer Einstellungen realisiert sehen wollte. Die Nie-derzwingung des tschechoslowakischen Re-formkommunismus durch die militärische Macht der UdSSR entzog den sowjetischerseits in Westeuropa geweckten Entspannungshoffnungen die Grundlage. Die Männer im Kreml ihrerseits kamen zu der Ansicht, daß eine Entspannungspolitik, die im eigenen Lager Entwicklungen wie die des „Prager Frühings" ermutigen und begünstigen könne, ein a zu großes Risiko in sich schließe und daher aufgegeben werden müsse.

Seit dem Budapester Appell vom 17. März 1969 sucht die sowjetische Führung jedoch mit einer neuen Version der „europäischen Sicherheit" eine andere, gegen die früheren Risiken abgesicherte Entspannungspolitik zu betreiben. Alle Themen, die in Osteuropa Zweifel an der unverminderten Fortdauer sowjetischer Disziplin wecken mochten, wurden fallengelassen. Die sowjetischen Entspannungsinitiativen waren an die westeuropäischen Regierungen als die entscheidenden Adressaten gerichtet: Die Entspannung des politischen Klimas zwischen den europäischen Staaten, die das er-klärte Ziel darstellt, soll nunmehr mittels Anknüpfung und Durchführung von zwischenstaatlichen Verhandlungen erreicht werden. Von zentraler Wichtigkeit ist somit das Zustandekommen der vorgeschlagenen gesamteuropäischen Konferenz über Sicherheitsfragen. Im Unterschied zu früher hängt der Erfolg der sowjetischen Europa-Politik jetzt entscheidend davon ab, inwieweit die westlichen Regierungen auf die ihnen unterbreiteten sowjetischen Vorstellungen eingehen. Moskau ist daher — anders als bei vorausgegangenen Kampagnen in der westeuropäischen Öffentlichkeit — auf Bereitschaften seiner politischen Partner im Westen angewiesen. Eine Differenzierung dieser Partner nach solchen, die den sowjetischen Europa-Zielen Vorschub leisten, und solchen, die als Gegner bekämpft werden, ist nicht mehr gut möglich, weil die gesamteuropäische Konferenz nur mit der Zustimmung aller wichtigen Teilnehmer und auf Grund westlicher Regierungsüberzeugung von einem echten sowjetischen Entspannungswillen zustande kommen kann. Außerdem hat sich die sowjetische Führung genötigt gesehen, ihre frühere Strategie der Vorbedingungen für eine Entspannung des Verhältnisses zu den Ländern des sowjetischen Machtbereichs aufzugeben (namentlich bezüglich eines Abrückens von NATO und EWG), weil sonst mit der Anknüpfung der gesuchten Verhandlungen von vornherein nicht zu rechnen gewesen wäre. Auch wenn dies natürlich keinen Verzicht der UdSSR darauf bedeutet, ihre Anti-NATOund Anti-EWG-Ziele im Verlauf der Verhandlungen direkt oder indirekt weiter zu verfolgen, so sind die westlichen Staaten doch auf diese Weise von dem Verlangen verschont, sich vor jeder Verbesserung ihrer Ostbeziehungen der sowjetischen Politik zu fügen.

In sowjetischer Sicht stellen die Verträge, welche die Bundesrepublik Deutschland mit der UdSSR und mit Polen abgeschlossen hat entscheidende Stationen auf dem Weg zum Zusammentritt einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz und zur Lösung der Probleme der „europäischen Sicherheit“ dar. Die Vertreter der Bundesrepublik haben jedoch nie einen Zweifel daran gelassen, daß nach ihrer Auffassung die im Moskauer Vertrag geregelte Normalisierung des bundesdeutsch-sowjetischen Verhältnisses praktisch nicht möglich sei, wenn nicht auch in Berlin als einem permanenten Krisenpunkt der beiderseitigen Beziehungen ein dauerhafter Modus vivendi gefunden werden könne. Bundesdeutschen Darstellungen zufolge, die in die Presse gelangt sind, hat die sowjetische Führung diesen Standpunkt akzeptiert und ihre Bereitschaft zu einer für alle Beteiligten annehmbaren Berlin-Regelung zugesichert. Der Brüsseler NATO-Rat hat, ähnlichen Verlautbarungen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs folgend, Anfang Dezember 1970 eine befriedigende Berlin-Regelung zum Test der Entspannung in Europa und zur Voraussetzung für den Zusammentritt einer Konferenz für die Sicherheit Europas erklärt. In den öffentlichen Stellungnahmen der UdSSR wird jeder Zusammenhang zwischen einer Übereinkunft in der Berlin-Frage und dem Inkrafttreten des Moskauer Vertrages oder der Abhaltung einer gesamteuropäischen Konferenz geleugnet. Eine lebhafte Kampagne richtet sich gegen den, wie es heißt, unredlichen oder sogar erpresserischen Versuch einiger Kreise im Westen, die Fragen der „europäischen Sicherheit" mit allen möglichen willkürlichen Vorbedingungen zu verknüpfen. Dabei wird häufig auch ausdrücklich auf Berlin verwiesen.

Diese für die breite Öffentlichkeit bestimmte Lesart braucht nicht zu bedeuten, daß die sowjetische Führung sich des Zusammenhanges zwischen der Berlin-Frage und den ihr erwünschten Entspannungsschritten nicht bewußt wäre. Vieles spricht dafür, daß sie es im Hinblick auf den sowjetischen Weltmachtstatus für peinlich erachtet, in der breiten Öffentlichkeit als die Seite dazustehen, die sich den Berlin-Forderungen der kleinen Bundesrepublik beugen soll oder muß. In indirekter Form hat die sowjetische Führung mehrfach zu erkennen gegeben, daß auch sie zu der Einsicht eines faktischen Zusammenhanges zwischen der Berlin-Frage und der Normalisierung des bundesdeutsch-sowjetischen Verhältnisses wie der Realisierung eines Entspannungszustandes in Europa gekommen ist. In einer maßgeblichen Ansprache, die der sowjetische Parteichef Breshnew am 28. November 1970 in Jerewan gehalten hat, wird eine Berlin-Übereinkunft als möglich bezeichnet, die den „Wünschen" der West-Berliner Bevölkerung entgegenkomme und zugleich den „legitimen Interessen und souveränen Rechten“ der DDR entspreche. Die Erklärung der Ost-Berliner Konferenz der Warschauer-Pakt-Staaten vom 2. Dezember 1970 übernahm Breshnews Formel mit der Abänderung, daß nunmehr von den „Bedürfnissen" der West-Berliner die Rede war, und stellte sie durch den Hinweis, daß die auszuarbeitende Regelung den „Interessen der europäischen Sicherheit" dienen solle, in einen deutlichen Zusammenhang mit dem Moskauer Vertrag und mit der gesamteuropäischen Konferenz.

In seiner Rede auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU am 30. März 1971 sprach sich Breshnew erneut für eine Berlin-Übereinkunft aus und vertrat die Ansicht, daß diese den gegenseitigen „Vorteil aller interessierten Seiten, darunter auch der West-Berliner Bevölkerung selbst", im Gefolge haben könne. Als Grundlagen sollen dabei die „Achtung der alliierten Vereinbarungen, die den besonderen Status West-Berlins bestimmen", und die „Achtung der souveränen Rechte der DDR als eines unabhängigen sozialistischen Staates" dienen. Auf dem gleichen Kongreß beB zeichnete Außenminister Gromyko die „Regelung der Probleme, die in den Beziehungen zwischen der BRD und den sozialistischen Staaten bestehen", die „Durchführung einer gesamteuropäischen Konferenz über Fragen der Sicherheit" und den „erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen über West-Berlin" als „die wichtigen Schritte, die getan werden müssen auf dem Wege von einem Europa der Konflikte zu einem Europa des sicheren Friedens". Den inneren Zusammenhang zwischen diesen verschiedenen Schritten deutete er mit der Bemerkung an, man müsse „diese Schritte parallel tun", fügte freilich im Sinne der amtlichen sowjetischen Ablehnung westlicher Berlin-Vorbedingungen hinzu, man dürfe „nicht auf die Beendigung der Angelegenheit in einer Richtung warten, um erst dann auf eine andere überzugehen".

Die Äußerungen über die Art der anzustrebenden Berlin-Übereinkunft stellen wenig mehr als nur Leerformeln dar, die sich mit unterschiedlichem politischen Gehalt auffüllen lassen. Die Formel von den „Wünschen" der West-Berliner scheint etwas weiterzugehen als die von ihren „Bedürfnissen" beziehungsweise von ihren Vorteilen: Was die WestBerliner wünschen, kann ihrer eigenen Entscheidung schwerer entzogen werden als das, was ihnen gut tut. Natürlich läßt sich notfalls die West-Berliner SED-Filiale des Gerhard Da-nelius zum Sprachrohr des Bevölkerungswillens in der Stadt emporstilisieren, aber das wird sich — in Anbetracht des kürzlichen West-Berliner Wahlergebnisses — noch sehr viel schwerer glaubhaft machen lassen, als wenn man für irgendwelche Vorschläge in Anspruch nimmt, sie dienten nach irgendwelchen objektiven Kriterien den Interessen der West-Berliner, auch wenn diese selbst das vielleicht unter dem Einfluß entstellender Informationen noch nicht recht zu erkennen vermöchten. In diesem Sinne erklärt die SED-Führung seit Jahr und Tag, die wahrhaften Interessen West-Berlins zu verfechten. An den sowjetischen Äußerungen fällt weiter das Gewicht auf, das den „souveränen Rechten" der DDR im Hinblick auf dieBerlin-Frage beigemessen wird. Soll das etwa heißen, daß die durch das Territorium beziehungsweise durch den Luftraum der DDR führenden Verbindungen West-Berlins zur Außenwelt unter allen Umständen der Souveränität der DDR unterliegen müssen? Wenn von den „legitimen Interessen" der DDR die Rede ist, kann dies einschränkend (die Interessen der DDR, soweit sie legitim sind) oder affirmativ (die Interessen der DDR als legitime Gegebenheiten) gemeint sein. Schließlich werden die angesprochenen alliierten Vereinbarungen von den Verhandlungspartnern gegensätzlich ausgelegt.

Die formelhaften Positionsmarkierungen der UdSSR lassen darauf schließen, daß die sowjetische Führung durch die bei ihr zu unterstellende Einsicht in den faktischen Zusammenhang zwischen einer westlicherseits annehmbaren Berlin-Regelung und dem Inkrafttreten des Moskauer Vertrages wie dem Zusammentritt der gesamteuropäischen Konferenz nicht ohne weiteres dazu bewogen wird, in den Berlin-Verhandlungen Konzilianz zu zeigen. Ein weiterer Hinweis in dieser Richtung ist die Bemerkung Breshnews vor dem XXIV. Parteitag der KPdSU, derzufolge der Bundesrepublik im Falle einer Verzögerung der Vertragsratifizierung (also des Festhaltens an der Vorbedingung einer für die westliche Seite befriedigenden Berlin-Regelung) eine „neue Krise des Vertrauens" in ihre Politik und schlechtere „Aussichten für eine Verminderung der internationalen Spannungen" drohten. Man kann Äußerungen dieser Art, wie sie bereits vorher zu hören waren, als Bestandteil einer harten Verhandlungsposition auffassen, die gleichwohl ein letztliches sowjetisches Einlenken nicht ausschließen muß, wenn Moskau die Härte der westlichen Seite hinlänglich getestet und dabei festgestellt hat, daß sich der Preis für eine Übereinkunft nicht weiter senken läßt. Es ist aber auch denkbar, daß die Vorteile, die sich die sowjetische Führung von einer vollrechtlichen Sanktionierung des Moskauer Vertrages und von einem Zustandekommen der Konferenz verspricht, ihr nicht oder nicht mehr die dazu erforderlichen Berlin-Zugeständnisse wert sind. Vielleicht haben die mit einer bilateralen und multilateralen Zusammenarbeit verknüpften sowjetischen Erwartungen abgenommen beziehungsweise verminderte Priorität erhalten. Es ist daher nach wie vor offen, ob es zu einer Übereinkunft über den Modus vivendi in Berlin kommen wird. An diesem Konfliktpunkt wird sich entscheiden, ob die Zeichen in Europa künftig auf Entspannung stehen oder nicht.

Die politische Auseinandersetzung um Berlin wird gegenwärtig auf sehr verschiedenen Ebenen geführt, wodurch die Lage für den außenstehenden Beobachter unverhältnismäßig kompliziert und schwer überschaubar wird. Auf der ersten Ebene stehen sich die Westmächte und die Sowjetunion, gegenüber (Botschafter-Verhandlungen über Berlin). Als zweite Ebene kann man den Gedankenaustausch bezeichnen, den die deutsche Bundesregierung im Verlauf ihrer bilateralen Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung vollzogen hat (informelle Berlin-Gespräche). Eine dritte Ebene ist auf Betreiben der DDR-Regierung in Anknüpfung an die „innerdeutschen Gespräche" von Erfurt und Kassel zustände gekommen: Ost-Berlin sucht Bonn in Berlin-Verhandlungen zu verwickeln, wohingegen nach bundesdeutscher Auffassung die Voraussetzungen für ein Gespräch dieser Art bisher noch nicht gegeben sind (Bahr-KohlGespräche). Schließlich hat die DDR-Regierung auf einer vierten Ebene Unterhandlungen mit dem West-Berliner Senat in die Wege geleitet (Gespräche über Besucherregelungen für die West-Berliner).

Die Ebene der alliierten Berlin-Verhandlungen

Der Kurswechsel der sowjetischen EuropaPolitik vom März 1969 wirkte sich unter anderem auch auf das Berlin-Verhalten der UdSSR aus. Es hatte in der natürlichen Konsequenz der voraufgehenden, speziell gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten sowjetischen Linie gelegen, wenn die verschiedenen Formen der bundesdeutschen Präsenz in West-Berlin als Erweise westdeutscher Aggressivität und westdeutschen Revanchismus angeprangert und in Frage gestellt wurden. In dem Augenblick jedoch, da die sowjetische Führung ihre Europa-Politik nicht zuletzt auch auf eine gewisse Zusammenarbeit mit der deutschen Bundesregierung zu bauen gedachte, konnten Spannungen mit der Bundesrepublik Deutschland wegen Berlin nicht mehr im sowjetischen Interesse liegen. Darüber hinaus mußte der Zustand der latenten internationalen Krise um Berlin für die sowjetische Seite auch die Aussicht auf positive Bereitschaften bei anderen westlichen Regierungen verschlechtern. Daher sahen es die Männer im Kreml als in ihrem Interesse liegend an, daß eine neue Regelung des Zustandes in Berlin erzielt wurde, die eine von allen Beteiligten akzeptierte und zu keinen ferneren Streitigkeiten Anlaß gebende Festlegung enthielt.

Das brauchte nun freilich nicht zu bedeuten, daß die UdSSR fortan hinzunehmen willens war, was sie seither verurteilt und angegriffen hatte. Die Berlin-Passagen in der Rede des sowjetischen Außenministers vor dem Obersten Sowjet vom 10. Juli 1969, welche die Regierungen der drei westlichen Berlin-Mächte zu dem Vorschlag von Berlin-Verhandlungen mit der Sowjetunion veranlaßte, ließen klar erkennen, daß von einem sowjetischen Abgehen von ihren bisherigen Standpunkten noch keine Rede sein konnte. Alle sowjetischen Auffassungen, die bisher mit den Positionen der Bundesrepublik Deutschland und der Westmächte kollidiert waren, wurden von Gromyko als Grundlagen für die anzustrebende Berlin-Regelung aufgeführt Hierin kann man eine deutliche Parallele zu den sowjetischen Ausgangspositionen bei den Verhandlungen über den Moskauer Vertrag sehen: In beiden Fällen wurde der Versuch gemacht, die sowjetischen Vorstellungen und Forderungen zur einzig möglichen politischen Basis der Entspannungsübereinkunft zu machen. Augenscheinlich sehen die sowjetischen Diplomaten ihre Aufgabe darin, in möglichst großem Ausmaß der These Geltung zu verschaffen, daß jedwede Übereinkunft von vornherein nur zu den jeweiligen sowjetischen Bedingungen denkbar sei. Die angelsächsische Bereitschaft zu Kompromissen, die auch der anderen Seite gerecht werden und daher irgendwo in der Mitte zwischen den beiderseitigen Standpunkten liegen, ist der sowjetischen Außenpolitik grundsätzlich fremd. Das schafft eine Ausgangslage, die strukturell anders ist als bei den meisten uns geläufigen Verhandlungen und im allgemeinen den Weg zu einer Übereinkunft wesentlich erschwert. Wenn die Gegenseite sich richtig darauf einzustellen versteht, kann die mißliche Alternative zwischen einem einseitig die UdSSR begünstigenden Verhandlungsergebnis und einem Scheitern der Verhandlungen meistens überwunden werden. Im Falle Berlins lautet die entscheidende Frage, ob es gelingt, einen Verzicht der UdSSR und der DDR auf die weitere Ausübung von Druck gegen West-Berlin zuverlässig und dauernd zu erreichen, ohne daß zugleich die Lebensfähigkeit der Stadt beeinträchtigt und Ansatzpunkte für eine direkte oder indirekte östliche VerB fügungsgewalt hinsichtlich der Stadt geschaffen werden.

Der Notenaustausch zwischen den Westmächten und der UdSSR über die Anbahnung von Berlin-Verhandlungen führte Anfang 1970 zum Erfolg. Es wurde vereinbart, daß die drei westlichen Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland und der sowjetische Botschafter in der DDR im Gebäude des paralysierten Kontrollrats in West-Berlin Zusammentreffen sollten. Seit der ersten Begegnung am 26. März 1970 fanden die Verhandlungen, von der Sommerpause abgesehen, in einer ein-bis vierwöchigen Folge statt. Viel Zeit beanspruchte der — prinzipiell nach wie vor unentschiedene — Streit um die Tagesordnungspunkte, dessen Entscheidung den Charakter der angestrebten Berlin-Regelung weithin präjudiziert. Im Herbst und Winter wurden Sachfragen abzuklären gesucht, wobei sich als Ergebnis eine grundlegende Unvereinbarkeit der zentralen Positionen auf beiden Seiten herausstellte. Daraus scheinen die Botschafter das Fazit gezogen zu haben, daß man die prinzipiellen Fragen nach Möglichkeit ruhen lassen solle, um statt dessen Übereinkünfte in rein praktischer Hinsicht zu versuchen. Es ist offen, inwieweit das durchführbar ist. Als erstes offizielles Verhandlungspapier brachten die Westmächte am 18. Februar 1971 einen Vertragsentwurf ein, der aus einer Präambel, drei Hauptteilen und drei Anlagen bestand Die Sowjetunion legte am 26. März 1971 ihrerseits einen Entwurf vor, der sich in eine Art Präambel, drei Haupt-und drei Nebendokumente gliederte Da die Vorschläge der beiden Staaten kaum Gemeinsames aufweisen, scheint es weiterhin verfrüht, von einem Fortschritt in Richtung auf die Ausarbeitung einer künftigen Berlin-Regelung zu sprechen.

Die Ebene des bundesdeutsch-sowjetischen Gedankenaustausches

Die im Oktober 1969 gebildete sozialliberale Bundesregierung unter Bundeskanzler Brandt war von Anfang an entschlossen, die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den osteuropäischen Staaten zu normalisieren. Das hieß unter den geltenden politischen Voraussetzungen, daß zunächst einmal eine Normalisierung des Verhältnisses zur Sowjetunion gesucht werden mußte. Das wiederum erforderte die Aufnahme von Verhandlungen, bei denen die langjährigen sowjetischen Forderungen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland wie insbesondere die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie und der Elbe-Werra-Linie und die Sanktionierung des Nebeneinanders von Bundesrepublik und DDR zur Sprache kommen würden. Von dieser Ausgangsbasis her, die freilich im einzelnen modi-zifiert werden konnte, kam es schließlich zum Abschluß des Moskauer Vertrages.

