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Zur Lehre von der „neutralen Gewalt" des Staatsoberhauptes | APuZ 17/1971 | bpb.de

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APuZ 17/1971 Artikel 1 Zur Lehre von der „neutralen Gewalt" des Staatsoberhauptes Parlamentarischer Staatssekretär — Modell und Wirklichkeit

Zur Lehre von der „neutralen Gewalt" des Staatsoberhauptes

Werner Link

/ 26 Minuten zu lesen

Die Lehre von der neutralen Gewalt (pouvoir neutre) des Staatsoberhauptes, die von Benjamin Constant, dem Theoretiker des liberalen Konstitutionalismus, entwickelt wurde, hat mit erstaunlicher Kontinuität bis in unsere Gegenwart die wissenschaftliche und publizistische Diskussion sowie die Vorstellungen der politischen Akteure und einer breiten Öffentlichkeit beeinflußt. Um diese Aktualität zu veranschaulichen, seien hier lediglich vier Beispiele aus dem bundesrepublikanischen Bereich genannt:

Die Mehrheit des Herrenchiemseer Verfassungskonvents schlug vor, „den Bundespräsidenten als ein echtes (sic!) pouvoir neutre in die Lage zu versetzen, eine ausgleichende Wirkung zwischen den verschiedenen Organen des Verfassungsaufbaues auszuüben“; und der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz ausarbeitete, hat sich diese Absicht weitgehend zu eigen gemacht 1). Daran anknüpfend, wird in den einschlägigen Kommentaren zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland der Bundespräsident als »pouvoir neutre" definiert während sich in der neueren Literatur die kritischen Stimmen mehren (2) Der erste Amtsinhaber, Theodor Heuss, schrieb in seiner Denkschrift „Bemerkungen zur Präsidenten-Frage" (Dezember 1958) dem Bundespräsidenten die „Funktion als pouvoir neutre" zu und orientierte sich an dem Inhalt dieses Begriffs

(3) Demoskopische Erhebungen, die wenig später (im Juni 1959) vorgenommen wurden, ergaben, daß auf die Frage nach den Eigen-schäften eines guten Bundespräsidenten die Eigenschaft „politisch neutral, soll über den Parteien stehen" am häufigsten, nämlich von 58 % der Befragten, genannt wurde (4) Nach den Kontroversen über die Amts-auffassung Heinrich Lübkes fand die Neutralitätsthese erneut Eingang in die politische und publizistische Diskussion, als mit Gustav Heinemann zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein Sozialdemokrat das Amt des Bundespräsidenten übernahm und deutlich politische Akzente setzte

Ist also trotz des Systemwandels vom liberalen Konstitutionalismus zum parlamentarischen Parteienstaat ein Strukturelement des liberalen Konstitutionalismus erhalten geblieben, adäquat in das neue politische System eingefügt worden und mit diesem vereinbar? Die Frage kann — angesichts der komplexen Verbindung von Grundproblemen der politischen Theorie und der modernen Regierungslehre — in der gebotenen Kürze nicht erschöpfend beantwortet werden. Es soll jedoch gezeigt werden, daß die Übertragbarkeit der Lehre vom „pouvoir neutre" des Staatsoberhauptes nur dann sinnvoll diskutiert werden kann, wenn die Neutralität der „Gewalt" des Staatsoberhauptes als sozialhistorische Kategorie erkannt und geklärt wird.

Im Folgenden wird daher zunächst die Genesis der Modellstruktur, der das Element des „pouvoir neutre" entstammt, analysiert und die politischen Funktionen des „pouvoir neutre“ im ursprünglichen Systemkontext lokalisiert. Diese struktur-genetische Analyse schließt eine Ideologiekritik ein und enthält implizit eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage — eine Antwort, die dann anschließend ausdrücklich formuliert wird. Dabei erscheint es sinnvoll, die Diskussion auf die . Position des republikanischen Präsidenten im parlamentarischen Regierungsssystem zu beschränken, weil politische Funktionen nicht losgelöst von der sozialen Position des Amtsträgers betrachtet werden können und weil im republikanischen Bereich die Problematik der Rezeption der Lehre vom „pouvoir neutre" besonders deutlich wird.

I.

Tammo Hinrichs Parlamentarischer Staatssekretär — Modell und Wirklichkeit ...................... S. 14

Für unsere Fragestellung ist der Nachweis grundlegend, daß die Lehre vom „pouvoir neutre" aus der Revision der klassischen Ge-waltenteilungs-und Balancelehre entstand, also die Mängel dieser Lehre beheben wollte, die angesichts des Wandels der sozialen und politischen Realität unübersehbar geworden waren.

Die Ausgangssituation läßt sich folgendermaßen skizzieren: Im 17. /18. Jahrhundert war den das aufstrebende Bürgertum in führenden westeuropäischen Ländern hinlänglich erstarkt, um das politische Ziel anstreben zu können, die Mitregierung zu erringen und verfassungspolitisch zu verankern, sowie dem bürgerlichen Individuum für sein Erwerbsstreben eine sichere Freiheitssphäre zu gewährleisten. In der Frontstellung gegen den monarchischen Absolutismus und im Kampf gegen das vorindustrielle ancien regime versuchte die neue Klasse, über das Parlament die wirtschaftspolitisch gebotene Vertrags-und Rechtssicherheit herzustellen, die Herrschaft des Gesetzes als allgemeine, dauernde Norm und Ausdruck der raison humaine zu verwirklichen und die Exekutive an die Ausführung dieser Gesetze zu binden ’). Die politische Theorie der Gewaltenteilung und -Verschränkung entsprach in ihrer von Locke und Montesquieu entwickel-ten Ausprägung diesem Ziel, indem sie sich — analog dem methodischen Vorgehen anderer zeitgenössischer Wissenschaften — das generelle Gleichgewichtsmodell nutzbar machte. Kennzeichnend für dieses Modell war (und ist) die Annahme einer „Konstellation ausgewählter und miteinander in Beziehung gesetzter Variablen, die derart aufeinander abgestimmt sind, daß in dem von ihnen konstituierten Modell keine inhärente Änderungstendenz besteht" bzw. daß bei auftretenden Störungen Anpassungsänderungen zu einem neuen Gleichgewicht führen Angewandt auf den macht-und verfassungspolitischen Bereich, mit dem sich die Gewaltenteilungslehre beschäftigte, hieß das: die drei wichtigsten sozialen und politischen Machtgruppen — das Bürgertum, der Adel und die Krone — wur-den so zueinander in Beziehung gesetzt und so miteinander verklammert, daß sie sich der Intention nach im Gleichgewicht hielten. Dem Bürgertum wurde (mit gewissen Einschränkungen, die sich aus Beteiligungsmöglichkeiten der beiden anderen Machtgruppen ergaben) die Legislative und der Krone vornehmlich die Exekutive zugeordnet; der Adel wurde mittels der Ersten Kammer als selbständiges Element an der Legislative beteiligt, während die recht-sprechende Gewalt, abgesehen von einigen Rechten der Adelskammer, keiner der sozialen Machtgruppen zuerkannt wurde, wodurch sie „en quelque faon nulle" (Montesquieu) werden sollte

