Die Lehre von der neutralen Gewalt (pouvoir neutre) des Staatsoberhauptes, die von Benjamin Constant, dem Theoretiker des liberalen Konstitutionalismus, entwickelt wurde, hat mit erstaunlicher Kontinuität bis in unsere Gegenwart die wissenschaftliche und publizistische Diskussion sowie die Vorstellungen der politischen Akteure und einer breiten Öffentlichkeit beeinflußt. Um diese Aktualität zu veranschaulichen, seien hier lediglich vier Beispiele aus dem bundesrepublikanischen Bereich genannt:
(3) Demoskopische Erhebungen, die wenig später (im Juni 1959) vorgenommen wurden, ergaben, daß auf die Frage nach den Eigen-schäften eines guten Bundespräsidenten die Eigenschaft „politisch neutral, soll über den Parteien stehen" am häufigsten, nämlich von 58 % der Befragten, genannt wurde
Ist also trotz des Systemwandels vom liberalen Konstitutionalismus zum parlamentarischen Parteienstaat
Im Folgenden wird daher zunächst die Genesis der Modellstruktur, der das Element des „pouvoir neutre" entstammt, analysiert und die politischen Funktionen des „pouvoir neutre“ im ursprünglichen Systemkontext lokalisiert. Diese struktur-genetische Analyse schließt eine Ideologiekritik ein und enthält implizit eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage — eine Antwort, die dann anschließend ausdrücklich formuliert wird. Dabei erscheint es sinnvoll, die Diskussion auf die . Position des republikanischen Präsidenten im parlamentarischen Regierungsssystem zu beschränken, weil politische Funktionen nicht losgelöst von der sozialen Position des Amtsträgers betrachtet werden können und weil im republikanischen Bereich die Problematik der Rezeption der Lehre vom „pouvoir neutre" besonders deutlich wird.
I.
Für unsere Fragestellung ist der Nachweis grundlegend, daß die Lehre vom „pouvoir neutre" aus der Revision der klassischen Ge-waltenteilungs-und Balancelehre entstand, also die Mängel dieser Lehre beheben wollte, die angesichts des Wandels der sozialen und politischen Realität unübersehbar geworden waren.
Die Ausgangssituation läßt sich folgendermaßen skizzieren: Im 17. /18. Jahrhundert war den das aufstrebende Bürgertum in führenden westeuropäischen Ländern hinlänglich erstarkt, um das politische Ziel anstreben zu können, die Mitregierung zu erringen und verfassungspolitisch zu verankern, sowie dem bürgerlichen Individuum für sein Erwerbsstreben eine sichere Freiheitssphäre zu gewährleisten. In der Frontstellung gegen den monarchischen Absolutismus und im Kampf gegen das vorindustrielle ancien regime versuchte die neue Klasse, über das Parlament die wirtschaftspolitisch gebotene Vertrags-und Rechtssicherheit herzustellen, die Herrschaft des Gesetzes als allgemeine, dauernde Norm und Ausdruck der raison humaine zu verwirklichen und die Exekutive an die Ausführung dieser Gesetze zu binden ’). Die politische Theorie der Gewaltenteilung und -Verschränkung entsprach in ihrer von Locke und Montesquieu entwickel-ten Ausprägung
In diesem klassischen Denkmodell der Macht-balance hatte die Vorstellung, der König sei ein „pouvoir neutre", noch keinen Platz. Die königliche Exekutivgewalt wurde vielmehr als eine der sich wechselweise balancierenden Gewalten konzipiert. Wie bei dem allgemeinen Gleichgewichtsmodell waren auch hier Störungen nicht ausgeschlossen, aber sie wurden gedanklich in einen Prozeß der Selbst-regulierung eingefügt, dessen Annahme für das bürgerliche Bewußtsein typisch war. Dort, wo ein spezieller Balancierungsfaktor nötig erschien, war dies theoretisch der Adel (so bei Montesquieu) oder die Opposition (so bei Bolingbroke)
Als die französische Nationalversammlung mit der Verfassung von 1791 das klassische Modell zur realisieren versuchte
Mit dieser Konstellation sah sich Benjamin Constant konfrontiert
Er glaubte, die Lösung darin gefunden zu haben, daß er zwischen dem „pouvoir excu-tif" (der nun zum eigenständigen, verantwortlichen „pouvoir ministeriel" wurde) und dem nicht verantwortlichen „pouvoir royal" unterschied
Constants „pouvoir royal" sollte als unabhängige Größe aus dem Sog der bürgerlichen Herrschaftstendenz genommen werden und das Ungleichgewicht zwischen Parlament und Regierung beseitigen, ohne selbst zur Regierungsmacht zu werden; das heißt, er sollte die strukturellen Störungen des klassischen Gleichgewichtsmodells aufheben und bei künftigen, akzidentiellen Störungen das Funktionieren dieses neuen Gleichgewichtsmodells dadurch sicherstellen, daß er die Anpassungsänderungen bewerkstelligte. Um Constant selbst zu zitieren
so bedarf es einer Kraft, die sie auf ihre ursprüngliche Position zurückführt. Diese Kraft kann nicht in einer jener (drei) Kräfte ruhen, denn sie würde am Ende die anderen zerstören. Sie muß außerhalb derselben, gewissermaßen neutral sein, damit sie notwendigerweise überall dort in Aktion tritt, wo es erforderlich ist, um schützend und wiederherstellend zu wirken, ohne feindlich zu sein."