Der Versuch, die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion vertraglich zu normalisieren, steht in einem unauflöslichen Sinnzusammenhang mit der Berlin-Frage. Auf der einen Seite besteht im Bewußtsein der Bevölkerung eine so vollkommene Identität zwischen den Westdeutschen und den West-Berlinern, daß keine Bundesregierung jemals daran denken könnte, die Geschicke der Stadt nicht unmittelbar als ihre eigenen zu betrachten. Auf der anderen Seite ist die Sowjetunion auf Grund ihrer rechtlichen Berlin-Kompetenzen wie ihrer politischen Rolle als Schutz-und Stationierungs-macht der DDR der für die Lage West-Berlins entscheidende auswärtige Faktor, > und es ist daher nur logisch, daß die DDR sich mit ihren Attacken gegen die Stadt immer im Rahmen des sowjetischerseits Zugelassenen bewegen mußte. Da die Sowjetunion auf die Lebens-möglichkeiten West-Berlins, an denen die Bundesrepublik stärkstens interessiert sein muß, entscheidend einwirkt, ist die Berlin-Frage ein zentrales Problem der bundesdeutsch-sowjetischen Beziehungen, das unmöglich ausgeklammert werden kann. Eine Entspannung in dem Verhältnis beider Staaten zueinander ist daher undenkbar, solange die Spannungen um Berlin nicht überwunden sind.

Bei den Verhandlungen über den Moskauer Vertrag haben zuerst Bahr und dann Scheel diesen Punkt angesprochen. Trotzdem nimmt der Text des Moskauer Vertrages hierauf in keiner Weise Bezug, und auch in den beiderseitigen Absichtserklärungen, in denen verschiedene nicht-bilaterale Fragenkomplexe (wie das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR oder die Ungültigkeit des Münchener Abkommens) angesprochen worden sind, findet sich kein Hinweis. Einem formellen Einschluß der Berlin-Frage in den Themenkreis der bundesdeutsch-sowjetischen Verhandlungen stand ein unüberwindliches formalrechtliches Hindernis entgegen, nämlich die Berlin-Verantwortlichkeit der drei Westmächte, welche die Bundesrepublik in den Pariser Verträgen von 1954 beschworen hatte und auf die sie um des äußeren Schutzes von West-Berlin willen auch weiterhin allergrößten Wert legt. Aus diesem Grund wurde die Berlin-Frage nur informell erörtert, insbesondere auch in der langen Unterredung zwischen Bundeskanzler Brandt und Parteichef Breshnew, die der Unterzeichnung des Vertrages am 12. August 1970 folgte. Wenn man den Berichten der westdeutschen Presse hierüber glauben will, hat die sowjetische Seite bei diesen Gesprächen ihr Verständnis für die Lage und für das Verhalten der Bundesregierung bekundet und versichert, sie wolle das Erforderliche tun, um eine wechselseitig „befriedigende Berlin-Regelung" zu ermöglichen. Wie eine derartige Regelung konkret aussehen müsse, um zu wechselseitiger Zufriedenheit zu führen, scheint freilich nicht abgesprochen worden zu sein.

Die Berlin-Frage ist mit dem Moskauer Vertrag auch durch die Logik des Prinzips verknüpft, das dem Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion zugrunde gelegt worden ist. Der Vertrag geht letztlich auf die Vorschläge für ein beiderseitiges Gewaltverzichtsabkommen zurück, welche die Bundesregierung der sowjetischen Führung 1966, 1967 und dann wieder 1969 unterbreitet hat. Die sowjetische Seite war freilid mit der ursprünglichen bundesdeutschen Vorstellung, daß lediglich ein wechselseitiger Verzicht auf die Androhung und die Anwendung von Gewalt in den Beziehungen beider Staaten zueinander vereinbart werden solle, keineswegs einverstanden. Nach ihrer Ansicht war ein Gewaltverzicht nur zusammen mit einem Konfliktverzicht sinnvoll. Alles andere, so hieß es, laufe auf nichts anderes als auf eine Konservierung der bestehenden Spannungen hinaus und diene mithin nicht einer Normalisierung des Verhältnisses. Eine Übereinkunft über die Eliminierung von Gewaltmitteln müsse vielmehr einhergehen mit einer Übereinkunft über die Eliminierung von Streitfragen. Als Basis für die geforderte Regelung der Streitfragen bezeichnete Moskau den — territorial interpretierten — Status quo. Praktisch zielte diese Argumentation darauf ab, die Bundesrepublik zu einer Aufgabe ihrer Rechts-standpunkte in der Deutschland-Politik — namentlich der These von der rechtlichen Fort-existenz des einen Deutschlands in den Grenzen von 1937 mit der daraus resultierenden Nicht-Anerkennung der Oder-Neiße-Linie wie der Elbe-Werra-Linie sowie mit dem hiermit verbundenen Alleinvertretungsanspruch Bonns — zu veranlassen. Im Verlauf der Verhandlungen über den Moskauer Vertrag ist die Bundesregierung auf diese politische Geschäftsgrundlage grundsätzlich eingegangen, auch wenn sie die sowjetischerseits verlangte totale Festschreibung durch die Formel des Achtens der bestehenden Gegebenheiten und des Ausgehens von ihnen modifizierte.

Als logische Folgerung aus der von beiden Seiten akzeptierten politischen Geschäfts-grundlage ergibt sich, daß nicht nur der territoriale Status quo der Sowjetunion und ihrer Gefolgschaftsstaaten in Ost-und Mitteleuropa, sondern auch der territoriale Status quo der westlichen Staaten einschließlich der Bundesrepublik in Berlin von der jeweiligen Gegenseite zu respektieren ist, damit auf diese Weise die bestehenden Konflikte eliminiert werden. Daß auf dem Territorium West-Berlins eine politische Gemengelage von westlicher Präsenz (verbunden mit der obersten Gewalt in der Stadt), bundesdeutscher Präsenz (verknüpft mit westlicherseits delegierten Befug nissen) und West-Berliner kommunaler Selbstregierung (im Rahmen des von den drei westlichen Souveränen Zugelassenen) vorhanden ist, kann nichts an der logischen Konsequenz ändern, daß der Status quo der Stadt der eines westlichen Dreimächte-Gebietes ist, in dem es keine östliche Mitsprache gibt und in dem folglich die drei verantwortlichen Mächte das volle Recht zur Delegation von Befugnissen an die Bundesrepublik haben, wenn ihnen dies zweckmäßig oder notwendig erscheint. Die Forderung, daß der Grundsatz der Konflikt-eliminierung mittels Respektierung des Status quo nicht nur auf den östlichen Besitzstand in Ost-und Mitteleuropa, sondern auch auf den westlichen Besitzstand in Berlin angewendet wird, erscheint um so berechtigter und dringlicher, als internationale Krisen noch niemals wegen der bundesdeutschen Rechtsstandpunkte bezüglich der Grenzen von 1937, wohl aber wiederholt und in gefährlichem Ausmaß wegen östlicher Berlin-Attacken entstanden sind. Es kann nicht angehen, daß ein Prinzip, das die Spannungen lösen und den Frieden herstellen soll, von seinen Initiatoren nur für die Bereiche theoretisch denkbarer Krisen, nicht aber auf die Bereiche praktisch existenter Krisen angewendet wird.

Die Ebene der Gespräche zwischen Bundesrepublik und DDR

Seit dem Brief der SPD an den 7. Parteitag der SED im April 1967 und dem anschließend geführten Kiesinger-Stoph-Briefwechsel ist das Bemühen der Bundesrepublik um eine Normalisierung des Verhältnisses auch zur DDR offensichtlich. Dabei zeichnete sich allmählich eine immer weitergehende Bereitschaft zur Aufgabe des bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruchs und zur Aufnahme formeller Beziehungen zur DDR ab. In der folgenden Zeit war beispielsweise offiziös davon die Rede, daß ein „Generalvertrag" mit der DDR geschlossen werden könnte oder daß sich „Generalbevollmächtigte" zwischen Bonn und Ost-Berlin austauschen ließen. Vorschläge dieser Art verdeutlichten den sich in führenden Kreisen der Bundesrepublik herausbildenden Willen, die Tatsache der deutschen Zweistaatlichkeit hinzunehmen und die DDR-Führung als politischen Partner zu akzeptieren, ohne jedoch eine völlige Auflösung der einstigen deutschen Einheit durch eine restlose völkerrechtliche Trennung der beiden deutschen Staaten zuzulassen. Diese Linie hat unter der neuen sozialliberalen Bundesregierung ihre Fortsetzung in dem Konzept der „innerdeutschen Beziehungen" gefunden. Danach ist an eine vollgültige staatliche Anerkennung der DDR gedacht, die aber nicht deren Auslands-diarakter im Verhältnis zur Bundesrepublik implizieren soll und zugleich eine Auslegung als Anerkennung der von der DDR beanspruchten Souveränitätsrechte bezüglich des Zuganges nach West-Berlin ausschließen muß. Rechtlich gesehen geht es darum, die den drei Westmächten nach den Pariser Verträgen von 954 zustehenden Verantwortlichkeiten hinsichtlich Deutschlands als Ganzem und hinsichtlich Berlins zu wahren. Das erscheint politisch um so unerläßlicher zu sein, als auch die Sowjetunion gegenüber dem Westen eine gleichartige Kompetenz betont: Andernfalls würde der unerträgliche Zustand entstehen, daß die UdSSR zur einzigen Großmacht mit völkerrechtlichen Deutschland-und Berlin-Befugnissen würde. Die DDR-Regierung fordert demgegenüber die völkerrechtliche Anerkennung ihres Staates unter Verzicht der Bundesrepublik auf die beiden Vorbehalte.

Warum besteht die Bundesregierung auf besonderen, innernationalen Beziehungen zur DDR? Ist das nicht eine Fiktion bei einem Regime, das seit jeher in der politischen Konfrontation zur Bundesrepublik — früher „Klassenkampf im nationalen Maßstab", heute „vollständige und konsequente Abgrenzung" genannt — seine historische Bestimmung erblickt? Umgekehrt: Warum versteift sich die SED-Führung auf den „völkerrechtlichen" Charakter der beiderseitigen Beziehungen, wo doch die angebotenen „völkerrechtlich gültigen" Beziehungen kein Weniger an rechtlicher Verbindlichkeit darstellen und im übrigen das Tor zu weltweiter völkerrechtlicher Anerkennung aufstoßen würden? Warum verzichtet sie auf die enormen Vorteile der ihr in Aussicht gestellten bundesdeutschen Anerkennung? Auf all diese Fragen dürfte es nur eine schlüssige Antwort geben: Der Blick auf die Berlin-Frage bestimmt das Verhalten von Bonn und Ost-Berlin.

Die Bundesregierung kann nicht einfach die DDR anerkennen, weil dies zu dem politischen (wenngleich rechtlich unbegründeten) Mißverständnis führen könnte, damit sei zugleich die Souveränität der DDR im beanspruchten Ausmaß, nämlich auch bezüglich der West-Berliner Zugangswege zu Lande, Wasser und in der Luft, anerkannt worden. Es gilt, auch nur den mindesten Anschein einer Bestätigung des DDR-Anspruchs auf souveräne Verfügungsgewalt über die Zugangswege zu vermeiden, weil dadurch weitere Angriffe der DDR auf den West-Berlin-Verkehr einen größeren Schein des Rechtmäßigen gewinnen könnten. Der DDR-Anspruch selbst ist natürlich für die westliche Seite absolut unannehmbar, würde seine Sanktionierung doch daraufhinauslaufen, der DDR mit dem Recht zu willkürlicher Verfügung über die West-Berliner Zugangs-wege zugleich Recht zur willkürlichen Gewaltausübung über Stadt selbst zuzubilligen. Die Bundesregierung ist also bei einer Anerkennung der DDR unter allen Umständen zu Vorbehalten genötigt, die eine Rechts-basis für den politischen Zugriff gegen West-Berlin ausschließen. Diesem Zweck entspricht es, wenn alle Aspekte der Berlin-Frage zu einer Angelegenheit der drei beziehungsweise der vier Mächte erklärt werden, die nicht unter das Souveränitätsrecht der beiden deutschen Staaten fällt. Das ist ein zentraler Aspekt der bundesdeutschen Nicht-Auslands-Formel: Die beiden deutschen Staaten haben danach in ihrem innerdeutschen Zusammenleben besondere, aus der früheren staatlichen Einheit resultierende Respektierungspflichten (die insbesondere in dem international einmaligen Fall Berlin die gewohnten Formeln der Souveränitätsabgrenzung lagebedingt nicht zulassen), auch wenn sie außerhalb Deutschlands im Verhältnis zu Drittstaaten Länder mit den völkerrechtlich üblichen Souveränitätsmerkmalen sind.

Die DDR-Führung dagegen will gerade den aus der besonderen Verzahnungslage Deutschlands und namentlich Berlins resultierenden Rücksichtnahmen entgehen und statt dessen, zumindest auf lange Sicht hin, ein völkerrecht-lich verbrieftes Recht erlangen, West-Berlin in die Reichweite ihrer Gewalt mittels der souveränen Verfügungsgewalt über seine Verkehrswege zu ziehen. Die lautstark erhobenen Forderungen nach sofortiger völkerrechtlicher Anerkennung der DDR sind daher auch ein Instrument der Berlin-Politik: Kommt es zu einer Anerkennung der DDR, bevor eine westlicherseits annehmbare Berlin-Regelung erzielt ist, fehlt fortan jeder politische Hebel, der die DDR zu Zugeständnissen in der Berlin-Frage veranlassen könnte. Zugleich wäre eine Propaganda zu erwarten, welche die erfolgte Anerkennung der DDR der breiten Öffentlichkeit in Ost und West als eine Anerkennung der vollen territorialen Souveränität der DDR, also auch bezüglich der durch das Gebiet der DDR führenden Verbindungswege West-Berlins, präsentieren würde.

Die DDR-Führung sucht dem erstrebten Zu-griffsrecht hinsichtlich West-Berlins auf zwei Wegen näher zu kommen. Sie bahnte parallel zu den Berlin-Verhandlungen der vier alliierten Botschafter Gespräche mit der Bundesregierung an. Diese wurden im Oktober 1970 angeboten als eine Fortsetzung des „innerdeutschen Dialogs" von Erfurt und Kassel, die in Bonn schwerlich ausgeschlagen werden konnten. Die Unterredungen zwischen den Staatssekretären Bahr und Kohl, die im November 1970 einsetzten, machten rasch deutlich, daß die SED-Spitze nichts anderes als zwischen-deutsche Verhandlungen über den West-Berlin-Verkehr suchte. Hätte sich die Bundesregierung darauf eingelassen oder würde sie das künftig tun, würde sie damit praktisch anerkennen, daß die Fragen des West-Berlin-Zugangs in die souveräne Zuständigkeit der DDR fielen. Das Verhandlungsverfahren würde ein Verhandlungsergebnis im Sinne der DDR bedingen: Es könnte nur noch auf der Basis verhandelt werden, daß als Zugangsverkehr allein das in Frage komme, was die DDR von sich aus freiwillig zugestehe. Selbst wenn eine vorausgehende Vereinbarung darüber getroffen würde, was die Zugeständnisse der DDR in dieser Hinsicht sein würden, wäre künftiger DDR-Willkür kein Riegel vorgeschoben: Zugeständnisse bezüglich der Durchfahrt durch das Territorium eines souveränen Staates lassen sich unter gewissen Umständen durch diesen Staat einseitig wieder zurücknehmen. Außerdem hätte die DDR dann erreicht, daß die Bundesrepublik die westliche Position bei den Botschafterverhandlungen unhaltbar machen würde, derzufolge der Zugangsverkehr eine Verantwortlichkeit der vier Mächte ist und daher in allen grundsätzlichen Punkten von ihnen geregelt werden muß, ehe die beiden deutschen Staaten die technischen Ausführungsbestimmungen erarbeiten können. Das wäre zugleich ein Verhandlungserfolg für die UdSSR, die ihre Berlin-Kompetenz zwar entschieden wahrt, aber nicht im Sinne irgendeines Verpflichtetseins gegenüber dem Westen angesprochen sehen möchte.

Die andere Möglichkeit, der Erfüllung ihres Anspruchs auf souveräne Verfügungsgewalt über den West-Berlin-Verkehr näher zu kommen, sieht die DDR-Führung in einer politischen Kampagne für eine Anerkennung ihres Staates durch andere Länder, namentlich durch solche aus der Dritten Welt. Das Kalkül hierbei lautet, daß, wenn die DDR in zunehmendem Maße an der Bundesrepublik Deutschland vorbei anerkannt würde, die bundesdeutsche Anerkennung ihre bisherige Schlüsselfunktion verlieren und damit eigentlich überflüssig werden könnte. Wenn diese Eventualität einträte, würde für die DDR-Führung künftig der Anreiz entfallen, eine Anerkennung ihres Staates durch die Bundesrepublik mit irgendeinem Entgegenkommen zu honorieren, denn eine solche Anerkennung besitzt für die DDR wenig Eigenwert, sondern so gut wie ausschließlich die instrumentale Funktion, die Anerkennung der DDR durch andere Länder zu ermöglichen. Dem Ziel einer weltweiten DDR-Anerkennung unter Umgehung der Bundesrepublik, für das sich auch die Sowjetunion und die anderen Warschauer-Pakt-Staaten auf der Bukarester Konferenz vom Februar 1971 stärker als bisher engagiert haben, soll nach Ost-Berliner Absicht auch das der DDR von der Bundesrepublik bisher gezeigte Entgegenkommen dienstbar gemacht werden: Die beiden Gipfeltreffen von Erfurt und Kassel, der bundesdeutsche Verzicht auf die Sanktionen der Hallstein-Doktrin und die im Zusammenhang mit dem Moskauer Vertrag von Bonn ausgesprochene Anerkennung der Existenz der DDR dienen den Politikern und den Diplomaten der DDR als wichtige Dokumente, um die Führer anderer Länder von der Zweckmäßigkeit einer Anerkennung der DDR zu überzeugen. Als weiterer Schritt ist daran gedacht, die DDR in die UNO zu bringen. Wenn diese politische Strategie zum Erfolg führen sollte, würde das nicht nur allgemein die DDR in eine vorteilhafte Lage gegenüber der Bundesrepublik bringen, sondern auch ganz speziell die Aussichten für eine befriedigende Regelung des West-Berlin-Zugangs zerstören. Es liegt daher im dringenden bundesdeutschen Interesse, daß es zu keiner Welle der DDR-Anerkennung kommt, ehe nicht die Fragen des West-Berlin-Verkehrs in annehmbarer Weise geregelt sind.