In diesem klassischen Denkmodell der Macht-balance hatte die Vorstellung, der König sei ein „pouvoir neutre", noch keinen Platz. Die königliche Exekutivgewalt wurde vielmehr als eine der sich wechselweise balancierenden Gewalten konzipiert. Wie bei dem allgemeinen Gleichgewichtsmodell waren auch hier Störungen nicht ausgeschlossen, aber sie wurden gedanklich in einen Prozeß der Selbst-regulierung eingefügt, dessen Annahme für das bürgerliche Bewußtsein typisch war. Dort, wo ein spezieller Balancierungsfaktor nötig erschien, war dies theoretisch der Adel (so bei Montesquieu) oder die Opposition (so bei Bolingbroke) nicht der König!

Als die französische Nationalversammlung mit der Verfassung von 1791 das klassische Modell zur realisieren versuchte erwies es sich jedoch als unbrauchbar. Der Sieg des Bürgertums und seine machtpolitischen Folgen hatten strukturelle Änderungen bewirkt. Das postulierte und intendierte Gleichgewicht wurde erst durch die Übermacht des Parlaments, dann durch die der Exekutive gestört; weder erfolgten hinreichende Anpassungsänderungen noch wurde ein Gleichgewicht wiederhergestellt. Die in Anlehnung an Montes-quieu konstruierte Gewaltenkombination bezeichnete also kein die Freiheit garantierendes Gleichgewicht, sondern ein strukturelles Un-gleichgewicht, weil sich das Gewicht und die Größe der einzelnen Gewalten grundlegend geändert hatten.

Mit dieser Konstellation sah sich Benjamin Constant konfrontiert Da er die konstitutionelle Monarchie bejahte und die freiheit-sichernde Wirkung eines echten machtpolitischen Gleichgewichts nicht in Frage stellte, stand er vor dem Problem, wie das strukturelle Ungleichgewicht transformiert und ein revidiertes Gleichgewichtsmodell geschaffen werden könnte.

Er glaubte, die Lösung darin gefunden zu haben, daß er zwischen dem „pouvoir excu-tif" (der nun zum eigenständigen, verantwortlichen „pouvoir ministeriel" wurde) und dem nicht verantwortlichen „pouvoir royal" unterschied der in Bolingbrokes „Patriot King" bereits eine gewisse Vorprägung erfahren hatte

Constants „pouvoir royal" sollte als unabhängige Größe aus dem Sog der bürgerlichen Herrschaftstendenz genommen werden und das Ungleichgewicht zwischen Parlament und Regierung beseitigen, ohne selbst zur Regierungsmacht zu werden; das heißt, er sollte die strukturellen Störungen des klassischen Gleichgewichtsmodells aufheben und bei künftigen, akzidentiellen Störungen das Funktionieren dieses neuen Gleichgewichtsmodells dadurch sicherstellen, daß er die Anpassungsänderungen bewerkstelligte. Um Constant selbst zu zitieren „Die vollziehende Gewalt, die gesetzgebende Gewalt und die recht-sprechende Gewalt sind drei Kräfte, die — jede zu ihrem Teil — zur allgemeinen Bewegung zusammenarbeiten müssen. Wenn aber die Beziehung zwischen ihnen gestört ist ..

so bedarf es einer Kraft, die sie auf ihre ursprüngliche Position zurückführt. Diese Kraft kann nicht in einer jener (drei) Kräfte ruhen, denn sie würde am Ende die anderen zerstören. Sie muß außerhalb derselben, gewissermaßen neutral sein, damit sie notwendigerweise überall dort in Aktion tritt, wo es erforderlich ist, um schützend und wiederherstellend zu wirken, ohne feindlich zu sein."

Zu diesem Zweck wurden dem monarchischen Staatsoberhaupt, das als solches mit der Gesamtsumme der Autorität ausgestattet war, weitgehende Befugnisse zuerkannt: — das Ministerernennungsund -entlassungsrecht, — das Recht, die Mitglieder der Pairskammer zu ernennen, — das Kammerauflösungsrecht und — das Vetorecht.

Für die richtige (d. h. das Gleichgewicht wahrende) Anwendung dieser Rechte gab es keine Sicherungen — außer der ideologischen Unterstellung, der König sei gesellschaftsund verfassungspolitisch neutral. Und „Neutralität'wurde als die im Wesen des Königtums wurzelnde Eigenschaft definiert, weder von der ministeriellen noch von der gesetzgebenden Gewalt abhängig und kein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu sein. Diese herausgehobene Qualität und die sozialpsychologischen Imponderabilien der erblichen Königswürde postulierten Grund und Wirkung des „pouvoir neutre".

Constant sah das Kernstück seiner politischen Organisationslehre darin, daß inmitten der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eine Zone der Sicherheit und Unparteilichkeit geschaffen werde, die es erlauben sollte, diese Auseinandersetzungen auszutragen Das durch die Unterscheidung und Funktionsbestimmung des „pouvoir neutre" revidierte Gleichgewichtsmodell war die Skizze eines Verfassungsentwurfs, der einen möglichst großen staatsfreien Raum für das bürgerliche Individuum und dessen gesellschaftliche Betätigung garantieren sollte. Es war der Versuch, nach den Erfahrungen der Revolution, der Herrschaft Napoleons und der Restauration den bürgerlichen Staat mit der Tradition des Königtums zu versöhnen.

II.

