Das nachfolgende Gespräch wurde am 5. und 6. Dezember 1969 in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing geführt. Veranstalter war die Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung. Unter der Leitung von Felix Messerschmid diskutierten die Kommissionsmitglieder Bracher, Hennis, Horkheimer, Hübinger, Knoll, Krausnick und Müller mit den zu dieser Veranstaltung geladenen Gästen Farthmann, Greiner, Hättich, Hanke, Kölble, Matz, Schultheiß, Schwarz, Sontheimer und Stercken.
Vorbemerkung
Bestimmt sich eine Epoche nach großen, bedeutsame Veränderungen hervorbringenden Leitbildern, nach fundamentalen, durchgängigen Motivationen für gesellschaftliche, politische, kulturelle Bewegungen, so kommt — die Übereinstimmung darüber ist unbestritten — dem Wort Freiheit seit mehr als 200 Jahren eine Leitbildfunktion zu. Nun entziehen sich die mit einem solchen Wort verbundenen oder durch sie ausgelösten Vorstellungen einer exakten Definition; es hat universalistischen Charakter und synthetisierende Wirkung. Selbst seine Parallelisierung mit relativen Unvereinbarkeiten (z. B. Freiheit — Gleichheit) kann auf eine gewisse, möglicherweise lange Zeit seiner Wirkung nichts anhaben. Diese Ungenauigkeit, dieser Mangel an Präzisierbarkeit ist unter geschichtlichem Aspekt auch kein Einwand gegen solche Leitworte. Sie erfüllen das berechtigte Bedürfnis nach Gegenwirkung gegen den Zerfall der bestehenden Ordnung in ein bloßes, auch auf einer mittleren, praktischen Ebene nicht verbindbares Nebeneinander absoluter Unvereinbarkeiten, spielen also eine nicht zu ersetzende Rolle für die Konsensbildung in einer Gesellschaft. Sie erhalten überdies als polemische Begriffe in ihrer je geschichtlichen Gegnerschaft gegen konkrete Systeme und andere Ordnungsvorstellungen auch einen konkreten, pragmatisch definierbaren Sinn, und diese Konkretheit kann in der geschichtlichen Entwicklung wiederum stark variieren: Neue Gegner und Konstellationen verlangen dem Wort neue Transponierungen 4b, Völker und Gesellschaften anderer politischer, wirtschaftlicher, kultureller Entwicklungsstufen übernehmen es und deuten es auf ihre Lage und ihre Möglichkeiten um.
So ist es nicht verwunderlich, sogar unvermeidlich, daß „Freiheit" eine kaum mehr umschreibbare Vokabel geworden ist, auch dem Mißbrauch offen, dem dialektischen vor allem; für eine rationale, gar empirische soziologische Methode fast unverwendbar; für die Regime-lehre als Unterscheidungsfaktor und zur kritischen Begründung von demokratischen Institutionen dennoch unentbehrlich.
In den westlichen Industriegesellschaften ist noch ein anderer Sachverhalt in den Blick zu nehmen; dieser führt zum Verständnis der „Demokratisierungs" -Diskussion von heute. Für eine unideologische, differenzierende, die Verschiedenheit der geschichtlichen Verhältnisse berücksichtigende Betrachtungsweise kann es als eine aufweisbare Tatsache gelten, daß das Maß an gesellschaftlicher Freiheit, bezieht man es auf die Gesamtheit der in diesen Ländern lebenden Menschen, größer ist als in jeder früheren Epoche. Das wissen unverlierbar diejenigen, in deren eigenem Leben die Erfahrung der Diktatur stand und die diese Erfahrung reflektiert haben; dieses Wissen ist aber auch tief in die Vergangenheit auszuweiten von allen, die sich die Mühe genauen geschichtlichen Vergleiches machen. Für sie ist die heutige Lage eine Leistung der Menschen und der Gesellschaft, daher verteidigungswert, daher bei allen Minuszeichen innerhalb der Klammer der durch sie bestimmten Ordnung vor der Klammer mit klarem Pluszeichen versehen. Woher dennoch jene verbreitete Haltung der Unzufriedenheit, ja Aggression gegen den heutigen gesellschaftlichen Zustand? Woher das auch vor revolutionärem Vokabular nicht zurückschreckende Bedürfnis nach Erweiterung der Freiheit in allen Bereichen des personalen und des kollektiven Daseins?
Dieses Phänomen bleibt unverständlich, wenn man die dem Freiheitsbegriff innewohnende Unbegrenzbarkeit nicht wahrhaben will, sobald sie sich gesellschaftlich und politisch äußert. Das Wort Pascals „L’homme (politisch verstanden: von morgen oder doch übermorgen) passe infiniment l’homme (von gestern und heute)" wird aus dem philosophischen und theologischen Bereich, in dem es formuliert worden ist, immerzu in den gesellschaftlichen und politischen transponiert, Dafür zeugen nicht allein die großen politischen Utopien und Heilslehren, sondern eben auch das ganz normale menschliche Bedürfnis. Diesem ist Freiheit immer relativ zu dem, was für jetzt oder doch, bei einigem Bemühen und gutem Willen, für morgen als veränderlich betrachtet wird. Nun gehört das Bewußtsein der Veränderlichkeit, ja der konstruierten Veränderbarkeit von allem, bis hin zum biologischen Umbau des Menschen selbst, fraglos zur Signatur dieser Zeit; die Summe des Verfügbaren und also Veränderbaren erscheint größer als jemals in der Geschichte. Für ein solches Bewußtsein bedeuten selbst die schwer erkämpften Fortschritte von gestern, obschon sie nie selbstverständlich und gesichert sind — wie wir heute wissen sollten —, wenig oder nichts; gerade ihre Stabilität erscheint als unbegründete Einschränkung der möglichen und erwarteten Freiheit.
Demgegenüber hat der Hinweis auf die Zwänge des technisch-industriellen Systems oder auf das ungeheure und offenbar nicht einzudämmende Wachsen der Weltbevölkerung keine Kraft, möge er objektiv richtig sein oder nicht. Er wird damit abgetan, daß sich auch die Zwänge früherer Epochen als veränderbar erwiesen haben, wenn es auch nicht einfach war, die religiöse oder legitimistische Rechtfertigung und das vorwiegende Gefühl der Nichtveränderbarkeit durch revolutionäre Vorgänge zu überwinden und damit der Veränderung und — vielleicht — einem Mehr an Freiheit Raum zu schaffen.
Was bedeuten diese Überlegungen für die Beurteilung und Ordnung der gegenwärtigen Debatte über die Forderung nach „Demokratisierung"? Zunächst und vor allen Unterscheidungen: die Forderung ist — mindestens — verständlich; sie muß dem historischen Vergleich als durchaus erwartbar, der politischen Analyse als wünschenswert erscheinen, jedenfalls dann, wenn man nicht von vornherein annimmt, das Potential an Freiheit einerseits und Freiheitswillen und Freiheitsvorstellungen andererseits befände sich in den entwickelten Gesellschaften im Abbau. Sie ist ein Zeichen dafür, daß ein nicht ohne weiteres demokratisches, aber an öffentlichen Dingen interessiertes Bewußtsein lebendig ist. Davon muß ausgegangen werden, wenn die obigen Überlegungen auch I nur ein gewisses Maß an Richtigkeit haben und wenn also das Entsprechungsverhältnis von demokratischer und freiheitlicher Ordnung als notwendig dynamisch erkannt oder doch unterstellt wird.
Dieses positive Vor-Urteil heißt aber nicht, es sei nicht geboten, die Vokabel „Demokratisierung" in allen Bereichen, auf die sich die Forderung richtet, unter konkrete Kritik zu nehmen; das ist gerade deswegen nötig, weil verhindert werden muß, daß die gewollte Freiheitsmehrung sich in Freiheitsminderung verkehrt.
— Der Forderung ist in jedem Fall die konkrete Antwort auf die Frage abzuverlangen, ob der Protest gegen die bestehende Ordnung, Situation oder Institution, die als freiheitsbeschränkend behauptet werden, bessere Möglichkeiten zeigt und eröffnet. Wird diese Antwort nicht gegeben oder gar verweigert, dann besteht der Verdacht zurecht, das Änderungsverlangen stamme aus jener — geschichtlich häufig anzutreffenden und anthropologisch nach dem vorher Dargestellten verständlichen — Mentalität, für die Änderung schon an sich erwünscht ist, weil sie Erfahrung von Freiheit vermittelt und das Neue immer als das Bessere angesehen wird — vor der Prüfung, womit für das andere zu bezahlen ist. — Die Institutionen der Demokratie sind Ergebnisse von Befreiungsprozessen, deren Früchte durch sie gesichert werden sollen. Mißtrauen gegen sie ist für eine demokratische Ordnung ein Warnungszeichen: in ihm richtet sich möglicherweise Freiheitswille gegen Institute der Freiheit. Diese können erstarren, sogar pervertiert werden —= gewiß; aber es ist jedenfalls zu prüfen, ob sie für die Weiterentwicklung von Freiheit, für die Verstärkung der Teilnahme an den Entscheidungsprozessen wirklich unbrauchbar geworden sind, bevor ihre Zerstörung oder auch nur Stillegung unternommen wird. Auf keinen Fall darf demokratisch nicht verantwortete Bestimmung zugelassen werden. Sie geht meist Hand in Hand mit einer irrealistischen Vorstellung von der demokratischen Ursprünglichkeit „der" Gesellschaft. — Die Forderung nach Demokratisierung richtet sich gegen angeblich oder wirklich unbegründete oder nicht mehr genügend und überzeugend begründbare Herrschaftsverhältnisse, in radikalen Artikulierungen gegen Herrschaft überhaupt, die als vordemokratisches Relikt angesehen wird. Wenn mit „Demokratisierung" Mitbestimmung gemeint ist, so hat sie jedenfalls den allgemeingültigen Grundsatz für sich, daß demokratische Autorität nur bestehen kann, wenn die von dieser Autorität Betroffenen mit ihr in ein dialogisches Verhältnis treten (können); Mitbestimmung ist eines der Grundworte einer sich verändernden, aber sich als frei verstehenden Gesellschaft. Spannungen entstehen aus der Tatsache, daß es aufgabenbestimmte Aspekte gibt, auf die demokratische Prinzipien nicht oder nur in einer Rahmenordnung angewandt werden können-, Bereiche, in denen nicht alle in gleicher Weise mitbestimmen können, weil funktionale und personale Voraussetzungen und sachliche Kompetenzen gewahrt bleiben müssen, soll nicht ein unverantwortbarer Funktionsverlust bei den betroffenen Institutionen eintreten, in denen Mehrheitsentscheidungen oder Entscheidungen ständeparitätischer Art nicht unbedingt Vergrößerung des Freiheitsraumes bedeuten; Erfahrungen, vor denen sich nur ideologische Blindheit verschließen kann, die aber auch dazu benützt werden können, nicht selbstverständliche Unter-und Überordnungen mitzudecken und den demokratisch geforderten Dialog in gesellschaftlichen, ökonomischen, wissenschaftlichen Reservationen auszuschließen oder doch unzumutbar zu minimalisieren.
Das im folgenden in gestraffter Form veröffentlichte, von der Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung mit Gästen geführte Gespräch kann nicht den Anspruch erheben, den gesamten Demokratisierungskomplex abgeschritten zu haben, schon gar nicht, allgemeingültige Lösungen angeboten zu haben. Beim gegenwärtigen Stand der Diskussion hat es jedoch schon Ergebnis-rang, wenn trotz der Verschiedenheit der Standpunkte keine Polarisierung eingetreten ist, die Problematik dadurch um so deutlicher geworden ist und dennoch Teilübereinstimmungen erzielt worden sind. Schon ein so bescheidener Fortschritt, wie ihn der Vorschlag „Binnenkonstitutionalisierung" anstelle des mißverständlichen, notwendige Unterscheidungen verwischenden Ausdrucks „Demokratisierung" erkennen läßt, ist eine Klärung, die der Rationalisierung des Verhaltens gegenüber einem sonst zum Schlagwort herabsinkenden demokratischen Reizwort dient.
Felix Messerschmid
Die Diskussion in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing
Dr. Messerschmid: Meine Herren! Ich begrüße Sie herzlich, insbesondere soweit Sie als Gäste auf Einladung der Kommission an diesem Colloquium teilnehmen. Wir gehen diesmal von einer Arbeit von Herrn Hennis aus, nämlich von seinem Vortrag „Demokratisierung" *). Im Interesse der Effizienz erscheint es nötig, daß wir uns dabei auf bestimmte Punkte beschränken. Die Kommission schlägt daher vor, die Diskussionsabfolge nach folgenden Punkten zu gliedern:
1-Ist Demokratie nur ein politischer Begriff? 2. Kann man dem politischen Bereich heute noch einen nichtpolitischen gegenüberstellen?
3-Sind für Demokratie die Begriffe Freiheit und Gleichheit konstituierend und nicht relativierbar?
4 Ist demokratische Herrschaft ohne Autorität denkbar?
3-Ist Demokratisierung von Sozialbereichen denkbar, oder handelt es sich um Binnen-
konstitutionalisierung? 6. Entstehen Gefahren durch die Politisierung der Sozialbereiche?
Bevor wir mit der Behandlung der ersten Frage beginnen, darf ich Herrn Hennis bitten, kurz vorzutragen, warum wir in diesem Zusammenhang nicht so sehr auf die Politik selbst als vielmehr auf die politische Bildung reflektieren.
Professor Hennis: Wenn es überhaupt einen prinzipiellen Streitgegenstand im letzten Bundestagswahlkampf gegeben hat, dann war es die Auseinandersetzung zwischen Herrn Brandt und Herrn Heck über den Begriff der Demokratisierung. Brandt hatte in der „Neuen Gesellschaft" einen Artikel unter der Über-schrift „Die Alternative" veröffentlicht, in dem er auf eine Äußerung von Heck Bezug nahm. Dieser hatte gesagt, Demokratie sei für die CDU ein Staatsformbegriff, während die SPD den Begriff „Demokratisierung" im Sinne der Übertragung der politischen Demokratie auf den gesamten Sozialbereich auffasse. Heck hat nochmals mit einem Beitrag „Demokraten und Demokratisierte" in der „Politischen Meinung" repliziert. Danach erwarteten natürlich alle, daß die Linie des damaligen Vizekanzlers und jetzigen Kanzlers nun auch gewissermaßen basso continuo der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 sein würde. Aber das Wort „Demokratisierung" ist darin nirgendwo erwähnt. Es ist zweifellos kein Zufall, daß statt dessen das völlig unanstößige und auch völlig richtige „mehr Demokratie" verwendet wird. Ich glaube daraus schließen zu können, daß man auch auf Seiten der jetzigen Regierungsparteien den Begriff Demokratisierung nicht mehr als Oberbegriff für die inneren Reformen gebrauchen wird. Dagegen spielt er in den einzelnen Sozialbereichen und vor allem in der politischen Bildung noch eine große und, wie ich meine, schillernde und vielfach verwirrende Rolle. Darum glaube ich, daß es wichtig ist, zur Klärung dieses Begriffs beizutragen.
Dr. Messerschmid: Wir können also zum ersten Punkt dieser Besprechung übergehen, der natürlich ein generalisierender ist: Ist Demokratie ein politischer Begriff?
Professor Bracher: Ich möchte, um das Gespräch in Gang zu bringen, etwas Positives zu dem Begriff Demokratisierung sagen. Es ist auffallend, daß erst seit etwa vier bis fünf Jahren immer dann die Notbremsen gezogen werden, wenn dieser Begriff auftaucht. Vorher ist nicht nur in der politischen Bildung, sondern auch in anderen Bereichen durchaus, und zwar eigentlich ohne wesentliche Einschränkung, mit ihm gearbeitet worden, auch in Anwendung auf Bereiche, die viele als nicht-politische Bereiche würden. Der Schluß, den ich daraus ziehe, ist der, daß die jetzige Diskussion über „Demokratisierung" eine Folge bestimmter Vorgänge ist, die sich seit drei, vier Jahren, insbesondere natürlich im Zusammenhang mit der Studentenbewegung, abgespielt haben. Es wäre interessant festzustellen, ob es jemals zwischen 1945 und 1965 eine Diskussion nennenswerter Art über diesen Begriff gegeben hat. Ich würde sagen: nein. Und zwar nicht deswegen, weil es Gespräche diese Art nicht auch damals schon gegeben hat, sondern weil die ganze Materie in ein völlig anderes Licht gerückt wurde durch die radikaldemokratischen, direkt-demokratischen, auch mit Gewalt verbundenen Aktionen etwa an den Universitäten. Ich meine, daß wir nicht eine ganz abstrakte Diskussion führen können, sondern daß wir die Diskussion sehen müssen in engem Zusammenhang mit jenen Inhalten und Aktionsformen. In Anbetracht der Tatsache, daß bestimmte Gruppen, die wir vielleicht sogar als nicht-demokratisch bezeichnen würden, sich dieses Begriffs bemächtigt haben, besteht die Gefahr, daß wir vorschnell unter Verzicht auf das, was positiv in dem Begriff der Demokra-sisierung stecken könnte, vor dem Wortgebrauch kapitulieren, den diese Gruppen praktizieren. Das will ich nur zur Abgrenzung Vorschlägen, bevor wir allzu schnell zu einer Unterscheidung kommen: Demokratisierung ja im staatlichen Bereich, Demokratisierung nein in den Sozialbereichen.