Die Gesprächsebene West-Berliner Senat — DDR-Regierung

Seit die drei Westmächte mit der Sowjetunion Berlin-Verhandlungen angeknüpft haben, gehört eine Besuchsregelung für die West-Berliner im östlichen Teil der Stadt und in der DDR zu den westlichen Zielen. Lange Zeit jedoch ließ die östliche Seite keine Neigung erkennen, diese Frage zu diskutieren. In der zweiten Februarhälte 1971 jedoch ergriff die DDR-Regierung plötzlich die Initiative. Ministerpräsident Stoph erklärte in einem Interview mit dem SEW-Chef Danelius die Bereitschaft der DDR, den West-Berlinern die Möglichkeit zu Ostbesuchen einzuräumen. Da diese Äußerung mitten im West-Berliner Wahlkampf gemacht wurde, entstand weithin der Eindruck, es handele sich lediglich um eine propagandistische Wahlhilfe für den West-Berliner Zweig der SED. Der Senat erklärte, daß die gewählte Form der Übermittlung kaum auf ein seriöses Angebot schließen lasse. Wenn die DDR-Regierung, so wurde hinzugefügt, wirklich an einem Zustandekommen von Besuchsregelungen interessiert sei, habe sie schließlich die Möglichkeit, mit dem Senat in Verbindung zu treten. Die West-Berliner Reaktionen ließen eindeutig erkennen, daß keiner der maßgebenden Repräsentanten in der Stadt gewillt war, Danelius als Mittelsmann zur DDR-Regierung zu akzeptieren und irgendwelche auf diesem Wege ankommenden östlichen Offerten als ernstliche Initiativen zu werten. Das hatte nicht zuletzt innenpolitische Motivationen: Es ging schwerlich an, die bedeutungslose kommunistische Gruppierung in West-Berlin zum Mandatar der Stadt in einer wichtigen Angelegenheit zu machen.

Daraufhin wandte sich Ministerpräsident Stoph direkt mit einem Schreiben an den West-Berliner Senat und schlug ihm die Aufnahme von Gesprächen über eine Besuchsregelung vor. Nach Konsultation mit der Bundesregierung und mit den westlichen Schutzmächten stimmte der Senat zu. Der Passus in der Antwort, wonach der Senat zu Gesprächen „im Rahmen seiner Zuständigkeit" bereit war, brachte von vornherein deutlich zum Ausdruck, daß die politische Repräsentanz West-Berlins nur ein von westlicher Zuständigkeit eng begrenztes Verhandlungsmandat besaß und sich auch streng daran zu halten gewillt war. Die erste der Unterredungen fand am 5. März 1971 statt. Die Verhandlungsdelegationen. wurden auf westlicher Seite von dem Leiter der West-Berliner Senatskanzlei, Müller, und auf östlicher Seite von dem Staatssekretär beim Ministerrat, Kohrt, geführt. Die DDR unterbreitete ein sachlich relativ großzügiges Angebot: Die West-Berliner sollten Genehmigungen entweder für einen Aufenthalt von sechsmal zwei Tagen oder für einen einmonatigen Besuch in Ost-Berlin beziehungsweise in der DDR pro Jahr erhalten können. Wie annehmbar die Vorschläge der DDR für den Senat auch dem Inhalt nach waren, so unannehmbar mußten die damit verknüpften Verfahrensforderungen sein. Die DDR-Regierung war nicht daran interessiert, wie es den Vorstellungen des Senats entsprochen hätte, eine praktische Regelung der Besuchsmodalitäten zu treffen, die den Charakter einer Interimslösung oder eines Provisoriums in Anbetracht der von den vier Mächten auszuarbeitenden Gesamtregelung für Berlin gehabt hätte. Der DDR-Regierung kam es vielmehr eindeutig darauf an, den West-Berliner Senat zum Abschluß eines langfristigen Vertrages zu veranlassen, der die Frage der Besuchsregelung in eigener Regie und mit definitiver Endgültigkeit entschieden hätte. Das wäre darauf hinausgelaufen, daß ein Gespräch, der vier Mächte über die Frage gegenstandslos geworden wäre und daß sich damit zugleich eine entsprechende Kompetenz der vier Mächte (auf der die drei westlichen Berlin-Mächte nach wie vor bestehen) erledigt hätte. Die Haltung der DDR gewann ihre volle Schärfe durch den weiteren Umstand, daß der vorgeschlagene Vertrag außer einer Besuchsregelung noch die Fragen des Güterverkehrs sowie der wissenschaftlichen und technischen Zusammenarbeit zum Inhalt haben sollte.

Das Verhalten der DDR-Regierung richtete sich auf mehrere Ziele. Zum einen ging es darum, durch das geforderte Verfahren in der Sadie den drei Westmächten wichtige Bestandteile der von ihnen beanspruchten und in westlich-bundesdeutschen Verträgen fixierten Berlin-Verantwortlichkeiten zu entziehen. Alle Fragen des Verkehrs und des Güteraustauschs zwischen West-Berlin und der DDR einschließlich Ost-Berlins wären auf diese Weise vertraglich zu einer deutschen Angelegenheit erklärt worden. Das hätte insbesondere auch den westlicherseits gegenüber der Sowjetunion geltend gemachten Standpunkt ausgehöhlt, daß das 1944/45 festgelegte interallierte Sonder-gebiet Berlin rechtlich nach wie vor aus beiden Teilen der Stadt bestehe und daß mithin, soweit die Verantwortlichkeit aller vier Mächte angesprochen sei, nicht nur West-Berlin, sondern ebenso sehr auch Ost-Berlin berührt sei. Zum anderen zielte die DDR-Regierung darauf ab, daß sich der West-Berliner Senat bereit fand, im Verein mit seinem östlichen Verhandlungspartner die Berlin-Positionen der westlichen Schutzmächte in Frage zu stellen. Das wäre nicht nur auf einen Akt der Gefährdung des Schutzes hinausgelaufen, den West-Berlin durch die drei Westmächte erfährt, sondern hätte auch die rechtliche Illoyalität bedeutet, daß sich die deutsche Repräsentanz in West-Berlin über den Willen der drei obersten Hoheitsträger hinweggesetzt hätte. Die DDR-Regierung konnte kaum ernstlich damit rechnen, daß der Senat einer derartigen Aufforderung folgen würde. Anscheinend abererschien es ihr propagandistisch wünschenswert, in der West-Berliner Bevölkerung mit lockenden Perspektiven Stimmung gegen die Westmächte und ihre Politik zu machen Schließlich zielte der DDR-Vorschlag darauf ab, dem West-Berliner Senat die Funktion der Regierung eines selbständigen Staates aufzunötigen, Der Senat sollte nicht nur kraft eigenen Willens und unter Mißachtung der westlichen Berlin-Befugnisse einen Vertrag mit der Regierung der DDR abschließen, sondern dabei auch in aller Form zum Ausdruck bringen, daß er dabei als Regierung eines separaten Landes handele. Der West-Berliner Senat hätte sich also, um die gewünschte Besuchsregelung zu bekommen, die von der UdSSR und der DDR aufgestellte und von den Westmächten wie der Bundesrepublik scharf abgelehnte These vom Quasi-Staats-Charakter West-Berlins zu eigen machen müssen. -Damit wären zugleich die Schutzmachtpräsenz der drei westlichen Staaten und die Verflechtung mit der Bundesrepublik künftigen östlichen Anzweiflungen unter Hinweis auf den abgeschlossenen Vertrag ausgesetzt worden.

Die Unterhändler der DDR bestanden darauf, daß das ganze von ihnen vorgelegte Programm erörtert werden müsse. Das Kalkül war an-scheinend, daß man, wenn schon der vorge-schlagene Vertrag nicht zustande komme, bereits durch die Art der Gesprächsthemen den West-Berliner Senat zu einem rechtlich konkludenten Handeln in antiwestlichem Sinne bringen und ihn in ein politisches Zwielicht zwischen Ost und West hineinmanövrieren könnte. Auch durch die Wahl von Bezeichnungen sollten präjudizierende Wirkungen erzielt werden: Wenn der Senat sich beispielsweise darauf eingelassen hätte, von Ost-Berlin als der „Hauptstadt der DDR" zu sprechen, wäre dieses Verhalten gut zur Stützung der östlichen Rechtsbehauptung verwendbar gewesen, wonach der interalliierte Rechtsstatus Berlins für den östlichen Teil der Stadt zu bestehen aufgehört hat und nur noch für den westlichen Teil gilt. Die Unterhändler der DDR suchten mit all ihren Forderungen die WestBerliner Vertreter zu nötigen, über die dem Senat eigenen Zuständigkeiten hinauszugehen und zugleich die westlichen Positionen in den Botschafterverhandlungen zu unterlaufen. Der West-Berliner Senat weigerte sich jedoch, die ihm zugedachte Rolle in irgendeiner Form zu spielen. Daraufhin ließ die DDR-Regierung Anfang April 1971 die Verhandlungen scheitern, nicht ohne dem Senat die Schuld hieran zu geben. Politisch bedeutete dies: Die DDR-Regierung war nicht zu einer Entspannungsgeste bereit, wenn die westliche Seite nicht gewillt war, dafür in der harten Währung prinzipieller Postionsverzichte zu bezahlen. Ob sich bei den weiteren Gesprächen, zu denen sich die DDR-Regierung danach verhältnismäßig rasch wieder bereit fand, irgendein Abgehen von dieser Haltung als möglich erweisen wird, bleibt abzuwarten.

Das Geflecht der vier Gesprächsebenen

Auf vier verschiedenen Ebenen wird politisch um Berlin gerungen. Dabei stehen verschiedene Themenaspekte oder auch verschiedene Aktionsabsichten im Vordergrund. Alle vier Ebenen sind interdependent, das heißt, das Geschehen auf einer Ebene beeinflußt zugleich das Geschehen auf den anderen Ebenen. Die sachliche Problematik einer solchen Vielfalt liegt zum einen darin, daß die verschiedenen Ebenen prinzipiell nicht restlos gegeneinander abzugrenzen sind. Wo hört die „politische" Rahmenentscheidung bezüglich des Zugangs-verkehrs nach West-Berlin auf und wo fängt die „technische" Ausführung an? Sachproblematisch ist zum anderen (und in einem sehr viel größeren Umfang), daß es zwischen den jeweiligen Gesprächspartnern weithin nur eine sehr begrenzte oder auch gar keine Übereinkunft über die Funktion der Gesprächs-ebene gibt. Daher besteht ein erheblicher Teil der politischen Auseinandersetzung darin, unter Mißachtung der anstehenden Sachfragen oder auch mit instrumentalem Einsatz der anstehenden Sachfragen die Funktion der betreffenden Gesprächsebene in einem für die Gegenseite negativ präjudizierenden Sinne auszurichten und dabei vor allem gegnerische Positionen auf anderen Ebenen zu erschüttern. Es handelt sich also um potentiell konkurrierende Ebenen. Das Bild verkompliziert sich weiter dadurch, daß auf den verschiedenen Ebenen nicht genau die gleichen Akteure handeln. Westmächte, Bundesregierung und West-Berliner Senat auf der einen Seite und sowjetische Führung und DDR-Regierung auf der anderen Seite haben zwar jeweils den großen Interessenrahmen, nicht aber unbedingt jedes kleine Interessendetail gemeinsam. Daher kann es u. U. Interessenabweichungen in gewissem Umfang geben, welche die Gegenseite auszunutzen suchen kann. Da auf beiden Seiten bei allen etwaigen Auffassungsnuancen im einzelnen ein gemeinsames Interesse daran besteht, daß die Gegenseite im eigenen Lager keinen Vorteil ziehen kann, ist es im Westen wie im Osten zur Festlegung verbindlicher gemeinsamer Positionen gekommen. Damit sind Meinungsverschiedenheiten zwar geregelt, aber nicht unbedingt völlig eliminiert.

In dieser Lage hat diejenige Seite die besten Erfolgsaussichten, welche die Bemühungen der verschiedenen Akteure auf den verschiedenen Ebenen am vollkommensten zu konzertieren und zu koordinieren vermag. Gleichzeitig stellt sich für den Beobachter die Frage, ob die Viel-ebenen-Struktur dem Ziel einer Regelung des Berlin-Problems günstig ist. Es könnte sein, daß sich auf diese Weise der Blick auf die zu regelnden Sachfragen allzu schwach entwickelt im Vergleich zu dem Bestreben oder der Sorge, das Funktionennetz der verschiedenen Ebenen taktisch und strategisch richtig gegenüber der anderen Seite zu handhaben.

Der Berlin-Status gemäß den interalliierten Vereinbarungen von 1944/45

Die gegenwärtigen Erörterungen und Verhandlungen über die Berlin-Frage sind auf dem Hintergrund des Status zu sehen, den Berlin am Ende des Zweiten Weltkriegs erhalten hat Die Kriegsgegner des Deutschen Reiches sahen in diesem den Herd der Unruhe in Europa und hielten daher die Errichtung einer vorübergehenden Besatzungsregierung in dem besiegten Land für erforderlich, ehe die Deutschen wieder als selbständige Nation in die Gemeinschaft der anderen Nationen aufgenommen werden könnten. Ein wesentliches Problem, das sich dabei stellte, war die Mehrzahl der Großmächte, die militärisch nach Deutschland eindrangen. Würde die Besatzungsregierung gemeinschaftlich oder wenigstens koordiniert ausgeübt werden, oder würde Deutschland in Besatzungsgebiete auseinanderfallen? Die Regierungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens waren schon früh der Ansicht, daß, wie immer die künftige staatliche Gestalt Deutschlands aussehen sollte (Einheit oder Aufspaltung), während der besatzungsrechtlichen Periode von allen alliierten Großmächten zusammen über Deutschland befunden werden sollte, so wie auch die eventuelle Teilung Deutschlands in mehrere Staaten (an die man in den USA und in der UdSSR zeitweilig dachte) als das Resultat einer gemeinschaftlichen Entscheidung vorgestellt wurde. In Anbetracht namentlich der politischen Trennung zwischen den Westmächten und der Sowjetunion erschien es freilich nicht selbstverständlich, daß es zu der erstrebten Übereinkunft über die Besatzungsregierung Deutschlands auch kommen würde. Daher wurden von Washington und London bindende Vereinbarungen über die alliierte Besatzungsperiode in Deutschland angestrebt. Als Modell hierfür diente die Vorstellung, daß das besiegte Land zwar getrennt zu besetzen, aber gemeinsam zu regieren sei. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, von welcher territorialen Basis aus die gemeinsame Regierung Deutschlands erfolgen sollte. Nadi britischen Vorstellungen, die zur Grundlage der interalliierten Vereinbarungen wurden, mußte die deutsche Hauptstadt den Status eines aus den Zonen ausgegliederten interalliierten Sondergebietes erhalten.

Dementsprechend legten die Siegermächte in den Protokollen der Europäischen Beratungskommission, welche die Zoneneinteilung und den Berlin-Status behandeln, ausdrücklich fest, daß Deutschland „zum Zweck der Besetzung“ (also nicht zum Zweck der wirtschaftlichen, politischen oder staatlichen Trennung) in Zonen eingeteilt werde, neben denen es ein „besonderes Gebiet Berlin" „unter der gemeinsamen Besetzung" aller Besatzungsmächte geben sollte. Damit wurde, aller Abgrenzungen der Besatzungsgebiete ungeachtet, für die Periode der alliierten Regierung in Deutschland der Grundsatz der gemeinschaftlichen alliierten Verfügungsgewalt und der Wahrung der praktischen Einheit des Landes (einheitliche Behandlung der Bevölkerung, Freizügigkeit von Personen und Gütern) fixiert. Mit anderen Worten: Die Zonengrenzen waren als militärische Demarkationslinien, nicht als wirtschaftliche, politische oder staatliche Grenzen gedacht. Berlin sollte als die deutsche Hauptstadt ein. besonderes gemeinschaftliches Besatzungsgebiet bilden, von dem aus die gemeinsame Regierung Deutschlands ins Werk gesetzt werden konnte. Daß dieses gemeinschaftliche Besatzungsgebiet — ähnlich wie Deutschland im Ganzen — in einzelne militärische Territorien (hier Sektoren genannt) aufgeteilt wurde, galt lediglich als praktischer Modus, weil ein militärisches Vakuum nicht angängig und eine gemischte Besetzung nicht durchführbar erschienen. Ungeachtet der Sektoreneinteilung, kam der interalliierte Charakter Berlins in der Existenz der Alliierten Kommandatura als gemeinschaftlicher Stadtregierungsbehörde und in dem Wiederaufbau einer einheitlichen deutschen Stadtverwaltung eindeutig zum Ausdruck.

Die Regierungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens versäumten es, im Sinne der von ihnen angestrebten Festlegung der UdSSR auf eine gemeinsame Regierung Deutschlands die Übereinkunft über die Einteilung der Okkupationsgebiete mit einer solchen über die Gemeinsamkeit in der Ausübung der Regierungsgewalt zu verbinden. Mehr noch: Das grundlegende Abkommen über die Einteilung der Besatzungsgebiete war perfekt, ehe sich eine Einigung über die Regierung Deutschlands abzeichnete. Damit machte es die westliche Seite der UdSSR leicht, eben diejenige Forderung abzulehnen, um derentwillen sie ursprünglich eine vertragliche Festlegung der zu besetzenden Gebiete angestrebt hatte. Dementsprechend erreichte es die sowjetische Seite, daß die Regierungsgewalt in erster Linie den Zonenkommandeuren zugesprochen wurde und daß der Kontrollrat als die interalliierte Regierungsbehörde den Charakter eines Koordinationsgremiums der Zonenkommandeure erhielt, für das die Einstimmigkeitsregel galt. Das Veto eines einzelnen Kommandeurs konnte folglich jeden Beschluß verhindern; der partikulare Wille war unter allen Umständen stärker als die Nötigung zu gemeinsamem Handeln. Überdies fehlte dem Kontrollrat ein fester Bereich gesamtdeutscher Regierungsbefugnisse: Die ihm zugewiesenen Angelegenheiten, die Deutschland als Ganzes betrafen, waren nicht definiert, und so konnte jede Besatzungsmacht immer dann, wenn sie Einwirkungen der anderen Mächte von ihrer Zone fernzuhalten wünschte, unwiderleglich erklären, daß es sich nur um die dem einzelnen Zonenkommandeur anheimgestellten innerzonalen Angelegenheiten handele. Mit dem gleichen Recht konnte freilich in jedem beliebigen Falle auch der gegenteilige Standpunkt unwiderleglich verfochten werden. Die Beschlüsse der Europäischen Beratungskommission über die gemeinsame Regierung Deutschlands wurden im Potsdamer Abkommen nochmals wiederholt. In ihnen liegt zu einem wesentlichen Teil die Problematik formuliert, die zum Scheitern des Versuchs einer interalliierten Deutschland-Regierung und damit auch zum Entstehen der Berlin-Frage geführt hat.

Sozusagen rein zufällig, aber mit entscheidenden Konsequenzen kam Berlin nach den interalliierten Vereinbarungen über die Einteilung der Besatzungsgebiete inmitten der sowjeti-sChen Zone zu liegen. Es war natürlich von vornherein klar, daß die getroffene Übereinkunft über die Einteilung der Besatzungsgebiete nur dann zu verwirklichen war, wenn 16 Westmächte durch das Gebiet der Sowjet-zone Zugang nach Berlin erhielten. Der Leiter der sowjetischen Delegation in der Europäischen Beratungskommission gab klar zu erkennen, daß ein westliches Recht zu derartigem Zugang das unerläßliche Korrelat zu der vorgesehenen Regelung war. Trotzdem versäumten es die beiden westlichen Verhandlungsführer, im Zusammenhang mit der Abgrenzung der Besatzungsgebiete auf eine Feststellung der Zugangsrechte zu drängen. Erst als die Amerikaner, Briten und Franzosen unmittelbar daran gingen, mit der sowjetischen Seite die Übergabe der Berliner Westsektoren zu erörtern, machten sie die Zugangsfrage zu einem ernsten Gesprächsthema. Auch in diesem letzten Augenblick schien es noch nicht zu spät zu sein: Die Oberkommandierenden der amerikanischen und britischen Streitkräfte hatten mit dem Besitz weiter der UdSSR zugesprochener mitteldeutscher Gebiete (ohne welche die Sowjetzone nach Abtrennung der Oder-Neiße-Provinzen kaum noch ein lebensfähiges Gebilde darstellen konnte) ein überwältigendes Faustpfand in der Hand. Trotzdem gingen sie darauf ein, daß zuerst die Freigabe der mitteldeutschen Gebiete an die UdSSR und erst danach der westliche Zugang nach Berlin erörtert wurde. Nachdem aber die westlichen Leistungen erst einmal ohne sowjetische Gegenleistung zugesichert worden waren, sah der sowjetische Oberkommandierende keinen Anlaß mehr zur Großzügigkeit: Das westliche Zugangsrecht wurde nicht in der von westlicher Seite gewünschten Eindeutigkeit festgelegt; wegen unzureichender Einigung mußte auch auf eine schriftliche Fixierung verzichtet werden. Eine schriftliche Übereinkunft kam auch später nur hinsichtlich des Luftverkehrs zustande.

