Man täte gut daran, bei „Kommunikation" im Zusammenhang mit der Volksrepublik China nicht nur an Zeitung und Rundfunk zu denken, sondern ganz allgemein an „persuasive" Steuerung von Individuen zum Zwecke gesellschaftlicher Integration. Zur „Machtergreifung, dem fundamentalsten Problem der Revolution"
Zwei Einschränkungen sind zu erwähnen; Einmal wurde besonderer Wert darauf gelegt, die Verhältnisse seit der Kulturrevolution in den Griff zu bekommen; zum andern erscheint es zweckmäßig, einige Sektoren des Kommunikationswesens auszuklammern, teils weil sie seit der Kulturrevolution keine eigenständige Rolle gespielt haben (z. B.der Film), teils weil ihre Darstellung zu unergiebig wäre (z. B. das Ausstellungswesen). Vor allem aber mußte der weite Bereich der „neuen Kunst" außer Betracht bleiben, der in seinen einzelnen Ausprägungen zwar ebenfalls Kommunikationscharakter trägt, wegen der vorhandenen Stoff-massen jedoch nach einer gesonderten Darstellung verlangt.
I. Allgemeines zur Massenkommunikation in China
1. Bedeutung der Massenkommunikationsmittel Wohl kein anderes kommunistisches Regime hat seit seinem Machtantritt so intensiven Gebrauch von den MK-Mitteln gemacht wie das chinesische. Wie ein Rückblick auf die traditionelle Gesellschaft und auf die im dortigen Klima wirkenden Integrationsfaktoren zeigt, hat sich freilich auch keine andere Regierung mit ähnlich schwierigen Hindernissen auseinanderzusetzen gehabt.
Eine institutionelle und eine ethische Dimension waren es, die im vorkommunistischen China den Sozialisierungsvorgang bestimmten:
— Institutionell war es — wie in allen agrarischen Gesellschaften — das Dorf, welches die breite soziale Basis im alten China abgab. Innerhalb des dörflichen Rahmens ging vor allem von drei Institutionen integrierende Wirkung aus: von der Familie, vom Clan und von der Dorfgemeinschaft. Die Familie war — wirtschaftlich gesehen, Konsum-und weitgehend auch Produktionsgemeinschaft;
— privat-und strafrechtlich gesehen, Haftungsgemeinschaft; Schulden des einzelnen galten als Familienschulden, und Verstöße gegen Recht und Sitte als Verstöße der Gesamt-familie, die dafür verantwortlich gemacht wurde, daß sie ihre Mitglieder nicht hinreichend erzogen hatte;
— religiös gesehen, war die Familie Zeremonialgemeinschaft. An den jährlichen Festen nahmen nicht nur die Lebenden teil, die manchmal von weither angereist kamen, sondern auch die Ahnen, die — obwohl unsichtbar — doch als integrierender Bestandteil der einzelnen Familie galten;
— kulturell gesehen, verstand sich die Familie als Erziehungsgemeinschaft, in der die Kinder zur praktischen Mitarbeit im elterlichen Betrieb angeleitet und — in wohlhabenden Familien — durch einen Hauslehrer unterrichtet wurden.
Gesichert wurden diese Funktionen durch eine Reihe von Regeln, deren Nichtbeachtung mit schweren Sanktionen bedroht war. Ehrfurcht gegenüber dem Vater sowie Loyalität und Liebe zum älteren Bruder waren dabei die primär geforderten Verhaltensweisen.
Dieser Beitrag, der den Zustand in der Volksrepublik China nach der Kulturrevolution besonders berücksichtigt, ist die stark gekürzte Fassung eines Buches, das unter gleichem Titel als Band Nr. 38 der „Mitteilungen des Instituts für Asienkunde Hamburg" erschienen ist. Der Clan war ein auf gemeinsamer Abstammung beruhender verwandtschaftlicher Bund mehrerer Familien, der sich zwar selten in Familienangelegenheiten einmischte, dafür aber um so nachhaltiger in allen wirtschaftlichen und politischen Angelegenheiten auf Dorf-ebene mitzusprechen hatte. In manchen Gemeinden unterhielten diese Sippen eigene Krankenhäuser, fungierten als Ehrengerichte und übten vor allem auch als Großgrundbesitzer bedeutsame soziale Funktionen aus.
Manchmal umfaßte der Clan ein ganzes Dorf und sorgte schon dadurch für eine prägnante soziale Gliederung der Dorfgemeinschaft. Wo dies nicht der Fall war, wurde der Dorftempel zum Zentrum für sämtliche Dörfler, ohne Rücksicht auf ihre Clan-Zugehörigkeit.