Zu diesem Zweck wurden dem monarchischen Staatsoberhaupt, das als solches mit der Gesamtsumme der Autorität ausgestattet war, weitgehende Befugnisse zuerkannt: — das Ministerernennungsund -entlassungsrecht, — das Recht, die Mitglieder der Pairskammer zu ernennen, — das Kammerauflösungsrecht und — das Vetorecht.
Für die richtige (d. h. das Gleichgewicht wahrende) Anwendung dieser Rechte gab es keine Sicherungen — außer der ideologischen Unterstellung, der König sei gesellschaftsund verfassungspolitisch neutral. Und „Neutralität'wurde als die im Wesen des Königtums wurzelnde Eigenschaft definiert, weder von der ministeriellen noch von der gesetzgebenden Gewalt abhängig und kein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu sein. Diese herausgehobene Qualität und die sozialpsychologischen Imponderabilien der erblichen Königswürde postulierten Grund und Wirkung des „pouvoir neutre".
Constant sah das Kernstück seiner politischen Organisationslehre darin, daß inmitten der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eine Zone der Sicherheit und Unparteilichkeit geschaffen werde, die es erlauben sollte, diese Auseinandersetzungen auszutragen
II.
Solange in den deutschen Staaten das monarchische Prinzip galt, wonach die gesamte Staatsgewalt beim Staatsoberhaupt lag, besaß die Lehre vom „pouvoir neutre" dort keine politische Aktualität. Allzu offenkundig widersprach die Realität und die herrschende Gedankenwelt dieser Lehre. Johann Christian Freiherr von Aretin ironisierte generell die Gleichgewichtsannahme der Gewaltenteilungslehre, indem er auf Swift verwies, der von einem Baumeister erzählte, der ein Haus so vollkommen nach dem System des Gleichgewichts baute, daß es einfiel, als ein Sperling sich aufs Dach setzte
Ruhe und Neutralität verpflichte, sei Constant in Widerspruch zur Geschichte der Kontinentalstaaten und der Idee der Monarchie geraten
Daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht die Gleichgewichtsfunktion des Königs, sondern die Integrationsfunktion — die in Constants Lehre nur ansatzweise entwickelt worden war — in den Mittelpunkt des gesellschaftspolitischen Interesses trat, erklärt sich realpolitisch aus den Erfahrungen des Juli-Königtums, der 48er Revolution und des Aufstiegs Louis Bonapartes — Erfahrungen, die theoretisch von Lorenz von Stein verarbeitet wurden
Das war freilich eine Fiktion, die gleichzeitig durch zwei Gegentendenzen zerstört zu werden drohte, die Lorenz von Stein ebenfalls genau beschrieb: Einerseits das Bestreben des siegreichen Bürgertums, sich der gesamten Staatsmacht zu bemächtigen, das heißt, auch das Königtum mittels der Ministerverantwortlichkeit der Kammermajorität unbedingt zu unterwerfen und gegebenenfalls durch die Einsetzung einer neuen Dynastie oder durch die Kammerwahl des Präsidenten sicherzustellen, daß der König bzw. Präsident „keinen anderen Willen habe, als die herrschende Klasse"
Gerade weil von Stein diese Gegentendenzen sah, schien ihm die Existenz eines vermittelnden, integrierenden Staatsoberhauptes um so notwendiger zu sein — als einzige Alternative zum brutalen Klassenkampf, der den Staat zerstören und in einen unvermittelten Interessen-antagonismus auflösen würde
Mit dem Aufkommen demokratischer Massen-parteien und der verbandspolitischen Organisation der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen im Zeitalter der Industrialisierung entwickelten diese Überlegungen eine zunehmende Faszination. In Deutschland, wo das Bürgertum nicht zur direkten Ausübung der politischen Macht gelangte und in wachsender Revolutionsfurcht seine Zuflucht bei einer starken Exekutive suchte, konnte die Fiktion von der nationalen Integration durch die Person des Monarchen lange Zeit attraktiv bleiben
Der gesellschafts-und staatspolitische Inhalt der Lehre vom „pouvoir neutre" wurde den neuen Bedingungen gemäß aktualisiert, als sich bei Kriegsende der Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem vollzog und nach der Revolution die Weimarer Republik entstand. Ohne zu beachten, daß die höchste Autorität in einer republikanischen Demokratie nicht — wie in der Monarchie. — bei einer Person, sondern bei der Verfassung bzw.dem Verfassungsgeber liegt, wurde die Ideologie vom monarchischen „pouvoir neutre“ bemüht, um die Position und Funktion des republikanischen Staatsoberhauptes zu bestimmen.