Da für die deutsche Bevölkerung grundsätzlich Gleichbehandlung und Freizügigkeit vorgesehen waren, konnte die Frage eines Zugangs nach Berlin nur für die westlichen Streitkräfte, nicht aber für die Einwohner der Berliner Westsektoren und der Westzonen aktuell sein. Die Vorstellungen, die den interalliierten Berlin-Vereinbarungen zugrunde lagen, sollten sich freilich schon im Sommer 1945 als nur eingeschränkt zutreffend erweisen. Aus verschiedenen Beweggründen verfügten die einzelnen Zonenkommandeure im Sinne einer vorübergehenden Notmaßnahme Sperrungen und Kontrollen an den Grenzen ihrer Gebiete. Gleichzeitig weigerte sich die sowjetische Besatzungsmacht, die Berliner Westsektoren aus der Sowjetzone als dem natürlichen Hinterland der Stadt zu versorgen, und setzte die wirtschaftliche Anbin-düng dieser Sektoren an die Westzonen durch. Das aber machte einen Zugang von den Westzonen nach dem westlichen Berlin nicht nur für die westlichen Streitkräfte, sondern auch für die betroffene deutsche Bevölkerung unerläßlich. Die westlichen Besatzungsbehörden schickten daher im Rahmen ihres Zugangs-verkehrs auch deutsche Personen und Güter auf den Weg. Die Deutschen, die zwischen den Westzonen und dem westlichen Berlin unterwegs waren, erhielten zu ihrer Identifikation gegenüber den sowjetischen Behörden Genehmigungen, die von der sowjetischen Seite als vollwertige Durchreiseautorisation anerkannt wurden. Diese Praxis galt bis zum Beginn der Berliner Blockade und erhielt daher durch das New Yorker Kommunique (Jessup-Malik-Abkommen) vom Mai 1949, das die Blockade aufhob, implizit die Sanktion des zu Recht Bestehenden.

Veränderungen gegenüber dem Rechtszustand: Der „gewachsene" Berlin-Status

Der Ausbruch des Kalten Krieges im Sommer 1947 zog im folgenden Jahr das förmliche Ende der gemeinsamen alliierten Regierung Deutschlands nach sich. Damit entfiel die Funktion, die Berlin 1944/45 zugedacht worden war: In einem Deutschland, dessen westliche und östliche Teile durch die nunmehr offen gegensätzliche Politik der Besatzungsmächte zunehmend auseinandergerissen wurden, konnte Berlin nicht länger gesamtdeutsche Hauptstadt sein. Während der sowjetische Sektor der Stadt als sowjetzonale Metropole eine Ersatzfunktion erhielt, konnten die westlichen Sektoren keine entsprechende Rolle übernehmen. Hinzu kam, daß sich die deutsche Spaltung nicht nur zwischen den Westzonen und der Sowjetzone, sondern auch innerhalb des interalliierten Sondergebiets Berlin vollzog. In Ausnutzung ihres geographischen Vorteils suchte die sowjetische Besatzungsmacht in Berlin den Westmächten und den deutschen Behörden ihren Willen aufzuzwingen. Der Druck, der in der Blockade nur seinen massivsten Ausdruck fand, war jedoch nur dort erfolgreich, wo er durch die Anwesenheit der sowjetischen Truppen unwiderstehlichen Charakter erhielt. Das führte schließlich dazu, daß Berlin an der Grenze zwischen den Westsektoren und dem Sowjet-sektor in zwei kommunale Verbände auseinanderbrach. Die zunächst übermächtig erscheinende Bedrohung von Seiten der sowjetischen Besatzungsmacht rief in West-Berlin das Gefühl hervor, inmitten des sowjetischen Machtbereichs eine Vormauer des Westens zu sein, an der sich die sowjetischen Attacken zu brechen bestimmt seien. Im Bewußtsein der Bevölkerung übernahm West-Berlin die Funktion einer Frontstadt, was zugleich als Kompensation für die verlorene Hauptstadtfunktion diente. Das Ende der Blockade brachte West-Berlin zwar in einiger Hinsicht eine gewisse Normalisierung der Lage, doch blieb die Situation weiterhin insofern völlig anomal, als weder die Abtrennung von der östlichen Stadthälfte noch die fortgeschrittene Isolierung von dem natürlichen Hinterland rückgängig gemacht wurde. Im Laufe der Jahre verschärfte sich die Anomalie weiter. Im Juni 1952 unterbanden die Behörden der DDR den Verkehr zwischen West-Berlin und den umliegenden Randgebieten, den Betrieb der städtischen Verkehrsmittel über die Ost-West-Sektorengrenzen hinweg und die Telefonverbindungen zwischen beiden Teilen Berlins. Die Mauer vom 13. August 1961 isolierte West-Berlin fast völlig von dem östlichen Teil der Stadt.

Mit diesen Entwicklungen wurde der Berlin-Status, so wie er 1944/45 vereinbart worden war, empfindlich reduziert. Der Auszug der UdSSR aus der Alliierten Kommandatura und die Maßnahmen der SED gegen die Tätigkeit des Gesamt-Berliner Magistrats im Jahre 1948 machten praktisch aus dem bisherigen Vier mächte-Sondergebiet Gesamt-Berlin ein Drej mächte-Sondergebiet West-Berlin und ein sowjetisches Sondergebiet Ost-Berlin, auch wenn dieser neue Status quo nicht als rechtlicher Tatbestand angesehen werden konnte. Das 1944/45 festgelegte interalliierte Sonder-gebiet Berlin kam nur noch residual zum Ausdruck: Eine Anzahl rechtlicher Überbleibsel aus der Zeit des Gesamt-Berliner Status ließen den früheren Zustand symbolisch fortleben, und verschiedene Reste der einst realen Gesamt-Berliner Einheit, insbesondere die relative Freizügigkeit zwischen beiden Teilen der Stadt, gaben den symbolischen Tatbeständen einen gewissen Inhalt an Wirklichkeit.

Die Ost-West-Spaltung, die in Deutschland allgemein und in Berlin insbesondere eingetreten war, ließ die faktische Anbindung der beiden Stadthälften an die beiden Landes-hälften zur praktischen Notwendigkeit werden, denn die Existenz der isolierten Berlin-Hälften neben den beiden gegeneinander-stehenden Teilen Deutschlands war kaum vorstellbar. Im Falle West-Berlins war es, weil die Stadt durch große Entfernungen und durch die Lage inmitten eines von feindlicher Macht beherrschten Territoriums hinsichtlich ihrer Lebensfähigkeit permanent bedroht war, darüber hinaus unvermeidlich, daß die faktische Anbindung an das entsprechende deutsche Teilgebiet auch formell vollzogen wurde: Nur festgelegte Hilfsmaßnahmen für West-Berlin und die damit verbundenen Konsequenzen einer administrativen und rechtlichen Verflechtung der Stadt mit der Bundesrepublik Deutschland konnten das wirtschaftliche Leben fortan sichern, nachdem der westliche Versuch vom Sommer 1948 gescheitert war, mit der UdSSR zu einer Übereinkunft über eine währungsmäßige Einfügung Gesamt-Berlins in die Sowjetzone unter bestimmten Viermächte-Kontrollen zu gelangen.

Bis Mitte der fünfziger Jahre hielten die Westmächte und die Sowjetunion gleichermaßen daran fest, daß die Zuordnung ihrer Berlin-Sektoren zu den entsprechenden Teilen Deutschlands keinen rechtlichen Charakter an-nahm, der dem 1944/45 vereinbarten Berlin-Status widersprochen hätte. Es handelte sich daher nur um rein faktische Ersatzregelungen zur Kompensierung faktisch nicht mehr wirksamer Elemente des rechtlichen Berlin-Status, nicht aber um rechtliche Veränderungen. Im Falle West-Berlins zeigte sich dies darin, daß die Westmächte den Paragraphen des Grundgesetzes, in dem die Stadt zu einem Land der Bundesrepublik Deutschland erklärt wurde, nicht in Kraft treten ließen und die praktische Einbeziehung der Stadt in den westdeutschen Staat unter rechtlichen Vorbehalt stellten. Beispielsweise dürfen die West-Berliner Repräsentanten in Bundestag und Bundesrat weder Stimmrecht erhalten noch (wie es der sonsti-gen Regelung für den Bundestag entspricht) durch direkte Wahl seitens der Bevölkerung bestimmt werden. Mit bestimmten Ausnahmen, welche die drei Westmächte von vornherein ausgeschlossen haben (das gilt insbesondere für alle wehr-und notstands-gesetzlichen Regelungen), können alle Bundesgesetze auch in West-Berlin in Kraft treten — aber erst dann, wenn sie in einem besonderen Verfahren vom West-Berliner Abgeordnetenhaus übernommen werden und die drei Westmächte keinen Einspruch erheben. Nach westlicher Auffassung, die für die Stadt verbindlich ist, kann auch das Bundesverfassungsgericht in West-Berlin keine Jurisdiktion ausüben.

Alle diese Besonderheiten und Vorbehalte bezüglich der Rechte des Bundes in West-Berlin bedeuten freilich nicht, daß die drei Westmächte, die in der Stadt auch nach Erlangung der Souveränität durch die Bundesrepublik Deutschland gemäß den Pariser Verträgen vom Oktober 1954 (Festlegung westlicher Vorbehaltsrechte bezüglich der Fragen Deutschlands als Ganzem und Berlins) besatzungsrechtliche Autorität besitzen, in der Tätigkeit des Bundes in West-Berlin etwas Negatives und daher möglichst Einzudämmendes oder Einzuschränkendes sehen würden. Im Gegenteil: Die Westmächte haben in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland diese von sich aus dazu veranlaßt und teilweise sogar direkt dazu verpflichtet, in West-Berlin tätig zu werden. Dabei gingen sie von der — durchaus zutreffenden — Erwägung aus, daß die Stadt durch den westlicherseits gewährten sicherheitspolitischen Schutz allein nicht am Leben zu erhalten sei, sondern daß es zusätzlich wirtschaftlicher Verbindungen, finanzieller Subventionen und administrativ-rechtlicher Verflechtungen bedürfe, um die Stadt lebensfähig zu erhalten. Diese Hilfen aber konnten nach Lage der Dinge nur von der Bundesrepublik Deutschland kommen. Als der westdeutsche Staat später außenpolitische Kompetenzen erhielt, lag es natürlicherweise in westlichem Interesse, daß Bonn auch die auswärtige Vertretung West-Berlins (namentlich den konsularischen Rechtsschutz der Stadteinwohner und die Ausdehnung bundesdeutscher Handelsverträge auf die Stadt) übernahm. An der westlichen Einstellung hat sich seither nichts geändert. Um die durch ihre isolierte und bedrohte Lage vielfach angefochtenen West-Berliner sichtbar der Verbundenheit der Bundesrepublik Deutschland zu versichern, hat sich darüber hinaus seit 1954/55 die Praxis eingebürgert, daß parlamentarische Gremien und amtliche Persönlichkeiten des Bundes zu Arbeitszwecken die Stadt besuchen („demonstrative Bundespräsenz"). Das ent17 sprach übrigens in gewissem Umfang einer alten Forderung der KPD, die 1949 im Bundestag die Verlegung aller leitenden Bundesorgane nach Berlin gefordert hatte. Im gleichen Sinne begrüßte die DDR es lebhaft, als im Oktober 1955 der Bundestag seine erste Arbeitssitzung in West-Berlin abhielt

Die Integration Ost-Berlins in die DDR, wo die Stadt die Funktion der Hauptstadt übernahm, erfolgte Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre unter ähnlichen Rechts-vorbehalten wie die Verflechtung West-Berlins mit der Bundesrepublik Deutschland, auch wenn im einzelnen schon bedeutsame Unterschiede, etwa hinsichtlich der Zulassung militärischer Aktivitäten in der Stadt, zu bemerken waren. Nach der zweiten sowjetischen Souveränitätszuerkennung an die DDR im September 1955 ließ jedoch Moskau allmählich eine immer weitergehende rechtliche Formalisierung der praktischen Eingliederung Ost-Berlins in die DDR und eine Mißachtung bisher beobachteter Einschränkungen zu. Damit wurde von östlicher Seite der 1944/45 vereinbarte Status Berlins als eines interalliierten Sondergebietes auch rechtlich immer stärker in Mitleidenschaft gezogen. Die Beseitigung der bisherigen relativen Gesamt-Berliner Freizügigkeit durch die Absperrmaßnahmen der DDR vom August 1961 und die Einbeziehung Ost-Berlins in die Wehr-pfliditgesetzgebung der DDR wenig später markieren die praktisch einschneidendsten Stationen auf diesem Wege.

Es hätte logisch konsequent erscheinen können, wenn die Westmächte in ähnlicher Weise West-Berlin in die Bundesrepublik Deutschland integriert hätten. Dennoch wurde diese politische Linie nicht gewählt. Die Westmächte suchten nämlich den rechtlichen Status quo so weit wie möglich zu konservieren, weil sie unbedingt alles vermeiden wollten, was östlichen Angriffen gegen ihre Berlin-Präsenz (wie sie insbesondere während der großen Berlin-Krise von 1958— 1962 intensiv erfolgt sind, aber auch seitdem nicht völlig aufgehört haben) und damit etwa begründeten Maßnahmen an den Zugangswegen den Anschein des Rechtmäßigen verleihen könnte, auch wenn es rechtlich keine überzeugenden Argu-mente für die Behauptung eines Junktims zwischen alliierter Berlin-Präsenz und rechtlicher Weiterachtung von bereits zerstörten Elementen des Berlin-Status geben mag. (Eine derartige Argumentation müßte sich im übrigen auch und gerade gegen die UdSSR als den Initiator solcher Zerstörungen am Berlin-Status richten.) Für die westliche Seite jedoch hatte mehr als jede juristische Begründung die politische Tatsache Gewicht, daß die geographischen Faktoren der Sowjetunion — und nicht den Westmächten — ein günstiges lokales Machtverhältnis verschafften und daß demzufolge jeder mögliche Vorwand zu einer Anzweiflung des Status quo eher der UdSSR als den westlichen Ländern praktisch nützte. Konkret ausgedrückt: Wenn propagandistische Argumente gegen die jeweils andere Seite gefunden werden, kann wohl die Sowjetunion, nicht aber das westliche Lager der Gegenseite die Präsenz in Berlin durch Maßnahmen an den Zugangswegen erschweren oder streitig machen. Daher wurde, ungeachtet der Aushöhlung des Berlin-Status auf östlicher Seite, an den Vorbehalten bezüglich der Einbeziehung West-Berlins in die Bundesrepublik Deutschland nichts geändert.

In Ost-Berlin gibt es heute nur noch einen kleinen symbolischen Restbestand an rechtlichen Formen, die auf den früheren Status als Teil des interalliierten Sondergebiets zurückgehen. Die drei Westmächte halten — ebenso wie umgekehrt die UdSSR — nach wie vor an ihrem Recht auf unkontrolliertem Zugang nach dem anderen Berlin fest. Die Patrouillen werden — zur Vermeidung von Zwischenfällen — nur noch unbewaffnet und im Wagen durchgeführt; als Übergang steht lediglich der Checkpoint Charlie zur Verfügung. In Ost-Berlin werden die Gesetze gesondert verkündet, und die Wahlmodalitäten für die Volkskammer-Abgeordneten unterscheiden sich in der Stadt von denjenigen der DDR. Wie es scheint, dürfen die Ost-Berliner Vertreter in der Volkskammer formell nach wie vor nicht mit abstimmen, was freilich insofern praktisch nicht sichtbar wird, als das DDR-Parlament nicht individuell votiert und im übrigen seine Beschlüsse stets nur einstimmig faßt, so daß nicht überprüft werden kann, ob die Ost-Berliner Repräsentanten daran beteiligt waren oder nicht. Gelegentlich werden auch noch Kontrollen an der Stadtgrenze Ost-Berlins zur DDR durchgeführt. Als Restbestände des früher wirksamen Gesamt-Berliner Status sind auch solche der interalliierten Zusammenarbeit in West-Berlin wie das Alliierte Gefängnis Spandau (mit Rudolf Heß als einzigem Gefangenen, dessen Entlassung die UdSSR im Interesse des Fortbestehens des Gefängnisses nicht zustimmt), das sowjetische Ehrenmal im Tiergarten und vor allem die Reste des Alliierten Kontrollrates, unter denen die Luftsicherheitszentrale (welche die Flüge zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet) nach wie vor von großer Wichtigkeit ist.

Der allmähliche Abbau der Einheit West-Berlins mit dem östlichen Teil der Stadt, wie sie nach den interalliierten Vereinbarungen von 1944/45 vorgesehen worden war, ging mit einer weitgehenden Isolierung West-Berlins von der Außenwelt parallel. Die gesamtdeutsche Freizügigkeit, von der die Delegationen der Europäischen Beratungskommission bei ihren Berlin-Übereinkünften ausgegangen waren, galt von 1945— 1952 zwar weitgehend für den Verkehr zwischen Berlin und der Sowjetzone beziehungsweise der DDR, nicht aber für den Verkehr zwischen der Stadt und Westdeutschland, der zuerst westliche Genehmigungspapiere erforderte (1945— 1948), anschließend auf dem Land-und Wasserwege der sowjetischen Blockade unterlag (1948/49) und von da an auf dem Land-und Wasserwege sowohl für die Bewohner Ost-Berlins als auch für östlicherseits verfolgte Personen unmöglich war (seit 1949). Nur der Luftverkehr ist, seit er 1948 von den Westmächten in großem Umfang den deutschen Staatsbürgern zugänglich gemacht worden ist, stets ein ungehinderter Weg zur Außenwelt gewesen. Seit Juni 1952 ist West-Berlin völlig von seinem natürlichen Hinterland abgeschnitten.

Im September 1955 übergab die Sowjetunion die Abfertigung des Land-und Schiffsverkehrs zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik Deutschland den Behörden der DDR. Wiederholt wurde dieser Verkehr von der DDR durch die Einführung oder Erhöhung von Durchfahrtsgebühren und Durchreiseformalitäten kompliziert. Vor allem seit 1964 haben mit politischer Begründung über kürzere Zeiträume hinweg Schikanen wie Abfertigungsverzögerungen und Kontrollverschärfungen oder sogar kurzfristige Sperrungen stattgefunden. Im Frühjahr 1968 proklamierte die DDR-Regierung die „Herstellung der vollen Souveränität der DDR auf ihren Verkehrs-wegen"und traf zur Demonstration ihres Verfügungsanspruchs mehrere Maßnahmen, durch die kraft DDR-Willens einige eng umgrenzte Personengruppen von der Durchfahrt nach West-Berlin durch die DDR ausgeschlossen wurden. Faktisch freilich änderte sich an der Praxis des Verkehrs zwischen der Stadt und Westdeutschland so gut wie nichts, weil es sich bei den Ausgeschlossenen in aller Regel um Personengruppen handelte, die das Gebiet der DDR bisher ohnehin gemieden hatten. Da die DDR-Regierung wiederholt zu erkennen gegeben hat, daß sie den Verkehr zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik gerne stärker eingeschränkt sehen würde, ist die von ihr beobachtete Zurückhaltung als die Folge eines politischen Kräfteverhältnisses zu deuten, das ihr die behauptete ungehinderte Verfügungsgewalt über die Verkehrswege praktisch doch nicht erlaubt.