Solange in den deutschen Staaten das monarchische Prinzip galt, wonach die gesamte Staatsgewalt beim Staatsoberhaupt lag, besaß die Lehre vom „pouvoir neutre" dort keine politische Aktualität. Allzu offenkundig widersprach die Realität und die herrschende Gedankenwelt dieser Lehre. Johann Christian Freiherr von Aretin ironisierte generell die Gleichgewichtsannahme der Gewaltenteilungslehre, indem er auf Swift verwies, der von einem Baumeister erzählte, der ein Haus so vollkommen nach dem System des Gleichgewichts baute, daß es einfiel, als ein Sperling sich aufs Dach setzte J. C. Bluntschli anerkannte zwar den Constantschen Versuch, mittels des „pouvoir royal" den Staat wieder zu einer Einheit zu integrieren. Aber mit der Theorie, die den Monarchen vornehmlich zur

Ruhe und Neutralität verpflichte, sei Constant in Widerspruch zur Geschichte der Kontinentalstaaten und der Idee der Monarchie geraten

Daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht die Gleichgewichtsfunktion des Königs, sondern die Integrationsfunktion — die in Constants Lehre nur ansatzweise entwickelt worden war — in den Mittelpunkt des gesellschaftspolitischen Interesses trat, erklärt sich realpolitisch aus den Erfahrungen des Juli-Königtums, der 48er Revolution und des Aufstiegs Louis Bonapartes — Erfahrungen, die theoretisch von Lorenz von Stein verarbeitet wurden Unter dem Einfluß der Constantschen Lehre vom „pouvoir neutre" und der Hegelschen Staatsmystik wird der König als „der Vertreter der selbständigen, über der Gesellschaft stehenden persönlichen Idee des Staates" begriffen Er soll in seiner Person die gesellschaftlichen Spaltungen überwinden, nachdem der Glaube verloren-gegangen ist, daß die Integration der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen im freien Spiel der Kräfte parlamentarisch erfolgen könne. Nur der über den beiden Klassen, dem Bürgertum und dem nachdrängenden Proletariat, stehende König schien dem Bürgertum „eine Gewähr gegen die nächste, sonst unvermeidliche soziale Revolution" zu bieten Deshalb — so meint Lorenz von Stein weiter — stelle die „besitzende Klasse" auch in einer Republik in dem vom Volk gewählten „unverantwortlichen Präsidenten die Staatsmacht über die Macht der besitzenden wie der nicht-besitzenden Klasse"

Das war freilich eine Fiktion, die gleichzeitig durch zwei Gegentendenzen zerstört zu werden drohte, die Lorenz von Stein ebenfalls genau beschrieb: Einerseits das Bestreben des siegreichen Bürgertums, sich der gesamten Staatsmacht zu bemächtigen, das heißt, auch das Königtum mittels der Ministerverantwortlichkeit der Kammermajorität unbedingt zu unterwerfen und gegebenenfalls durch die Einsetzung einer neuen Dynastie oder durch die Kammerwahl des Präsidenten sicherzustellen, daß der König bzw. Präsident „keinen anderen Willen habe, als die herrschende Klasse" Andererseits das Interesse der nicht-besitzenden Klasse, eine möglichst große Abhängigkeit der höchsten Staatsgewalt vom Volke zu erreichen. Diese Klasse wolle daher „keinen Präsidenten, am wenigsten einen unverantwortlichen, sondern am liebsten einen wählbaren und zugleich verantwortlichen Ausschuß zur Leitung der höchsten Staatsgeschäfte. Dieser Ausschuß soll nur die Ausführung haben, während aller Beschluß in der Vertretung des Volkes liegt"

Gerade weil von Stein diese Gegentendenzen sah, schien ihm die Existenz eines vermittelnden, integrierenden Staatsoberhauptes um so notwendiger zu sein — als einzige Alternative zum brutalen Klassenkampf, der den Staat zerstören und in einen unvermittelten Interessen-antagonismus auflösen würde

Mit dem Aufkommen demokratischer Massen-parteien und der verbandspolitischen Organisation der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen im Zeitalter der Industrialisierung entwickelten diese Überlegungen eine zunehmende Faszination. In Deutschland, wo das Bürgertum nicht zur direkten Ausübung der politischen Macht gelangte und in wachsender Revolutionsfurcht seine Zuflucht bei einer starken Exekutive suchte, konnte die Fiktion von der nationalen Integration durch die Person des Monarchen lange Zeit attraktiv bleiben Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war des Kaisers Wort „Ich kenne keine Parteien mehr" das letzte Aufleuchten dieser monarchischen Integrationsideologie, die bald — mit der Übernahme der 3. Obersten Heeresleitung durch Ludendorff/Hindenburg — von dem integrativen Hindenburg-Kult abgelöst wurde

Der gesellschafts-und staatspolitische Inhalt der Lehre vom „pouvoir neutre" wurde den neuen Bedingungen gemäß aktualisiert, als sich bei Kriegsende der Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem vollzog und nach der Revolution die Weimarer Republik entstand. Ohne zu beachten, daß die höchste Autorität in einer republikanischen Demokratie nicht — wie in der Monarchie. — bei einer Person, sondern bei der Verfassung bzw.dem Verfassungsgeber liegt, wurde die Ideologie vom monarchischen „pouvoir neutre“ bemüht, um die Position und Funktion des republikanischen Staatsoberhauptes zu bestimmen.

Verfassungstheoretisch orientierte sich die Interpretation an der Rezeption des Gleichgewichtsmodells. In Anlehnung an die Systematik des franzöischen Staatsrechtlers Duguit sah Robert Redslob das Lebensprinzip der parlamentarisdien Verfassung im Gleichgewicht zwischen der exekutiven und der legislativen Gewalt; das parlamentarische Regime sei einer Waage vergleichbar „Der nominelle Träger der Gewalt, der Monarch oder der Präsident, hält sie in Händen. Die beiden Platten sind das Ministerium und das Parlament. Die Schwerkraft entspricht dem unwiderstehlichen Zwang, der aus den Wahlen folgt. Das Staatsoberhaupt soll das Gleichgewicht herstellen, indem es die Gewichte auf die eine oder andere Seite verteilt.“

Bekanntlich hat dieses Konzept die Weimarer Verfassung und deren Interpretation nachdrücklich beeinflußt Es wurde ergänzt durch die gesellschaftspolitischen, integrativen Überlegungen, die von liberalen Politikern wie Hugo Preuß und Friedrich Naumann im Verfassungsausschuß vertreten und später von Carl Schmitt herangezogen wurden, als er mit Hilfe der Constantschen Lehre von der neutralen Gewalt des Staatsoberhauptes den Reichspräsidenten als „Hüter der Verfassung" interpretierte und damit den Über-gang zum autoritären Staat gedanklich vorbereitete

In den zwanziger Jahren wiederholte sich so der bereits im Konstitutionalismus unternommene Versuch, ein Gegengewicht zum pluralistischen Parlament zu schaffen. Der Staat sollte in der Person des Präsidenten als integrative Einheit über den gesellschaftlichen Antagonismen etabliert werden. Zwischen den um die Durchsetzung ihrer Interessen kämpfenden Parteien und den von ihnen beherrschten verfassungspolitischen Gewalten sollte eine vermittelnde Kraft wirken, der Unabhängigkeit von Partialinteressen und „Neutralität“ unterstellt wurde.