Verfassungstheoretisch orientierte sich die Interpretation an der Rezeption des Gleichgewichtsmodells. In Anlehnung an die Systematik des franzöischen Staatsrechtlers Duguit
Bekanntlich hat dieses Konzept die Weimarer Verfassung und deren Interpretation nachdrücklich beeinflußt
In den zwanziger Jahren wiederholte sich so der bereits im Konstitutionalismus unternommene Versuch, ein Gegengewicht zum pluralistischen Parlament zu schaffen. Der Staat sollte in der Person des Präsidenten als integrative Einheit über den gesellschaftlichen Antagonismen etabliert werden. Zwischen den um die Durchsetzung ihrer Interessen kämpfenden Parteien und den von ihnen beherrschten verfassungspolitischen Gewalten sollte eine vermittelnde Kraft wirken, der Unabhängigkeit von Partialinteressen und „Neutralität“ unterstellt wurde.
Die Perversion des Integrationsund Einheitsgedankens durch den nationalsozialistischen Führerstaat lieferte den Beweis, daß die Verkörperung der nationalen Einheit, die personale Integration von Volk und Nation im „Führer" und die Überwindung der „Parteiungen" nur durch die gewaltsame Zerschlagung der demokratischen Parteien und Organisationen, durch die Herrschaft einer Partei und durch den ständigen Einsatz des staatlichen Terrorapparats möglich war bzw. propagandistisch in Szene gesetzt wurde, um eine Fassade zu erzeugen, hinter der der brutale Machtkampf stattfand
Mit dem Dritten Reich zerbrach auch dieses ideologische Gebäude, aber die personalen Einheitsmythen — die Vorstellungen von der Verkörperung des „Ganzen" im Staatsoberhaupt — blieben virulent. Diese These soll an drei Beispielen aus dem nach 1945 erschienenen Schrifttum belegt werden:
Adolf Süsterhenn bezeichnet es als die wesentliche Funktion des Bundespräsidenten, „den pouvoir neutre auszuüben, d. h.den ausgleichenden Faktor zu bilden, die vielfach divergierenden politischen und wirtschaftlichen Interessen zusammenzufassen und miteinander zu versöhnen
Paul Kehlenbeck postuliert, gestützt auf die Constant-Rezeption von Carl Schmitt und die Integrationslehre von Rudolf Smend
Emst Forsthoff schließlich stilisiert in ähnlicher Weise den durch das Volk gewählten Präsidenten zum Repräsentanten staatlicher Neutralität und hält „einen solchen, auf den ständigen Ausgleich der gesellschaftlichen Kräfte mit der neutralen Gewalt beruhenden Staat“ auch heute noch für den „Prototyp der den deutschen Verhältnissen angemessenen parlamentarischen Demokratie"
Auf diese Weise sind Theoretiker, die obrigkeitlicher oder gouvernmentaler Tradition verpflichtet sind und den gesellschaftlichen und politischen Pluralismus als Gefahr empfinden, bemüht, die Autorität und Oberhoheit des Staates zu verteidigen. Sie reklamieren — oftmals ausdrücklich in Anknüpfung an Constant und von Stein — das Staatsoberhaupt als integratiyen „pouvoir neutre“, um eine Verkörperung der staatlichen Einheit zu gewinnen und die staatliche Sondersphäre gegenüber der pluralistischen Gesellschaft zu retten
Das bisher Ausgeführte läßt sich mithin folgendermaßen zusammenfassen: Bei der Weiterentwicklung der Lehre von der neutralen Gewalt des Staatsoberhauptes tritt die Integrationsfunktion neben die Gleichgewichts-funktion, die im ursprünglichen Modell konstitutiv war. Wo der politisch-soziale Inhalt der Lehre nicht reflektiert wird, werden die verfassungspolitischen Beziehungen nicht mehr als Vermittlungen zwischen realen gesellschaftlichen Machtgruppen verstanden. Das Modell wird reduziert auf den Dualismus zwischen Exekutive und Legislative, von Regierung und Parlament; diese beiden Verfassungskräfte sollen vom Staatsoberhaupt (durch die Stärkung der relativen Selbständigkeit der Regierung gegenüber dem Parlament) im Gleichgewicht gehalten werden.