Die propagandistische Berlin-Argumentation der UdSSR und der DDR hat vielfach den Versuch gemacht, den faktischen Status quo in Berlin zur Nichtigkeitserklärung des 1944/45 vereinbarten Berliner Rechtsstatus zu verwenden (These von der Notwendigkeit eines realistischen Nicht-Ignorierens der tatsächlichen Lage), so wie sie gleichzeitig auch bestrebt gewesen ist, an anderer Stelle den faktischen Status quo in Berlin als dem 1944/45 vereinbarten Berliner Rechtstatus nicht angemessen zu erweisen und daher als unrechtmäßig und unwirksam hinzustellen (These von der Notwendigkeit einer rechtlichen Legitimation der tatsächlichen Lage). Je nach der jeweiligen östlichen Interessenlage wird einmal das eine Verfahren und dann wieder die andere Methode benutzt Wann immer ein östlicher Berlin-Standpunkt verlautbart, empfiehlt sich daher die Frage, inwieweit von dem Kriterium des Status quo und inwieweit von dem Kriterium vereinbarten Rechtes her argumentiert wird. Wenn einmal das eine und dann plötzlich wieder das andere getan wird, läßt sich der östlichen Seite mit voller Berechtigung vorhalten, daß ihre Argumente zumindest erst dann überzeugen können, wenn ein einheitlicher Maßstab für die Betrachtung aller Berlin-Tatbestände gewählt ist.

Die gegenwärtige Ost-West-Auseinandersetzung um den alliierten Berlin-Status

Bei den Berlin-Gesprächen vertreten die Westmächte und die Bundesrepublik Deutschland den Standpunkt, daß der 1944/45 festgelegte Status Berlins als eines interalliierten Sonder-gebietes nach wie vor die einzige Rechtsbasis für Berlin bilde. Auch wenn der Viermächte-Status Gesamt-Berlins faktisch nur noch in kleinen Restbeständen bestehe, müsse er als der einzige rechtliche Tatbestand angesehen werden, von dem bei allen rechtlichen Erwägungen auszugehen sei. Soweit von der faktischen Lage die Rede ist, muß nach westlicher Ansicht West-Berlin als ein Dreimächte-Gebiet gelten. Die UdSSR und die DDR dagegen erklären, als Folge der Spaltung Deutschlands und Berlins, an der die westliche Seite die alleinige Schuld trage, sei Ost-Berlin aus dem früheren Viermächte-Gebiet Gesamt-Berlin ausgeschieden, während der einstige besatzungsrechtliche Zustand in West-Berlin weiter fortbestehe. Daraus wird der Schluß hergeleitet, daß der 1944/45 formulierte Berlin-Status erstens ausschließlich für West-Berlin weitergelte und zweitens in jeder Beziehung für West-Berlin noch verbindlich sei. Dementsprechend wird die These von einem Vier-mächte-Gebiet West-Berlin aufgestellt, die mit Ansprüchen auf sowjetische Mitbestimmungsrechte in der westlichen Teilstadt und der mehr oder minder offen vorgetragenen Forderung nach Festlegung einer West-Berliner Wohlverhaltenspflicht gegenüber der UdSSR inhaltlich gefüllt wird. Umgekehrt sollen die Westmächte Fragen des Berlin-Status, die auch Ost-Berlin betreffen würden, überhaupt nicht mehr ansprechen dürfen. Die Berlin-Verhandlungen sind daher für die sowjetische Seite auch terminologisch nur West-Berlin-Verhandlungen. Die östliche Seite behauptet damit, die faktische und einseitig vorgenommene Ausgliederung Ost-Berlins aus dem interalliierten Sondergebiet Berlin sei eine Rechtstatsache, wohingegen das westliche Festhalten an den Restbeständen dieses interalliierten Sonder-gebiets in West-Berlin zur rechtlichen Folge habe, daß diese Restbestände zwar nicht in territorialer Hinsicht (Nicht-Wiedereinbeziehung der östlichen Stadthälfte), wohl aber im Hinblick auf die Zahl der Besatzungsmächte (Wiedereinbeziehung der Sowjetunion) auf die ursprüngliche Vollständigkeit zurückgeführt werden müßten. Praktisch würde das bedeuten, daß die UdSSR durch ihren Auszug aus der Gesamt-Berliner Kommandatura ihren Sektor aus der besatzungsrechtlichen Gemeinsamkeit herausgezogen hätte, aber zugleich die mit dieser Gemeinsamkeit verbundenen Rechte bezüglich der Sektoren ihrer einstigen Partner weiter für sich in Anspruch nehmen könnte. In diesem Sinne hat die sowjetische Seite seit Anfang der sechziger Jahre immer wieder Anstrengungen unternommen, um in West-Berlin Stützpunkte für eine physische Präsenz und für politische Einwirkungsmög-lichkeiten zu gewinnen. Die Westmächte haben sich derartigen Ambitionen stets energisch widersetzt und sind auch in der gegenwärtigen Phase nicht bereit, den sowjetischen Wünschen zu entsprechen. Es ist anzunehmen, daß die sowjetische Politik, die sowjetischen Kompetenzen bezüglich Ost-Berlins zwar gegenüber den Westmächten zu leugnen, aber gleichzeitig im Verhältnis zur DDR aufrechtzuerhalten, die westliche Seite in ihrer ablehnenden Haltung bestärkt. Warum, so mag man sich fragen, soll man die Sowjetunion aus den Verantwortungen entlassen, die mit dem Charakter Ost-Berlins als Teil des früheren interalliierten Sondergebiets Berlins gegeben sind, wenn die Sowjetunion die ihr daraus erwachsenden Rechte weiterhin wahrnimmt — und sei es auch nur gegenüber der DDR?

Die Positionen der Westmächte und der UdSSR in der Frage des Rechtscharakters Berlins beziehungsweise West-Berlins haben sich im Verlauf der Botschafterverhandlungen als nicht annäherbar erwiesen. Um vielleicht trotzdem weiterzukommen, sind beide Seiten dazu übergegangen, die leidige Streitfrage auszuklammern und an ihr vorbei nach Möglichkeiten einer „praktischen Regelung" anstehender konkreter Probleme zu suchen. Weder die Westmächte noch die Sowjetunion haben damit auf ihren Standpunkt und die damit verbundenen Ansprüche verzichtet. Die Westmächte allerdings verzichten auf diese Weise praktisch darauf, die Lage Ost-Berlins unter dem Gesichtspunkt des 1944/45 vereinbarten Berlin-Status weiterhin anzusprechen.

Die Kontroverse zwischen den Westmächten und der Sowjetunion betrifft auch den Rechts-B charakter der westlichen Berlin-Präsenz Nadi westlicher Ansicht besitzen die Westmächte in Berlin originäre Anwesenheitsrechte. Damit ist gemeint, daß die Westmächte ihre Anwesenheit in Berlin nicht mittelbar durch Vereinbarung oder Gewährung, sondern unmittelbar durch eigenes Recht erlangt haben. Basis dieses eigenen Rechts ist die Eroberung des Deutschen Reiches, durch die den vier alliierten Hauptmächten die Befugnis zur besatzungsrechtlichen Anwesenheit in dem eroberten Lande zugefallen ist. Im Falle der Bundesrepublik Deutschland ist diese Befugnis zur besatzungsrechtlichen Anwesenheit, von Restkompetenzen bezüglich Deutschlands als Ganzem und Berlins abgesehen, in den Pariser Verträgen von 1954 einerseits durch einen Status deutscher Souveränität und andererseits durch eine Regelung für die Stationierung der verbündeten Truppen in Westdeutschland abgelöst worden. Im Falle West-Berlins dagegen besteht der frühere Zustand besatzungsrechtlicher Anwesenheit angesichts der besonderen Lage der Stadt weiterhin fort. Nach westlicher Ansicht ist also die westliche Besatzungshoheit über West-Berlin ein Relikt jener Hoheitsrechte, welche die Westmächte ebenso wie die Sowjetunion am Ausgang des Zweiten Weltkrieges in Deutschland auf Grund des Siegerrechts erworben und während der folgenden Jahre für sich theoretisch wie praktisch beansprucht haben. Der Einwand, daß gemäß der Haager Landkriegsordnung die Übernahme der zivilen Regierungsgewalt in einem eroberten Land nicht statthaft ist, wird durch das Argument entkräftet, daß der Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes ein in der Haager Landkriegsordnung nicht vorausgesehenes politisches, soziales und staat-liebes Chaos in Deutschland hinterlassen habe und daß demzufolge die Siegermächte zu einer vorläufigen, mandatsähnlichen Übernahme der Regierungsverantwortung genötigt gewesen seien.

Die westliche Argumentation muß, soweit sie sich auf das westliche Präsenzrecht in Berlin bezieht, den Umstand berücksichtigen, daß die Westmächte die Stadt nicht kämpfend als Eroberer betreten haben, denn die Hauptstadt des Deutschen Reiches hat vor der Roten Armee kapituliert. Nach westlicher These gilt es zweierlei zu unterscheiden: den Tatbestand der Eroberung einerseits und die Abgrenzung der Besatzungsgebiete andererseits. Das Recht der besatzungsrechtlichen Anwesenheit beruht darauf, daß die vier Mächte Deutschland gemeinsam erobert haben. Innerhalb welcher territorialer Abgrenzungen diese besatzungsrechtliche Anwesenheit dann ausgeübt wurde, hing jedoch nicht von der Ausdehnung der von der jeweiligen Macht eroberten Gebiete, sondern — nach dem durch die Verhandlungen in der Europäischen Besatzungskommission bekundeten Willen der Alliierten — statt dessen von den 1944/45 getroffenen Vereinbarungen über die Einteilung Deutschlands in Besatzungsgebiete ab. Dementsprechend, so wird der Gedanke weitergeführt, waren weder die später besetzten Zonen noch die dann eingenommenen Berlin-Sektoren mit den Territorien identisch, welche die einzelnen Armeen ursprünglich kämpfend eingenommen hatten. Durch den Umstand, daß nicht die faktischen Eroberungen, sondern vorher getroffene Über-einkünfte zur Grundlage der territorialen Aufteilung im besetzten Deutschland gemacht wurden, ist außer Frankreich vor allem die Sowjetunion begünstigt worden: Sie erhielt die von den Amerikanern und Briten eroberten Gebiete West-Mecklenburgs, der Altmark, Thüringens sowie beider Sachsen westlich von Elbe und Mulde (also die Kerngebiete der heutigen DDR außerhalb Brandenburgs) und brauchte dafür nur das kleine — und dazu völlig verwüstete und ausgepowerte — Gebiet der Berliner Westsektoren zu räumen. Unter diesen Voraussetzungen können die Westmächte logisch darauf hinweisen, daß ihr Recht der besatzungsrechtlichen Anwesenheit in West-Berlin die gleiche rechtliche Qualität besitze wie das frühere sowjetische Recht der besatzungsrechtlichen Anwesenheit in den westlicherseits aufgegebenen Territorien und die seither dort an deren Stelle getretenen Souveränitätsrechte der DDR. Die sowjetische Seite nimmt jedoch den Standpunkt ein, daß Berlin immer nur ein Sonder-gebiet innerhalb der sowjetischen Besatzungszone gewesen sei und daß demzufolge die westliche Anwesenheit in dem Berliner Rest-gebiet West-Berlin nur den Charakter einer begrenzten und bedingten Präsenz habe. Wie beispielsweise der sowjetische Berlin-Experte Juri Rshewski erklärt, ist Berlin nicht aus dem Hoheitsbereich des sowjetischen Zonenkommandeurs und aus dem territorialen Bestand der sowjetischen Zone ausgegliedert worden Zum Zwecke einer westlichen Mitwirkung an der Besatzungsherrschaft über Deutschland und insbesondere an der Verwirklichung des gemeinsamen Programms für die Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung des besetzten Landes hat demnach die sowjetische Besatzungsmacht ihren westlichen Verbündeten in West-Berlin als einem Teil der Sowjetunion das Recht eingeräumt, einzelne Herrschaftsakte durchzuführen. Wie hinzugefügt wird, handelt es sich bei dieser Einräumung nicht nur um ein freiwilliges, durch nichts abgenötigtes sowjetisches Entgegenkommen, sondern auch um eine zeitweilige Überlassung und nicht um eine Abtretung. Es wird von einer Verwaltungszession gesprochen, auf Grund deren die sowjetische Seite den Truppen der drei Westmächte gestattet habe, einen Teil ihrer Zone zu besetzen und dort in eingeschränktem Umfang ihre Macht auszuüben, wobei die souveränen Rechte in vollem Ausmaß bei der UdSSR verblieben seien. Der sowjetischen Argumentation zufolge sind also die Westmächte nur sozusagen auf Borg nach West-Berlin gekommen, und es liegt grundsätzlich in sowjetischem Ermessen, die der westlichen Seite geliehenen Berlin-Kompetenzen wieder zurückzunehmen. Mit der gleichen Begründung hat die UdSSR schon zweimal — 1948/49 bei der Berliner Blockade und 1958— 1962 während der großen Berlin-Krise — das Recht der Westmächte zur Präsenz in Berlin für verwirkt erklärt. Es spricht nicht für eine sowjetische Bereitschaft zu einem Ausgleich in der Berlin-Frage, wenn gerade diese Argumentation heute weiter verfochten und sogar zunehmend in der breiten Öffentlichkeit herausgestellt wird. Aus der sowjetischen These leitet sich die immer häufiger verwendete Formel von der Lage West-Berlins „auf dem Territorium der DDR“ ab. Der sowjetische Standpunkt entspricht den Ansprüchen auf West-Berlin, welche die DDR seit längerem formuliert.

Die Sowjetunion ergänzt ihre Anzweiflung der westlichen Berlin-Präsenzrechte durch die Argumentation, daß der Viermächte-Status der Stadt nur eine vorläufige Funktion der vereinbarten gemeinschaftlichen Deutschland-Regierung gewesen sei. Wie V. N. Beletzki als maßgeblicher Berlin-Sachverständiger des sowjetischen Außenministeriums erläutert, waren die interalliierten Berlin-Vereinbarungen der Verwirklichung der gemeinschaftlich erklärten Entnazifizierungs-, Entmilitarisie-rungs-und Demokratisierungsziele in Deutschland instrumental untergeordnet. Daraus leitet sich die Folgerung ab, daß die westliche Berlin-Präsenz nur zeitweilig — nämlich für die Dauer der Verwirklichung dieser Ziele — vorgesehen gewesen sei und daß sie nur so lange eine Berechtigung besessen habe, wie sie besagten Zielen diente.

Es wird also ein unlöslicher Zusammenhang von Berlin-Besetzung und gemeinschaftlicher Durchführung formulierter Besatzungsziele behauptet. Da eine derartige These weder durch den Wortlaut der in der Europäischen Beratungskommission vereinbarten Protokolle noch durch den Hinweis auf das Postdamer Abkommen (das zwar einige allgemeine Formeln bezüglich der Besatzungsziele, aber kein Wort über Berlin oder die es betreffenden Abmachungen enthält) gestützt werden kann, führt die UdSSR für ihre Ansicht ausschließlich Argumente eines, wie angegeben wird, aus der Sache resultierenden Zusammenhangs an. Nach sowjetischer Darstellung, die von der implizierten Prämisse ausgeht, daß die Mächte der Anti-Hitler-Koalition sich auf die Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung Deutschlands im sowjetischen Sinne eines kommunistisch ausgerichteten politisch-gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses festgelegt hätten, haben die Westmächte 1947/48 die Plattform der vereinbarten gemeinsamen Regierung Deutschlands verlassen, Damit haben sie, wie Juri Rshewski ausführt, das Hauptabkommen Über die Umgestaltung Deutschlands gebrochen und können daher nicht länger aus dem Nebenabkommen über die Besetzung Berlins Rechte für sich beanspruchen. Demzufolge ist nach sowjetischer Ansicht der Viermächte-Status Berlins rechtlich nicht mehr existent. Soweit und solange die UdSSR trotzdem an der westlichen Präsenz in West-Berlin nicht rührt, wird das als ein sowjetisches Entgegenkommen hingestellt, für das freilich keinerlei Verpflichtung oder Gewähr bestehen könne. Die UdSSR behält sich damit vor, die westliche Präsenz in West-Berlin, die sie zur Zeit aus politischen Rücksichten heraus noch respektiert, jederzeit wieder anzugreifen.

Die sowjetische Regierung sucht ihre prinzipiellen Ansprüche auf das ganze Berlin noch durch eine allgemeine Rechtskonstruktion abzustützen. Sie beruft sich auf die Haager Landkriegsordnung, derzufolge die Errichtung einer Besatzungsherrschaft über ein besiegtes Land nicht rechtens ist. Alternativ wird auf das Kriegsverbot des modernen Völkerrechts verwiesen und daraus auf die Unrechtmäßigkeit aller Ansprüche geschlossen, die auf ein Recht der Eroberung begründet werden. Eine derartige Argumentation richtet sich gegen die westliche These von den originären Besatzungsrechten in West-Berlin, kann aber auch die Rechtmäßigkeit der sowjetischen Besatzungsherrschaft in den besetzten Gebieten während der Nachkriegszeit nachträg-ich in Zweifel ziehen. Um diese Konsequenz zu umgehen, wird ohne sonstige Rechtfertigung einseitig als neues Völkerrechtsprinzip behauptet, zur Gewährleistung des Friedens und der internationalen Sicherheit könne in einem besiegten Land, das eine Aggressionsgefahr bilde, zeitweilig eine Besatzungsherrschaft errichtet werden, soweit und sofern diese dem Volk des besiegten Landes helfe, politische und gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, welche die Gefahr einer Wiederholung der Aggression beseitigen. In diesem Falle überlagere die Verantwortung der Staaten für die Erhaltung des Friedens die Vorschriften der Haager Landkriegsordnung.

Dabei ist zu berücksichtigen, daß diese Thesen ihren politischen Sinn von der sowjetischen Ideologie des Marxismus-Leninismus erhalten. Nach deren Definitionen ist ein Land, das sich nicht der Sowjetunion und dem Kommunismus zugewandt hat, imperialistischen Charakters und daher zumindest potentiell ein friedens-feindlicher Faktor. Die einzige Möglichkeit, einen solchen Staat zuverlässig auf den Weg des Friedens zu führen, besteht also darin, ihn im Sinne einer außen-wie innenpolitischen Zuordnung auf die UdSSR politisch und gesellschaftlich umzugestalten. Der postulierten Verantwortung für die Erhaltung des Friedens durch die Ausübung einer Besatzungsherrschaft in einem besiegten Land zu genügen, heißt also konkret, daß nur die Sowjetunion, nicht aber westliche Staaten originär zur Errichtung einer Besatzungsherrschaft legitimiert sind. Das wiederum macht die sowjetische These verständlich, nach der die Westmächte nur so lange ihre ihnen aus der Besetzung Deutschlands erwachsenden Pflichten erfüllt haben sollen, wie sie ihre Besatzungspolitik an die Übereinkunft mit der UdSSR banden und einer Realisierung der vereinbarten Besatzungsziele im sowjetischen Sinne nicht entgegenwirkten.