Die Perversion des Integrationsund Einheitsgedankens durch den nationalsozialistischen Führerstaat lieferte den Beweis, daß die Verkörperung der nationalen Einheit, die personale Integration von Volk und Nation im „Führer" und die Überwindung der „Parteiungen" nur durch die gewaltsame Zerschlagung der demokratischen Parteien und Organisationen, durch die Herrschaft einer Partei und durch den ständigen Einsatz des staatlichen Terrorapparats möglich war bzw. propagandistisch in Szene gesetzt wurde, um eine Fassade zu erzeugen, hinter der der brutale Machtkampf stattfand

Mit dem Dritten Reich zerbrach auch dieses ideologische Gebäude, aber die personalen Einheitsmythen — die Vorstellungen von der Verkörperung des „Ganzen" im Staatsoberhaupt — blieben virulent. Diese These soll an drei Beispielen aus dem nach 1945 erschienenen Schrifttum belegt werden:

Adolf Süsterhenn bezeichnet es als die wesentliche Funktion des Bundespräsidenten, „den pouvoir neutre auszuüben, d. h.den ausgleichenden Faktor zu bilden, die vielfach divergierenden politischen und wirtschaftlichen Interessen zusammenzufassen und miteinander zu versöhnen

Paul Kehlenbeck postuliert, gestützt auf die Constant-Rezeption von Carl Schmitt und die Integrationslehre von Rudolf Smend der Staatspräsident der parlamentarischen Republik sei am besten dazu geeignet, „durch seine Person der Staatszersetzung entgegenzuwirken und die Einheit des Staates zu fördern" „Eine volle Würdigung seiner Gesamtfunktion ist nur möglich, wenn man berücksichtigt, daß er durch seine Person die Einheit des Staates zu repräsentieren und dadurch zu integrieren berufen ist. In ihm wird der Staat zu einer lebendigen Persönlichkeit, der tiefere Sinn seines Daseins als Staatsoberhaupt ist die symbolische Zusammenfassung aller Staats-kräfte in einer einzigen Person und die dadurch hervorgerufene Integration der staatlichen Vielfalt zur Staatseinheit.'— „Die ihm eigene neutrale Position ermöglicht es dem Präsidenten, den Staat als Einheit zu repräsentieren, ohne zugleich der Exponent oder auch nur das Sprachrohr einer parteipolitischen Richtung oder einer anderen Interessengruppe (...) zu sein. Dem Pluralismus der im modernen Massenstaat wirksamen Machtgruppen entgegenzuwirken, ist seine eigentliche verfassungsrechtliche Aufgabe (...).“

Emst Forsthoff schließlich stilisiert in ähnlicher Weise den durch das Volk gewählten Präsidenten zum Repräsentanten staatlicher Neutralität und hält „einen solchen, auf den ständigen Ausgleich der gesellschaftlichen Kräfte mit der neutralen Gewalt beruhenden Staat“ auch heute noch für den „Prototyp der den deutschen Verhältnissen angemessenen parlamentarischen Demokratie"

Auf diese Weise sind Theoretiker, die obrigkeitlicher oder gouvernmentaler Tradition verpflichtet sind und den gesellschaftlichen und politischen Pluralismus als Gefahr empfinden, bemüht, die Autorität und Oberhoheit des Staates zu verteidigen. Sie reklamieren — oftmals ausdrücklich in Anknüpfung an Constant und von Stein — das Staatsoberhaupt als integratiyen „pouvoir neutre“, um eine Verkörperung der staatlichen Einheit zu gewinnen und die staatliche Sondersphäre gegenüber der pluralistischen Gesellschaft zu retten

Das bisher Ausgeführte läßt sich mithin folgendermaßen zusammenfassen: Bei der Weiterentwicklung der Lehre von der neutralen Gewalt des Staatsoberhauptes tritt die Integrationsfunktion neben die Gleichgewichts-funktion, die im ursprünglichen Modell konstitutiv war. Wo der politisch-soziale Inhalt der Lehre nicht reflektiert wird, werden die verfassungspolitischen Beziehungen nicht mehr als Vermittlungen zwischen realen gesellschaftlichen Machtgruppen verstanden. Das Modell wird reduziert auf den Dualismus zwischen Exekutive und Legislative, von Regierung und Parlament; diese beiden Verfassungskräfte sollen vom Staatsoberhaupt (durch die Stärkung der relativen Selbständigkeit der Regierung gegenüber dem Parlament) im Gleichgewicht gehalten werden.

Je stärker indes die gesellschaftspolitischen Bezüge der Lehre vom „pouvoir neutre“ berücksichtigt und auf die neue Realität der sozialen und politischen Mobilisierung angewandt werden, desto deutlicher tritt statt der verfassungspolitischen Gleichgewichtsfunktion die gesellschaftspolitische Integrationsfunktion des Staatsoberhauptes in den Vordergrund. Beide Funktionen sind in der Lehre von der neutralen Gewalt des Staatsoberhauptes enthalten und werden dem realpolitischen und -gesellschaftlichen Wandel gemäß jeweils unterschiedlich akzentuiert.

III.

Ausgehend von diesem Befund, kann die eingangs gestellte Frage, ob die Lehre von der neutralen Gewalt und die von ihr hergeleiteten Funktionen des Staatsoberhauptes mit der Struktur des modernen parlamentarischen Parteienstaates vereinbar sind, wie folgt konkretisiert werden:

Ist die Präsidialgewalt im parlamentarischen Parteienstaat wie der „pouvoir royal“ im liberalen Konstituti nalismus als neutral zu interpretieren, und hat der Präsident auch im parlamentarischen Parteienstaat die Funktion eines Gleichgewichtsstifters und neutralen Integrators?

Wie wir oben sahen, war im konstitutionellen Modell Constants die Annahme, Neutralität sei die Eigenschaft der monarchischen Gewalt, bereits höchst problematisch — obwohl sie damit begründet wurde, daß die dynastische Erbfolge und die Nichtzugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft sowie die Unabhängigkeit von den „pouvoirs actifs'eine überhöhte Stellung garantierten. Diese Kriterien treffen aber in offenkundiger Weise nicht für den bürgerlichen, auf Zeit gewählten Präsidenten im par-lamentarischen Parteienstaat zu, so daß hier eine solche Neutralität schwerlich behauptet bzw. leicht als ideologische Verschleierung durchschaut werden kann.