Je stärker indes die gesellschaftspolitischen Bezüge der Lehre vom „pouvoir neutre“ berücksichtigt und auf die neue Realität der sozialen und politischen Mobilisierung angewandt werden, desto deutlicher tritt statt der verfassungspolitischen Gleichgewichtsfunktion die gesellschaftspolitische Integrationsfunktion des Staatsoberhauptes in den Vordergrund. Beide Funktionen sind in der Lehre von der neutralen Gewalt des Staatsoberhauptes enthalten und werden dem realpolitischen und -gesellschaftlichen Wandel gemäß jeweils unterschiedlich akzentuiert.
III.
Ausgehend von diesem Befund, kann die eingangs gestellte Frage, ob die Lehre von der neutralen Gewalt und die von ihr hergeleiteten Funktionen des Staatsoberhauptes mit der Struktur des modernen parlamentarischen Parteienstaates vereinbar sind, wie folgt konkretisiert werden:
Ist die Präsidialgewalt im parlamentarischen Parteienstaat wie der „pouvoir royal“ im liberalen Konstituti nalismus als neutral zu interpretieren, und hat der Präsident auch im parlamentarischen Parteienstaat die Funktion eines Gleichgewichtsstifters und neutralen Integrators?
Wie wir oben sahen, war im konstitutionellen Modell Constants die Annahme, Neutralität sei die Eigenschaft der monarchischen Gewalt, bereits höchst problematisch — obwohl sie damit begründet wurde, daß die dynastische Erbfolge und die Nichtzugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft sowie die Unabhängigkeit von den „pouvoirs actifs'eine überhöhte Stellung garantierten. Diese Kriterien treffen aber in offenkundiger Weise nicht für den bürgerlichen, auf Zeit gewählten Präsidenten im par-lamentarischen Parteienstaat zu, so daß hier eine solche Neutralität schwerlich behauptet bzw. leicht als ideologische Verschleierung durchschaut werden kann.
So wird denn auch in der neuesten Arbeit von Werner Kaltefleiter der von Benjamin Constant geprägte Neutralitätsbegriff abgelehnt, aber gleichzeitig eine Neutralität neuer Art konstruiert und dem Staatsoberhaupt im parlamentarischen Parteienstaat zugeschrieben. Neutralität bedeute hier (nach Kaltefleiter) „nicht Partei ergeifen" (S. 59) und werde zu einer „Frage der Perzeption" (S. 61). Aber auch diese Version ist wenig überzeugend. Denn Kaltefleiter verwickelt sich in einen offenen Widerspruch, indem er einerseits feststellt, „politische Macht ist ex definitione nicht neutral und Neutralität ist nur um den Preis der politischen Machtlosigkeit zu erhalten" (S. 189), andererseits aber trotzdem dem Staatsoberhaupt im parlamentarischen System ausdrücklich eine Reservemacht zuerkennt
Der Bundespräsident ist nach der Konstruktion des Grundgesetzes nur solange und insoweit in einem gewissen Sinne unparteiisch-neutral, als er gar nicht selbständig-frei handeln kann, sondern an den politischen Willen anderer Organe gebunden ist. Selbst das Recht, den ersten Kandidaten für die Kanzlerwahl dem Bundestag vorzuschlagen, ist normalerweise (d. h. beim Funktionieren des politischen Systems) unbedeutend, weil das Parlament, falls es diesen Kandidaten nicht mehrheitlich akzeptiert, im zweiten Wahlgang einen anderen Kandidaten wählen kann; und der Bundespräsident muß den von der Mehrheit des Bundestags gewählten Kanzler ernennen (Art. 63 GG). Die Bundesminister werden zwar ebenfalls formal vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen — aber auf Vorschlag des Kanzlers (Art. 64 GG); das heißt, selbst wenn der Bundespräsident nicht verpflichtet ist, die Vorschläge des Kanzlers zu akzeptieren (was in der staatsrechtlichen Literatur umstritten ist), so ist er jedoch andererseits „nicht befugt, andere als die ihm vom Bundeskanzler vorgeschlagenen Personen zu Ministern zu ernennen" bzw. zu entlassen