Professor Sontheimer: Nach meiner Erinnerung ist der Begriff der Demokratisierung in den Jahren vor 1965 in der politischen Diskussion sicher nicht zentral gewesen. Was aber impliziert war und was Herr Bracher auch wohl zum Ausdruck bringen wollte, war die Vorstellung, daß man Demokratie nicht nur als eine Organisationsform des Staates nach bestimmten Prinzipien verstehen dürfe, sondern daß mehr damit verbunden sei: im Grunde eine Art Lebensform, eine Geisteshaltung, die alles durchwirken müsse. Und in diesem Sinne hat man wohl den Begriff Demokratisierung unreflektiert verstanden.
Die politische Bildung ist sehr stark darauf hin orientiert gewesen, diese zusätzlichen verstärkenden Faktoren, die der Demokratie als Organisation erst ihre Stütze geben, in den Vordergrund zu stellen. Sie ist ein bißchen ins Leere gelaufen'mit der ständigen Aufforderung an die Betroffenen: Nun tut doch schon mit! — ohne konkrete Möglichkeiten dieses Mittuns selber anbieten zu können. Im Grunde ging es um eine Art von plakativer Form der Demokratie in der Bundesrepublik. Das Interessante ist nun, daß wir in dem Augenblick, wo sich mit dem Begriff der Demokratisierung ganz reale, konkrete Forderungen auf Mitwirkung und auf Mitbestimmung artikulieren, sehr schnell versucht sind, diesen Begriff sehr zu betrachten und skeptisch eine Front aufzurichten, die wir vorher eigentlich beseitigen wollten, nämlich eine Front zwischen der politischen Organisationsform des Staats und den Bereichen der Gesellschaft.
Nachdem die politische Wissenschaft, aber auch die Staatsrechtslehre generell, längst davon durchdrungen sind, daß eine solche schot tendichte Abschließung zwischen den beiden Bereichen überhaupt nicht mehr die Wirklichkeit trifft, halte ich es für verfehlt, auf eine solche Differenzierung wieder hinzuarbeiten. Der moderne Mensch, der ja weitgehend in dieser mehr oder weniger komplizierten Apparatur leben muß, braucht offenbar, um sich als Individuum in der Gesellschaft überhaupt artikulieren zu können, bestimmte Bereiche, in denen gewisse Formen demokratisch zu nennender Mitbestimmung eine Rolle spielen. Und ich glaube, daß dort die Demokratisierungsformel immer noch ihre Berechtigung hat. Ich will jetzt nicht untersuchen, wo natürliche Grenzen erreicht sind, die das System als ganzes sprengen. Aber ich halte es nach wie vor für richtig, daß man diese Bestrebungen einer Durchwirkung auch der Sozialbereiche im Sinne einer Abstützung der Demokratie als politischen Bereich ernst nimmt und auch in einem gewissen Rahmen fördern kann.
Professor Hättich: Ich meine, Herr Sontheimer, wir sollten hier unterscheiden: Der Begriff Demokratisierung wurde vor dieser letzten Phase — in Absetzung von Demokratie als einer rein institutionellen, strukturellen, organisatorischen Angelegenheit — im Sinne einer politischen Lebensform und bestimmter Einstellungen gebraucht, die man bei den Bürgern wecken wollte, aber bezogen auf diese politische Demokratie. Damit war doch im allgemeinen nicht die Übertragung der politischen Strukturen auf die gesamte Gesellschaft gemeint. Natürlich spricht schon lange niemand mehr von schottendichtem Abschließen zwischen Staat und Gesellschaft. Die Gegenthese von der absoluten Identität erscheint jedoch zumindest ebenso problematisch. Und zum zweiten: Abstützung der politischen Demokratie durch Demokratisierung der Gesellschaft. Hier interessiert mich einfach die Beweiskraft der These, und ich würde davor warnen, daß wir sie unreflektiert übernehmen. Wo würde eigentlich der Grund dafür liegen, daß die politische Demokratie durch analoge Strukturen der Familie usw. abgestützt werden könnte? Ob hier die Beziehungen so unmittelbar sind, das scheint mir zunächst zumindest eine Frage zu sein.
Professor Hennis: Herr Sontheimer, Sie sagten, man habe immer von Demokratisierung reden dürfen, solange dies auf der unverbind-ichen Ebene von Verhaltensweisen geschehen uod bis es dann ernst geworden sei. Das sind aber zwei Paar Schuhe, wie Herr Hättich mit Recht festgestellt hat. Wirklich niemand, auch nicht in der Mitbestimmungsdebatte, hat den Begriff so gesehen, daß auch eine strukturelle Demokratisierung des Sozialbereichs erfolgen müsse. Wir müssen doch klar unterscheiden: Man kann beispielsweise von einer Demokratisierung des Gymnasiums sprechen und damit meinen, daß es nicht mehr eine Klasseneinrichtung sein soll. Und wenn man von einer Demokratisierung des Wahlrechts redet, so heißt das: Allgemeinheit und Gleichheit. Diese Art von Demokratisierung hat man nach 1945 in Deutschland auch immer zu Recht gefordert. Ihre zeitgeschichtliche Konsequenz — „nun hat man ernst gemacht“ — ist also nicht haltbar. Und zu Ihrer Abstützungsthese: Dietrich Schindler ist ein wirklich demokratischer Staatstheoretiker gewesen. Er hat die klaren Begriffe der „Komplementarität" und der „Ambiance" in seinem Buch „Uber die Staatswillensbildung in der Demokratie" eingeführt und hat gerade gezeigt, daß die politische Demokratie — historisch jedenfalls aufweisbar — am besten abgestützt wird, wo sie durch ganz anders strukturierte Sozialbereiche ihr Gegengewicht erhält. Er hat das hineingestellt in die alte Tadition der „constitutio mixta", die man immer als die beste Konstitution verstanden hat.
Dr. Schwarz: Ich möchte, der Aufforderung von Herrn Bracher folgend, den Begriff Demokratisierung noch etwas zu präzisieren versuchen. Ich glaube, daß dabei zunächst eine allgemeinere Überlegung dem Verhältnis Parlamentarismus und Demokratie gelten muß, also dem parlamentarischen System als Regel-system für die Realisierung von Demokratie. Die speziellere Überlegung ist die: Haben wir nicht in der Bundesrepublik, ausgehend von den institutioneilen Notwendigkeiten des parlamentarischen Modells, den Demokratiebegriff in entscheidenden Punkten unter dem Gesichtspunkt von Ordnungsund Effizienz-kategorien reduziert?
Mir scheint, daß zu einer parlamentarischen Demokratie, wenn wir etwa an England denken, außerparlamentarische Bewegungen immer dazu gehört haben und dazu gehören müssen. In der Bundesrepublik ist aber, angelegt schon in der Interpretation des Grundgesetzes (Art. 21), der Begriff der Demokratie vorwiegend unter dem Aspekt des parlamentarischen Regelsystems betrachtet worden. Außerparlamentarische Entwicklungen und Bewegungen werden von daher sehr skeptisch beurteilt und praktisch ausgeschlossen. Man muß jetzt die Frage stellen: Ist nicht für den Bereich der Gesellschaft ein umfassenderer, „reicherer" Begriff von Demokratie notwendig, der nur im Augenblick seiner institutioneilen Realisierung im Ordnungssystem eingeschränkt werden kann und bestimmte Modellformen annehmen muß? Mir scheint die Gefahr zu bestehen, daß wir die sehr engen Auslegungen vom Grundgesetz und den Verfassungsinterpretationen her auf den Bereich der Gesellschaft übertragen, insbesondere auch im Hinblick auf die Frage, was Demokratisierung der Gesellschaft eigentlich ist.
Weitgehend scheint mir die Vorstellung zu herrschen, Demokratisierung in Teilbereichen der Gesellschaft bedeute soviel wie Parlamentarisierung dieser Bereiche. Genau das ist aber, glaube ich, nicht der Fall. Hier wäre zu überlegen, jeweils genuine Formen von Demokratie im Sinne von Mitwirkungschancen und Mitberatungselementen für die einzelnen Teilbereiche zu finden, die nicht von vornherein auf Parlamentarisierung hinauslaufen müssen, ja sogar nicht hinauslaufen dürfen.
Dr. Müller: Ich glaube, daß Herrn Hennis in einem zuzustimmen ist, nämlich daß eine Demokratie nur funktionieren kann, wenn sie getragen ist durch eine gegenläufige humane Struktur. Es kann keiner ein rechter Demokrat werden, der zunächst nicht einmal ein angenommenes Glied seiner Familie gewesen ist. Das Tragische ist, daß in der früheren Gesellschaft, auch in der frühen Sozialethik der Betrieb unter dem Bereich der Familie subsumiert worden ist. Das Anlernen des Lehrlings durch den Lehrherren wurde in Analogie zum Angenommensein des Kindes im Vaterhaus verstanden. Das geschah damals mit Recht. Wenn nun aber dieses Verhältnis weiter tradiert wird, nachdem aus dem Familienbetrieb ein Großbetrieb geworden ist, dann ergibt sich daraus nicht mehr ein Angenommensein des Menschen, sondern im Gegenteil eine Machtstruktur, die den einzelnen zum Objekt des industriellen Patriarchen macht. Dadurch trägt die „Familienstruktur" zur Zerstörung der Basis der Demokratie bei.
Dr. Farthmann: Ich meine, daß uns eine Vertiefung der Frage 1 im Augenblick nicht allzu-sehr weiterführt. Wenn wir etwa zu dem Ergebnis kämen, Demokratie sei ein Begriff, der nur für den politischen Bereich zutrifft und für keinen anderen, dann hätten wir ja nur das Etikett weg. Wir hätten aber damit noch nicht das Begehren ausgeräumt, das ganz offensichtlich dahintersteckt. Und da möchte ich vor der Auffassung warnen, als ob das, was wir unter Demokratisierung verstehen, etwa nur Mitwirken, Mitbeteiligung sei (es kommt dann noch die negative Assoziation Hineinreden dazu). Es geht nicht um das Bestreben, daß möglichst viele mehr oder weniger in der Form von Augenwischerei an irgendwelchen Dingen zu beteiligen sind. Meines Erachtens ist das Begehren, das dahintersteckt, vielmehr eine Frage der Glaubwürdigkeit von Autoritäten und der Legitimation von Autoritäten. Und es bleibt uns — nachdem die Fragen heute aufgeworfen sind — nichts anderes übrig, als alle Herrschaftsbereiche daraufhin anzusehen, ob sie glaubwürdig sind oder nicht. Ganz aus meiner Sicht und gezielt auf Großunternehmen ergibt sich dabei die Frage — und das ist für mich eine reine Zweckmäßigkeitsfrage —, ob es hingenommen werden soll, daß Unternehmensleitungen durch 50 oder 60 Großaktionäre und ein paar Bankenvertreter eingesetzt werden, oder ob man die Arbeitnehmer mitwählen lassen soll, um dadurch die Autorität dieser Unternehmensleitungen glaubwürdiger zu machen. So könnten wir die verschiedenen Bereiche durchgehen und würden wahrscheinlich zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Dr. Kölble: In der bisherigen Diskussion sah es aus, als ob die Frage: Ist Demokratie nur ein politischer Begriff? so verstanden werde: Demokratie nur im staatlichen oder auch im gesellschaftlichen Bereich? Das erscheint mir aber nicht als eine richtige Fragestellung. Warum sollte eigentlich die Forderung nach Demokratie, wie immer man auch den Begriff faßt, von vornherein auf den staatlichen Bereich begrenzt sein? Sinnvoller erscheint mir die Frage: Muß man nicht innerhalb der Gesellschaft einen bestimmten Bereich als demokratisierbar ansehen und einen anderen vielleicht nicht? Wo also ist innerhalb des gesellschaftlichen Bereichs eine sinnvolle Grenze zu ziehen, oder gibt es eine solche etwa gar nicht?
Es scheint ja wohl ein Konsensus darüber zu bestehen, daß das demokratische Prinzip keinen Selbstzweck darstellt. Für mich jedenfalls erhält es seine Rechtfertigung nicht aus sich selbst, sondern nur vom Menschen her. Die politische Organisationsform des Staates sei gefährdet, wenn nicht der gesamte gesellschaftliche Bereich demokratisiert werde — diese These ist für mich bisher nicht bewiesen, und ich kann mir auch gar nicht denken, daß sie beweisbar ist. Herr Hennis hat schon gewisse natürliche Grenzen aufgezeigt, und ich frage, ob es nicht noch andere Grenzen gibt, die bestimmte Bereiche der Gesellschaft von einer Demokratisierung ausschließen. So geht es etwa um die Funktionsfähigkeit bestimmter Institutionen gerade im Interesse der Demokratie. Wenn wir solche Institutionen demokratisieren, so kann das zwar einen kategorischen Verfechter des demokratischen Prinzips vielleicht befriedigen, es kann sich andererseits aber für das Gesamtbild Demokratie unter Umständen unheilvoll auswirken. Wenn im übrigen gesagt worden ist, die Diskussion um die Demokratisierung habe erst in den letzten Jahren eingesetzt, so ist sicher richtig, daß sie die starke Affektbeladenheit, die wir heute vor uns sehen, erst in jüngster Zeit bekommen hat.
Das Thema selbst jedoch ist alt. Es ist schon im Artikel 21 des Grundgesetzes mit starkem Akkord angeschlagen; und immer wieder ist die Frage erörtert worden, ob nicht über die Parteiendemokratisierung hinaus zum Beispiel die Verbände demokratisiert werden müssen, weil sie nämlich dem politischen Raum am nächsten stehen.
Dr. Hanke: Mir scheint, man kann unsere Frage 1 nicht diskutieren, ohne die Frage 2 sofort hinzuzunehmen: Kann man dem politischen Bereich einen nicht-politischen gegenüberstellen? — Diese Frage bringt eigentlich erst die Schwierigkeiten. Wie Herr Kölble eben ausgeführt hat, rechnen wir die Parteien automatisch zum politischen Bereich. Und auch die Verbände werden ihm, jedenfalls überwiegend, zugezählt. Der Wirtschaftsverband soll also demokratisiert sein. Und das einzelne Wirtschaftsunternehmen? Wo ist denn die Grenze zu ziehen zwischen dem Einfluß, den ein Verband, und dem Einfluß, den ein Großkonzern auf den staatlichen Bereich hat? Begrifflich, nach der juristischen Kasuistik, geht das sicher, aber in der Realität der Machtausübung? Hier also, in der Frage 2, sehe ich das eigentliche, das nicht-semantische Problem.
Professor Hättich: Ich darf ansetzen bei dem soeben erwähnten Wort Semantik und dabei auf eine Stelle in dem Vortrag von Herrn Hennis aufmerksam machen, wo auf die bewußtseinsbildende Funktion der Begriffe, der Sprache hingewiesen wird. Die Frage der politischen Sprache steht damit im Zentrum der Politischen Bildung überhaupt. Es geht hier nicht um die akademische Diskussion der Abgrenzung von Begriffen und ihre Präzisierung für uns selbst, sondern um ihre Wirkung auf das politische Bewußtsein. Ich will nun nicht von Staat und Gesellschaft sprechen, sondern von der Gesellschaft als dem Subjekt, das sich auf sehr verschiedene Weisen artikuliert, in ihre Wirklichkeit setzt, und eine davon wäre die politische. Wenn ich weiter sage, daß im Kern dieses Politischen alle die Probleme der Gesellschaft stehen, die in irgendeiner Weise allgemeinverbindlich geregelt werden sollen, dann ergeben sich für mich bestimmte Konsequenzen. Aber: Ist es eigentlich bereits ein abzunehmendes Dogma, daß wir die Verhaltens-und Daseinsweisen homogenisieren müssen? Ist es nicht vielleicht eher Aufgabe der sozialen Bildung, den Menschen im Hinblick auf die gegenwärtigen und zukünftigen Strukturen der Gesellschaft auf die Rollendifferenzierung vorzubereiten, ihn zu befähigen, in verschiedenen Strukturen zu leben?
Ich meine, unsere ganze Problematik hängt sehr stark damit zusammen, daß es in der Tat nicht nur um politische Entwicklungen im engeren Sinne geht, sondern um Entwicklungen in der Gesellschaft. Die konkrete Situation des Menschen in seinen verschiedenen Lebensbereichen ist thematisiert. Für mich ist die entscheidende Frage nun, inwieweit dieses Thema — der Mensch in seiner jeweiligen sozialen Situation — Thema des Gemeinwesens als politischen Gemeinwesens sein kann. Wenn ich mir Gedanken mache über die Strukturen der Familie, über die Verhaltensweisen in der Familie oder darüber, wie ich meine Kinder am besten für die Gesellschaft von morgen erziehe, so sind das sehr legitime Überlegungen. Aber es ist noch lange nicht gesagt, daß es sich hier um Dinge handelt, die für die politische Gesellschaft zum Thema werden müssen. Das wird nicht so formuliert, aber am Ende heißt das dann doch: allgemeinverbindliche Regelung aller Gesellschaftsstrukturen. Das läßt sich für mich mit einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung nicht vereinbaren.