So wird denn auch in der neuesten Arbeit von Werner Kaltefleiter der von Benjamin Constant geprägte Neutralitätsbegriff abgelehnt, aber gleichzeitig eine Neutralität neuer Art konstruiert und dem Staatsoberhaupt im parlamentarischen Parteienstaat zugeschrieben. Neutralität bedeute hier (nach Kaltefleiter) „nicht Partei ergeifen" (S. 59) und werde zu einer „Frage der Perzeption" (S. 61). Aber auch diese Version ist wenig überzeugend. Denn Kaltefleiter verwickelt sich in einen offenen Widerspruch, indem er einerseits feststellt, „politische Macht ist ex definitione nicht neutral und Neutralität ist nur um den Preis der politischen Machtlosigkeit zu erhalten" (S. 189), andererseits aber trotzdem dem Staatsoberhaupt im parlamentarischen System ausdrücklich eine Reservemacht zuerkennt Ferner sind Kriterien wie Genesis und sozialpolitischer Hintergrund des Staatsoberhaupts sowohl für die Handlungen des Präsidenten als auch für die Art und Weise, wie die Aktionen perzipiert werden, höchst bedeutsam. Mögen bei einem monarchischen Staatsoberhaupt noch Relikte der alten Tradition als sozialpsychologische Imponderabilien wirksam sein (wobei sehr genau nach den unterschiedlichen sozialen und politischen Gruppen differenziert werden müßte). Zumindest der republikanische Präsident ist — im Unterschied zum Monarchen — schon aufgrund seiner Wahl Exponent einer Partei oder Parteienkoalition, also keine überparteiliche Größe. Dabei ist es — entgegen der noch heute von Werner Weber vertretenen Meinung — relativ gleichgültig, ob der Präsident direkt vom Volk oder von Parlamentariern gewählt wird. Denn auch die Volkswahl ist ohne die Willensbildung durch die Parteien, die die Kandidatenauswahl vornehmen den und Wahlkampf organisieren, undenkbar. Und nach der Wahl die Qualität der Uberparteilichkeit annehmen zu wollen, käme einer politischen Transsubstantiationstheorie gleich. Schon Walter Bagehot, dessen Funktionsbestimmungen für das monarchische Staatsoberhaupt ansonsten häufig zitiert werden, hat nachdrücklich dargelegt, daß ein gewähltes bürgerliches Staatsoberhaupt „would inevitably be a party man"; die stärkste Partei würde eine Persönlichkeit wählen, die in kritischen Situationen auf ihrer Seite stünde und ihr politisch behilflich wäre Der politische Sachverhalt, in dem dieser Teilaspekt eine Rolle spielt, soll kurz am Beispiel der Bundesrepublik erläutert werden.

Der Bundespräsident ist nach der Konstruktion des Grundgesetzes nur solange und insoweit in einem gewissen Sinne unparteiisch-neutral, als er gar nicht selbständig-frei handeln kann, sondern an den politischen Willen anderer Organe gebunden ist. Selbst das Recht, den ersten Kandidaten für die Kanzlerwahl dem Bundestag vorzuschlagen, ist normalerweise (d. h. beim Funktionieren des politischen Systems) unbedeutend, weil das Parlament, falls es diesen Kandidaten nicht mehrheitlich akzeptiert, im zweiten Wahlgang einen anderen Kandidaten wählen kann; und der Bundespräsident muß den von der Mehrheit des Bundestags gewählten Kanzler ernennen (Art. 63 GG). Die Bundesminister werden zwar ebenfalls formal vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen — aber auf Vorschlag des Kanzlers (Art. 64 GG); das heißt, selbst wenn der Bundespräsident nicht verpflichtet ist, die Vorschläge des Kanzlers zu akzeptieren (was in der staatsrechtlichen Literatur umstritten ist), so ist er jedoch andererseits „nicht befugt, andere als die ihm vom Bundeskanzler vorgeschlagenen Personen zu Ministern zu ernennen" bzw. zu entlassen Nach der Regierungsbildung ist der Bundespräsident in seinem Handeln eindeutig an den politischen Willen der Regierung bzw.der Parlamentsmehrheit gebunden. Seine „Anordnungen und Verfügungen" bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler den zuständigen oder durch Bundesminister (Art. 58 GG). Dies gilt auch für die Ausfertigung von Gesetzen für die Verkündung von Parlamentsbeschlüssen (z. B. betr.den Verteidigungsfall [Art. 115 a und 1151 GG]) und bei Ernennungen (Art. 60 GG) sowie für das Tätigwerden im außenpolitischen Bereich (Art. 59 GG). Bei all diesen Akten ist der Bundespräsident also unparteiisch-neutral nur in dem Sinne, daß er seine Dienste der jeweiligen verfassungsmäßigen Regierung bzw. Parlamentsmehrheit ungeachtet deren parteipolitischer Zusammensetzung im Rahmen von Verfassung und Gesetz zur Verfügung zu stellen hat — also nicht nach eigenen politischen Präferenzen wählen kann, wen er unterstützt. Diese Feststellung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Bundespräsident dadurch an eine bestimmte Partei- oder Parteienregierung gebunden ist, der seine durch sie gebilligten Handlungen dienen. Sie sind also in diesem Sinne nicht „neutral".

In den wenigen Grenzfällen, in denen der Bundespräsident überhaupt einen eigenen Handlungsspielraum (also „pouvoir") hat, ergreift er auch in dem Sinne Partei, daß er unter angebbaren Umständen zwischen der Unterstützung dieser oder jener politischen Gruppierung wählen kann; nämlich dann, wenn er (1) im Falle unklarer Mehrheitsverhältnisse im Bundestag den Führer bzw. einen Führer einer Partei oder Parteienkoalition zur Wahl als Kanzler vorschlägt, ihm also gegenüber anderen aussichtsreichen Kandidaten einen Vorsprung und die Chance des Gewähltwerdens gibt; (2) wenn keine Mehrheitswahl zustande kommt und schließlich der Gewählte nicht die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. In diesem Fall kann der Bundespräsident den Minderheitskanzler binnen sieben Tagen ernennen oder den Bundestag auflösen (Art. 63, 3 GG); (3) wenn er einem Kanzler, der die Vertrauensfrage gestellt und kein Mehrheitsvotum erhalten hat, die Auflösung des Bundestages binnen 21 Tagen zugesteht (Art. 68 GG) oder mit Zustimmung des Bundesrates nach Art. 81 GG den Gesetzgebungsnotstand erklärt und den Minderheitskanzler damit stützt — bzw. wenn er nicht entsprechend eingreift.

In diesen Fällen ist also der Präsident nicht „der parlamentarisch-politischen Kampfsitua-tion entrückt" und er wird, wie die Wahlen der bisherigen Präsidenten belegen, u. a. unter diesem Aspekt von den Parteien ausgesucht. Es wäre eine reine Fiktion, wollte man angesichts dieser Möglichkeiten eine „Neutralität“ annehmen. Was hier am bundesrepublikanischen Beispiel gezeigt wurde, dürfte im übrigen unschwer auch durch die Untersuchung anderer parlamentarischer Verfassungen und deren Verfassungswirklichkeit zu bestätigen sein.