In den wenigen Grenzfällen, in denen der Bundespräsident überhaupt einen eigenen Handlungsspielraum (also „pouvoir") hat, ergreift er auch in dem Sinne Partei, daß er unter angebbaren Umständen zwischen der Unterstützung dieser oder jener politischen Gruppierung wählen kann; nämlich dann, wenn er (1) im Falle unklarer Mehrheitsverhältnisse im Bundestag den Führer bzw. einen Führer einer Partei oder Parteienkoalition zur Wahl als Kanzler vorschlägt, ihm also gegenüber anderen aussichtsreichen Kandidaten einen Vorsprung und die Chance des Gewähltwerdens gibt; (2) wenn keine Mehrheitswahl zustande kommt und schließlich der Gewählte nicht die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. In diesem Fall kann der Bundespräsident den Minderheitskanzler binnen sieben Tagen ernennen oder den Bundestag auflösen (Art. 63, 3 GG); (3) wenn er einem Kanzler, der die Vertrauensfrage gestellt und kein Mehrheitsvotum erhalten hat, die Auflösung des Bundestages binnen 21 Tagen zugesteht (Art. 68 GG) oder mit Zustimmung des Bundesrates nach Art. 81 GG den Gesetzgebungsnotstand erklärt und den Minderheitskanzler damit stützt — bzw. wenn er nicht entsprechend eingreift.
In diesen Fällen ist also der Präsident nicht „der parlamentarisch-politischen Kampfsitua-tion entrückt"
IV.
Nach dem Nachweis, daß dem Präsidenten im parlamentarischen Parteienstaat weder die Eigenschaft der Neutralität im Constantschen Sinne noch eine Neutralität neuer Art zuge-schrieben werden karn, ist zu vermuten, daß im parlamentarischen Parteienstaat das Staatsoberhaupt auch nicht (1) als Gleichgewichts-stifter oder (2) als neutraler Integrator zu interpretieren ist.
ad 1: Das parlamentarische Regierungssystem parteienstaatlicher Ausprägung ist dadurch dharakterisiert, daß sich Regierung und Parlament nicht mehr als separate, relativ selbständige Größen gegenüberstehen. Das Parlament ist parteipolitisch strukturiert, und Regierung und Parlamentsmehrheit werden durch die Regierungspartei bzw. -parteien im Prinzip zu einer Handlungseinheit integriert
Bereits die Ausgangskonstellation eines Gleichgewichts ist undenkbar geworden. Und dort, wo die Befugnisse des „pouvoir neutre“ noch als schwache Relikte des liberalen Kon-stitutionalismus im modernen parlamentarischen System vorhanden sind, übt das Staatsoberhaupt mit ihrer Hilfe nicht eine Balance-funktion zwischen „dem Parlament“ und der Regierung aus, sondern kann (wie wir oben sahen) einer bestimmten Parteigruppierung unter Umständen zur Regierung verhelfen bzw. sie im Amt stützen.
Das Gleichgewichtsmodell ist auch dadurch nicht zu retten, daß es im Hinblick auf die „neue Gewaltenteilung" zwischen Regierung und Opposition neu formuliert wird, indem dem Präsidenten eine neutrale, vermittelnde Funktion zwischen beiden Variablen zugeschrieben wird
Schließlich kann eine präsidiale Vermittler-funktion zwischen Regierung bzw. Regierungsparteien und Opposition nicht damit begründet werden, daß der Präsident über die Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte, insbesondere der Minderheit, wachen solle
ad 2: Wie verhält es sich im parlamentarischen Parteienstaat mit der zweiten Funktion, der personalen Integration, die nach der Lehre vom „pouvoir neutre" dem Staatsoberhaupt zugewiesen wird?