Die sowjetische Position läuft darauf hinaus, den Westmächten im Grunde jedes Berlin-Recht zu bertreiten. Auch wenn die sowjetische Seite aus naheliegenden realpolitischen Rücksichten heraus bisher nicht die volle Konsequenz anmeldet, daß die Westmächte West-Berlin zu verlassen hätten, sondern statt dessen eine gewisse Respektierung der westlichen Anwesenheit in der Stadt erkennen läßt, will sie augenscheinlich nicht auf die Möglichkeit verzichten, die früheren Attacken gegen die westliche Berlin-Präsenz bei Eintreten geeigneter politischer Umstände wieder zu erneuern. Da die rechtliche Anzweiflung der westlichen Berlin-Position durch die UdSSR letztlich total ist, kann man sich kaum vorstellen, wie die strittigen Grundsatzfragen des Berlin-Status aus den Viermächte-Verhand-lungen um einer angestrebten „praktischen Regelung" willen auf die Dauer ausgeklam-mert bleiben können. Es erscheint zweifelhaft, daß die Westmächte einem Modus vivendi für Berlin zustimmen können, bei dem ihr Recht auf besatzungsrechtliche Anwesenheit von der anderen Seite nicht akzeptiert wird und damit unter den Vorbehalt jederzeitiger Attackierung gestellt ist.

Die gegenwärtige Ost-West-Auseinandersetzung um die Bundespräsenz in West-Berlin

Während die Sowjetunion es gegenwärtig nicht für zweckmäßig hält, ihre Auffassung von der Illegitimität der westlichen Präsenz in West-Berlin in die Berlin-Verhandlungen einzubringen, hat sie von Anfang an ein entschiedenes Interesse gezeigt, die Frage der Bundespräsenz in West-Berlin zum Gesprächsgegenstand mit den Westmächten zu machen. Auch die westliche Seite hat den Wunsch gehabt, sich hierüber mit der UdSSR zu verständigen. Daher sind die drei westlichen Delegationen während der Botschafterverhandlungen ohne weiteres auf das sowjetische Verlangen eingegangen, und auch die deutsche Bundesregierung ist in ihren Erörterungen mit der sowjetischen Führung wiederholt auf diesen Punkt zu sprechen gekommen.

Es erwies sich freilich sehr bald, daß das Interesse, das die Verhandlungspartner an einer Diskussion über die Bundespräsenz in West-Berlin nehmen, völlig gegensätzlich ist. Für die westliche Seite geht es darum, die Verflechtungen West-Berlins mit der Bundesrepublik zu sichern, indem die UdSSR zur Hinnahme der sachlich wesentlichen Formen dieser Verflechtungen bewogen wird und damit von weiteren Schikanen und Gewaltmaßnahmen an den Zugangswegen Abstand nimmt, mit denen der Forderung nach einem Abbau der Bundespräsenz Nachdruck verliehen wird. Zu den unaufgebbaren Formen der Verflechtung der Stadt mit Westdeutschland gehören nach westlicher Ansicht die Tätigkeit der verschiedenen Bundesbehörden einschließlich ministerieller Kontaktstellen und die Zugehörigkeit West-Berlins zum wirtschaftlichen, administrativen, rechtlichen und finanziellen System der Bundesrepublik. Wenn die Sowjetunion künftig auf alle Gegnerschaft gegen die Verflechtungen verzichten würde, schiene es der westlichen Seite vertretbar, nicht länger bundesdeutsche Verfassungsorgane in West-Berlintagen zu lassen oder dort bundesdeutsche Hoheitsakte durchzuführen. Durch das erhöhte Maß an Sicherheit für die Stadt, zu dem sich die UdSSR damit bereitgefunden hätte, würde das Bedürfnis nach psychologischen Rückenstärkungen für die West-Berliner nachlassen. Sowjetunion und DDR suchen das Gespräch über die Bundespräsenz in der Absicht, die These von der prinzipiell uneingeschränkten Völkerrechtswidrigkeit der Anbindung West-Berlins an die Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen und die Tätigkeit aller bundesdeutschen Verfassungsorgane in der Stadt zu unterbinden. Beruhigend wird dann vielfach hinzugefügt, daß an dem Status quo der wirtschaftlichen, finanziellen und rechtlichen Verbindungen West-Berlins zur Bundesrepublik nichts geändert werden solle, und es mag auch die Rede davon sein, daß die Tätigkeit unpolitischer westdeutscher Behörden — wie beispielsweise der Bundesversiche-rungsanstalt — geduldet werden könnte. Keinesfalls aber könne hingenommen werden, daß amtliche Organe der Bundesrepublik in der Stadt, die nicht zum westdeutschen Staat gehöre und auf die er nicht den mindesten Anspruch erheben könne, Arbeitsbesuche machten oder Amtshandlungen durchführten. Die Definitionen sind dabei so unscharf, daß praktisch jeder Aufenthalt von nicht rein persönlichem Charakter darunter verstanden werden kann.

Umstritten ist auch die Rolle, die eine Anerkennung der Bundespräsenz beziehungsweise der Verzicht auf sie innerhalb des erstrebten europäischen Entspannungsprozesses spielen würde. Nach westlicher Ansicht ist die Bundespräsenz in West-Berlin Bestandteil des Status quo, den zu achten die UdSSR vertraglich zur Richtschnur ihres außenpolitischen Verhaltens und zur Grundlage der Entspannung erklärt hat. Dabei wird darauf hingewiesen, daß die Bundespräsenz in ihrer heutigen Form seit fünfzehn bis zwanzig Jahren besteht und daß manche ihrer heute angegriffenen Aspekte lange Zeit von östlicher Seite nicht nur widerstandslos hingenommen, sondern teilweise sogar ausdrücklich begrüßt worden sind. Man könne, so wird gefolgert, daher nicht nur von einem existenten Status quo, sondern auch von einem gewohnheitsrechtlich sanktionierten Zustand sprechen, dessen nachträgliche Antastung weder rechtens sein noch mit der Entspannung vereinbart werden könne. Nach sowjetischer Auffassung dagegen erfüllt das Insistieren Bonns und seiner Verbündeten auf der Bundespräsenz in West-Berlin den vom Moskauer Vertrag unter Verdikt gestellten Tatbestand, daß eine der beiden Vertragsparteien territoriale Ansprüche an irgend jemanden (nämlich an die „selbständige politische Einheit West-Berlins") stellt. Dabei weigert sich die sowjetische Regierung, der Bundespräsenz den Charakter eines Status quo oder gar eines gewohnheitsrechtlichen Tatbestandes zuzugestehen. Gegen die Ansicht, daß die langjährige — und zudem langjährig unangefochtene — Existenz der Bundespräsenz einen zu achtenden Status quo geschaffen habe, wird eingewandt, daß zu dem Status quo auch die mittlerweile laut gewordenen Proteste der UdSSR und der DDR gehörten. Diesen nachträglichen Protesten wird also die rechtliche Wirksamkeit zugeschrieben, die Faktizität der Bundespräsenz wieder aufzuheben. Gestützt auf diese Argumentation, hat Botschafter Falin in seinem Gespräch mit dem Vorsitzenden der Jungen Union, Echternach, kategorisch erklärt, daß es „keine Lösung mit Bundespräsenz" geben werde. Nach seinen Worten hat die Bundespräsenz als illegale Erscheinung zu verschwinden. Erst dann, so gab er zu verstehen, würden die Störaktionen gegen den West-Berlin-Verkehr aufhören.

Es ist nun freilich weder in den internationalen Beziehungen im allgemeinen noch im Völkerrecht im besonderen üblich, daß ein Staat einen Rechtsanspruch auf eine bestimmte Regelung der Verhältnisse außerhalb des Gebietes seiner politischen Kompetenz erhebt. Nadi westlicher Ansicht gilt das bezüglich der Forderungen, welche die UdSSR hinsichtlich des Verhältnisses West-Berlins zur Bundesrepublik Deutschland anmeldet. Die sowjetische Seite greift, um diesem Einwand zu begegnen, auf ihre These vom Berlin-Status zurück, demzufolge die Westmächte in West-Berlin nur zeitweilige Verwaltungsrechte erhielten, deren sie überdies infolge ihrer Illoyalität gegenüber der sowjetischen Version der alliierten Besatzungsziele rechtlich verlustig gegangen seien. Von dieser Behauptung leitet sich der Schluß ab, daß die Westmächte rechtlich gar nicht in der Lage gewesen seien, der Bundesrepublik Deutschland in West-Berlin irgendwelche Kompetenzen zu übertragen. In Wahrheit, so wird implizit angedeutet, hätte nur die Sowjetunion als Inhaber der Hoheitsrechte in ganz Berlin eine derartige Übertragung vornehmen können. Was immer die Westmächte der Bundesrepublik Deutschland zugestanden haben mögen, so ist es doch in jedem Fall von vornherein rechtlich unwirksam gewesen. Diesen Prämissen zufolge kann nur die Sowjetunion darüber befinden, welches Verhältnis zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik statthaft ist. Mit der These rechtfertigt sich nicht nur das östliche Verlangen nach einem Abbau der Bundespräsenz, sondern auch die Politik der Pressionen an den Zugangswegen, mit der dieser Abbau erzwungen werden soll: Wenn die Westmächte der UdSSR ihr legitimes Recht verweigern, das Verhältnis zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik zu bestimmen, dann erklärt sich die sowjetische Seite für berechtigt, sich ihr Recht mit allen Mitteln zu nehmen.

Die sowjetische Seite begründet ihren Einspruch gegen die Bundespräsenz zwar mit einer Nichtigkeitserklärung der westlichen Anwesenheitsrechte in West-Berlin, benutzt aber gleichzeitig die Einschränkungen, welche die Westmächte bezüglich der Verflechtung der Stadt mit der Bundesrepublik Deutschland festgelegt haben, zur Stützung ihrer gegen die Bundespräsenz zielenden Argumente. Der grundsätzliche westliche Vorbehalt, der eine Übertragung der obersten Gewalt in der Stadt an die Bundesrepublik ausschließt und eine formale staatsrechtliche Eingliederung West-Berlins in den westdeutschen Staat nicht zuläßt, wird mit Vorliebe als Gegenbeweis gegen die Rechtmäßigkeit der „westdeutschen Ansprüche auf die selbständige politische Einheit West-Berlin" angeführt, womit die Bundespräsenz gemeint ist. Auf diese Weise soll der Eindruck erweckt werden, als stünden die Westmächte der Bundespräsenz mit Reserviertheit oder gar mit Ablehnung gegenüber und als unternehme die Bundesrepublik da einen von den drei westlichen Berlin-Mächten nicht gedeckten politischen Alleingang. Das stellt die wirklichen Gegebenheiten geradezu auf den Kopf, denn es sind ja entscheidend die Westmächte, in deren Auftrag die Bundesrepublik mittels ihrer subsi25 diären Präsenz in West-Berlin für die wirtschaftliche, soziale und psychologische Lebensfähigkeit der Stadt sorgt.

Neben der Sowjetunion macht auch die DDR im Zusammenhang mit der Bundespräsenz politische Interventionsansprüche geltend. Als ein wesentliches Element der DDR-Argumentation dient das Potsdamer Abkommen. Die DDR nimmt für sich in Anspruch, die im Potsdamer Abkommen festgelegten alliierten Besatzungsziele loyal und vollständig realisiert zu haben. Gleichzeitig wird die Bundesrepublik bezichtigt, die Verpflichtungen, die ihr aus dem Potsdamer Abkommen erwüchsen, gröblich zu mißachten. Daraus wird die Folgerung hergeleitet, daß wohl die DDR, nicht aber die Bundesrepublik den von der Anti-Hitler-Koalition festgelegten Bedingungen für die Anwesenheit in der deutschen Hauptstadt genüge. Außerdem spielt die DDR-Argumentation mit sowjetischer Unterstützung die Anklage hoch, West-Berlin diene der Bundesrepublik mit den Westmächten als Störzentrum, als Subversionszentrale und sogar als „billigste Atombombe" bei dem Versuch zu inneren und äußeren Erschütterungen. Der „antifaschistische Schutzwall“ vom August 1961, so wird hinzugefügt, habe zwar der früheren Abwerbung von DDR-Bürgern ein Ende gesetzt, doch sei dafür die Rolle West-Berlins als Propaganda-und Agentenstützpunkt der Imperialisten inmitten der DDR weiter verstärkt worden. Nach östlichem Verlangen muß mit dieser Rolle endgültig Schluß gemacht werden: Die notwendige Normalisierung der Beziehungen zwischen West-Berlin und der DDR im Zeichen der friedlichen Koexistenz schließt den Verzicht auf jede Tätigkeit in der Stadt ein, die von der DDR-Regierung für feindselig erklärt wird. Demnach soll die DDR uneingeschränkten Wohlverhaltensanspruch gegenüber West-Berlin besitzen, der in seiner Konsequenz die demokratischen Freiheiten in der Stadt völlig außer Kurs setzen könnte.

Aus der These, daß Berlin immer ein Teil der Sowjetzone gewesen sei und nur einer begrenzten Verwaltungsbefugnis der Westmächte unterstanden habe, wird ein rechtlicher Anspruch der DDR auch auf West-Berlin abgeleitet. Mit Rücksicht auf die Realität West-Berlins als einer „selbständigen politischen Einheit", so heißt es weiter, seien jedoch die UdSSR und die DDR in ihrem Beistandsvertrag vom 12. Juni 1964 übereingekommen, die Selbständigkeit der Stadt zu achten. Wie immer wieder betont wird, soll die westliche Seite dies als einen Verzicht der DDR auf die ihr eigentlich zustehenden Rechte werten, den die östliche Seite als Friedensleistung erbracht habe. Nach östlicher Ansicht muß dieses Entgegenkommen dann wenigstens damit honoriert werden, daß auch die Bundesrepublik Deutschland auf ihre, wie es heißt, widerrechtlichen Berlin-Ansprüche verzichtet.

In der Frage der Bundespräsenz ist die sowjetische Haltung bisher ganz hart und kompro, mißlos. Wie zuletzt Botschafter Falin in seinem Gespräch mit Echternach hervorgehoben hat, betrachtet die sowjetische Führung den Abbau der Bundespräsenz in West-Berlin als den zentralen Bestandteil einer Berlin-Regelung und ist zu keiner Übereinkunft bereit, welche die heutige politische Bundespräsenz bestehen ließe. Ob es auf dieser Basis zu einer Einigung kommen kann, wird sachlogisch von dreierlei abhängen. Erstens ist ein westliches Eingehen auf das sowjetische Verlangen von vornherein nur denkbar, wenn die übrigen Bestandteile der Berlin-Regelung — namentlich die störungsfreie Sicherung der Zugangswege und die volle Anerkennung des westlichen Präsenzrechts — eine unzweideutige Rechtsgarantie für die West-Berliner Lebensfähigkeit und eine spürbare Verbesserung für die West-Berliner Bevölkerung zum Inhalt haben, denn ohne ein Mehr an Sicherheit und an Bewegungsfreiheit kann ein Weniger an bundesdeutscher Solidaritätsbekundung psychologisch nicht verkraftet werden. Zweitens kann es sich nur um eine Einschränkung der Bundespräsenz in Grenzen handeln, welche die Einbeziehung West-Berlins in das wirtschaftliche, finanzielle, rechtliche und administrative System der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigt und im übrigen hinreichend eindeutig ist, um Versuche zu späterer weiterer Einengung der Verflechtungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik von vornherein auszuschließen. Drittens müßte der westliche Ver-zieht auf einzelne Formen der Bundespräsenz auf eine Weise erfolgen, die der UdSSR nid 1* implizit eine politische Interventions-oder Vetobefugnis in den inneren Angelegenheit 611 West-Berlins verschafft. Im gegenwärtigen Verhandlungsstadium läßt sich noch nicht absehen, ob eine derartige Regelung vielleicht möglich werden könnte. Falls die jetzigen sowjetischen Forderungen und die wiederholten Bekundungen der DDR sich in vollem Ausmaß als endgültig und als starre Fest legungen erweisen sollten, dürfte eine Einigung kaum zustande kommen.

Der von den Westmächten und der Bundesrepublik Deutschland verteidigte harte Kern der Bundespräsenz in West-Berlin ist nicht, wie die östliche Propaganda glauben machen will, eine überflüssige oder expansionistische Ambition des westdeutschen Staates. Sie ist vielmehr ein Teil der westlichen Bemühungen, West-Berlin in Selbständigkeit gegenüber einer Umwelt zu erhalten, mit der ein Verhältnis wechselseitiger Ablehnung besteht. Genau diese Selbständigkeit der Stadt und dieses Verhältnis wechselseitiger Ablehnung zielt die östliche Seite mit ihrer Politik an. Die Wohlverhaltensforderungen der UdSSR und der DDR stellen die Selbständigkeit in Frage. Mit der Parole von dem zu setzenden Ende des kalten Krieges um West-Berlin ist konkret gemeint, daß das Verhältnis wechselseitiger Ablehnung zwischen der Stadt und den Mächten ihrer geographischen Umwelt durch einen Anpassungsprozeß der Stadt an den Willen der sie umgebenden Mächte überwunden werden müsse. In diesem Sinne ist es gemeint, wenn Botschafter Falin erklärte, das Abnorme der Situation bestehe nicht darin, daß West-Berlin nicht zur Bundesrepublik gehöre, sondern vielmehr darin, daß nicht ganz Berlin zur DDR gehöre. Auf Grund sonstiger sowjetischer Argumentationen kann man hinzufügen, daß West-Berlin, wenn man schon auf seine Eingliederung in die DDR verzichte, wenigstens seinen Frieden mit der UdSSR und die DDR — natürlich zu deren Bedingungen — suchen müsse.

Der Kampf gegen die Bundespräsenz hat in diesem Zusammenhang eine entscheidende Funktion. Die Sowjetunion hat lange Zeit — namentlich während der Berliner Blockade 1948/49 und während der Berlin-Krise 1958 bis 1962 — versucht, die Stellung West-Berlins durch den Angriff auf die Anwesenheit der Westmächte zum Einsturz zu bringen. Die Erfolglosigkeit dieses Bemühens hat die sowjetische Führung seit 1963/64 dazu veranlaßt, statt dessen den Stoß gegen die Verflechtungen West-Berlins mit der Bundesrepublik zu richten. Das Kalkül ist klar: Die selbständige Existenz der Stadt ruht sowohl auf dem Schutz der Westmächte als auch auf den wirtschaftlich-sozialen Hilfestellungen der Bundesrepublik. Wenn eine dieser beiden Säulen fällt, ist auch die andere nicht mehr aufrechtzuerhalten. Mit der Selbständigkeit West-Berlins ist es dann zu Ende. Auf die heutige Situation bezogen, heißt das: Die Westmächte werden sich in der Stadt nicht mehr halten können, wenn die West-Berliner Lebensfähigkeit nicht mehr ausreichend durch Verflechtungen mit der Bundesrepublik gesichert wird. Sowjetische Argumentationen, die das westliche Besatzungsregime als ein widersinniges Relikt aus früheren Zeiten hinstellen, das eigentlich beseitigt werden müßte, weisen deutlich auf die Absicht hin, auch die westliche Berlin-Präsenz langfristig in Frage zu stellen.