IV.

Nach dem Nachweis, daß dem Präsidenten im parlamentarischen Parteienstaat weder die Eigenschaft der Neutralität im Constantschen Sinne noch eine Neutralität neuer Art zuge-schrieben werden karn, ist zu vermuten, daß im parlamentarischen Parteienstaat das Staatsoberhaupt auch nicht (1) als Gleichgewichts-stifter oder (2) als neutraler Integrator zu interpretieren ist.

ad 1: Das parlamentarische Regierungssystem parteienstaatlicher Ausprägung ist dadurch dharakterisiert, daß sich Regierung und Parlament nicht mehr als separate, relativ selbständige Größen gegenüberstehen. Das Parlament ist parteipolitisch strukturiert, und Regierung und Parlamentsmehrheit werden durch die Regierungspartei bzw. -parteien im Prinzip zu einer Handlungseinheit integriert Mit der Änderung dieser beiden Hauptvariablen und ihres gegenseitigen Verhältnisses fällt das von Constant konstruierte und von späteren Theoretikern rezipierte Gleichgewichtsmodell samt des balancierenden „pouvoir neutre“ in sich zusammen.

Bereits die Ausgangskonstellation eines Gleichgewichts ist undenkbar geworden. Und dort, wo die Befugnisse des „pouvoir neutre“ noch als schwache Relikte des liberalen Kon-stitutionalismus im modernen parlamentarischen System vorhanden sind, übt das Staatsoberhaupt mit ihrer Hilfe nicht eine Balance-funktion zwischen „dem Parlament“ und der Regierung aus, sondern kann (wie wir oben sahen) einer bestimmten Parteigruppierung unter Umständen zur Regierung verhelfen bzw. sie im Amt stützen.

Das Gleichgewichtsmodell ist auch dadurch nicht zu retten, daß es im Hinblick auf die „neue Gewaltenteilung" zwischen Regierung und Opposition neu formuliert wird, indem dem Präsidenten eine neutrale, vermittelnde Funktion zwischen beiden Variablen zugeschrieben wird Denn der Gedanke eines derartigen Gleichgewichts steht im logischen Widerspruch zum Verhältnis von Regierung und Opposition, das ja gerade durch das Über-gewicht der Regierung und der sie stützenden Parlamentsmehrheit begründet wird. Es wäre widersinnig, dem Staatsoberhaupt die Aufgabe zuzuweisen, den gewollten Gegensatz und das systemnotwendige Übergewicht zum Gleichgewicht hin zu neutralisieren.

Schließlich kann eine präsidiale Vermittler-funktion zwischen Regierung bzw. Regierungsparteien und Opposition nicht damit begründet werden, daß der Präsident über die Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte, insbesondere der Minderheit, wachen solle Die generelle Bindung an die Verfassung, die für alle Staatsorgane und Bürger zutrifft bzw. zutreffen soll, gilt auch für den Präsidenten. Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland und ihre grundgesetzliche Regelung, geht das schon daraus hervor, daß der Bundespräsident, der Bundeskanzler und die Bundesminister bei der Amtsübernahme gleichlautende Eidesformeln sprechen. Darüber hinaus ist — ebenfalls nach dem Grundgesetz — nicht das Staatsoberhaupt der spezielle „Hüter der Verfassung", sondern das Bundesverfassungsgericht, dessen Urteil der Bundespräsident seinerseits unterworfen werden kann Im Constantschen Modell war der „pouvoir neutre" nur insofern „Hüter der Verfassung", als er Hüter des Gleichgewichts war und als „pouvoir royal" die Kontinuität der monarchischen Verfassung wahrte_ Bedingungen, die insgesamt in der modernen parlamentarischen Demokratie nicht mehr gegeben sind.

ad 2: Wie verhält es sich im parlamentarischen Parteienstaat mit der zweiten Funktion, der personalen Integration, die nach der Lehre vom „pouvoir neutre" dem Staatsoberhaupt zugewiesen wird?

Wie oben im einzelnen dargetan, wurde die besondere Integrationsfunktion des Staatsoberhauptes im System des liberalen Konsti-tutionalismus damit begründet, daß das Staatsoberhaupt jenseits des bürgerlichen Interessenstreites angesiedelt wurde und nicht der bürgerlichen Gesellschaft, die die Legislative qua Zensuswahlrecht beherrschte, entstammte bzw. nicht von der Abgeordnetenkammer gewählt werden sollte. In der pluralistischen Massendemokratie und der parlamentarischen Republik der Gegenwart entfallen alle diese Voraussetzungen. Eine eindeutige Zuordnung von bestimmten sozialen Gruppen zu einem verfassungspolitischen Organ ist nicht mehr möglich, und mit der Entstehung des modernen Interventions-und Wohlfahrtsstaates ist die Schranke zwischen Gesellschaft und Staat weitgehend verschwunden Angesichts dieser Wirklichkeit dienen die Versuche, die Integrationsfunktion des Staatsoberhauptes im Sinne des „pouvoir neutre" nach wie vor zu behaupten, bewußt oder unbewußt der Verschleierung der gesellschaftlichen und politischen Antagonismen. Sie erzeugen — wie die obigen Zitate von Süsterhenn, Kehlenbeck und Forsthoff dokumentiert haben — eine Staatsmystik und zeichnen sich dadurch aus, daß organologische Vorstellungen mit Elementen einer vordemokratischen Repräsentationstheorie kombiniert werden. Hingegen folgt im demokratischen Verfassungsstaat die notwendige Einheit „nicht logisch aus der Einheit des Vertreters, sondern muß durch einen dynamischen Prozeß beständig erneuert werden" dessen Ort im parlamentarischen Regierungssystem vornehmlich die Volksvertretung sein soll. Und der Ausgleich der Inter-essen geschieht nicht durch personale Integration, sondern im Prinzip in offener Auseinandersetzung — vermittelt durch politische Parteien. Ja, die offene Konfliktaustragung kann selbst integrativ wirken während jeder Präsident heillos überfordert wäre, sollte oder wollte er — wie Forsthoff meint — „den gerechten Ausgleich" (was immer das sein mag) vornehmen und die divergierenden Interessen „versöhnen“ (Süsterhenn).