Wie oben im einzelnen dargetan, wurde die besondere Integrationsfunktion des Staatsoberhauptes im System des liberalen Konsti-tutionalismus damit begründet, daß das Staatsoberhaupt jenseits des bürgerlichen Interessenstreites angesiedelt wurde und nicht der bürgerlichen Gesellschaft, die die Legislative qua Zensuswahlrecht beherrschte, entstammte bzw. nicht von der Abgeordnetenkammer gewählt werden sollte. In der pluralistischen Massendemokratie und der parlamentarischen Republik der Gegenwart entfallen alle diese Voraussetzungen. Eine eindeutige Zuordnung von bestimmten sozialen Gruppen zu einem verfassungspolitischen Organ ist nicht mehr möglich, und mit der Entstehung des modernen Interventions-und Wohlfahrtsstaates ist die Schranke zwischen Gesellschaft und Staat weitgehend verschwunden
Diejenigen Kriterien, die den Präsidenten als balancierenden „pouvoir neutre“ disqualifizieren (s. oben), sprechen schließlich auch gegen ihn als neutralen Integrator. Was von der Repräsentationsidee bleibt, ist — im Unterschied zur innerstaatlichen „Verkörperung" des „Ganzen" — die völkerrechtliche Vertretung des Staates nach außen, die aber mit der Lehre des „pouvoir neutre" nichts zu tun hat
V.
Die Ergebnisse unserer Erörterungen führen zu folgendem thesenhaften Resümee:
1. Die Lehre von der neutralen Gewalt des Staatsoberhauptes ist strukturell an das Gleichgewichtsmodell der revidierten Lehre von der Gewaltenteilung und -Verschränkung gebunden. Die Gleichgewichts-und Integrationsfunktion wurde aus der schon damals problematischen Annahme der Neutralität des „pouvoir royal" hergeleitet. 2. Mit dem Strukturwandel vom Konstitutio-nalismus zum parlamentarischen Parteienstaat sind das Gleichgewichtsmodell und die aus ihm deduzierte Lehre vom „pouvoir neutre" obsolet geworden, weil sich alle Variablen in ihrer Größe und in ihrem Verhältnis zueinander grundlegend geändert haben. Der „pouvoir neutre", das Strukturelement der konstitutionellen Monarchie, paßt nicht in die Struktur des parlamentarischen Parteienstaates. 3. Zumindest für das republikanische Staatsoberhaupt in diesem System gilt ferner, daß die Voraussetzung für die Neutralität der Präsidialgewalt insbesondere deshalb entfällt, weil der Präsident keine vorgegebene, den politischen und sozialen Antagonismen enthobene, unabhängig-neutrale Position und keine höchste Autorität besitzt.
4. Dort, wo die einer andersartigen politischen und sozialen Konstellation zugehörende Lehre gleichwohl auf die parteienstaatliche, pluralistische Gegenwart übertragen wird, erschwert sie eine zutreffende Interpretation des Präsidentenamtes und der präsidialen Handlungen. 5. Insbesondere ist der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland kein „pouvoir neutre", sondern in Normalzeiten an den politischen Willen der jeweiligen verfassungsmäßigen Parteiregierung bzw. Parlamentsmehrheit gebunden und kann nur die von ihr offiziell gebilligten Handlungen ausführen. In den wenigen Grenzfällen, in denen er einen eigenen Handlungsspielraum hat, ergreift er Partei und stützt (unter bestimmten Umständen) eine politische Gruppierung.
6. In einer parlamentarisch-parteistaatlichen Demokratie wird der Staat im Präsidenten nicht zu einer „lebendigen Persönlichkeit" und vollzieht sich der Interessenausgleich nicht neutral-integrativ im Staatsoberhaupt, sondern vermittelt durch kollektive Willensverbände, vor allem durch politische Parteien. 7. Indem die Lehre von der neutralen Gewalt des Staatsoberhauptes bzw. einzelne Elemente dieser rezipierten Lehre die Prinzipien demokratischer Willensbildung und Integration negiert oder einschränkt und dem antiparteienstaatlichen Affekt Vorschub leistet, kann sie schließlich der Erhaltung bzw. Wiederbelebung eines Verfassungsdenkens dienen, das im obrigkeitsstaatlichen und autoritären Denken wurzelt. Daher dürfte die kritische Auseinandersetzung mit dieser Lehre politisch geboten sein. 57