Die sowjetische Seite appelliert mehr oder weniger versteckt an die Westdeutschen, die Beschränkungen, die ihrer Politik durch die Berlin-Kompetenzen der Westmächte auferlegt seien, doch endlich abzuschütteln. In diesem Sinne bemerkte Botschafter Falin, keine Regierung könne auf die Dauer über ihre Abhängigkeit von einer anderen Regierung glücklich sein, und fügte verdeutlichend hinzu, Bonn müsse sich beispielsweise überlegen, ob die Unterstreichung der originären Rechte der Westmächte in Berlin auf die Dauer seinen Interessen diene. Hinweise dieser Art passen gut zu anderen sowjetischen Versuchen, die Bundesrepublik langfristig zu einem Abrücken von den Solidaritätsbindungen mit den Westmächten zu veranlassen Allerdings ist, solange die Leiter der bundesdeutschen Politik ihre Interessenlage kühl beurteilen, gerade die Berlin-Frage ein denkbar schlechter Ansatzpunkt für die sowjetischen Bemühungen, denn hier hat die Bundesrepublik so wenig wie nirgends sonst eine Chance, ohne die Solidarität mit den Westmächten im allgemeinen und ohne ein Beharren auf der westlichen Berlin-Kompetenz im besonderen ihre Belange zu sichern, zumal die sowjetischen Vorschläge für eine Berlin-Regelung bisher den bundesdeutschen Vorstellungen kaum entgegengekommen sind. Es ist kein Zufall, daß die deutsche Bundesregierung bei den Moskauer Verhandlungen auf sowjetischer Seite darauf hingewirkt hat, daß die UdSSR ihre Berlin-Kompetenz stärker betonen möchte: Sie wollte auf diese Weise die Berlin-Frage möglichst weitgehend von der Ebene der beiden deutschen Staaten weg auf die Viermächte-Eben festlegen. Dem sowjetischen Versuch, die Basis für ein gewisses Zusammenwirken mit der Bundesrepublik zu schaffen, steht nach bundesdeutscher Ansicht die sowjetische Härte in Berlin, namentlich bei der Frage der WestBerliner Bundespräsenz, entscheidend entgegen. Die sowjetische Regierung würde die Verantwortlichen in Bonn gerne überreden, durch einen prinzipiellen Verzicht auf die Bundespräsenz den Weg zu einem Berlin-Arrangement nach sowjetischen Vorstellungen freizugeben und die bundesdeutsche Berlin-Politik von der Bindung an die westliche Berlin-Präsenz zu lösen. Es erscheint nicht denkbar, daß diese Rechnung aufgehen kann. Die bundesdeutsche Erwartung richtet sich darauf, daß Moskau um des Moskauer Vertrages und um eines guten Verhältnisses zur Bundesrepublik willen schließlich den harten Kern der Bundespräsenz akzeptiert. Das weitere sowjetische Berlin-Verhalten wird darüber Auskunft geben, ob unter den sowjetischen Beweggründen der Wunsch nach einem Interessenausgleich mit der Bundesrepublik und darüber hinaus mit dem Westen oder ob das Ziel einer Lösung Westdeutschlands aus der gesamtwestlichen Solidarität bestimmend ist. In letzterem Fall würde die UdSSR in Berlin nur so weit ernstliche Konzessionen machen, als Bonn dafür seine Westbindungen lockern würde.

Die Ost-West-Auseinandersetzung um die auswärtige Vertretung West-Berlins durch die Bundesrepublik Deutschland

Nach sowjetischer Ansicht hat West-Berlin den Status einer „selbständigen politischen Einheit". Von dieser Position her wird die Wahrnehmung der auswärtigen Belange der Stadt durch die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Rechtmäßigkeit bezweifelt. Die Sowjetunion hat sich daher — in teilweisem Gegensatz zu anderen Warschauer-Pakt-Staaten — geweigert, bei Verträgen mit der Bundesrepublik die sogenannte Berlin-Klausel, das heißt eine Regelung der Einbeziehung West-Berlins in das Vertragsverhältnis, zu akzeptieren. Das Problem stellt sich in der Regel nur bei Wirtschafts-, Kultur-und Konsularabkommen; in die politischen Vereinbarungen der Bundesrepublik ist West-Berlin wegen des westlichen Souveränitätsvorbehalts ohnehin nicht eingeschlossen. Das sowjetische Verhalten führt in der Praxis zu vielfältigen Diskriminierungen und Benachteiligungen der West-Berliner Bürger und der West-Berliner Wirtschaft in Osteuropa. Daher erscheint es der westlichen Seite dringend erforderlich, den Widerstand der Sowjetunion (und auch der DDR) gegen das auswärtige Vertretungsrecht der Bundesrepublik zu überwinden.

Nach Darstellung des sowjetischen Sachverständigen Juri Rshewski ist West-Berlin „gegenwärtig noch“ Zwischenform eines fremd-geleiteten und eines selbstbestimmenden Gemeinwesens, das gleichwohl schon Subjekt des Völkerrechts sein könne. Sein Kollege V. N. Beletzki spricht von einem spezifischen staatspolitischen Gebilde, das ein in Entwicklung begriffenes Völkerrechtssubjekt darstelle. Zugleich wird West-Berlin auf Grund seiner Verfassung (die denjenigen der zehn vollrechtlichen Bundesländer entspricht) staatsrechtlich als Stadtsstaat eingestuft — eine Bezeichnung, welche die sowjetische Auslandszeitschrift „Neue Zeit" im vergangenen Jahr sogar im völkerrechtlichen Sinne auf die Stadt anwandte.

Wie Juri Rshewski deutlich macht, zielen die sowjetischen Thesen nicht darauf ab, der Bundesrepublik eine völkerrechtliche Vertretung West-Berlins grundsätzlich zu verwehren. Eine derartige Vertretung, so heißt es, könne in Anbetracht der beschränkten Handlungsfreiheit der Stadt nicht nur durch deren eigene Organe, sondern auch über ein anderes völkerrechtliches Subjekt vollzogen werden. Voraussetzung dafür — und das ist das Entscheidende — sei freilich, daß die Bundesrepublik und West-Berlin miteinander einen Vertrag über die völkerrechtliche Vertretung der Stadt abschlössen und auf diese Weise West-Berlin als ein von der Bundesrepublik getrenntes Völkerrechtssubjekt sanktionierten. Die Verweigerung des Rechtes der Bundesrepublik auf die auswärtige Vertretung West-Berlins ist demnach nur ein Vehikel der sowjetischen Politik, welche die Konstituierung der Stadt zum dritten deutschen Staat und eine Mißachtung der westlichen Berlin-Kompetenzen durch Bundesregierung und Se-B nat (Vertretung West-Berlins durch die Bundesrepublik auf Grund eines beiderseitigen Vertrages statt auf Grund einer Genehmigung der westlichen Besatzungsmächte) zu erzwingen sucht.

Die Konzeption, die Juri Rshewski als maßgeblicher sowjetischer Berlin-Experte entwickelt, bildet mutmaßlich den unausgesprochenen Hintergrund für die Äußerung von Botschafter Falin, daß man über eine auswärtige Vertretung West-Berlins durch die Bundesrepublik durchaus sprechen könne. Falls diese Vermutung zutrifft, würde der gesamte Problemkomplex gar keine selbständige Bedeutung haben, sondern ausschließlich in den Zusammenhang der Frage gehören, inwieweit die bestehenden Verflechtungen West-Berlins mit der Bundesrepublik künftig fortdauern oder verschwinden sollen. Zugleich würde das sowjetische Bestreben, von westlicher Seite einen prinzipiellen Verzicht auf die Bundespräsenz zu erlangen (der dann durch einige praktische Tolerierungen gemildert werden könnte), in vollem Umfange deutlich als ein Versuch, West-Berlin in eine ungeschützte Eigenstaatlichkeit hinauszustoßen.

Die Ost-West-Auseinandersetzung um den Zugang nach West-Berlin

Eine der zentralen Zielsetzungen, welche die Westmächte und die Bundesrepublik bei ihren Berlin-Verhandlungen verfolgen, ist die praktische Verbesserung und die rechtliche Absicherung des Verkehrs zwischen West-Berlin und Westdeutschland. Sie gehen dabei von einer präzisen Rechtsauffassung aus. Nach ihrer Ansicht hat das originäre Recht der Westmächte auf besatzungsrechtliche Anwesenheit in West-Berlin sein logisches und unabdingbares Korrelat in einem originären Recht der Westmächte auf Zugang nach West-Berlin, denn es leuchte unmittelbar ein, daß das Recht auf Anwesenheit in West-Berlin nicht ohne ein Recht auf Zugang dorthin realisiert werden könne. Dieser Argumentation zufolge ist der Umstand des teilweisen Fehlens schriftlicher und unzweideutiger Abmachungen über die Modalitäten eines freien Zugangs von untergeordneter Wichtigkeit. Im übrigen wird auf die — sozusagen gewohnheitsrechtliche — Zugangspraxis der Jahre 1945— 1948, auf die Sanktionierung dieser Praxis durch das Jessup-Malik-Abkommen vom Mai 1949 und auf die danach fortgesetzte Übung hingewiesen. Nach westlicher Ansicht besitzen die Westmachte weiterhin das Recht, ihr Zugangsrecht deutschen Staatsbürgern, die zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik reisen oder Waren transportieren wollen, zur Nutzung zu übertragen. Das wird zum einen damit begründet, daß der Inhaber eines Rechtes die Ausübung dieses Rechtes auch anderen übertragen könne. Im Falle des deutschen Verkehrs zwischen West-Berlin und Westdeutschland sei eine derartige Übertragung überdies durch die Situation zwingend geboten, weil die den interalliierten Berlin-Vereinbarungen von 1944/1945 als selbstverständliche Prämisse zugrunde gelegte Vorstellung von einer Freizügigkeit der deutschen Staatsbürger in ihrem besatzungsmäßig aufgeteilten Land nicht Wirklichkeit geworden sei und folglich für West-Berlin keine anderen Möglichkeiten der freien Verbindung zur Außenwelt bestünden. Zum anderen nimmt die westliche Seite in Anspruch, daß die Übertragung westlicher Zugangsrechte auf deutsche Staatsbürger von der UdSSR in den Jahren 1945— 1948 als Rechtens akzeptiert und 1949 im Jessup-Malik-Abkommen implizit sanktioniert worden ist

Dem östlichen Einwand, inzwischen gebe es eine souveräne DDR mit einer eigenen Verfügungsgewalt zumindest hinsichtlich des deutschen West-Berlin-Verkehrs, hält die westliche Seite entgegen, die Sowjetunion habe, als sie die DDR für souverän erklärte, dieser keine bei den Westmächten liegenden Rechte (also auch keine Rechte im Hinblick auf den Zugangsverkehr) überlassen können. In dieser Sicht ist das westliche Recht auf freien Zugang nach West-Berlin ein Servitut, das infolge der interalliierten Berlin-Vereinbarungen auf dem Gebiet der Sowjetzone lag und sich von der sowjetischen Besatzungsmacht auf die DDR vererbt haben muß, soweit sich etwa entsprechende Kompetenzen auf die DDR verlagert haben sollten. Das erscheint auch unter Tatsachengesichtspunkten folgerichtig: Die Westmächte haben, als sie im Juni 1945 durch den Rückzug aus Mitteldeutschland die interalliier29 ten Übereinkünfte über die Einteilung der Besatzungsgebiete in Deutschland zu ihrem großen Nachteil honorierten, praktisch die Bildung der späteren DDR ermöglicht, und so mag es nur als konsequent gelten, daß die DDR mit der Achtung eines freien Zugangsverkehrs eine vergleichsweise geringe Folgelast des Vorganges trägt, der ihre Existenz überhaupt erst möglich gemacht hat. Im allgemeinen freilich hält die westliche Seite an der Auffassung fest, daß die Kompetenz für den Zugangs-verkehr auf östlicher Seite im Kern bei der Sowjetunion verblieben sei und daß man es, soweit die DDR nicht ignoriert werden könne, bei ihr mit einem Beauftragten der UdSSR zu tun habe, der eine abgeleitete und begrenzte Kompetenz hinsichtlich bestimmter praktischer Modalitäten besitze. Der politische Sinn dieses rechtlich eingenommenen Standpunktes ist es, den Anschein zu vermeiden, als akzeptiere man, indem man mit der DDR über den Zugangsverkehr verhandele, die DDR-These von der souveränen Verfügung der DDR über die Zugangswege nach West-Berlin.

Sowohl die Sowjetunion als auch die DDR leugnen jedes originäre westliche Recht auf Zugang nach West-Berlin. Nach sowjetischer Darlegung hat die UdSSR den Westmächten lediglich im Sinne eines völkerrechtlichen Transits und unter bestimmten Beschränkungen und Vorbehalten die Möglichkeit der Verkehrsverbindung zwischen den Westzonen und den westlichen Garnisonen in West-Berlin eingeräumt. Die Modalitäten des westlichen Verkehrs seien dabei nach eigenem Ermessen von der sowjetischen Besatzungsmacht festgelegt worden. Ausdrücklich heißt es, die UdSSR habe mit der Durchfahrtsregelung der Bitte — und nicht etwa dem Anspruch — der Westmächte entsprochen. Als Erweis werden bestimmte prozedurale Regelungen der Durchfahrt herangezogen, die als westliche Anerkenntnis eines sowjetischen Anordnungsund überwachungsrechtes ausgelegt werden. Mit der Bezeichnung des westlichen Verkehrs von und nach West-Berlin als Transit bringt die sowjetische Seite ihren Standpunkt zum Ausdruck, daß es sich um eine einseitige sowjetische Gewährung unter dem Vorbehalt des sowjetischen Sicherheitsinteresses (wie es die UdSSR selbst definiert) handelt. Von dieser Position her kann sogar die Berliner Blockade als eine rechtmäßige sowjetische Maßnahme gelten: Die sowjetische Regierung könnte in der weiteren westlichen Benutzung der Transitwege eine Gefahr für ihre Sicherheit gesehen und daher die den Westmächten gewährten Transitrechte widerrufen haben.

Die Sowjetunion und die DDR machen weiterhin einen Unterschied zwischen der Rechtsstellung des westlichen Militärverkehrs und derjenigen des deutschen Zivilverkehrs. Der Status des geregelten Transits wird nur dem alliierten Militärverkehr zugebilligt. Hinsichtlich des deutschen Zivilverkehrs dagegen habe es niemals eine Regelung gegeben. Vor allem die DDR betont, daß hier ein vertragloser Zustand existiere, übereinstimmend heißt es in Moskau und Ost-Berlin, daß der Luftverkehr zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin nur für die Zwecke des alliierten Militärs vorgesehen sei und daß mithin dessen Benutzung durch deutsche Staatsbürger einen Mißbrauch darstelle. Die UdSSR verficht überdies den DDR-Standpunkt, daß alle früheren sowjetischen Befugnisse bezüglich des deutschen West-Berlin-Verkehrs uneingeschränkt auf die DDR übergegangen seien. Die DDR besitze, was die Benutzung der Verbindungswege zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin durch deutsche Staatsbürger anbelange, volle souveräne Verfügungsgewalt. Dementsprechend lehnt die sowjetische Regierung die westliche These von der DDR als einem Beauftragten der UdSSR scharf ab. Konsequenterweise hat sich die sowjetische Delegation bei den Botschafterverhandlungen bisher geweigert, einem Auftrag der vier Mächte an die beiden deutschen Staaten zu ausführenden Detailverhandlungen über die Modalitäten des deutschen West-Berlin-Verkehrs zuzustimmen oder einen grundlegenden Viermächte-Rahmen für nachfolgende zwischendeutsche Gespräche über diese Fragen zu setzen. Folgerichtig ist auch die sowjetische Unterstützung für wiederholte DDR-Störmaßnahmen an den Zugangs-wegen, die der Demonstration der souveränen Verfügungsgewalt der DDR dienen sollen. In der publizistischen Auswertung beteiligt sich die UdSSR dann regelmäßig an dem Versuch der DDR, die westliche Auffassung eines originärrechtlich begründeten Zugangsverkehrs zu barer Fiktion und Illusion zu erklären.

Mit der These vom vertraglosen Zustand des deutschen West-Berlin-Verkehrs begründet die DDR-Führung, unterstützt von ihrem sowjetischen Verbündeten, ihre Forderung nach der Aushandlung eines Vertrages über den „wechselseitigen Transit von Personen und Waren“, wie Ulbricht wiederholt formuliert hat. Die DDR-Verlautbarungen lassen darauf schließen, daß ein derartiger Vertrag wahr scheinlich nicht nur zwischen der Bundesrepublik und der DDR, sondern auch zwischen West-Berlin und der DDR abgeschlossen werden soll. Das würde darauf hinauslaufen, daß die Bundesregierung die Interessen der Bundesbürger und der Senat die Interessen der West-Berliner jeweils getrennt voneinander zu vertreten hätten. Das würde eine westliche Festlegung auf die östliche Drei-Staaten-Theorie implizieren. Wenn man die sowjetische Haltung in der Frage der auswärtigen Vertretung West-Berlins durch die Bundesrepublik berücksichtigt, würde es möglich erscheinen, daß West-Berlin, nachdem es erst einmal den staatsrechtlichen Charakter seines Verhältnisses zur Bundesrepublik durch einen völkerrechtlichen Charakter ersetzt und damit die Drei-Staaten-Theorie akzeptiert hätte, bei den Transitverhandlungen auch durch die Bundesrepublik vertreten werden könnte.

Ein mindestens ebenso großer Haken für die westliche Seite liegt in der Konzeption des Zugangsverkehrs als eines von der DDR zu gewährenden Transitverkehrs beschlossen. Durch den bloßen Eintritt in die Verhandlungen würde die westdeutsche Seite sich auf den DDR-Standpunkt des Transitcharakters stellen. Die DDR-Regierung wäre dann weder verpflichtet, sich zu einer annehmbaren Regelung bereit zu finden, noch gehalten, einen geschlossenen Transitvertrag unbedingt zu honorieren, denn die Gewährung eines Transits liegt grundsätzlich im Ermessen des transitgewährenden Staates und kann von ihm unter Hinweis auf eine wirkliche oder angenommene Sicherheitsgefahr widerrufen werden. Außerdem kann die Regelung des West-Berlin-Verkehrs im Sinne eines Transits unmittelbar der Drei-Staaten-Theorie Vorschub leisten, weil als Transit üblicherweise der Durchgangsverkehr von einem Staat durch einen zweiten in einen dritten Staat verstanden wird.

Der DDR-Experte Gunter Görner hat im einzelnen ausgeführt, wie eine Regelung des »West-Berlin-Transits" nach Ansicht seiner Regierung auszusehen hätte. Der Verkehr müßte drei Bedingungen genügen: Er müßte friedlich sein, dürfte nicht faschistischen Gruppen dienen und dürfte den Interessen der DDR nicht schaden. Wenn man bedenkt, wie willkürlich die DDR-Regierung in der Vergangeneit West-Berlin der Rüstungsgüterproduktion beschuldigt hat oder mit der Parole von der aschisierung der Stadt hausieren gegangen ist, steht zu befürchten, daß die Nicht-Einhal-

ung der ersten beiden Bedingungen nach Bedarf behauptet werden würde. Noch weniger klar umrissen ist das Kriterium, daß der DDR aus der Transitgewährung kein Schaden erwachsen dürfe: Gegebenenfalls könnte die bloße Existenz West-Berlins, deren Ermöglichung der Transitverkehr dienen würde, zu einem Schaden für die DDR erklärt werden. Gunter Görner nennt weiterhin drei Bedingungen, denen sich der Verkehr zu unterwerfen hätte: Er müßte unter der uneingeschränkten Kontrolle der DDR-Behörden stehen, er müßte — auch in der Luft — voll der DDR-Hoheit unterworfen sein, und für seine Teilnehmer hätte die Gerichtsbarkeit der DDR zu gelten. Wenn diese Bedingungen realisiert würden, hätte die DDR-Regierung die Verbindungen West-Berlins zur Außenwelt unter ihrer alleinigen Kontrolle. Von dieser Basis aus würde es auf die Dauer kaum ernstliche Schwierigkeiten machen können, mittelbar auch West-Berlin selbst unter die DDR-Kontrolle zu bekommen. In den einschlägigen Verlautbarungen der DDR wird dieser Punkt seit Jahr und Tag immer wieder angesprochen: West-Berlin, so heißt es, habe allen Grund, sich mit der DDR gutzustellen, weil alle seine Kommunikationslinien durch deren Gebiet liefen und nur mit Erlaubnis der DDR-Regierung benutzt werden könnten.