Diejenigen Kriterien, die den Präsidenten als balancierenden „pouvoir neutre“ disqualifizieren (s. oben), sprechen schließlich auch gegen ihn als neutralen Integrator. Was von der Repräsentationsidee bleibt, ist — im Unterschied zur innerstaatlichen „Verkörperung" des „Ganzen" — die völkerrechtliche Vertretung des Staates nach außen, die aber mit der Lehre des „pouvoir neutre" nichts zu tun hat

V.

Die Ergebnisse unserer Erörterungen führen zu folgendem thesenhaften Resümee:

1. Die Lehre von der neutralen Gewalt des Staatsoberhauptes ist strukturell an das Gleichgewichtsmodell der revidierten Lehre von der Gewaltenteilung und -Verschränkung gebunden. Die Gleichgewichts-und Integrationsfunktion wurde aus der schon damals problematischen Annahme der Neutralität des „pouvoir royal" hergeleitet. 2. Mit dem Strukturwandel vom Konstitutio-nalismus zum parlamentarischen Parteienstaat sind das Gleichgewichtsmodell und die aus ihm deduzierte Lehre vom „pouvoir neutre" obsolet geworden, weil sich alle Variablen in ihrer Größe und in ihrem Verhältnis zueinander grundlegend geändert haben. Der „pouvoir neutre", das Strukturelement der konstitutionellen Monarchie, paßt nicht in die Struktur des parlamentarischen Parteienstaates. 3. Zumindest für das republikanische Staatsoberhaupt in diesem System gilt ferner, daß die Voraussetzung für die Neutralität der Präsidialgewalt insbesondere deshalb entfällt, weil der Präsident keine vorgegebene, den politischen und sozialen Antagonismen enthobene, unabhängig-neutrale Position und keine höchste Autorität besitzt.

4. Dort, wo die einer andersartigen politischen und sozialen Konstellation zugehörende Lehre gleichwohl auf die parteienstaatliche, pluralistische Gegenwart übertragen wird, erschwert sie eine zutreffende Interpretation des Präsidentenamtes und der präsidialen Handlungen. 5. Insbesondere ist der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland kein „pouvoir neutre", sondern in Normalzeiten an den politischen Willen der jeweiligen verfassungsmäßigen Parteiregierung bzw. Parlamentsmehrheit gebunden und kann nur die von ihr offiziell gebilligten Handlungen ausführen. In den wenigen Grenzfällen, in denen er einen eigenen Handlungsspielraum hat, ergreift er Partei und stützt (unter bestimmten Umständen) eine politische Gruppierung.

6. In einer parlamentarisch-parteistaatlichen Demokratie wird der Staat im Präsidenten nicht zu einer „lebendigen Persönlichkeit" und vollzieht sich der Interessenausgleich nicht neutral-integrativ im Staatsoberhaupt, sondern vermittelt durch kollektive Willensverbände, vor allem durch politische Parteien. 7. Indem die Lehre von der neutralen Gewalt des Staatsoberhauptes bzw. einzelne Elemente dieser rezipierten Lehre die Prinzipien demokratischer Willensbildung und Integration negiert oder einschränkt und dem antiparteienstaatlichen Affekt Vorschub leistet, kann sie schließlich der Erhaltung bzw. Wiederbelebung eines Verfassungsdenkens dienen, das im obrigkeitsstaatlichen und autoritären Denken wurzelt. Daher dürfte die kritische Auseinandersetzung mit dieser Lehre politisch geboten sein. 57

Fussnoten

Fußnoten

  1. Verfassungsausschuß der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen, Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, München o. J.; Otto Koellreuter, Deutsches Staatsrecht, Stuttgart und Köln 1953, S. 197.

  2. Zusammenstellung der Nachweise bei Otto Kimminich. Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, H. 25, Berlin 1967, S. 81 Anm. 225.

  3. Helmut Lehne (Der Bundespräsident als neutrale Gewalt nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Diss. rer. pol. Bonn 1960) versucht, die Funktionen des „pouvoir neutre“ wenigstens teilweise für den Bundespräsidenten zu rekla-mieren. Generell ablehnend argumentieren u. a.: EDIf-Richard Grauhan, Gibt es in der Bundesrepukeiinen „pouvoir neutre“?, Diss. jur. Heidelberg 59 ders., Der Bundespräsident — Aktiv oder neutral?, in: Juristische Rundschau, 1965, H. 10,379 ff.; Karl Doehring, Der „Pouvoir neutre"

  4. Die Denkschrift ist abgedruckt bei Konrad Adenauer, Erinnerungen, 1955— 1959, Stuttgart 1967, S. 483 ff.

  5. Jahrbuch der öffentlichen Meinung, 1958— 64, Allensbach und Bonn 1965, S. 282.

  6. Siehe W. Kaltefleiter, a. a. O., S. 240 ff.

  7. Ebd. S. 273 f.; „Vorwärts" vom 2. 7. 1970; „Süddeutsche Zeitung" vom 21. 1. 1971.

  8. Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. erw. Aufl., Karlsruhe 1967; bei dem Begriff „Parteienstaat" wird im folgenden durchgängig der von Leibholz entwickelte Inhalt zugrunde gelegt.

  9. Dazu u. a. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, Berlin 1958.

  10. John Locke, The Second Treatise of Government (1690); Montesquieu, Esprit des lois (1748). — Vgl. dazu die grundlegende Untersuchung von Oskar Werner Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips, Zürich 1937. Die wichtigsten Aufsätze hat Heinz Rausch gesammelt und herausgegeben (Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, Wege der Forschung, Bd. 94, Darmstadt 1969).

  11. Fritz Machlup, Equilibrium and Disequilibrium. in: ders., Essays on Economic Semantics, Engelwood Cliffs 1963, S. 43 ff. (hier S. 54); David Easton, Limits of the Equilibrium Model in Social Research, in: Behavioral Science, 1 (1956) S. 96f Renate Mayntz, On the Use of the Equilibrium Concept in Social Analysis, in: Transactions of the Fifth World Congress of Sociology, vol. IV, 19641 S. 133 ff.

  12. Daß es sich bei den Entwürfen Lodces und Montesquieus um ein System der Gewaltenteilung und -Verschränkung handelte, ist in der Literatur wiederholt herausgearbeitet worden. In diesem zusammenhang hat insbesondere Martin Draht untrstrichen, daß bei Montesquieu die vollziehende und die gesetzgebende Gewalt aufeinander angewiesen und gezwungen seien „d’aller de concert"

  13. Vgl. Kurt Kluxen, Das Problem der politischen Opposition, München 1956, bes. S. 224 ff.

  14. Robert Redslob, Die Staatstheorien der franzö1912 n Nationalversammlung von 1789, Berlin

  15. Vgl. Paul Bastid, Benjamin Constant et sa doctrine, 2 Bde, Paris 1966; Lothar Gall, Benjamin Constant, Wiesbaden 1963.