Franklin Schultheiß: Für die Methode der politischen Bildung ist die Trennung der Politik von den übrigen Sozialbereichen nicht durchführbar: Ich muß die politische Relevanz aller Sozialbereiche darstellen. Mir scheint das sogar das Hauptproblem zu sein, daß unter Umständen in der Familie Vorurteile und Einstellungen entstehen, die für eine politische Beteiligung, wie wir sie fordern und für ein funktionsfähiges System als erforderlich unterstellen, nicht geeignet sind. Soweit der Begriff Demokratisierung die Tendenz einschließt, die politische Relevanz auch der privaten Sozial-bereiche mit zu erfassen und in der politischen Bildung aufzugreifen, kann ich ihn also von der Praxis der politischen Bildung her nur bejahen. Wir sollten da nicht allzu harte und allzu gefährdende Grenzen ziehen.
Professor Sontheimer: Ich möchte nochmals kurz auf die Frage eingehen, inwiefern Demokratie der ergänzenden Abstützung durch nichtdemokratische Sozialbereiche bedarf. Ich bitte zu prüfen, ob diese generelle These — Abstützung eines bestimmten Typus von Regierungssystem durch einen anders strukturierten sozialen Typus — historisch stimmt. Stimmte sie, dann müßten wir immer Gesellschaften gehabt haben, in denen etwa eine autoritäre politische Struktur durch etwas anderes abgestützt worden wäre. Und das bezweifele ich. Vielleicht kann auch Herr Kollege Hübinger als Historiker später das noch ergänzen: Gibt es zum Beispiel in der Feudal-struktur des Mittelalters soziale Verhaltensweisen komplementärer und auch entgegengesetzter Art, die gerade diese Feudalstruktur abstützen? Nochmals: Ich zweifle, daß das stimmt. Im Gegenteil: Es ist zu vermuten, daß eine bestimmte politische Organisation um so besser funktioniert, je näher der Sozialbereich an diese Form heranrückt. Wenn Sie etwa ein Buch nehmen wie Heinrich Manns „Untertan", dann haben Sie am Beispiel des Untertanen die typische Ausformung eines Sozialverhaltens, das genau dem Wilheiminismus entspricht. Insofern frage ich also, ob man von vornherein davon ausgehen kann, daß die Demokratie durch nicht im strengen Sinne demokratische Verhaltensweisen besser abgestützt wird.
Aber andererseits möchte ich davor warnen, hier falsche Alternativen aufzustellen. Es geht nicht darum, wie Herr Hättich eben zum Ausdruck gebracht hat, daß man mit dem Begriff der Demokratisierung etwa die Forderung verbindet, nun müßten alle Sozialbereiche über einen Leisten gespannt und nach dem Muster der politischen Demokratie organisiert werden. Das ist nicht gemeint. Es geht vielmehr darum, daß man in allen Sozialbereichen prüft oh die soziale Funktion, die eine Sache habe soll, unter Umständen besser realisiert werd n kann: entweder durch entsprechende Mitbet iligung derer, die betroffen sind und mitarbeiten müssen, oder aber durch gewisse Kontrollen und durch Infragestellung von Autoritäten. Woher nehmen wir denn die Sicherheit, die etablierten Hierarchien als die funktional richtigen zu begreifen? Weil vieles von dem, was als unvollkommen empfunden wird, vielleicht damit zusammenhängt, daß man noch falsche soziale Strukturen hat, hofft man durch die Forderung nach Demokratisierung effektivere Dinge hervorzubringen. Es besteht dann zudem die Chance, daß die Beteiligten stärker engagiert werden können und dafür dann auch stärker Mitverantwortung tragen. Daß das Grenzen hat, ist mir klar. Idi habe nie und werde auch nie die Auffassung vertreten, es ginge — wie Herr Hättich gesagt hat — um allgemeinverbindliche Regelungen für den Sozialbereich nach dem Muster der politischen Demokratie.
Professor Hennis: Ich will Herrn Sontheimer nur eine Beispielsfrage stellen: Würden Sie es akzeptieren, daß in Ihrem Fachbereich an der Universität der drittelparitätisch oder wie immer zusammengesetzte Institutsrat allgemeinverbindlich beschließen kann, daß Sie und andere demnächst in soundso viel Stunden das und das lesen? Denn auf dieses übertragen des Rechts, allgemeinverbindliche Sachregelungen zu geben, läuft es doch in diesem Sozialbereich hinaus.
Professor Sontheimer: Diese Frage kann ich nicht direkt beantworten. Aber: Halten Sie das für richtig, was Professoren normalerweise bisher tun konnten, nämlich viel oder wenig zu lesen und zu lesen, was sie wollten und wie sie es wollten?
Professor Hennis: Das halte ich in der Tat unter der Voraussetzung, daß von den Kontrollrechten, die sowohl die Fakultäten wie der Staat bisher gehabt haben, Gebrauch gemacht wird, für unvergleichlich richtiger, humaner und für unvergleichlich effektiver, als wenn Sie solche allgemeinen Offentlichkeitsrechte an Studenten übertragen, die nicht kompetent und nur politisch orientiert sind.
Professor Hättich: Natürlich funktioniert die Universität augenblicklich nicht; das scheint mir sehr klar. Aber eine Diskussion, die von den Zwecken dieser Institution ausgeht und fragt, was ist hier nicht in Ordnung und muß geändert werden?, ist in unserem Zusammenhang ja völlig unproblematisch. Und ein zweites: Natürlich können Sie, Herr Sontheimer, nie oder nur selten nachweisen, daß mit „Demokratisierung“ diese Gleichschaltung, diese allgemeinverbindliche Regelung der Binnen-B Struktur aller Sozialbereiche nicht gemeint sei. Oft ist sie gemeint, und wenn sie nicht gemeint ist, bleibt immer noch die Frage der Konsequenzen. Ich komme wieder auf die Bewußtseinsbildung von der Sprache her zurück. Sie wissen doch selbst, welche Bewußtseinswandlung — wir brauchen gar nicht von der Universität zu reden — sich etwa in der Schule vollzogen hat, wie hier mit der Formel „Demokratisierung", die unreflektiert übernommen wurde, alles fertiggemacht wird, was einem nicht paßt. Das ist jetzt nicht eine verbindliche Gleichschaltung von irgendeiner Instanz her, sondern die Wirkung eines bestimmten politischen Sprechens.
Dr. Messerschmid: Die Diskussion ist mittlerweile halbwegs an den Punkt 2 herangerückt: Kann man dem politischen Bereich heute noch einen nicht-politischen gegenüberstellen?
Professor Hübinger: Der Anregung von Herrn Sontheimer folgend, will ich einige wenige Bemerkungen zum Historischen machen. In dem Referat von Herrn Hennis wird ja schon auf die beiden Sphären der polis und des oikos als zwei gesondert voneinander zu betrachtende und in einem kontrapunktischen Verhältnis zueinander stehende Bereiche hingewiesen. Wie war es im Mittelalter? Der Bischof Wago von Lüttich in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts hat einmal ganz klar gesagt: Dem Papst schulde ich oboedientia, dem König fidelitas. Das sind zwei vollkommen verschiedene Funktionen gewesen. Man könnte den Investiturstreit als die Auseinandersetzung darüber auffassen, ob die eine oder die andere Form nun allgemeinverbindlich werden soll, d. h., ob aus dem Bereich, in dem fidelitas geschuldet wird, in die Kirche eingegriffen werden soll, oder umgekehrt, ob nicht aus dem Bereich der Kirche die oboedientia in den Staat übertragen werden soll, wie es dann praktisch ja auch geschehen ist. Die Kirche hat für ihren Bereich, der viel fortgeschrittener war, Kategorien entwickelt, die der Staat später rezipiert hat. Der Absolutismus hat dann das, was an genossenschaftlichen Elementen vorhanden war, beseitigt. Er entfernte die Städteautonomie, die Autonomie der Universitäten usw. und führte ein einziges Prinzip, das für die Staatsverwaltung und die Staatsregierung notwendig war, bis in alle Bereiche hinein durch.
Es bestand alo immer eine Kontrapunktik, aber auch immer die Tendenz bei der Seite, die die stärkere war, die Kulturform, nach der man selber lebte, auf alle übrigen Bereiche zu übertragen. Und derartiges erleben wir eben heute mit dem Begriff der Demokratisierung, mit der Tendenz also, politische Strukturelemente möglichst weit in alle Lebensbereiche hinein zu übertragen, auch in solche, wo diese Strukturelemente der Natur nach wohl nichts zu suchen haben.
Professor Knoll: Mir scheint es so zu sein — Herr Hübinger hat es mit einer Reihe von Beispielen belegt —, daß in früheren Zeiten die von Herrn Hennis angesprochene Stützfunktion in einem hohen Maße vorhanden gewesen ist, also eine Divergenz von Verhaltensweisen und Strukturen in den sozialen und in den politischen Bereichen. Besonders in der Geschichte des 19. Jahrhunderts läßt sich eindeutig nachweisen, daß politische Selbstdarstellung und ökonomische Verhaltensweisen ausgesprochen divergent gewesen sind. In dem Maße, wie sich moderne Technologien durchsetzen, gleichen sich jedoch politische und ökonomische Bereiche zunehmend an. Das Wort von der Planbarkeit und der Machbarkeit von sekundären Systemen ist nicht nur eine politische Vokabel, sondern auch eine ökonomische. Wenn heute davon gesprochen wird, daß man im staatlichen Bereich von der Eingriffsverwaltung zur Leistungsverwaltung übergehe, so deutet das darauf hin, daß hinsichtlich der Verhaltensweisen und Führungsqualitäten die im 18. und 19. Jahrhundert noch gegebene Divergenz zwischen den beiden Bereichen allmählich aufgehoben wird. Da stellt sich für mich die Frage, ob sich aufgrund einer solchen Tendenz zur Konvergenz nicht auch führungsmäßige und organisatorische Annäherungen ergeben. Es wird ja heute, wenn von den Führungsaufgaben der Zukunft die Rede ist, von der möglichen Austauschbarkeit zwischen Wirtschaft und Verwaltung gesprochen. Es scheint also, daß sich zumindest in den Führungsbereichen diese Konvergenz zunehmend auswirkt. Deshalb stellt sich die Frage, ob möglicherweise Verhaltensweisen, die bisher für den politisch-demokratischen Bereich zutreffend waren, auch in den sozialen Bereich zu transponieren sind.
Aus der Sicht des Erziehungswissenschaftlers möchte ich noch etwas zu der Gefahr der Homogenisierung von Verhaltensweisen sagen; Herr Hättich sprach sie an. Die modernen Schultheorien — vor allem die von Theodor Wilhelm — gehen dahin, daß Schule in Zukunft nur noch Wissenschaftsschule sein kann und auf eine Homogenisierung der Verhaltens-und Lernweisen abgestellt sein wird. Wir können es uns im Erziehungsbereich nicht leisten, ungehemmter Pluralität einfach Raum zu geben. Die Schule muß vielmehr ökonomischen Prinzipien unterworfen werden.
Abschließend darf ich etwas ketzerisch sagen: Mir ist es nahezu unverständlich, wie es — vor allem in der Politikwissenschaft — möglich ist, heute überhaupt noch politikfreie Räume zu konstatieren. Wenn man von einer Unterschiedlichkeit der Räume spricht, dann muß man auch genau die Grenzen ziehen: bis wohin geht das Politische, wo fängt das Soziale an? Und dann würde ich gern erfahren, was in den nicht-politisch dimensionierten Räumen an Ordnungsstrukturen vorhanden ist. Nach welchen Regulativen verfahren diese Bereiche? Handelt es sich um hierarchisch-autoritäre Strukturen, oder wie sind sie verfaßt?
Professor Hennis: Herr Knoll, der Staat mag noch so sehr durch alle Einzelbereiche seiner Politik: Gesundheitspolitik, Bevölkerungspolitik, Wohnungs-, Schul-, Kulturpolitik etc. einwirken auf die Lebensweise und Lebensorien-tierung des Menschen, dennoch —• das ist ja gerade die Grenze, die ich gegenüber dem totalen Staat ziehe —: bei aller Konditionierung und Bestimmung muß es doch gerade der Sinn freiheitlicher Politik sein, daß in diesen einzelnen Lebensbereichen ein Optimum von Freiheit und Selbstbestimmung sich weiterhin entfalten kann. Eine der größten politischen Erfahrungen in den letzten Jahren sind für mich die Romane von Solschenizyn gewesen. Hier wird gezeigt, wie die Menschlichkeit durch Politik in Frage gestellt wird, wenn der Staat bis in die Seele hineingreifen will. Das darf nicht sein, bei aller Gesundheitsvorsorge, Wohnungspolitik usw. muß es doch Grenzen geben.
Nach 1945 hat man vielfach die Grundrechte umgedeutet aus liberalen Abgrenzungsrechten in demokratische Engagements-und Mitwirkungsrechte. Natürlich ist viel Richtiges daran, wenn man von liberalistischen Verzerrungen spricht: trotzdem mache ich ein großes Fragezeichen gegenüber dieser Auslegung und bin der Meinung, daß wir die Grundrechte unbedingt auch als liberale Ausgrenzungsund Abgrenzungsrechte halten müssen.
Nun will ich noch auf das Grundlegende zurückkommen, das in der Frage von Herrn Knoll steckt. Herr Hübinger hat ja schon auf die Kontrapunkte hingewiesen, die sich durch die abendländische Geschichte hindurchziehen, und daß der Absolutismus der erste große historische Versuch gewesen ist, diese Kontrapunktik zu beseitigen und alles nach einem Prinzip zu orientieren. In unserer politischen Bildung ist immer wieder die Dominanz der demokratischen Tugenden gefordert worden, und man verstand darunter Aktivität, Öffentlichkeit, Engagement. Es erscheint mir fraglich, ob wir mit dieser Akzentuierung nicht der Demokratie einen Bärendienst erwiesen haben. Ich meine, daß wir unweigerlich die entgegengesetzten, privaten oder sogar privatistischen Tugenden der Askese, der Enthaltung, der Meditation etc. wieder in ihr altes Recht einsetzen müssen. Aus denen lebt nämlich eine wirkliche Demokratie, nicht aus denen des Engagements.
Noch ein anderes: Wir laufen Gefahr, die einzelnen Sozialbereiche nur noch unter dem Aspekt der Rechtsordnung zu sehen. Dabei wird völlig vergessen, daß jede Rechtsordnung, wenn sie wirklich erträglich sein soll, auf-wächst auf einer Liebesordnung. Das kann man heute kaum noch sagen, ohne sich dem Gelächter auszusetzen. In der Tat aber ist eine erträgliche menschliche Ordnung nur denkbar, wenn sie auf nicht rechtlich geregelten, spontanen, ja urmenschlichen Strukturen gründet. Niemals wird man eine Klinik für den Patienten erträglich machen können, wenn man sie nach dem Schema einer Automobilfabrik organisiert. Und man wird auch keine Armee, keine Schule und keine Universität sinnvoll strukturieren können, ohne auf diese nicht rechtlich kodifizierten, vordemokratischen Tugenden zu rekurrieren.
Dr. Schwarz: Die Ausführungen von Herm Knoll und Herrn Hennis haben mir das Problem deutlich gemacht. Für mich, Herr Hennis, ergibt sich die Frage, ob Sie nicht mit dem Versuch der Grenzziehung unter dem Gesichtspunkt der Humanität und jener Tugenden, die sie als vordemokratische bezeichnen, sozusagen gegen die von Herrn Knoll aufgezeigte Sachlogik der Entwicklung anlaufen, die sich nicht aufhalten läßt. Sie betonen die Notwendigkeit, einen Prozeß wachsender staatlicher Eingriffe zu verhindern, und verweisen dabei auf das Bild des totalitären Staates. Man kann das auch anders herum sehen und sagen: Diesen Entwicklungsprozeß werden wir in unserer Welt nie aufhalten. Um so mehr kommt es darauf an, die staatliche Eingriffssphäre von der Gesellschaft her aufzufüllen, d. h. gerade jene Schranke zu durchbrechen, die in den toB talitären Staaten besteht. Die Frage ist also, ob wir einen Versuch der Grenzziehung durchhalten können oder ob wir nicht, um den in der Entwicklung enthaltenen totalitären, technokratischen und elitären Möglichkeiten zu begegnen, von der Gesellschaft her in ganz anderem Maße und auf ganz anderen Wegen den Staat in Besitz nehmen müssen.
Dr. Müller: Ich fühle mich durch die Diskussion lebhaft erinnert an die Erörterungen, die wir in der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland über das Verhältnis von Ermessensentscheidungen und Gewissensentscheidungen geführt haben. Es ging dabei um die Frage, wieweit die Kirche zu politischen Fragen Stellung zu nehmen hat und wieweit umgekehrt der Staat berechtigt ist, in Gewissensfragen einzugreifen. Ich glaube, heute ist dieser Streit entschieden mit der Erkenntnis, daß es schlechthin keine Frage gibt, die nicht unter bestimmten Aspekten eine Gewissensfrage sein kann, und keine Gewissensentscheidung, die nicht eine Ermessensentscheidung mit beinhaltet. Eine Abgrenzung zwischen politischem und nicht-politischem Bereich ist in der heutigen Gesellschaft schlechterdings nicht mehr möglich. Wir müssen vielmehr von ineinandergreifenden Bereichen sprechen und von ineinandergreifenden Verhaltensweisen, die dafür notwendig sind.