In der Frage des Zuganges nach West-Berlin sind die Positionen der westlichen und der östlichen Seite absolut gegensätzlich. Während das westliche Bestreben darin besteht und bestehen muß, eine Regelung zu erlangen, die keine Rechtfertigung für östliche Störaktionen bietet und den gesamten West-Berlin-Verkehr von den Einwirkungen östlicher Willkür freistellt, geht es UdSSR und DDR gerade um ein Arrangement, welches ihr Recht zu schikanösen Maßnahmen und willkürlichen Eingriffen an den Zugangswegen zweifelsfrei verankern würde. Der Gegensatz führt dazu, daß zwischen den Verhandlungspartnern nicht nur der Inhalt der angestrebten Vereinbarung, sondern auch die Prozedur ihrer Aushandlung strittig ist. Die Westmächte wollen die Frage des Zuganges im Verlauf ihrer Verhandlungen mit der UdSSR erörtern und wenigstens in den Grundzügen regeln. Die Sowjetunion hat kein Interesse an einer Erörterung in diesem Rahmen: Für den westlichen Militärverkehr betrachtet sie die bei Kriegsende getroffenen Abmachungen, die sie als Transitabkommen wertet, als einen keiner Änderung bedürftigen Status quo, und bezüglich des deutschen Zivilverkehrs verweist sie an die DDR als den richtigen Adressaten der Bundesrepublik, mit dem diese ein Transitabkommen abschließen könne. Wie es scheint, hat sich während der Botschafterverhandlungen bisher weder in der Sachfrage (Zugang oder Transit) noch in der Verfahrensfrage (Viermächte-Verhandlung oder Verhandlung zwischen den unmittelbar interessierten deutschen Seiten) eine Annäherung der Standpunkte angebahnt.

Um dem westlichen Drängen auf eine Verhandlung der Zugangsfrage im Viermächte-Rahmen mit dem Ziel einer sowjetischen Sanktionierung des beanspruchten militärischen wie zivilen Zugangsrechtes auszuweichen, hat die sowjetische Delegation eine Ausklammerung der für unlösbar erklärten prinzipiellen Rechtsfragen betrieben und statt dessen Gespräche über eine „praktische Regelung" vorgeschlagen. In diesem Zusammenhang ist dann beispielsweise von, erleichterten Abfertigungsverfahren, vereinfachten Kontrollen und pauschalierten Gebührenregelungen als möglichen Verbesserungen für den deutschen West-Berlin-Verkehr die Rede gewesen. Dabei scheint die sowjetische Seite freilich nicht in Aussicht gestellt zu haben, daß sie selbst eine derartige Regelung treffen werde, wie es die westliche Seite von ihr im Sinne der These von einer Zugangsregelung gerne sähe. In dem sowjetischen Entwurf für eine Berlin-Regelung vom 26. März 1971 werden in unklarer Weise die Möglichkeiten eines deutschen West-Berlin-Transits angedeutet, für den Identitätskontrollen, Plombierungen und generelle Gebührenabgeltungen eingeführt werden sollen. Gleicherweise sprach Botschafter Falin von einem Transitverkehr, der nach den „üblichen internationalen Regeln" (also entsprechend den Vorbehalten des Transitrechts) abgewickelt und geregelt werden solle, und stellte dabei in Aussicht, daß dann keine Störungen mehr außer solchen durch höhere Gewalt wie Schneeverwehungen und Überschwemmungen eintreten würden. Allerdings, so fügte er hinzu, würde die UdSSR die Rechte der DDR schützen, falls diese beeinträchtigt werden sollten.

Man kann sich nur schwer vorstellen, wie eine westlicherseits annehmbare Regelung für den West-Berlin-Verkehr gefunden werden soll, wenn die UdSSR und die DDR darauf bestehen, daß die letztliche Verfügungsgewalt über diesen Verkehr bei ihnen liegen muß und damit alle gegebenen Zusicherungen im Grunde einseitigen Charakter haben. Was nützen in Aussicht gestellte praktische Verbesserungen, wenn deren permanente Geltung von der anderen Seite unter Umständen wieder in Frage gestellt werden kann? Kann die westliche Seite dafür den Anspruch auf eine originäre Rechts-basis des West-Berlin-Verkehrs, den die Sowjetunion zwar nicht anerkennt, aber zu berücksichtigen sich veranlaßt sieht, fallenlassen? Das Ziel, dem die Verhandlungen dienen sollen, ist es doch vielmehr, den originären Charakter des Zugangsrechts so weit wie möglich durch passende sowjetische Zusicherungen abzustützen. In jedem Fall können die Westmächte und die Bundesrepublik keiner anderen Regelung des West-Berlin-Verkehrs zustimmen als nur einer solchen, die der anderen Seite weder eine prinzipielle Rechtsbasis noch spezifische Vorwände für einen Rückzug von den eingegangenen Verpflichtungen in die Hand gibt. Wie das auf der Basis des Transitrechts möglich sein soll, ist bisher nicht zu sehen.

Die Ost-West-Auseinandersetzung um einen Abbau der Diskriminierungen für West-Berlin

Die Westmächte und die Bundesrepublik Deutschland haben es von Anfang an als eine Funktion der Berlin-Verhandlungen angesehen, daß die Diskriminierungen, denen die West-Berliner von östlicher Seite ausgesetzt sind, überwunden werden. Diese Diskriminierungen fangen damit an, daß es den West-Berlinern als einzigen unter den Bewohnern der westlichen Welt grundsätzlich verwehrt wird, den östlichen Teil der Stadt zu betreten, setzen sich darin fort, daß die DDR und die Sowjetunion weithin die West-Berliner Wirtschaft vom Osthandel auszuschließen suchen, und zeigen sich schließlich darin, daß die Teilnahme West-Berliner Bürger an Programmen des bundesdeutsch-sowjetischen Kulturaustauschs immer wieder in Frage gestellt wird. Derartigen Beschwerden entgegenzukommen, würde der östlichen Seite keine Schwierigkeiten bereiten. Grundsätzlich hat die sowjetische Delegation zu erkennen gegeben, daß diese Fragen, darunter insbesondere die Frage einer Einreise West-Berliner Bürger nach Ost-Berlin und in die DDR, gelöst werden könnten. Allerdings gewinnt man aus dem bisherigen Verhalten der UdSSR und der DDR den Eindruck, daß ein Eingehen auf die westlichen Wünsche von einem westlichen Nachgeben in politischen Grundsatzfragen abhängig gemacht werden soll. Wenn dieser Eindruck zu Recht bestünde, so würde das darauf hinauslaufen, daß die Lockung mit humanitären Gesten für die östliche Seite nichts anderes als ein Mittel politischer Pression ist.

Die Berlin-Frage als aktuelles politisches Problem

Solange die westliche Welt an dem demokratischen Prinzip der inneren und äußeren Selbstbestimmung einer Bevölkerung festhält, muß sie dafür einstehen, daß West-Berlin dem Willen seiner Einwohner gemäß nicht in den Machtbereich der UdSSR und der DDR eingegliedert wird. Daran, ob diese oft und feierlich beschworene Verpflichtung von den Westmächten, namentlich von den Amerikanern, erfüllt wird, messen Freunde wie Gegner ihren Willen, für die anderen von ihnen eingegangenen Verpflichtung einzustehen. Die Wahrung der Selbstbestimmung West-Berlins aber beruht auf zwei unerläßlichen Voraussetzungen: auf der Sicherung des Territoriums wie der Zugangswege durch die Westmächte und auf der Gewährleistung ausreichender Lebens-möglichkeiten durch die wirtschaftliche und soziale Hilfestellung der Bundesrepublik Deutschland. Daher kann für die westliche Seite keine Berlin-Regelung annehmbar sein, die den Zugang östlicher Kompetenz anvertrauen und eine prinzipielle Trennung West-Berlins von der Bundesrepublik festlegen würde.

Gegen den östlichen Versuch, unter Benutzung von herkömmlichen Modellen des Völker-rechts West-Berlin einerseits zu formeller Selbständigkeit (Festlegung eines Statuts als Völkerrechtssubjekt) und andererseits zu faktischer Abhängigkeit (Festlegung auf das Erfordernis einer Transitgewährung seitens der DDR) zu verhelfen, läßt sich überzeugend der Sondercharakter der West-Berliner Lage ins Feld führen, die ein völliges außenpolitisches und völkerrechtliches Novum darstellt. Es hat noch nie ein Gemeinwesen gegeben, das alle seine Verbindungen zur Außenwelt nur durch ein einziges feindseliges Territorium hindurch realisieren konnte. Es hat auch noch nie ein Gemeinwesen gegeben, das als insulares Gebilde zustande kam in vertraglichem Austausch gegen Gebiete, deren Übergabe die Konstituierung des umgebenden Feindstaates ermöglichte. In diesem Sinne kann man dem sowjetischen Botschafter Falin in der Ansicht zustimmen, daß in Berlin eine abnorme Situation entstanden sei. Eine friedliche Regelung dieser abnormen Situation ist freilich nicht dadurch möglich, daß die eine Konfliktpartei der anderen Seite notwendige Existenzrechte entzieht. Eine friedliche Regelung kann vielmehr nur dann zustande kommen, wenn für jede Seite das Recht auf eine politische Existenz nach eigenem Willen gewahrt wird. Dazu bedarf es in der ungewöhnlichen und neuartigen Situation Berlins auch neuartiger völkerrechtlicher Formen. Praktisch gesprochen: Die aus der Situation faktisch erwachsenen und im herkömmlichen Völkerrecht nicht bekannten Formen der Verflechtung West-Berlins mit der Bundesrepublik Deutschland müssen rechtlich akzeptiert werden, und das Recht auf einen von fremder Willkür freigehaltenen Zugang nach West-Berlin muß als ein durch den vertraglichen Gebietsaustausch zwischen den angelsächsischen Mächten und der Sowjetunion entstandenes und für die Selbständigkeit der Stadt unerläßliches Element anerkannt werden. Solange an die Stelle des politischen Konfliktverhältnisses zwischen den Großmächten einerseits und zwischen den beiden deutschen Staaten andererseits nicht eine beiderseitige Bereitschaft zu Ausgleich und Annäherung getreten ist, wird es, welches Resultat die Berlin-Verhandlungen auch immer zeitigen mögen, keine endgültige Lösung der Berlin-Frage geben können. Es kann nur zu einer Regelung im Sinne eines Modus vivendi kommen, weil die Einfügung West-Berlins in ein wiedervereinigtes Deutschland oder in ein freundnachbarliches Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten, von der die Stadt eine grundlegende und dauernde Lösüng ihrer Probleme erhoffen könnte, ausgeschlossen bleibt. Unter diesen Umständen hängt die Sicherheit West-Berlins auch für den Fall, daß eine für die Stadt befriedigende Berlin-Regelung erreicht wird, weiterhin von dem politischen und militärischen Rückhalt der USA und der NATO ab. Wozu, so mag man fragen, ist dann eine Berlin-Regelung überhaupt nütze? Sie würde, falls sie zustande kommen sollte, eine deutlichere Markierung hinsichtlich der Rechte und Pflichten beider Seiten in ihrem Berliner Nebeneinanderleben schaffen und damit klarere Verhältnisse als bisher herbeiführen. Gemäß der russischen Weisheit, daß man sich nicht dem „Glauben an die Macht des Papiers“ hingeben sollte, kann die westliche Seite in einerBerlin-Regelung keine selbsttätige Sicherheitsgarantie für West-Berlin, wohl aber eine wünschenswerte Rechtsabgrenzung sehen, welche die Bereiche anzweifelbarer Rechtsverhältnisse verringert und damit die Möglichkeiten für verschleierte Rechtsübertretungen einschränkt. Das aber würde auf eine Erschwerung von Übergriffen hinauslaufen und der Konfliktlösung in Mitteleuropa dienen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Der Vertrag vom 12. August 1970, hrsg. vom Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn (September 1970); Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen, hrsg. vom Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn (Dezember 1970).

  2. Eine hinreichend informative Zusammenfassung des Inhaltes findet sich in: Der Spiegel vom 22. 2. 1971, S. 23.

  3. Erste Hinweise auf den Inhalt finden sich: Das sowjetische Berlin-Papier, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 3. 1971; NPD verbieten und RIAS schließen, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 31. 3. 1971. Eine ausführliche Wiedergabe veröffentlichte die polnische Regierungszeitung „Zycie Warszawy" am 15. 4. 1971. Der Bericht stützt sich angeblich auf Informationen aus „zuverlässigen politischen Kreisen in Brüssel", doch kann es nach allen Indizien (Tendenz des Inhalts, anschließende Übernahme des Artikels durch TASS und ADN, Bindungen von „Zycie Warszawy" als polnisches Regierungsorgan) als sicher gelten, daß es sich um eine in allen Einzelheiten mit der sowjetischen Seite abgesprochene Indiskretion handelt. Deutschsprachige Berichte über den Inhalt des Artikels bieten: Berlin-Papier der Sowjets für die Vierergespräche von einer Warschauer Zeitung veröffentlicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 4. 1971; Westmächte lehnen Sowjetpapier als Verhandlungsgrundlage ab, in: Die Welt vom 16. 4. 1971. Weitere Informationen: Abrassimow wünscht russische Vertretung in West-Berlin, in: Die Welt vom 10. 4. 1971; Sowjets rücken nicht von ihren Berlin-Forderungen ab, in: Die Welt vom 17. 4. 1971; Geteilte Meinung in der Bundesregierung über die Aussichten für die Ostpolitik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 4. 1971.

  4. Der DDR-Regierung ging es offensichtlich darum, die West-Berliner davon zu überzeugen, wie gut es für sie wäre, wenn Bundesregierung und Senat ihren Widerstand gegen die Berlin-Politik der DDR aufgäben und die Vorschläge der DDR Wirklichkeit werden könnten. Ein deutlicher Hinweis hierauf ist die absolut ungewöhnliche Wiedergabe des Berichts einer West-Berliner Zeitung im Zen tralorgan der SED, in der mit sichtlicher Befriedigung ein Passus bezüglich eines westlichen Vetos an die Adresse des Senats vermerkt wurde (8 „Tagesspiegel" zu Verhandlungen Kohrt—Müller, in: Neues Deutschland vom 13. 3. 1971).

  5. Vgl. näher Gerhard Wettig, Berlin in den interalliierten Vereinbarungen der Kriegszeit und im Potsdamer Abkommen, in: Ernst Deuterlein/Alexan-der Fischer/Eberhard Menzel/Gerhard Wettig, Potsdam und die deutsche Frage, Köln 1970 S. 93— 112 (mit Angabe von Nachweisen und weiterführender Literatur). Eine Sammlung der wichtigsten Texte bietet die vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. in Bonn herausgegebene und von G. Heidelmeyer und G. Hindrichs besorgte Ausgabe „Dokumente zur Berlin-Frage", die in mehreren aufeinanderfolgenden Auflagen erschienen ist. Eine Auswahl hiervon ist als Taschenbuch von G. Hindrichs vorgelegt worden.

  6. Eine ausführliche Darstellung der Verflechtungen West-Berlins mit der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus der rechtlichen und politischen Gegebenheiten Gesamt-Berlins findet sich bei Joachim Nawrocki, Brennpunkt Berlin: Politische und wirtschaftliche Realitäten, Köln 1971.

  7. Näheres hierzu bei Gerhard Wettig, Aktionsmuster der sowjetischen Berlin-Politik, in: Außenpolitik, 1968 H. 6, S. 334 f.

  8. Der östliche Berlin-Standpunkt läßt sich außer in den unter Anmerkung 3 genannten Berichten nachlesen: Juri Rshewski, Der völkerrechtliche Status Westberlins, in: Sowjetunion heute (hrsg. von der sowjetischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland), XVI (1971), H. 4 S. 30— 33, H. 5 S. 31— 35, H. 6 S. 31— 34, H. 9 S. 31— 34 (Kern-bestandteile einer 1965 für das sowjetische Außenministerium angefertigten Expertise, auch als gesonderte Broschüre der Sowjetbotschaft verbreitet); Sowjetbotschafter Falin: Bundespräsenz in Berlin verhindert eine Regelung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. 3. 1971; Moskau: Keine Berlin-Regelung ohne Einschränkung der Bundes-Präsenz, in: Süddeutsche Zeitung vom 19. 3. 1971; wmil Bölte, Falin zeigt elastische Haltung in der Westberlin-Frage, in: General-Anzeiger vom 19. 3. ur ’ Gunter Görner, DDR gewährleistet friedlichen Westberlin-Transit, (Ost-) Berlin 1969; Gerhard Ke1970 sniierteljahrhundert danach, (Ost-) Berlin

  9. Die einzige positiv-rechtliche Stütze, die UdSSR und DDR für ihre These von der Zugehörigkeit Gesamt-Berlins zur sowjetischen Besatzungszone anführen können, ist eine der „Demokratisierung" Deutschlands gewidmete Anlage zu einem Bericht des Alliierten Kontrollrats vom 20. /26. Februar 1947, in der Berlin als „Capital City" (englischer Text) beziehungsweise als „ville principale“ (französischer Text) der Sowjetzone bezeichnet ist. Die östliche Seite folgert daraus, die vier Mächte hätten Berlin damit zur Hauptstadt der Sowjetzone erklärt, obwohl die Ausdrücke für eine Hauptstadt im politischen Sinne anders lauten („Capital" beziehungsweise „capitale"). Der Inhalt der Anlage macht überdies deutlich, daß etwas ganz anderes gesagt werden sollte: Die Westmächte betrachteten Berlin als hauptsächliche Stadt der Sowjetzone in dem Sinne, daß die dort hervortretenden politischen Einstellungen (Niederlage der SED bei den Berliner Wahlen am 20. Oktober 1946) repräsentativ für die Sowjetzone seien, überdies ist natürlich deutlich, daß eine Anlage zu einem Kontrollratsbeschluß niemals das völkerrechtliche Gewicht haben könnte, die klare Bestimmung des Londoner Protokolls vom 12. September 1944, durch die Berlin ausdrücklich den Status eines außerhalb der Besatzungszonen stehenden Sondergebiets zugewiesen bekam, außer Kraft zu setzen. Außerdem hat auch die sowjetische Besatzungsmacht selbst seinerzeit Berlin nicht als Teil ihrer Zone betrachtet, wie eindeutig daraus hervorgeht, daß sie im Sommer 1945 die wirtschaftliche Ausgliederung der Berliner Westsektoren aus der Sowjetzone betrieb und durchsetzte. Wenn die östliche Seite heute interalliierte Texte mit der inhaltlichen Implikation, daß die Berliner Westsektoren nicht zu den Westzonen gehörten, als Stütze für die These von der Zugehörigkeit Gesamt-Berlins zur Sowjetzone anführen möchte, so kann diesen Erweisen keine Relevanz zugebilligt werden: Derartige Texte belegen lediglich, daß Berlin, den Vereinbarungen der Europäischen Beratungskommission entsprechend, ein aus der Zoneneinteilung herausgenommenes interalliiertes Sondergebiet gewesen ist.

  10. Vgl. Gerhard Wettig, Die gegenwärtige sowjetische Politik der europäischen Sicherheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochen-zeitung „Das Parlament“, B 10/71 vom 6. 3. 1971, S. 3— 26.

Weitere Inhalte

Gerhard Wettig, Dr. phil., geboren 1934 in Gelnhausen/Hessen, Studium der Geschichte, Slawistik, und Politikwissenschaft; wissenschaftlicher Referent am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland 1943 bis 1955. Internationale Auseinandersetzungen um die Rolle der Deutschen in Europa, München 1967; Die Rolle der russischen Armee im revolutionären Machtkampf 1917. Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Band 12, Berlin 1967; Politik im Rampenlicht. Aktionsweisen moderner Außenpolitik, Fischer Bücherei 845, Frankfurt 1967; (zusammen mit Ernst Deuerlein, Alexander Fischer und Eberhard Menzel): Potsdam und die deutsche Frage, Köln 1970.