  16. Da Constant außerdem korrekt die Zweiteilung der Legislative berücksichtigte, ergaben sich mithin fünf Gewalten, nämlich (1) le pouvoir royal, (2) le pouvoir executif, (3) le pouvoir representif de la duree, (4) le pouvoir representif de l'opinion und (5) le pouvoir judiciaire. Principes de poli-tique (1815). Abgedruckt in: Benjamin Constant, Oeuvres, Texte presente et annote par Alfred Roulin, Paris 1957, S. 1113 f.

  17. Siehe oben Anm. 13.

  18. Principes de politique, S. 1113. Weiter unten (S. 1114) schrieb Constant: „Le pouvoir royal est au milieu, mais au-dessus des quatre autres, autorite ä la fois superieure et intermediaire, sans intrt ä deranger l'equilibre, mais ayant au contraire tout intrt ä le maintenir (Hervorhebung vom Verf.).

  19. Ebd., S. 1116.

  20. J. C. Frh. v. Aretin., Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, 1. Bd., Altenburq 1824, 1. Teil, III § 10.

  21. J. C. Bluntschli und R. Brater, Deutsches Staats-Wörterbuch, 2. Bd., Stuttgart und Leipzig 1857, S. 624 ff.: vgl. Lothar Gall, S. 183 ff.

  22. Vgl. zum Folgenden Ernst-Wolfgang Böcenförde, Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft,

  23. Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Be-

  24. Ebd., Bd. 2, S. 50; vgl. auch Lothar Gall, S. 190 f.

  25. Ebd., Bd. 3, S. 172 f.; vgl. auch ebd., Bd. 3, S. 400 ff.

  26. Ebd., Bd. 2, S. 51 f.

  27. Ebd., Bd. 3, S. 181.

  28. Ebd., Bd. 3, S. 182 ff.

  29. Vgl. Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871— 1918, München und Wien 1969. — Zur Revolutionsfurcht siehe die Untersuchungen von Michael Stürmer (u. a.seinen Aufsatz „Konservatismus und Revolution in Bismarcks Politik", in: Das kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970, S. 143 ff.).

  30. Elisabeth Fehrenbach hat gezeigt, wie die Militärdiktatur Ludendorff/Hindenburg „die plebiszitären Züge des wilhelminischen Kaisertums ohne Rücksicht auf die monarchische Tradition. ..“ zugleich isolierte und steigerte (S. 219).

  31. L. Duguit, Traite de droit constitutionel, Paris 1911, t. I, S. 411.

  32. R. Redslob, Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form, Tübingen 1918, S. 7.

  33. Vgl. Friedrich Glum, Das parlamentarische Regierungssystem in Deutschland, Großbritannien und Frankreich, München und Berlin 1950, bes. S. 155 ff.

  34. Ebd., sowie Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1929, bes. S. 136 ff. Vgl. dazu Jürgen Fijalkowski, Die Wendung zum Führerstaat, Köln und Opladen 1958. — Die Wurzeln der Naumannschen Vorstellungen werden in der Analyse von Elisabeth Fehrenbach (S. 200 ff.) deutlich sichtbar.

  35. Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur, Köln 1969.

  36. Ausführungen in der 10. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates am 30. 11 1948, zit. bei H. Lehne, S. 1 (Hervorhebung vom Verf.).

  37. Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München und Leipzig 1928, S. 27 ff.

  38. Paul Kehlenbeck, Der Staatspräsident, Hamburg 1955, S. 122 f.

  39. Emst Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaates, Münster 1954, S. 20.

  40. Forsthoff (ebd., S. 19) formuliert: „Denn echte Staatlichkeit steht über dem Ringen der gesellschaftlichen Interessen. Sie ist ihnen gegenüber neutral und hat in dieser Neutralität mit der Freiheit zu echter Sachentscheidung ihre spezifische Autorität und Würde.'

  41. Dieser Widerspruch ist auch nicht aufzulösen, indem zwischen Macht und Einfluß unterschieden wird. Zumindest 'n den unten angeführten Grenzfällen (2) und (3) hat z. B.der Bundespräsident die Chance, seinen Willen auch gegen Widerstrebende durchzusetzen.

  42. Weiner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951, S. 31.

  43. „The right to be consulted, the right to encourage, and the right to warn." Walter Bagehot, The English Constitution (1867), London 1964, S. 111.

  44. Ebd., S. 110 (bezeichnender Weise zitiert Kaltefleiter diese Stelle nicht).

  45. Andreas Hamann, Das Grundgesetz, Neuwied und Berlin, 2. Auf). 1961, S. 315.

  46. Zur Prüfungsbefugnis vgl. u. a. Ernst Friesen-hahn, Zum Prüfungsrecht des Bundespräsidenten, in: Festschrift für Gerhard Leibholz, Tübingen 1966; sowie die Ausführungen und die Literatur-verweise bei Otto Kimminich, S. 84 ff.

  47. So Theodor Eschenburg, Der Bundespräsident, in: Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik I, München, 2. Aufl. 1967, S. 133.

  48. Vgl. u a. H. J. Varain, Das Parlament im Parteienstaat, in: Politische Vierteljahrsschrift 5 (1964) S. 339 ff., bes. S. 347.

  49. Siehe die Erörterungen von Peter Pernthaler, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, H. 25, Berlin 1967, S. 140 ff. und S. 204.

  50. Ebd., S. 148ff.; vgl. auch Doehring, S. 209.

  51. Siehe dazu die Ausführungen von Grauhan und Kimminich.

  52. Dazu u. a. Martin Draht, a. a. O., und Wolfgang Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied und Berlin 1967.

  53. Vgl. Kimminich, S. 3 ff.

  54. Siehe Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin u. a. 1953, S. 301 ff.

  55. Ebd., S. 302.

  56. Vgl. die soziologischen Untersuchungen von Georg Simmel und Lewis Coser sowie die kritische Analyse von Karlheinz Messelken, Politik-begriffe der modernen Soziologie, Köln und Opladen 1968.

  57. So auch Otto Kimminich, S. 62 ff. und S. 79.

Weitere Inhalte

Werner Link, Dr. phil., geb. 14. Juli 1934, Dozent für Politische Wissenschaft an der Universität Marburg. Veröffentlichungen u. a.: Die Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK), Meisenheim 1964; Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration aus dem Nachlaß von Friedrich Stampfer, Düsseldorf 1968 (Bearbeiter); Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland 1921— 1932, Düsseldorf 1970; Die außenpolitische Rolle des Parlaments und das Konzept der kombinierten auswärtigen Gewalt, in: PVS-Sonderheft 2, 1971.