Dr. Kölble: Ich möchte einige Punkte vortragen zu der Frage, in welchem Umfange im gesellschaftlichen Bereich Demokratisierung stattfinden kann und soll, wobei der Begriff durchaus verschiedene Varianten zuläßt. Auf jeden Fall würde ich als Moment der Grenzziehung die Affinität gesellschaftlicher Bereiche zum staatlichen Bereich akzeptieren, so wie sie bei den politischen Parteien und bei den Verbänden vorliegt. Als Grenzziehungsmoment würde ich weiter den Grad gesellschaftlicher Macht in Erwägung ziehen, die Frage also, ob der Inhaber gesellschaftlicher Macht eine ähnliche Gefahr darstellt wie der Inhaber staatlicher Gewalt. Dabei stellt sich dann natürlich auch sofort das Problem der sogenannten Drittwirkung der Grundrechte. Heute kann ich demjenigen, der gesellschaft-
iche Macht ausübt, entgegenhalten, daß er nicht legimitiert sei, und ihm Widerstand leisten. In dem Augenblick, in dem er diese Macht aufgrund demokratischer Legitimation usübt, sieht die Situation ganz anders aus. Als drittes Moment würde ich das der Effizienz akzeptieren. Wenn also eine Institution, aufs Ganze bezogen, durch Demokratisierung effektvoller wird, so wäre das ein legitimer Grund, im gesellschaftlichen Bereich ihre Demokratisierung jeweils adäquat der Aufgabenstellung vorzusehen. Sehr problematisch erscheint mir immer noch die Abstützungsthese von Herrn Sontheimer. Ich wage die Gegenthese, daß sogar der autoritäre Staat bestimmte Bereiche frei lassen muß, weil sonst der Druck im Kessel so groß wird, daß er das nicht durchhält. Andererseits funktioniert auch Demokratie nicht, wenn es in ihr nicht bestimmte hierarchische Strukturelemente gibt.
Professor Hättich: Offensichtlich ergeben sich Probleme durch die Verwendung des Begriffs „Bereich" und dadurch, wie man ihn auffaßt. Es gibt in der Tat keinen politikfreien Bereich in der Gesellschaft; vielleicht sollten wir mehr von Schichten, von Aspekten sprechen. Vom einzelnen aus gesehen gibt es die Sphäre des Politischen in bestimmten Situationen mehr, in anderen weniger, bis hin zum ganz Privaten. Das exakt abzugrenzen, ist in der Tat nicht einfach. Aber es scheint mir nicht ganz unwichtig, ob man prinzipiell überhaupt noch eine Grenze sieht oder nicht. Die Punkte, die Herr Kölble als Abgrenzungskriterien genannt hat, würde ich durchaus ernst nehmen. Nur kommt es ja nicht auf die Effizienz allein an und auf die Sache; man muß auch fragen: Wird eigentlich durch diese neue Struktur, die durch Demokratisierung geschaffen werden soll, der Freiheitsraum wirklich vergrößert? Wird nicht, um ein Beispiel aus dem Universitätsbereich zu nennen, eine Minderheit von Studenten in einem sehr viel größeren Ausmaß unfrei, wenn die Mehrheit der Kommilitonen beschließt, was gelesen wird, im Vergleich dazu, wie die Gesamtheit der Studenten jetzt unfrei ist, wenn der Professor darüber bestimmt? Es trifft eben einfach nicht zu, daß durch Mehrheitsentscheidungen der Freiheitsraum unbedingt größer wird. Das muß vielmehr jeweils im Einzelfall überprüft werden. Ich bin durchaus der Meinung — und Erfahrungen zeigen es —, daß Studenten auch in Fragen der Berufung und Lehrstuhlbesetzung äußerst wichtige Informationen beitragen können.
Man muß Formen abgestufter Mitwirkung — das gilt nicht nur für die Universität — auch für solche Entscheidungen überlegen, bei denen aus bestimmten Gründen eine Mitentscheidung nicht zweckmäßig ist. Deshalb mein Stichwort vom „Rat". Ist nicht die alte Figur des „Rates" demokratischer in der Weise, daß nicht bestimmte Eliten Ratgeber sind, sondern daß die Betroffenen selbst Ratgeber sind, indem sie mitsprechen, mitwirken, ihre Interessen, ihre Meinungen mit einbringen? Das kann ich nun auch aus der kleinen Institution übertragen in die große, nämlich auf die politische Diskussion und Aktivität außerhalb der politischen Institutionen auf diese Institutionen hin.
Dr. Matz: Es ist eine mehr feststellende Frage, ob nicht in unserem Kreis insoweit ein Konsensus erzielt worden ist, als wir nicht mehr davon ausgehen, die Demokratie sei ein unbefragbares Ideal, das auf alle Sozialbereiche kritiklos angewendet werden soll. Wir scheinen uns einig zu sein, daß die Frage der im konkreten Bereich geltenden Prinzipien davon ausgehen muß, welche Aufgabe eine bestimmte Institution hat. Damit wäre die ganz abstrakte Diskussion über Demokratisierung, wie sie sich auch in der Öffentlichkeit abspielt, zunächst einmal zu verlassen, und man könnte sich den konkreten Problemen zuwenden.
Ich möchte noch eingehen auf den Anwurf, daß wir als Politikwissenschaftler so rückständig seien, nicht-politische Bereiche überhaupt noch anzunehmen. Da müßten wir zunächst den Begriff „Politik" klären. Unter Politik verstehe ich das Handeln, das darauf abzielt, eine verbindliche Gestaltung des gesamten Lebens eines Gemeinwesens herbeizuführen; und ich würde mich anheischig machen nachzuweisen, daß dieser Begriff auch abweichenden Definitionen zugrunde liegt. In diesem Sinne können alle Sozialbereiche unterhalb der Ebene der Politik nicht politisch sein, weil sie ja gerade begrenzt sind durch Aufgaben und Zwecke, die eben nicht die Totalität des gemeinsamen Lebens umfassen. Das schließt nicht aus, daß alle diese Sozialbereiche, insofern sie ein Teil dieses gemeinsamen Lebens sind, politische Aspekte haben und politisch relevant sind. Sie sind auch politisch, aber nicht nur politisch. Das ist eine sehr wichtige Unterscheidung. Sie führt dazu, daß man die Prinzipien, nach denen man die nichtpolitischen Bereiche organisiert, auch nicht ohne weiteres aus dem politischen Bereich übernehmen kann, sondern daß man dabei von den konkreten Aufgaben des jeweiligen Sozialbereichs ausgehen muß.
Eine Bemerkung noch zu dem Problem der gesellschaftlichen Macht, das Sie angesprochen haben, Herr Kölble: Sie deuteten an, daß solche gesellschaftliche Macht demokratisiert werden müsse im Interesse der Kontrolle dieser Macht. Da muß man nun wieder wissen, was man unter Demokratisierung verstehen will. Ich würde sagen: Keine Frage, daß diese gesellschaftliche Macht kontrolliert werden muß, aber sie muß, da sie selbst nur als Folge ihrer Größe politisch ist, auch politisch, und insofern demokratisch, kontrolliert werden und nicht durch politisch unverantwortliche Gruppen. Professor Bracher: Das, was Sie gesagt haben, Herr Matz, hängt natürlich sehr vom Politik-begriff ab. Wenn man eine solche Globaldefinition gibt, dann kann man alles andere subsumieren, und dann ist auf theoretischem Wege, auf einem höheren Abstraktionsgrad sozusagen, doch wieder die Entpolitisierung aller Bereiche gegeben, die außerhalb der parlamentarischen Demokratie im engeren Sinne liegen. Aber darüber können wir uns jetzt nicht streiten.
Ich habe in der bisherigen Diskussion bedauert, daß wir eigentlich etwas privatistisch verfahren sind insofern, als bei den meisten Beiträgen immer die Universität im Hintergrund stand. Diesen Einwand könnte man etwa von jemandem hören, der sich mehr für das ungleich wichtigere Gebiet der Mitbestimmung im Wirtschaftsbereich interessiert. Ich glaube, daß dadurch die Diskussion etwas verzerrt worden ist.
Mein weiterer Eindruck von der Debatte ist der, daß wir einerseits eine Relativierung der Problematik vorgenommen und festgestellt haben, daß eine Trennung von Staat und Gesellschaft in dieser Weise nicht möglich ist, sondern daß Demokratisierung, wie immer man sie versteht, als relevantes Problem sich tatsächlich in bestimmte Sozialbereiche hinein-erstreckt; andererseits ist es aber nicht gelungen, eine Entzerrung des Demokratisierungsbegriffs zu erreichen, d. h. eine Durchformulierung im Sinne einer Definition, die ihn auf die Bereiche wirklich anwendbar macht, auf die er sich beziehen müßte. Vielleicht sollte man eher mit dem Begriff Mitbestimmung operieren.
Der Versuch nun, etwa von der Zweckbestimmung einzelner Sozialbereiche ausgehend die ganze Materie zu klären, erscheint mir auch nicht besonders aussichtsreich. In dem Augenblick, in dem wir fragen: wie soll dieser Sozia bereich geordnet werden?, kommen natürlich automatisch Begriffe wie Freiheit, Selbstbestimmung usw. mit herein. Und die Frage: wie können Freiheit und Gleichheit in solchen So zialbereichen verwirklicht werden?, führt dann nolens volens wieder zu der Frage nach der Demokratisierung. Denn wie will man unter den vorliegenden Verhältnissen die Garantie für einen solchen Prozeß erwirken, wenn man nicht mindestens auch auf die Forderung nach Demokratisierung in diesen Bereichen in aller Form eingeht?
Professor Hennis: Ich finde, wir sollten das Gespräch doch nach der ursprünglichen Disposition fortführen. Wir kämen damit zur These, daß für jede politische Form, die sich als Demokratie verstehen will, Freiheit und Gleichheit konstituierend und nicht relativierbar sind.
Daß Demokratie ihre begriffliche Erfüllung gegenüber anderen politischen Ordnungsprinzipien der besonders entschiedenen Durchsetzung der Freiheit als bürgerlicher Selbst-und Mitbestimmung einerseits, der entschiedenen Durchsetzung der Gleichheit aller Bürger in bezug auf ihre politischen Rechte andererseits verdankt, wird nicht strittig sein. Seit der antiken Polis über die Französische Revolution bis in unsere Tage steht jede politische Ordnung, die Demokratie sein will, unter dieser doppelten Forderung. Sie ist im politischen Raum nie vollkommen durchgesetzt worden, und so gab es immer „Demokratisierungs" -Reste. Die Geschichte des Wahlrechts ist der einfachste Leitfaden zur Vergegenwärtigung dieses Prozesses— bis zum „Rest“ der Diskriminierung der Frauen in der Schweiz. Fällt einmal ein Bereich unter die demokratische Gleichheitsforderung, so erscheint das Festhalten jeder Unterscheidung als ungerecht, als undemokratisch. Darum: nicht relativierbar! Aber dies gilt nur, wenn der „Bereich“ diesen „politischen" Kategorien einmal subsumiert worden ist. Das Problem ist, wie weit man das ausdehnen kann und will. Wer für „Demokratisierung" aller gesellschaftlichen Bereiche ist, geht davon aus, daß sie auch alle subsumiert werden können. Ich bestreite a) die Möglichkeit, b) die Wünschbarkeit.
Dr. Messerschmid: In dieser Aussage ist enthalten, daß die Spannung, die natürlich zwischen diesen beiden Begriffen entsteht, nicht auflösbar ist. Aushalten kann man diese Spannung aber nur, wenn man in ganz konkreten Bereichen sagen kann: hier ist doch ein gewisses Maß an Relativierbarkeit da.
Professor Hennis: Ja, gut, aber da befinde ich mich dann nicht mehr im Bereich der Demokratie. Daß zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, in den Betrieben usw.sehr große Relativierungsmöglichkeiten vorhanden sind, ist ja gar keine Frage. Und wir wünschen uns alle, daß überprüft wird, welche ungerechtfertigten Differenzierungen und Abstufungen in der Schule, im Betrieb usw. gegeben sind. Aber es folgt daraus nicht, daß hier eine Egalisierung stattfindet.
Dr. Hanke: Ich sehe nicht die Alternative zwischen einem relativierbaren und einem nicht-relativierbaren Gleichheitsbegriff, etwa im Wahlrecht, in der unmittelbar staatlichen oder parlamentarisch-demokratischen Sphäre einerseits und in der sozialen Sphäre andererseits. Mir scheint auch der Argumentationsansatz formalistisch zu sein. Man kommt dann in die Kasuistik hinein. Ist zum Beispiel die Beschränkung des Wahlrechts auf die über 21 Jahre alten Bürger eine Relativierung des Gleichheitssatzes? Oder die Beschränkung des Wahlrechts auf die Männer in der Schweiz? Und andererseits wird das in den einzelnen Sozialbereichen angeschnittene Problem — Mitwirkung der Betroffenen an der Kontrolle der Entscheidenden — durch die Art der Fragestellung gar nicht tangiert. Weiter ist nach meiner Meinung Gleichheit im staatlichen Bereich vielfach formell nicht relativierbar, de facto aber doch. Der Mann ist gleicher vor dem Gesetz, der das Geld hat, bis in die dritte Instanz zu gehen, vor allem im Zivilprozeß.
Professor Hennis: Es gibt ja ein Armenrecht. Eben weil das nicht sein soll, daß der Unterschied zwischen den Geldbeuteln im Prozeßrecht eine Rolle spielt, muß folglich von der Demokratie Abhilfe geschaffen werden. Die Abhilfe ist noch nicht perfekt, natürlich nicht.
Professor Bracher: Da sie nicht perfekt ist, gibt es Demokratisierung.
Professor Hennis: Jawohl, das ist klar. Aber nur in diesem politischen Bereich gibt es noch Dem'kratisierung. Ich sagte schon, das ganze 19. Jahrhundert ist eine Zeit der Demokratisierung des Wahlrechts gewesen. Genauso kann man auch dazu kommen, daß man die Erfüllung des Anspruchs auf Bildung zu den staatlichen Leistungen zählt.
Professor Bracher: Das ist ein klassischer Fall! Man hat erkannt, daß Bildung wichtig ist für politische Mitbestimmung. Man hat also einen Bereich, der ursprünglich nicht zur Politik ge15 hörte, mit einbezogen im Sinne eines Bürger-rechts auf Bildung. Das ist doch ein klassisches Beispiel dafür, daß Sie die Grenzen staatsrechtlich nicht so glatt ziehen können, wie Sie es tun, Herr Hennis. Das Recht auf Bildung wird plötzlich demokratisch, wo der politische Bezug da ist. Hier wird die staatsrechtliche Grenze überschritten.
Professor Hennis: Es wird eine staatliche Leistung. Alle staatlichen Leistungen stehen aber unter dem Gleichheitsgebot. Es ist zentral für die ganze Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das Gleichheitsgebot durchzu-setzen im staatlichen Bereich. Gleichheit, die nicht relativierbar ist!
Dr. Farthmann: Man kann die These von Herrn Hennis ruhig anerkennen: Voraussetzung der Demokratie ist die Gleichheit aller Beteiligten. Aber diese Gleichheit ist doch auch in der staatlichen Demokratie ein Gleichmachen. Man sagt eben einfach: Im Interesse des Funktionierens der Demokratie behandele ich alle Bürger gleich, die Törichten genauso wie die Klugen, die Jungen genauso wie die Alten, die Reichen genauso wie die Armen. Das ist nicht eine vorgegebene Gleichheit, sondern ein Gleichmachen. Ebenso könnte ich doch sagen: die Kapitalgeber setze ich gleich mit den Arbeitnehmern.
Professor Hennis: Ich glaube nicht, daß Sie dafür den demokratischen Gleichheitsgrundsatz in Anspruch nehmen können, weil es sich eben nicht um eine staatliche Leistung handelt.
Dr. Farthmann: Sie haben gesagt: der Demokratie ist immanent, daß vorher alle gleich sein müssen. Ich sage: das ist richtig, aber diese Gleichheit ist doch nicht irgendwie vorgegeben, oder in dem Gleichmachen sind wir ja nicht eingeschränkt. Sondern wir können sagen: wo ich demokratisieren will, mache ich die verschiedenen Gruppen in diesem Punkte gleich. Wir müssen natürlich in den einzelnen Sachbereichen prüfen, ob hier eine Gleichmacherei mit der Folge der Demokratisierung zweckmäßig ist oder nicht.
Ich darf noch eine kleine Bemerkung anschließen. Es ist eine sehr interessante, auch gar nicht bestreitbare These von Herm Hennis, daß die Liebesordnung vor der Rechtsordnung steht. Ich vermag nicht einzusehen, warum das zerstört werden sollte durch demokratische Legitimation. Der Unternehmer, der Manager, der nicht nur seinen Segen vom Aktionär hat, sondern auch von den Arbeitnehmern, kann er nicht mit der gleichen Liebes-energie ans Werk gehen?
Professor Sontheimer: Die These von Herrn Hennis, nämlich die ganz klare Korrelation von Demokratie und Gleichheit im staatlichen Handeln, kann man weiterführen. Das uns hier beschäftigende Problem ist, ob nicht in einer Situation, wie sie in der Bundesrepublik gegeben ist, der Staat kraft eines Meinungsbildungsprozesses zu einem politischen Willensakt kommt, mit dem er ein größeres Ausmaß an Sozialbereichen diesem demokratischen Prinzip unterwirft. Innerhalb der Gesellschaft können sich, wie auch Herr Kölble angedeutet hat, Machtstrukturen unkontrolliert vom Staat entfalten. Wo aber Macht ist, besteht das Bedürfnis der übermächtigten nach Kontrolle dieser Macht; und wenn Mißstände auftreten, ergibt sich eine Affinität zu dem demokratischen Prinzip in dem Sinne, daß der Staat eingreifen muß, das heißt: er muß demokratisieren.
Das ist genau das, was heute statthat. Wenn beispielsweise in Universitätsgesetzen irgendwelche Paritäten dekretiert werden, dann resultiert das aus bestimmten Entwicklungen in der politischen Meinungsbildung, die zu einem Akt des Gesetzgebers führen. Und so werden immer weitere Bereiche einbezogen. Natürlich wehren Sie sich dagegen, und auch ich würde mich dagegen wehren, daß das nun zu einer absoluten Gleichmachung aller Bereiche führt Dann hätten wir den totalen Staat. Den streben wir ja nicht an. Wir wollen nur eine bessere Funktionsfähigkeit dieser Teilbereiche, die unter Umständen durch Demokratisierung erreicht werden kann. Das ist meine Ausgangs-these — neben meiner Abstützungsthese, die ich beibehalte.
Herr Hennis hat es selbst als ein Hauptprinzip bezeichnet, daß in den Sozialbereichen ein Optimum an Freiheit und Selbstbestimmung Platz greifen müsse. Selbstbestimmung ist aber nur durch Einbeziehung derer möglich, die in einem Spezialbereich leben und in ihm arbeiten müssen. Selbstbestimmung, bei der etwa nur der Unternehmer sagen kann, was gemacht wird und wie es gemacht wird, schließt einen Teil derjenigen, die in diesem Sozialbereich zusammengefaßt sind, aus Wenn man also die Formel vom Optimum an Selbstbestimmung ernst nimmt, kommt man folglich nicht umhin, Formen von Demokratisierung einzubeziehen. Selbstbestimmung im Sozialbereich ist ohne Demokratisierung nicht möglich, solange Herrschaftsverhältnisse bestehen, in denen Selbstbestimmung für einen Teil derer, die in diesem Bereich leben, nicht gegeben ist.
Professor Hennis: Was Sie meinen, ist ja keine Demokratisierung. Wenn Sie 25 000 Studenten, 3000 Assistenten und 200 Ordinarien zu je einem Drittel beteiligen, so bleibt doch die Ungleichheit. Es handelt sich um reine Fiktionen. In der Politik können Sie davon ausgehen, daß die Stimme des alten Mütterchens genau so viel wert ist wie die des kenntnisreichen Wissenschaftlers, weil es hier um Entscheidungen geht, die für alle verbindlich sind. In den Sozialbereichen aber sind Spezialkenntnisse erforderlich. Ich sehe nicht ein, warum man für das, was in den Sozialbereichen an Freiheitschancen, Optimierungen usw. angestrebt wird, nicht den Demokratisierungsbegriff streichen und statt dessen Regelungen wie Personalvertretungsgesetz, Betriebsverfassungsgesetz usw. als Binnenkonstitutionalisierungen mit dem Ziel größerer Liberalität und Humanität verstehen sollte.
Eine Bemerkung darf ich noch anfügen: Nach 1945 haben wir — vor allem aus Amerika — viel an veralteter Psychologie und Pädagogik und einen ziemlich unkritischen und vulgarisierten Freud rezipiert. Es steht doch sehr dahin, ob größere Freiheit, mehr Selbstbestimmung, Gewissen, Engagement für die demokratischen Tugenden in der Politik sich einstellen, wenn wir alle anderen Sozialbereiche, bis hinunter zur Familie, nach dem Muster der Repressionsfreiheit organisieren. Ich glaube, jeder hat die persönliche Erfahrung gemacht, daß sich das Gewissen des Ego erst durchsetzt im Kampf mit Autoritäten, mit Schwierigkeiten. Ich komme damit noch einmal auf die zentrale Problematik der Abstützung — Ambiance, Komplementarität — zurück.
Professor Sontheimer: Da hängt nun wirklich alles ab von der Analyse der gegenwärtigen Lage und davon, wie wir diese B”desrepu: blik, ihre Sozialstruktur und ihre politische Struktur sehen. Und hier glaube ich, daß die politische Struktur der Bundesrepublik von unten besser abgestützt wird, wenn wir gewisse soziale Strukturen, die wir als autoritäre Strukturen bezeichnen könnten, entkrampfen. Es ließe sich eine ganze Reihe von sozialen Verhaltensformen nennen, die nicht produktiv und für eine bessere Demokratie nicht notwendig sind. Genau um die Demokratisierung — lassen wir den Begriff einmal Undefiniert stehen —, um die Änderung dieser Sozialbereiche im Sinne einer Abstützung der Demokratie geht es. Daß es eine ganze Reihe von Bereichen geben muß, wo der einzelne tun und lassen kann, was er will, das ist doch , völlig klar.
Dr. Müller: Ich möchte auf die Frage der Gleichheit am Beispiel der Mitbestimmung eingehen. Hier geht es zweifellos nicht um Gleichheit in dem Sinne, daß jeder Mitarbeiter das gleiche Recht hätte wie der Generaldirektor. Das hat auch niemals irgendwer gefordert. Es geht vielmehr um die Frage, ob der ignorante Kapitalbesitzer für die Gesamt-struktur des Betriebes Macht haben soll, während derjenige, der den Beitrag Arbeit bringt, keine Macht hat. Es geht also nicht um eine Gleichheit sachlich Ungleicher, da ja der Kapitalbesitzer und der Arbeitnehmer zweifellos ganz verschiedene Beiträge liefern. Sie sind aber gleichermaßen nicht Unternehmer. Und weil sie beide wesentliche Beiträge geben, sind sie wesensmäßig auch beide berechtigt, an der Schaffung von Kontrolle beteiligt zu sein. Wenn das noch nicht der Fall ist, so kann das seinen Grund nur darin haben, daß Privilegien fortbestehen, die von der Sache her unbegründet sind.
Dr. Matz: Zum Problem der demokratischen Gleichheit: Ein Symptom der gegenwärtigen Demokratisierungsdebatte ist unter anderem auch, daß vergessen wird, daß demokratische Gleichheit bisher unbestritten formelle Gleichheit und nicht materielle Gleichheit war. Formelle Gleichheit heißt: Es wird die Gleichheit Ungleicher fingiert. Das Prinzip der formellen Gleichheit ist bisher nur angewandt worden auf den politischen Bereich und zwar mit der Begründung, daß man die tatsächlichen Unterschiede in der politischen Begabung und in der Informiertheit über politische Dinge soziologisch nicht fixieren kann. In allen konkreteren Sozialbereichen lassen sich jedoch Differenzen sehr wohl feststellen. Ein Arzt, der ein entsprechendes Studium absolviert hat, kann auf seinem Gebiet wahrscheinlich mehr als jemand, der das nicht getan hat. Deswegen gilt hier nicht das Prinzip der formellen Gleichheit, sondern das der materiellen Ungleichheit.
Franklin Schultheiß: Ich bin mir in einem Punkt noch nicht im klaren, Herr Hennis. Wenn die politische Gleichheit ein unbedingtes Prinzip der Demokratie ist, dann sind doch wohl Rechnungen folgender Art erlaubt. Die Schaffung von Gleichheit durch Einführung des Frauenwahlrechts hat ganz sicherlich für die demokratische Entwicklung auch negative Konsequenzen gehabt, solange in den Sozialbereichen, also in der Familie, im Wirtschaftsbereich, in der Frauenarbeit usw., bei den Frauen eine Entfremdung gegenüber der Politik von vornherein vorausgesetzt werden konnte. Das hat ganz bestimmte sozial und politisch geregelte Strukturen eindeutig nach einer bestimmten Richtung festgelegt. Und die Aufhebung des Wahlzensus in Preußen hätte in manchen Wahlkreisen östlich der Elbe, wo Leibeigenschaft zwar nicht rechtlich, aber praktisch vorhanden war, zu Konsequenzen geführt, die ich nicht Demokratisierung nennen würde. Für ganz bestimmte zu entscheidende Fragen zur Herbeiführung demokratischer Konstruktionen auch im Politischen war also die Einführung des gleichen Wahlrechts ein Hemmnis. Es kann folglich die Bedeutung der Demokratisierung unterschiedlich sein, auch wenn ich dieses so konstituierende Prinzip der Gleichheit relativiere. Auch diese Gleichheit muß in einem riesigen Feld sozialer Interdependenzen gesehen werden. Es kommt also ganz auf die Einzelanalyse an. Und wenn man Demokratisierung nicht auf solche Einzelanalysen abstellen will, sondern auf nur formale Dinge, so scheint mir das wirklich luftleer zu sein.
Dr. Herr Matz, ich verstehe Differenzierung Ihre nicht. Sie sagten, im politischen Bereich könne man keine verläßlichen Kriterien für die Bestimmung des Klugheitsgrades feststellen. Mir scheint, in vielen Sozialbereichen kann man das genausowenig. Bleiben wir bei dem Beispiel von Herrn Müller. Der Kupon-schneider, der 20 Millionen von seinen Vorfahren geerbt hat, besitzt ein höheres Maß an Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel als beispielsweise der Diplomkaufmann, der in dem Betrieb arbeitet. Sein wirtschaftlicher Sachverstand aber kann erheblich geringer sein als der des Diplomkaufmanns. Wohl kann man die Unterschiede in der formellen Kompetenz feststellen, aber die Differenzen in der Sachkompetenz lassen sich hier keineswegs exakt ermitteln.
Professor Horkheimer: Anknüpfend an das, was Herr Schultheiß zum allgemeinen Wahlrecht sagte, möchte ich darauf hinweisen, daß sich schon bei Tolstoi Stellen finden, in denen er sehr warnt vor der absoluten politischen Gleichheit. Er hat damals schon die Gefahr des totalitären Staates gesehen, in dem dann die Wahlen nach dem Ermessen der Regierung ablaufen. Deshalb bin ich sehr für die Idee, daß man jeweils durch genaue Forschungen zu bestimmen hat, wie es mit der Gleichheit eigentlich aussieht. Denn die Demokratie hat, gerade in dieser Hinsicht, doch sehr ernste Gefahren. Und so müßte auch ausgesprochen werden, daß Demokratie nicht das schlechthin Absolute ist.
Professor Bracher: Hier ist von formeller Gleichheit und materieller Gleichheit gesprochen worden. Diese Unterscheidung ist für mich fragwürdig. Was man in diesem Zusammenhang aber vor allem nennen muß, ist die Gleichheit der Chancen. Sie spielt ja schließlich für die Politik eine erhebliche Rolle. Und hier liegt auch die Verbindung zu der Frage: Ist es möglich, diesen Gleichheitsbegriff abstrakt zu behandeln, losgelöst von den sozialen Sphären und den Verhältnissen in ihnen, von denen im Zusammenhang mit Demokratisierung immer wieder die Rede sein muß?
Dr. Schwarz: Es scheint mir unproblematisch zu sein, die Begriffe Freiheit und Gleichheit auf ihre formale Struktur hin zu analysieren, sie unter individuellen und anthropologischen Kategorien zu untersuchen. Was aber unter der formalen Definition von Freiheit und Gleichheit liegt, ist eine gesellschaftliche Dimension, in der die Realisierung dieser Begriffe noch erhebliche Ungleichgewichtigkeiten aufweist. Es besteht eine soziale Ungleichgewichtigkeit in dieser Gesellschaft, die sich daraus ergibt, daß bestimmte Gruppen in einer größeren Affinität zur staatlichen Sphäre stehen als andere, daß ihnen von daher größere Macht zufließt und daß sie diese wieder umsetzen in gesellschaftliche Entwicklungen. Diese Ungleichgewichtigkeit können wir mit formalen Kategorien eben nicht mehr greifen. Und der Begriff „Demokratisierung" hat doch wohl — ohne daß hier eine Definition gegeben werden soll — die Intention, mindestens mehr Kontrolle zu sichern für jene Bereiche, die sozusagen private Aneignungen grundgesetzlicher Bestandsrechte geworden sind. Eine Analyse der sozialen Entwicklung der Bundesrepublik würde aufweisen, daß in ihrem Verlauf öffentliche Rechte und Bereiche reprivatisiert worden sind, beispielsweise durch Interpretationen zu den Freiheitsartikeln, nach denen Freiheit einseitig als Freiheit des Unter nehmers, des Kapitalbesitzers, des Großverlegers usw. erscheint und als solche mit dem Hinweis auf die Verfassung auch noch sanktioniert wird. Soziale Ungleichgewichtigkeit zu nivellieren, bedeutet also mehr öffentliche Kontrolle in bestimmten Bereichen, dort wo sie noch nicht genügend hergestellt worden ist. Für mein Verständnis befindet sich das im Einklang mit einer demokratisch legitimierten, grundgesetzkonformen Entwicklungsinterpretation, und das verstehe ich unter dem vagen Begriff „Demokratisierung".
Idi bin jedoch der Meinung, daß dieses Problem nicht zu stark in der Konstellation der Klassenstruktur gesehen werden darf. Das ist für die zukünftige Entwicklung nicht mehr das entscheidende Problem. Politisch-gesellschaftliche Monopolstellungen und daraus resultierende Macht können sich auch in anderer Weise auskristallisieren. Sie gilt es unter öffentliche Kontrolle zu bringen, um mehr Demokratie zu erreichen. Dann wird diese Gesellschaft auch jene Sachverständigen, jene im öffentlichen Interesse handelnden Bürger vorfinden oder erziehen, welche die Funktion einer demokratisch-öffentlichen Kontrolle mit Sachverstand wahrnehmen. Die formelle, zum Teil personalistisch geprägte Debatte, die von Argumenten des Sachverstandes und der Kompetenz ausgeht, halte ich für sekundär. Dabei handelt es sich um Fragen, die lösbar sind, wenn man die vorliegende Problematik als eine gesellschaftliche begreift und entsprechende Konsequenzen daraus zieht.
Professor Horkheimer: Als kleine Bemerkung möchte ich hinzufügen, daß Freiheit und Gerechtigkeit ja eigentlich dialektische Begriffe sind: je mehr Gerechtigkeit, um so weniger Freiheit; je mehr Freiheit, um so weniger Gerechtigkeit. Und es hängt jeweils von der konkreten gesellschaftlichen Situation ab, was im Interesse dieser Gesellschaft mehr bedeutet und mehr gefördert werden soll, das eine oder das andere. Wenn ich es recht sehe, so bewegt sich die Gesellschaft in der Zukunft in eine Richtung, in der die Freiheit, die im Liberalismus etwas ganz anderes war, als sie es heute ist, immer weniger bedeutsam wird. Die Gerechtigkeit schränkt die Freiheit ein. Die Losung der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" enthielt eben einander recht entgegengesetzte Begriffe. Infolgedessen hängt also auch die Frage, wieweit die Freiheit zu fördern ist und wieweit man sie sich noch leisten kann, von der jeweiligen Analyse ab.
Dr. Kölble: Ich wäre bereit, Herrn Hennis zuzustimmen, wenn er seine These so versteht, daß dort, wo von der Natur der Sache her Freiheit und Gleichheit einfach nicht vorstellbar sind, auch keine Demokratisierung möglich ist — im Unterschied zu gewissen Zuständen, wo de facto Freiheit und Gleichheit nicht vorhanden sind, wo wir sie aber durch den Gesetzgeber oder durch Gesellschaftsreform herstellen können, ohne gegen die Natur der Sache zu verstoßen. Warum sollte in diesen Bereichen nicht Demokratisierung nach Herstellung eben dieser Gleichheit auch im Rechts-sinn möglich sein?
Dr. Messerschmid: Ich schlage vor, daß wir nun zum vierten Komplex übergehen: Ist demokratische Herrschait ohne Autorität denkbar?
Professor Sontheimer: Ich halte diese Frage eigentlich für ganz überflüssig, weil es doch ganz selbstverständlich ist, daß auch Demokratie der Autorität bedarf. Die Frage ist auch deshalb problematisch, weil durch sie suggeriert wird, als gäbe es ernsthafte Demokraten, die der Auffassung sind, Demokratie bedürfe der Autorität nicht.
Professor Bracher: Die Frage geht aus von der Feststellung, daß es eine Version der Demokratisierungsidee gibt, die Abbau von Herrschaft, Abbau von Autorität in erster Linie auf ihr Programm stellt und darunter Demokratisierung überhaupt versteht. Man sollte deshalb zu klären versuchen, wieweit ein solches Bestreben möglich, zweckmäßig, denkbar ist. Außerdem geht es im Zusammenhang mit dieser Fragestellung darum, wieweit im Repräsentativbegriff eine andere Art von Autorität und Herrschaft steckt als im plebiszitären Demokratiebegriff. Man muß also zunächst einmal konstatieren: wie ist da der Befund, was ist im Zusammenhang mit dem Autoritätsbegriff in der Demokratisierungskampagne an interessanten Argumenten vorhanden, und was davon ist widerlegbar oder auch nicht widerlegbar?
Professor Hättich: Wir können die Frage auch im Hinblick auf die politische Bildung nicht ganz streichen. Ich möchte dazu nur einen Gesichtspunkt aufzeigen. Wir sind doch mit der weitverbreiteten, sehr stark ins Bewußtsein eingedrungenen These konfrontiert: Es gibt keine Amtsautorität mehr, es gibt nur noch Leistungsautorität. Das heißt, daß derjenige, der Autorität beansprucht, sich immer erst zu bewähren hat. Nun ist ja an dieser These sehr viel Richtiges. Aber als generelle Position führt sie doch zu der Frage, ob eine Gemeinschaft oder ein Gemeindewesen ohne eine Amtsautorität überhaupt existenzfähig ist. Das ist gerade die Stelle, wo Vorschüsse der Gesellschaft an Vertrauen gebraucht werden. Das scheint mir ein Problem zu sein, nicht nur im Sinne der engeren politischen Bildung, sondern der Sozialerziehung im allgemeinen.
Dr. Farthmann: Ich glaube, daß wir bei dem Thema „Autorität" mit einer Begrifflichkeit operieren, die mit negativen Assoziationen beladen ist. Wenn man sich aber von dieser Art Betrachtung freimacht, so kann es wohl niemanden geben, der ernsthaft daran zweifelt, daß auch in der Demokratie funktionale Kompetenzen sein müssen, seien sie nun rein fachlich legitimiert oder — da würde ich Ihnen etwas widersprechen, Herr Hättich, — durch ein Amt. Nur muß das Amt vernünftig legitimiert sein. In der Demokratie hat derjenige anzuerkennende Amtsautorität, dem die Mehrheit der Stimmen zufällt. Letzten Endes geht es also nur darum, Autorität vernünftig zu begründen und zu legitimieren. Daß man vernünftig legitimierte Autorität nicht anerkennen solle, wird hier von niemandem vertreten.
Professor Hennis: Aber leben wir denn in einer Welt, in der es den Marxismus als eine sehr bedeutende, die Geister bestimmende Philosophie nicht gibt? Immerhin hat Engels gesagt, daß in der richtig organisierten kommunistischen Gesellschaft die Autorität von Menschen über Menschen abgeschafft sein wird und nur eine Verwaltung von Sachen übrig bleibt. Und Lenin hat gesagt, daß dann die Verhältnisse so einfach werden, daß jede Köchin einen Staat leiten kann. Das ist doch die Philosophie, welche die Köpfe der jungen Leute bestimmt, die das Wort Emanzipation von morgens bis abends im Munde führen.
Professor Horkheimer: Der Begriff der Autorität ist unendlich vieldeutig, und es ist sehr schwer, hier zu einem allgemeinen Urteil zu kommen. Herr Hennis hat eben auf Lenin hingewiesen, der gesagt hat, daß die Gesellschaft sich schließlich auf eine Situation hinent-
wickelt, in der jeder jedes machen kann. Es werde dann alles so weit automatisiert sein, daß es ganz gleichgültig sei, ob nun in der sogenannten höchsten Verwaltung oder anderswo aufs Knöpfchen gedrückt wird. Alles, was man tut, wird dann eigentlich ein mechanisches, durch die Sache vorgeschriebenes Verhalten sein. Und auf diesem Weg — das glaube ich schon — sind wir jetzt. Es ist heute schon der Direktor einer großen Gesellschaft nicht mehr das, was einmal der Unternehmer in seinem Betrieb gewesen ist. Das, was man Autorität genannt hat, ist im Abnehmen begriffen. Und in der Demokratie ist es doch so, daß der Begriff Autorität in jedem Augenblick — darauf kommt es, glaube ich, an — durch die Mehrheit der Bürger irgendwie widerrufen werden kann. Es ist schwer, schlechthin zu sagen: auch in der Demokratie gibt es Autorität. Ja, in gewisser Weise gibt es sie. Aber der Autorität besitzende Mensch ist stets auf einen Kreis von anderen Menschen angewiesen, und die Autorität selber verringert sich aufgrund der technischen Entwicklung immer mehr.
Dr. Messerschmid: Würden Sie darauf bestehen, Herr Horkheimer, daß Autorität in jedem Augenblick widerrufen werden kann? Dann müßten Sie sagen, was Sie mit diesem Widerruf meinen: ob das ein Abbau in den Gehirnen der Menschen ist, der zunächst keine institutioneilen Folgen hat, sondern dessen Folgen reglementiert sind, oder was Sie sonst damit meinen. Das zweite ist, ob mit dem, was Sie gesagt haben — Betonung der Technik, des automatischen Prozesses — auch das getroffen ist, daß beispielsweise bei der letzten Regierungsbildung eben Brandt gewählt worden ist und nicht ein anderer. Da ist doch ein Element von „Autorität" vorhanden. Sei es, daß sich in der Person etwas verkörpert, das die Wähler überzeugt hat, oder aber daß in ihr von vornherein ein repräsentatives Element steckt, das eine solche Wahl möglich macht.
Professor Horkheimer: Genau das meine ich. Es ist nicht sehr leicht, das a priori zu bestimmen. Man müßte die Gesetzmäßigkeiten sehr genau durchsehen, ob nicht auch in der Zeit schon, für die er gewählt ist, die Mehrheit derjenigen, die ihn gewählt haben, gewisse Rechte besitzt, durch die seine Autorität zumindest sehr eingeschränkt ist.
Dr. Farthmann: Es ist das Wesen demokratisch verliehener Autorität, daß sie auf Zeit gegeben ist, jederzeit entziehbar ist und ständig kontrolliert wird. Hierbei können nun aus rein technischen Gründen nicht die Wähler selbst tätig werden, wohl aber die Repräsentanten der Wähler. Die Mehrheit des Bundes-B tags kann doch jederzeit sagen: dieser Bundeskanzler hat sich nicht bewährt. Und das ist doch bei jeder anderen Wahlautorität genauso.
Professor Bracher: Demokratie als kontrollierte, widerrufbare Herrschaftsausübung auf Zeit: ich finde das absolut klar. Aber damit ist das Problem der Autorität nicht gelöst. Es ist deshalb so schwer zu definieren, weil es im Unterschied zum Begriff „Herrschaftsausübung'1 nicht in einer eindeutigen juristischen Formel zu fassen ist. Da spielen viele andere Dinge mit hinein. Wenn wir von „echter" und „unechter" Autorität sprechen — abgesehen davon, ob das eine brauchbare Unterscheidung ist —, deutet sich schon an, daß man auch emotionale und andere Faktoren einbezieht. Dann gibt es neben der personalen und der Amtsautorität noch die soge-nannte Sachautorität, bei der das Uberzeugungsmoment natürlich auch eine Rolle spielt. Man kann sagen, in der Demokratie existiert das Autoritätsproblem genau wie in allen anderen Herrschaftsformen. Wir müssen uns dagegen wenden, und deshalb ist die Diskussion über diesen Punkt nicht ganz überflüssig, daß man einfach dekretiert, Demokratisierung bedeute nicht nur Abbau, sondern Abschaffung von Autorität. Das kann man nicht dekretieren, denn Autorität ist ein Problem zwischenmenschlicher Beziehungen, das bis zum Beweis des Gegenteils immer existieren wird. In Weiterentwicklung der Marx'schen Theorie hat ja auch Lenin, was von der Neuen Linken natürlich verschwiegen wird, sehr bestimmte Auffassungen von Autorität gehabt, und selbst im Maoismus kann man eine Theorie von Autorität entdecken, überall finden wir durchaus dieses Problem. Aber während das Problem der Herrschaft in den einzelnen Herrschaftsformen verhältnismäßig einfach und eindeutig beim zu definieren ist, das Problem der Autorität eben nicht der Fall.
Dr. Messerschmid: Herr Bracher, diskutieren wir nicht allzusehr sozusagen in einem Mittelbereich der Normalität, aber nicht für jene Situationen, die man dann den Ernstbereich nennt? Ich meine nicht nur etwa den Fall kriegerischer Auseinandersetzungen, wo alle Formen der Autorität sofort durch die militärische Autorität ersetzt werden, die in gewissem Sinne nicht mehr auf Zeit verliehen und jedenfalls nicht mehr kontrollierbar ist. Ich meine auch die Situation, in der Ideologien aufkom-men, die da sagen, man kann über Autorität erst diskutieren, wenn die Gesellschaft das richtige Bewußtsein hat.
Professor Bracher: Nein, nein, mir ging es nur darum, zu sagen, daß Herrschaft und Autorität nicht identisch sind. Theoretisch kann man sehr wohl so weit gehen und feststellen: Es kann auch Herrschaft ausgeübt werden, ohne daß Autorität besteht. Die Krise einer Demokratie — und da wird ja der Autoritätsbegriff wichtig — spielt sich sehr oft in dieser Weise ab. Das Ende der Weimarer Republik ist ein klassisches Beispiel dafür. Revolutionäre oder pseudorevolutionäre Situationen entstehen gerade dadurch, daß eine Diskrepanz zwischen Herrschaft und Autorität in diesem weiten Sinne besteht, wobei natürlich der Autoritätsbegriff nach wie vor Undefiniert bleibt. Es gibt viele verschiedene Autoritäten, die man anführen kann, und man muß jeweils entscheiden, worauf man hinaus will. Aber das scheint mir sehr wesentlich zu sein und darum kommt auch eine funktionierende Demokratie nicht herum, daß auch sie es mit dem Autoritätsbegriff zu tun hat. Die Zuordnung des Autoritätsbegriffs zum Herrschaftsbegriff wird sehr wesentlich über die Valenz und die Existenzfähigkeit des politischen Systems entscheiden.
Professor Hennis: In dem, was Herr Bracher sagt, ist enthalten, daß die bloße Legitimierung durch eine Mehrheit noch nicht Autoritäten schafft.
Professor Bracher: Das ist kompliziert. Herrschaft kann durch einen bestimmten Prozeß der Repräsentation entstehen, auch wenn die Legitimität nicht mehr da ist. Ich nehme nochmals das Beispiel der Weimarer Republik: Die Regierung hat noch, wenn nicht die Mehrheit, so doch jedenfalls die Amtsautorität für sich. Sie kann aber nicht mehr funktionieren, weil andere Quellen der Herrschaft verstopft sind. Das ist der klassische Fall der Vertrauenskrise.
Dr. Messerschmid: Das ganze heißt aber doch, daß ein Autoritätsbegriff — im Bereich der profanen Welt sicher — gefallen ist, nämlich der eschatologische, der die Autorität an die Beauftragung durch eine höchste Instanz knüpft.
Prof. Knoll: Aber das gibt es doch durchaus noch. Man braucht sich nur etwa an die Mysti-fizierung Hindenburgs in der Weimarer Republik zu erinnern oder an sonstige Formen pseudo-charismatischer Herrschaftsausübung.
Professor Bracher: Führerkult! Maoismus!
Dr. Messerschmid: Gewiß, das sind Erscheinungen, die es in irgendeiner Weise immer geben wird. Wir sprechen aber von einem demokratischen Verständnis dieser Frage. Und da ist jedenfalls festzustellen, daß der größte Teil der heute Lebenden derartige Formen von Autorität nicht mehr anerkennt. Noch wichtiger aber erscheint mir, daß auch jenes personalisierte Autoritätsverständnis und damit jene personalisierte Herrschaftsbegründung unter großen Zweifeln steht. Nach allem, was wir gesagt haben, bleibt jene diffuse demokratische Autorität, die außerordentlich schwer zu begründen ist. Nichtsdestoweniger steht und fällt die Möglichkeit demokratischer Herrschaftsausübung mit der Aufrechterhaltung solcher diffuser, von vielerlei Bereichen her begründeten Autorität.
Professor Krausnick: Das Autoritätsproblem ist von besonderer Relevanz für unsere Ausgangsfrage, nämlich hinsichtlich der Ausdehnung der Demokratie auf sogenannte vorpolitische Bereiche. Wenn das Bedürfnis nach Autorität bejaht wird, so könnten sich daraus für bestimmte Bereiche Beschränkungen ergeben, ohne das Prinzip „Mehr Demokratie" zu beeinträchtigen.
Professor Sontheimer: Wenn ich am Anfang etwas provozierend gesagt habe, die Behandlung der Autoritätsfrage sei eigentlich überflüssig, so stimmt das sicherlich für unseren Kreis hier. Um so berechtigter ist, das finde ich völlig überzeugend, die Frage nach den Adressaten, auch der politischen Bildung. Es gibt in der Tat in der öffentlichen Meinung in Deutschland, vor allem auch bei den jüngeren Leuten, heute Vorstellungen, daß Herrschaft usw. grundsätzlich abzuschaffen sei. Dagegen kann man sich wenden. Nur, das möchte ich deutlich herausstellen, die alleinige Motivierung durch das, was einige linke Radikale an Vorstellungen über die Abschaffung von Herrschaft entwickeln, führt zu einer einseitigen Orientierung. Die politische Bildung wird damit auf die Abwehr von Vorstellungen fixiert, die nicht sehr realistisch sind und auch nicht mit dem Erfahrungsgehalt übereinstimmen.
In unserer jetzigen Situation hängt eben vieles von der Analyse des bestehenden politischen Bewußtseins ab. Und zum anderen ist entscheidend für die Impulse, die Politik und politische Bildung geben können, die Frage, in Richtung auf welche mehr oder weniger perfekte Utopie wir uns orientieren wollen. Wenn wir der Frage nachgehen: Ist Herrschaft ohne Autorität denkbar?, stärken wir die Position derjenigen, die sich von vornherein irgendwelches Infragestellen von Autorität nicht gefallen lassen. Wir stärken also ein autoritäres Syndrom im politischen Bewußtsein, wenn wir uns ganz auf Abwehr der Vorstellungen einrichten, die Autorität abschaffen wollen.
Die gegenwärtige politische Bewußtseinslage des gesamten deutschen Volkes — ungeachtet der Lautstärke gewisser linker Vorstellungen und auch der Bedeutung, die sie in bestimmten Gruppen haben — wirft die Frage auf, in Richtung welcher Konzeption wir die Gesellschaft verändern wollen. Es besteht noch immer ein großer Bedarf an Veränderung im Hinblick auf Infragestellung von Autorität und nicht auf Stärkung einer Autoritätskonzeption, die es den Inhabern von Ämtern von vornherein erlaubt, sich Autorität anzumaßen. Autorität muß verdient, muß erarbeitet, muß errungen werden. Die eindeutige Unterstützung des Autoritätsdogmas, auch im Rahmen der Demokratie, stärkt also das autoritäre Syndrom im politischen Bewußtsein.
Professor Hennis: Das wirft in der Tat die Frage der Analyse auf. Wenn man das Nach-wort zu Ihrem Buch über die Autorität nach-liest, so scheint mir die dort gegebene Analyse eben falsch zu sein. Sie sehen die Gefährdung der deutschen Politik nur rechts, wo ich sie nicht in gleicher Weise zu sehen vermag. Dort handelt es sich um eine Gruppierung, die kaum irgendeinen Einfluß auf andere ausübt. Demgegenüber hat sich bis in die rechten Flügel der Parteien hinein die emanzipatorische Sprache, und das ist die Sprache derjenigen, die Herrschaft und Autorität überhaupt für völlig überflüssig halten und abschaffen wollen, als Bewußtseinsgrundlage durchgesetzt.
Dr. Kölble: Das ist auch für mich die entscheidende Frage: Stehen wir vor dem Hauptproblem, daß es noch immer Autoritäten gibt, die im Sinne der Demokratie falsche Autoritäten sind und daher abgebau'werden müssen. Oder stehen wir nicht heute schon vor dem an-deren Problem, daß die Demokratie nicht funktionieren kann, weil ihr von der Bevölkerung nicht das dazu erforderliche Maß an Autorität zugebilligt wird und zuwächst? Da kann man These gegen These stellen, und es ist wirklich die Aufgabe einer sehr sorgfältigen Analyse gestellt. Ich neige zu der Auffassung, daß sich immer mehr ein völlig neues Verständnis von Autorität anbahnt.
Herr Horkheimer hat von dem „Knopfdruck" in der nachindustriellen Gesellschaft gesprochen, in der alle Funktionen weitgehend automatisiert sind. Das bringt eine neue Art von Autorität notwendigerweise mit sich. Heute schon vertraut man beispielsweise nicht mehr dem Bundeskanzler unter dem Aspekt einer charismatischen Begabung. Man stellt vielmehr in Rechnung, daß dieser Mann aufgrund eines Prozesses in sein Amt gekommen ist, an dem sehr viele Menschen beteiligt waren, in dem also eine Art kollektiver Vernunft obwaltet hat. Und zweitens sagt man sich, daß dieser Mann ja nicht allein „da oben" steht, sondern daß er über einen großen Apparat verfügt, der gewissermaßen eine organisatorische Vernunft entwickelt. Aus diesen Gründen also kann man ihm Vertrauen entgegenbringen. Gegen diese neue Art von Autorität ist offensichtlich gar nichts einzuwenden. Man müßte sie fördern und dadurch falsche Autoritäten abbauen. Die ganze Problematik erscheint mir jedenfalls zu komplex, um sagen zu können: Wir haben einen Nachholbedarf an Abbau von Autorität.
Professor Hättich: Wenn ich unsere Fragestellung auf die politische Bildung beziehe, so möchte ich sagen, daß wir uns nicht zu sehr festlegen und nur von einer Position ausgehen dürfen. Wir haben eine Gesellschaft mit sehr divergierenden Tendenzen. Es könnte nun sein, daß man in einer Realanalyse bei einer großen Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor mehr autoritäre Dispositionen findet als Anfälligkeiten im Hinblick auf radikale die Linke. Ich unterstelle das als Möglichkeit, und es gibt Anzeichen dafür, daß dem so ist. Das würde allerdings nicht ausreichen, um nun sagen zu können, pol.'Ische Bildung müsse also unbeschadet jener linken Minderheiten in der Breite ihrer Arbeit nur die andere Situation im Auge haben. Denn die Frage: Was wird, wo liegen die größeren Chancen?, ist damit noch nicht entschieden. Der Lehrer in der Schulklasse ist für mich eine außerordent-
ich wichtige Schlüsselfigur in diesem Zusammenhang. Und da sehe ich allerdings ebenso-sehrdie Notwendigkeit, dem anderen Extrem zu steuern.
Was will ich damit sagen? Wir können gar nicht umhin, differenziert vorzugehen. Wenn wir praktisch politische Bildung betreiben, haben wir ja nicht das ganze Volk vor uns, sondern immer nur ganz bestimmte Gruppen. Und es ist außerordentlich wichtig, wie diese im konkreten Fall zusammengesetzt sind. Wir dürfen also nicht dem Gedanken anhangen, man könne eine einheitliche Maxime für die politische Bildung aufstellen, die in unserer Situation heute trägt. Wir müssen vielmehr differenzieren und variieren. Das heißt aber doch, daß politische Bildung in einer dynamischen Gesellschaft die permanente Analyse, die ständige Beobachtung dieser Gesellschaft voraussetzt, um dann zu wissen, wie man jeweils zu arbeiten, welche Bewußtseinsinhalte man zu vermitteln hat.
Professor Sontheimer: Nur, die Schwierigkeit ist ja die, das wissen Sie auch, Herr Hättich, daß man sich sehr schwer zu einer einheitlichen Analyse versteht.
Professor Knoll: Ich halte es für unglücklich, daß in der bisherigen Diskussion mehrfach eine Identität von autoritär und Autorität hergestellt wurde. Das sind zwei ganz verschiedene Begriffe. Autoritär nennt man bestimmte Formen des Verfahrens der Herrschaftsausübung; Autorität bedeutet eine ganz bestimmte Qualität der Herrschaftsausübung. Das sollte man auf keinen Fall in eins setzen. Vielleicht sollte man auch die beiden Begriffe Herrschaft und Autorität etwas näher zu bestimmen versuchen, indem man Polaritäten aufstellt. Man könnte sagen, daß einerseits Herrschaft Begriffen zugeordnet ist wie etwa Rationalität, Legitimation, Sachbezogenheit, Aufgabenbezogenheit. Auf der anderen Seite ist Autorität auf Begriffe hin orientiert wie Emotionalität, Einverständnis, der Konsensus, auch durch Wahlakte zustande kommt. Insgesamt ist also Herrschaft mehr sachbezogen, Autorität mehr persönlichkeitsbezogen.
In diesem Zusammenhang stellt sich für mich die eminent wichtige Frage, ob eine politische Bildung nur auf der Grundlage sachlicher, rationaler Verfahrensweisen möglich ist oder ob nicht ein Moment der Emotionalität, des Persönlichkeitsbezogenen, mit hineinkommen muß. Ich meine — und das ist vielleicht etwas gefährlich —, daß politische Bildung eben nicht nur eine Form rationaler Übermittlung von Informationen sein sollte, sondern daß ein Mehr hinzukommen muß. Auch im Hinblick auf jene von Herrn Kölble angesprochene neue Autorität kann gerade dieses Element der Emotionalität nicht ganz ausgeschlossen sein. Neue Autorität konstituiert sich nach meinem Verständnis aus Sachverstand, Vertrauen und aus gewissen menschlichen Qualitäten. Ohne diese menschlichen Qualitäten wird es auch bei einer neuen Autorität nicht gehen.
Dr. Messerschmid: Wir können damit zum Punkt 5 übergehen, nämlich zu der Frage: Ist Demokratisierung von Sozialbereichen denkbar oder handelt es sich um Binnenkonstitutionalisierung? Hier geht es auch um die Frage der Mitbestimmung.
Dr. Farthmann: Einleitend möchte ich dazu gern nochmals sagen, daß die Übertragung des Begriffs Demokratisierung auf den speziellen Bereich der betrieblichen Mitbestimmung geeignet ist, in die Irre zu führen, obwohl ein Begehren dahinter steht, das meines Erachtens legitim und auch realisierbar ist.
Wenn wir einmal „Mitbestimmung" im weitesten Sinne auffassen, dann deckt das — bezogen auf die Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer — zwei völlig verschiedene theoretische Modelle. Das erste ist ein dualistisches Modell. Hierbei wird von der Vorstellung ausgegangen, daß die Kapitaleigner und ihre Beauftragten allein entscheiden und die alleinige Verantwortung tragen sollen. Die Arbeitnehmer mischen sich in die unternehmerische Entscheidungsverantwortung nicht ein. Sie verlangen nur, daß immer dann, wenn in die vitalen Rechte des Arbeitnehmers eingegriffen wird, diesem gewisse Abwehrmöglichkeiten gegeben sind — jedoch ohne jede Sachorientierung oder Verantwortung für betriebliche Fehlentscheidungen. Die anekdotenhafte Ausprägung dieses Modells ist der tarifvertraglich verordnete Heizer auf der E-Lok. Die zweite theoretische Möglichkeit ist das integrale Modell. Es geht von der Voraussetzung aus, daß die Unternehmensinteressen sowohl von den Kapitalgebern getragen werden als auch von denen, die ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Beide Produktionsfaktoren zusammen suchen sich den Mann, der ihre Interessen auf dem Markt zur Geltung bringt, den Manager, den sie gemeinsam einsetzen, kontrollieren und notfalls auch absetzen. Wenn wir von diesen beiden Modellen ausgehen, so können wir feststellen, daß beide Formen bei uns verwirklicht sind. Beim Betriebsverfassungsgesetz haben wir ganz deutlich das dualistische Modell. Der Betriebsrat hat keinerlei unternehmerische Verantwortung, sondern er ist nur darauf beschränkt, gewisse Vitalpositionen der Beschäftigten zu sichern. Auf der anderen Seite ist in der Montan-Mitbestim-mung das integrale Modell realisiert. Die alleinige unternehmerische Entscheidung und Verantwortung liegt bei der Unternehmensleitung, dem fachkundigen Vorstand; aber beide Gruppen, Arbeitnehmer und Kapitaleigner, einigen sich vorher darüber, wer zu dieser Unternehmensleitung gehören soll.
Wenn ich nun das Stichwort „Demokratisierung" wieder aufgreife, so zeigt sich ganz deutlich, daß das dualistische Modell damit nichts zu tun hat. Wir müssen prüfen, was wir wollen, ob wir eine Demokratisierung im Sinne der gemeinsamen Legitimation und Kontrolle von Herrschaft wollen — das wäre das integrale Modell — oder ob wir nur unsere Vitalpositionen absichern wollen. Das sind für mein Verständnis zwei ganz unterschiedliche Dinge. Ich glaube, daß beide Modelle — vorläufig — nebeneinander funktionieren können, aber sie sind ganz verschieden.
Dr. Messerschmid: Was Herr Farthmann eben dargelegt hat, bezog sich auf einen Sozialbereich, der so beschaffen ist, daß er alle oder fast alle Bürger in irgendeiner Weise berührt, der also mit der demokratischen Ordnung weithin ineins geht. Eine Frage an Herrn Hennis: Deckt sich das, was Sie unter dem von Ihnen formulierten Begriff Binnenkonstitutionalisierung verstehen, mit dem von Herrn Farthmann Vorgetragenen?
Professor Hennis: Es deckt sich völlig mit dem Modell 1. Das Betriebsverfassungsrecht ist ein klassisches Beispiel für Binnenkonstitutionalisierung. Dagegen scheint mir die Interpretation dessen, was Herr Farthmann das integrale Modell nennt, etwas überzogen zu sein. So kann man sicher votieren; aber im Grunde genommen handelt es sich dabei doch auch nur um das Modell 1 in abgewandelter Form.
Professor Bracher: Aber warum ist es dann so aufregend für die Arbeitgeber?
Professor Hennis: Weil es eben für sie ganz erhebliche Beschränkungen innerhalb der Binnenkonstitutionalisierung mit sich bringt. Auch das Betriebsverfassungsrecht ist ja für die Arbeitgeber erst nach schwersten Kämpfen akzeptabel geworden.
Professor Bracher: Ich meine, es handelt sich, wie Herr Farthmann dargelegt hat, um zwei ganz verschiedene Modelle. Mit einem Etikett würde ich sagen: das eine ist die liberale, das andere die soziale Phase.
Dr. Müller: Auch ich glaube, daß hier fundamentale Unterschiede vorliegen. Die entscheidende Frage ist nämlich die, ob der Unternehmer, der sich jetzt — zumindest institutionell — wesentlich nach den Kapitalinteressen richtet, sich in Zukunft auch nach denen der Arbeitnehmer orientieren muß, das heißt, ob er dann die Interessen beider Seiten verantwortlich wahrzunehmen hat. Das würde auch die Binnenstruktur des Betriebes -grundlegend än dern. Zusammensetzung und Ausrichtung des Vorstandes haben selbstverständlich -Auswir kungen auf die gesamte nachgeordnete Führungsebene, in ganz besonderer Weise auf dem Sektor der Personalleitung. Gerade hier würde es von großer Bedeutung sein, daß noch andere Interessen als die der Kapitalbesitzer maßgeblich sind. Es würde meines Erachtens in der Tat ein Demokratisierungseffekt sein, wenn der Arbeiter in Betrieb nicht seinem mehr in dem Sinne wäre wie bisher. abhängig Er bliebe natürlich abhängig von der Betriebsleitung, aber prinzipiell nicht mehr von einer ganz anderen Seite, nämlich der der Kapital-besitzer.
Professor Hennis: Sie haben noch nicht klar gemacht, worin Sie nun den großen qualitativen Sprung vom Modell der Betriebsverfassung zu dem der Montan-Mitbestimmung eigentlich sehen.
Dr. Müller: Der qualitative Sprung ist, wie gesagt, der, daß der Arbeitnehmer bisher einseitig abhängig ist vom Eigentümer, der in Wirklichkeit nur ein Mitträger des Unternehmens ist. Nun wäre auch ich gegen das gewerkschaftliche Montanmodell. Ich würde persönlich mehr für eine Kompromiß-Form sein, weil ich die Rentabilitätskontrolle nicht gefährden möchte, die am effektivsten durch den Eigentümer wahrgenommen wird. Aber wenn man von diesen Fragen einmal absieht, so würde doch die Verwirklichung der betrieb-
'dien Mitbestimmung in der Tat eine ganz enorme Veränderung der Stellung des Arbeitnehmers bewirken, nicht nur innerhalb seines Betriebes, sondern in der Gesellschaft überhaupt.
Professor Bracher: Praktisch stellt sich die von Herrn Farthmann aufgeworfene Frage in allen Binnenbereichen, natürlich unter jeweils anderen Voraussetzungen und mit anderen Detailproblemen. Wenn ich auch nicht so weit gehen will, das, was Modell 2 genannt wurde, schlechthin als Demokratisierung zu bezeichnen, etwas von so darin doch dem sichtbar, was mit diesem Schlagwort gemeint ist. Sehr deutlich zeigen sich folgende zwei Möglichkeiten: einerseits die konstitutionelle Absicherung, vorhin von mir als die liberale Phase bezeichnet, und andererseits die Lösung, die man die soziale, gesellschaftliche oder demokratische Phase nennen könnte. Ausgehend von dieser Fragestellung müssen wir — wie schon gesagt worden ist — die einzelnen Bereiche „durchbuchstabieren", und zwar unter dem Obergesichtspunkt, wieweit politisch relevante, für Demokratisierung entscheidende Züge jeweils darin vorzufinden sind. Binnenkonstitutionalisierung im Sinne eines geschlossenen, schottendichten Absetzens der verschiedenen Sozialbereiche halte ich für absolut unrealistisch. Ich würde also widersprechen, wenn man sagt: Es ist eine völlig andere Sache, wenn man zum Beispiel über die Schule spricht. Man kann hier — natürlich mutatis mutandis — im Grunde dieselbe Fragestellung anwenden. Die Bewertung, ob man das nun Demokratisierung nennen kann, ob man graduelle Unterschiede annimmt usw., ist natürlich eine andere Frage.
Professor Hennis: Ich möchte auf die These von Herrn Müller zurückkommen, daß sich nach Durchführung des integralen Modells in Zukunft die Stellung des Arbeitnehmers in der Gesamtgesellschaft radikal verändern werde. Genauso könnte man ja nun auch sagen, daß sich durch entsprechende Regelungen in der Schule oder in der Kirche die Stellung der Schüler oder der Laien in der Gesellschaft grundlegend verändern würde. Hier wird immer zum Vergleich sozusagen die Situation des Volkes gegenüber dem Monarchen herangezogen. Aber Sie können das Kapital, die Hunderttausende von Aktionären, nicht mit dem Monarchen vergleichen, und ebenso nicht die in einzelnen Betrieben in ganz verschiedenen Positionen tätigen Arbeitnehmer mit dem Volk, das in Parteien organisiert ist. Dieser Fehlschluß wird immer wieder gemacht Die Stellung des Arbeitnehmers und die Achtung, die er in der Gesellschaft hat, werden sich nicht darum ändern, weil wir jenes integrale Modell ausbauen, sondern aufgrund gesamtgesellschaftlicher Tendenzen.
Dr. Farthmann: Wir behaupten und fordern ja gar nicht die Totalübertragung des staats-demokratischen Prinzips auf die Betriebe, Genausowenig ist für mich die Vorstellung zwingend, daß wir ein für die Betriebe entwickeltes Modell nun auch gleich etwa auf die Schule übertragen können. Wir müssen in jedem Bereich genau prüfen, welches System hier anwendbar ist.
Professor Knoll: Wie Herr Farthmann sagt, sind solche idealtypischen Konstruktionen — wie duales oder integrales Modell usw. — eben nicht auf alle Sozialbereiche ohne weiteres anwendbar. Die Funktionen und Sachbezüge sind in diesen Bereichen unterschiedlich. Das integrale Beispiel ist im Bereich der Schule sicherlich überhaupt nicht praktizierbar. Der Schüler beispielsweise ist dort in Funktionszusammenhänge eingeordnet, durch die sich die Anwendung eines solchen Modells von vornherein verbietet. Was in diesem Zusammenhang Ausbau des dualistischen Modells bedeuten könnte, wäre eine stärkere Partizipation der an schulischen Vorgängen legitim zu Beteiligenden, das heißt eine vermehrte Mitwirkung der Elternschaft an den Entschei-dungs-und Funktionsprozessen im Bereich der Schule.
Professor Bracher: Das übersteigt aber schon das Modell 1, das nähert sich dem Modell 2. Denn es geht ja nicht mehr nur um Schutz von Individualinteressen, sondern um mehr.
Dr. Greiner: Bei all dem muß aber die Schule arbeitseffektiv bleiben. Es muß gefragt werden, in welchem Maße jene Partizipation die Effektivität fördert. An dem Punkt stellen sich dann die konkreten Sachprobleme.
Dr. Müller: Es geht bei dieser Frage um die Abschaffung quasi von Feudalrechten, von unbegründeten Privilegien. Es geht nicht um die Abschaffung des Unternehmers oder auch nur um die Reduzierung seiner Funktionen. Es handelt sich lediglich darum, daß die Privilegien der reinen Kapitalbesitzer geteilt und reduziert werden auf den Beitrag, den sie leisten. Vielleicht gilt das auch in gewisser Weise in der Hochschule hinsichtlich der Abschaffung bestimmter Feudalrechte der Ordinarien, insofern sich nämlich ihre Rechte nicht mehr ganz decken mit ihrer Funktion. Wenn man das Lehrer-Schüler-Verhältnis abschaffen will, so ist das unter den Begriff der Demokratisierung überhaupt nicht zu fassen, sondern es handelt sich um groben Unfug. Die unkritische Vermischung dieser verschiedenen Gesichtspunkte ist meines Erachtens sehr schädlich.
Dr. Messerschmid: Wir sind in diesem Jahr in diesen Dingen etwas weitergekommen. Genau wie an der Universität sind im Schulbereich curriculare Prozesse im Gange. Wenn ihnen auch Überlegungen einiger „avantgardistischer" Pädagogen zugrunde liegen, so sind sie doch nicht etwa primär durch die Lehrer in Gang gesetzt worden. Sie sind vielmehr durch bestimmte Forderungen, durch sehr vernünftige Ansprüche der Schülerschaft selbst ins Bewußtsein der Öffentlichkeit getreten. Der Lehrer ist in der Regel konservativ. Er vermittelt — normalerweise jedenfalls — das, was er einst an der Universität selbst gelernt hat. Von dem curricularen Prozeß, also der Entwicklung der Inhalte dessen, was die Schule vermitteln muß, kann man folglich die Schüler selbst nicht einfach ausschließen. Man wird sie in irgendeiner Weise auch in diesem Kernbereich der Schule mitbeteiligen müssen, Wo die Grenze dafür liegt, ist sehr schwer festzustellen. Der Versuch, durch Curriculum-Forschung diesen ganzen Bereich zu verwissenschaftlichen, ist notwendig. Aber diese Forschung hat schon jetzt erbracht, daß es einen Bereich gibt,, der durch wissenschaftliche Entscheidungen nicht mehr gedeckt werden kann, sondern der geregelt werden muß 1. durch pädagogische und 2. durch politische Entscheidung. Die wissenschaftliche Curriculum-Forschung kann nur Alternativen darlegen, die dann die Curriculum-Entwicklung anzuwenden hat. Hier aber hat auch der Schüler seinen Ort.
Professor Knoll: Ich meine allerdings, daß die von Ihnen angedeuteten curricularen Prozesse noch nicht in Gang gesetzt sind, sondern allenfalls in Instituten und Hochschulen diskutiert werden. Von der Schule wird im Grunde nur das akzeptiert, was von jeher möglich ist, nämlich den Ermessensspielraum innerhalb der vorgegebenen curricularen Strukturen entsprechend auszufüllen. Dieser Spielraum ist bisher immer sehr groß gewesen, zumal an den höheren Schulen. Daß ein curricularer Prozeß der Art zustande gekommen wäre, der über diesen Ermessensspielraum hinausgegangen ist, bezweifle ich. Ich glaube, daß das auch gar nicht möglich ist, denn hier werden ja die Strukturen, die Normen, von der Administration vorgegeben. Und wenn man weiß, daß Kultusverwaltungen in der Regel mit einer Phasenverschiebung von 25 bis 30 Jahren reagieren, ergibt sich, daß solche curricularen Prozesse frühestens in 30 Jahren einsetzen könnten. Das ist der grundlegende Unterschied zur Universität. Hier können derartige Prozesse tatsächlich durchgeführt werden, weil Vorgegebenheiten administrativer Art hinsichtlich des Lehrplans nicht vorhanden sind. Und auch Prüfungsordnungen lassen sich durch Studienordnungen interpretieren. Dadurch ist also insgesamt der Ermessensspielraum dort weiter gesteckt als in der Schule.
Dr. Greiner: Die vorliegenden Versuchsergebnisse sind noch nicht systematisiert ins Spiel gebracht worden. Aber ich kenne doch eine ganze Reihe von Initiativen aus Schülerkreisen, durch die Materialien zur Unterrichts-methodik und Unterrichtsgestaltung gesammelt werden. Das deckt nicht ganz das, was Herr Messerschmid angesprochen hat, ist aber wiederum mehr als das, was Sie andeuten, Herr Knoll.
Professor Knoll: Aber seit 1960 schon, Herr Greiner, seit der Umstrukturierung der gymnasialen Oberstufe, ist doch die Möglichkeit gegeben, das zu vollziehen, was man etwas hochtrabend universitäre Studien in der gymnasialen Oberstufe genannt hat. Und es ist ja so, daß durch die Saarbrücker Rahmenvereinbarung der Ermessensspielraum sehr weit gesteckt ist. Ich glaube, daß das, was jetzt praktiziert wird, in gewisser Weise nur diesen Ermessensspielraum ausfüllt.
Professor Bracher: Ich habe eine Frage an Herrn Knoll. Es ist ein völlig negatives Bild, das Sie hier entwerfen. Ergibt sich daraus nicht geradezu die Notwendigkeit der Änderung auch in der Binnenstruktur? Wenn Sie sagen, daß es 25 bis 30 Jahre dauert, bis man sich auf neue Entwicklungen einstellt, aber gleichzeitig meinen, es sei völlig falsch, nun von der Binnenstruktur her hier einzugreifenwas bleibt denn da eigentlich noch übrig?
ann bleibt doch nur übrig, zur Kenntnis zu nehmen, daß eben immer ein Rückstand von -Jahren bestehen wird. Allenfalls durch Än-derung an der Universität, d. h. bei der Ausbildung der Lehrer, könnte daran etwas geändert werden. Ich bin ja gar nicht für die Revolutionierung der Schule; ich frage mich nur, wenn der Tatbestand so negativ ist, ergibt sich daraus nicht sogar ein zusätzliches Argument für alle möglichen Bestrebungen auf der Schulebene und nicht dafür, die darin etwa liegenden Chancen preiszugeben?
Professor Knoll: Ich möchte davor warnen, das vorliegende Problem nur eindimensional, also etwa von den curricularen Prozessen her, zu sehen. Im Hinblick auf die Möglichkeiten, die sich heute bieten, den von mir angedeuteten Ermessensspielraum auszufüllen, gilt es eine Reihe von Dingen zu bedenken. Einmal ist eine vollkommene Veränderung der Lehrerausbildung im Rahmen der Universität erforderlich. Denn die Lehrer sind für die beruflichen Dimensionen, in die sie hineingestellt sind, nicht vorbereitet. Sie haben im Grunde eine Ausbildung genossen, die für den präsumtiven Privatdozenten nützlich ist, aber nicht für den Lehrer an Gymnasien. Das zweite ist, daß die Entscheidungsprozesse transparent gemacht werden müssen; auch das ist im Ermessensspielraum bereits möglich. Ebenfalls möglich, aber bislang nicht ausgeschöpft, ist eine stärkere Partizipation auf der Elternseite. Ich stelle mir ein Modell der Partizipation so vor, daß in der Unterstufe des Gymnasiums die Eltern stärker in die Entscheidungsprozesse inkorporiert sind, während mit zunehmendem Alter die Schüler stärker beteiligt werden. Das alles ist heute schon möglich. Das einzige, was wir vom Status quo her machen können, ist also dies: den Lehrern bewußt zu machen, im Hinblick auf die curricularen Prozesse ihren Ermessensspielraum auszuschöpfen, und andererseits den Eltern vor Augen zu stellen, welche Möglichkeiten der Partizipation ihnen heute schon gegeben sind, die sie aber vielfach — ob aus Angst oder aus welchen Gründen immer — nicht wahrnehmen.
Professor Hennis: Hier nämlich ist das generelle Problem: Wenn Sie sich die einzelnen Sozialbereiche in Deutschland unter diesem Angebot ansehen, ob es sich nun um das Betriebsverfassungsrecht handelt, um die Rechtsordnung der Studentenschaft, um die öffentlich-rechtliche Struktur der Rundfunkanstalten, auch um die Position der Redaktionen in den Zeitungen, oder welchen Bereich auch immer Sie nehmen wollen — es gibt kaum ein Land, in dem so viel Ermessensspielraum in den Bin-nenstrukturen vorhanden ist und wo so wenig davon Gebrauch gemacht wird. Und diese Spielräume werden dann als nicht existent hingestellt und Änderungen immer erst von der nächsten legalistischen Reform abhängig gemacht. Das ist unser Problem, und es ist nicht nur das einzelner Binnenräume, sondern unserer Gesamtgesellschaft.
Professor Bracher: Das ist das autoritäre Syndrom, ganz im Sinne von Herm Sontheimer.
Professor Hennis: Aber doch nicht in dem Sinne von Herrn Sontheimer! Das autoritäre Syndrom liegt vor bei denen, die die Spielräume nicht ausnutzen, und nicht bei denen, die sie schaffen. Es steckt da, wo ständig nach Legalisierung, nach genau definierten, verengten Rechtspositionen verlangt wird.
Professor Bracher: Es handelt sich um einen wechselseitigen autoritären Komplex.
Professor Knoll: Einfach aus Mangel an Zivilcourage werden die vorhandenen Spielräume nicht ausgefüllt.
Dr. Hanke: Herr Hennis hat den Begriff der Konstitutionalisierung einzelner Sachbereiche eingeführt. Besteht ein Hinderungsgrund, diesen Begriff zu benutzen und mit ihm in der Demokratisierungsdebatte eine Auffangsposition aufzubauen? Es muß dann allerdings im Sinne der Wortbedeutung vollen des Begriffs geschehen: Konstitutionalisierung als Niederlegung von Verfassungen, die den von Herrschaft Betroffenen das Recht verleihen, an der Herrschaft mitzuwirken und sie zu kontrollieren. Ich würde keinen Hinderungsgrund sehen, den Begriff in diesem Verständnis als Orientierungsmarke für die politische Bildung zu verwenden. In den einzelnen Bereichen muß dann die Sachdebatte sich damit beschäftigen, wie-viel an Konstitutionalisierung noch erforderlich, möglich, nützlich ist.
Warum werden die schon vorhandenen Spielräume nicht ausgenutzt? Nun, zum Teil ja wohl deswegen, weil Konstitutionen geschaffen und dann keine Sanktionsinstanzen eingeführt werden, welche die Einhaltung der Konstitution sichern und an die man appellieren kann, wenn man in seinen Rechten verletzt wird. Nehmen wir das Betriebsverfassungsgesetz. Warum nutzen es die Arbeitnehmer von Klein-und Mittelbetrieben zum Teil nicht aus, warum wählen sie keinen Betriebsrat? Vielfach doch deswegen, weil der Arbeitgeber des Kleinbetriebs unliebsame Arbeitnehmer, die einen Betriebsrat gründen wollen und entsprechende Initiativen ergreifen, einfach unter irgendeinem dazu geeigneten Vorwand entlassen kann. Der Umstand, daß eine Sanktionsinstanz fehlt, hindert also den Arbeitnehmer daran, die ihm konstitutionell zustehenden Rechte zu nutzen.
Dr. Müller: Ich glaube, daß im Hinblick auf die Ermessensausschöpfung in der Schule eine ähnliche Erscheinung vorliegt wie beim Mittelmanagement in der Wirtschaft. Dort entfaltet sich ja sehr häufig eine Neigung zur Bürokratisierung. Sie besteht in einer Einengung des Ermessensspielraums auf eigenen Wunsch dieses Mittelmanagements, das sich auf diese Weise abzusichern sucht gegen den Druck, dem es von oben und von unten gleichzeitig ausgesetzt ist. In unserem System der Leistungsschule, das ja so weit geht, daß die Leistungen unter Umständen durch ein verwaltungsmäßiges Verfahren überprüft werden, stehen auch die Lehrer in einer bestimmten Drucksituation. Diese führt dazu, daß sie ihren Ermessensspielraum gar nicht ausnutzen können oder wollen, daß sie ihn sogar auf eigenen Wunsch einschränken, weil ihnen die Ausfüllung dieses Spielraums zu gefährlich erscheint. Durch die Stellung des Lehrers zwischen Eltern, Schülern und Schulverwaltung ist, so glaube ich, im Bereich der Schule eine ganz andere Frage als die der Demokratisierung gestellt. Und ich vermute, daß die Situation hier durch verstärkte Einschaltung von Rechten der Eltern und der Schüler nicht nur positiv geändert, sondern auch prekärer werden kann.
Auch in der Schule geht es zwar darum, daß Menschen mehr Freiheit zur Selbstentfaltung gegeben werden muß, aber das ist hier nicht eine Frage der Konstitutionalisierung, der Schaffung von Rechten verschiedener Gruppen. Wenn man diesen Komplex etwa vergleicht mit der betrieblichen Mitbestimmungsfrage, dann sieht man, daß es in der Auswirkung um ähnliche Dinge geht, daß aber die anzuwendenden Mittel völlig verschiedener Art sind. In der Schule sind Fragen gestellt wie die nach der Struktur des ganzen Schulsystems, nach pädagogischen Zielen, nach pädagogischen Methoden oder nach dem Notensystem, das bisher zu sehr auf individuelle Leistungen festgelegt ist. Dr. Messerschmid: Der Vorschlag von Herrn Hanke, nämlich den Begriff der Binnenkonstitutionalisierung zu verwenden, um von dem mißverständlichen Begriff Demokratisierung wegzukommen, sollte von uns auch in diesem Zusammenhang bedacht werden.
Professor Knoll: Man muß aber immer daran denken, daß es in der Schule nicht nur um eine — wie auch immer kodifizierte — Konstitution geht. Ich habe den Eindruck, daß man bei den gegenwärtigen Entwicklungen, auch in der Schule, allzu legalistisch vorgeht. Man meint, durch Kodifizierungen seien demokratische Garantien von vornherein geschaffen und die demokratischen Prozesse im wesentlichen bestimmt. Es gibt in Deutschland so etwas wie einen Gesetzesfetischismus. In der gegenwärtigen Diskussion über Demokratisierung in der Schule geht es natürlich auch um ein Mindestmaß an Kodifizierung, aber es kommt doch vor allem auch darauf an, schon vorhandene Kodifizierungen überhaupt wirksam werden zu lassen.
Dr. Messerschmid: Wir müssen die Behandlung dieses Punktes leider abschließen. Ich möchte nun Herrn Hennis bitten, sich zusammenfassend noch einmal zur Frage 6 zu äußern: Entstehen Gefahren durch die Politisierung der Sozialbereiche?
Professor Hennis: Da wäre über folgendes Problem zu sprechen: Man ist heute immer mehr geneigt, die Sozialbereiche unter dem Aspekt des Interessenkonflikts zu interpretieren. Konflikte und Interessengegensätze sollen transparent gemacht werden. Natürlich sind zwischen Assistenten, Ordinarien und Studenten, in der Schule, zwischen Vorgesetzten und Untergebenen in der Bundeswehr, in den Betrieben usw. immer Differenzen in Motivationen und Zielen vorhanden. Aber kein Unternehmen kann man jemals auf der Basis prinzipieller Interessen-differenz aufbauen, sondern nur auf der Basis der Interessenkonvergenz derer, die in dem Betrieb arbeiten wollen, und derer, die an ihm verdienen wollen. Und man kann auch keine Schule ohne Interessenkonvergenz betreiben usw. Am Rande, marginal, tauchen überall Interessenkonflikte auf. Was wir jedoch gegenwärtig erleben, ist ein unerhört sinnloses — auch von der reinen Analyse der Institutionen her ganz sinnloses — Hochpusten dieser Marginalprobleme. Das führt dazu, daß das Konvergierende, um dessentwillen ja eben die
Institutionen da sind, aus dem Blick fällt und verlorengeht über dem Kampf und der Hochpolitisierung in diesen einzelnen Bereichen.
Professor Sontheimer: So sehr es richtig ist, Herr Hennis, daß die Sozialbereiche letzten Endes auf Konvergenz angelegt sind, kann es doch Situationen geben, in denen das, was Sie marginale Differenzen nennen, sich als ein solcher Störfaktor erweist, daß eine Konvergenz nicht mehr gegeben ist und daß sie nur wieder erreicht werden kann, wenn man die Bmnen-konstitution ändert. Wir sind in einer Umbruchphase, in der die Konvergenz nicht mehr besteht. Weil die Interessen der verschiedenen Gruppen sich so voneinander entfernt haben, daß überhaupt kein Einverständnis mehr vorhanden ist, muß man nun versuchen, in einem komplizierten Prozeß, bei dem man nicht genau weiß, was schließlich herauskommt, neue Konvergenzformen zu erreichen, auch durch Änderung der Binnenstruktur. Ich wehre mich auch gegen den Ausdruck Politisierung in dieser letzten Frage, weil sie dadurch von vornherein einen Prärogativen Beigeschmack erhält. In dem Augenblick, wo es in einem Sozialbereich ganz bestimmte Interessenkonflikte der an ihm beteiligten Gruppen gibt, ist das eo ipso politisch. Das ist die Definition des Politischen: der Interessenkonflikt.
Professor Hennis: Aber damit, Herr Sontheimer, streichen Sie alles durch, was Sie in den letzten 15 Jahren geschrieben haben. Sie haben bisher genau gesagt, daß das nicht die Definition der Politik abgeben kann, daß man Politik niemals nur von der Interessenvertretung her machen kann, sondern daß das Konvergierende den Begriff der Politik ausmacht. Und es ist einfach nicht wahr, daß in den Institutionen — auch in der Universität — die Interessendifferenzierung so groß gewesen ist, daß sie dadurch funktionsunfähig geworden wären. Sondern durch eine ganz gezielte Strategie der Bewußtseinsveränderung sind die Marginalprobleme in den Mittelpunkt gerückt und hochgeputscht worden. Das ist schlechterdings nicht zu bestreiten.
Professor Sontheimer: Herr Hennis, es gibt doch Realien als Politik — es müssen ja nicht Interessenkonflikte sein. Daß es darüber hinaus eine Zielorientierung für die Politik geben muß, die in den Sozialbereichen Konvergenz heißen soll, das wird nicht bestritten. Ich sage aber, weil die Konvergenz nicht mehr sicher erreicht wird, will man sie durch die Beseitigung zu großer Interessenkonflikte mittels eines anderen Modus erreichen. Ob das gelingt, ist ja die Frage, um die es geht.
Professor Hennis: Was ein Minister, ein Bundeskanzler, ein Oberstudiendirektor, ein Akademieleiter, ein Ordinarius macht, was sie tag-täglich tun — das ist ihre Aufgabenerfüllung.
Und Aufgabenerfüllung ist doch der eigentliche Inhalt von Politik. Dafür werden Kompetenzen gegeben, damit Aufgaben erfüllt werden können. Diese Aufgabenerfüllung kann natürlich ständig gestört werden, sie kann sogar beträchtlich gestört werden durch Interessendissonanzen innerhalb eines Bereichs. Aber wo das passiert, dort ist doch nicht die Mitte der Politik!