Der Tempel war aber nicht nur innerdörfliches Integrationszentrum, sondern bildete darüber hinaus auch einen Schnittpunkt, wo das Dorf mit der Zentralregierung in Kontakt kam. Dieser Kontakt konnte dadurch entstehen, daß die Dorfliteraten, die zugleich Tempelvorsteher waren, mit dem Kreismagistrat, dem untersten staatlichen Verwaltungsorgan, Verbindung aufnahmen
— Ethisch wurde dieses ganze System weniger durch Gesetz und Recht als vielmehr durch Sitte und Herkommen gesteuert.
Es ginge zu weit, hier den gesamten Apparat von Verhaltensregeln zu erörtern, wie er etwa in den „fünf Beziehungen, den vier Kardinaltugenden, den acht Tugenden" oder in sonstigen Maximen
Jahre lang zusammenhielt. Diese alles entscheidende Einstellung läßt sich im Grunde auf zwei Begriffe zurückführen, die für die chinesische Gesellschaft wahrscheinlich wesentlich bezeichnender sind als für jede andere Nation in der Weltgeschichte: Stabilität und Harmonie.
Stabilität: Von der objektiven Struktur her gesehen erwies sich die traditionelle chinesische Gesellschaft als eine holzschnittartig klar aufgebaute Hierarchie, die auf dem apriorischen Prinzip der Ungleichheit basierte und diesem Grundsatz vor allem in drei Richtungen Ausdruck verlieh: Das Alter rangierte vor der Jugend; die Männer waren gegenüber den Frauen bevorrechtigt; der Herrscher hatte ausgeprägte Privilegien gegenüber den Beherrschten.
Intersubjektiv wurde diese Struktur durch gegenseitige Erwartungen und Loyalitätsbekundungen gesichert. Ein diffiziles Repertoire von Verhaltensvorschriften bildete den Bezugsrahmen, innerhalb dessen die einzelnen Rollenträger ihre Bewährungsprobe durch ein permanentes Bekenntnis zu den bestehenden Autoritätsverhältnissen abzulegen hatten.
In der Erwartungssicherheit, die durch eine solche Dauermobilisierung der Loyalitätsbezeugungen erreicht wurde, lag schließlich auch jener Wert begründet, der den Chinesen als höchste soziale Tugend galt: die Pietät, die gemäß den konfuzianischen Lehren ursprünglich zwar nur im Verhältnis zwischen Kindern und Eltern gelten sollte, die aber in Wirklichkeit das gesamte Rollenverhalten bestimmte.
Harmonie: Ordnung ließ sich innerhalb dieses Gesellschaftsgefüges nur bewahren, wenn der einzelne sich den Kollektiven der Familie, des Clans und der Dorfgemeinschaft unterordnete und ausschließlich auf sein „soziales Gesicht", nicht aber auf seine eigenen Wünsche und Bestrebungen achtete.
Was nun die traditionelle chinesische Gesellschaft besonders kennzeichnete, war die geradezu neurotische Bedachtsamkeit, jeden Konflikt zu vermeiden und jegliche Aggression zurückzustauen. Disziplinierte Höflichkeit, reziproke Hilfsbereitschaft und dauernder Austausch von Geschenken und Aufmerksamkeiten schufen eine Art Reservekapital an guten Taten, das auch in Zeiten der Krise den Geist der Versöhnlichkeit wachhielt. Dieser ständige gegenseitige friedliche Beistand machte das Wesen der in China immer wieder erstrebten „großen Einheit" aus, die mit dem Frieden (ho-p'ing) identifiziert wurde und der nichts mehr zuwider war als Unruhe (luan). Durch die Kommunisten, die sich die Zerstörung der „vier Alten" (altes Denken, alte Kultur, alte Sitten, alte Gewohnheiten) zum Ziele gesetzt haben, wurde dieser traditionsreiche Integrationsmechanismus zerschlagen und durch neue Sozialisierungstaktiken ersetzt. Die 1950 beginnende Landreform eliminierte zunächst die traditionelle Elite, deren ökonomische Macht auf Landbesitz, deren politische Macht auf Bürokratie und deren soziale Macht auf dem überkommenen Sozialstatus gegründet war. Im Zuge dieser Umwälzungen gingen die Befugnisse des Clans und der bisherigen Dorfgemeinschaft auf die lokalen Parteiausschüsse über. Die Volkskommunenbewegung von 1958 schließlich, die das System der industriellen Arbeitsteilung auf die Landwirtschaft übertrug und gleichzeitig die Bevölkerung militärisch zu disziplinieren suchte, riß auch die Familien auseinander. Wenngleich eine gewisse Milderung in den darauf folgenden Jahren die härtesten Eingriffe wieder beseitigte, so hat doch die Kulturrevolution erneut klargemacht, daß die Familie — von Clan und Dorfgemeinschaft ganz zu schweigen — ein für allemal ihre traditionelle Stellung verloren hat.
Die alten Autoritäten waren also ausgeschaltet. Was sollte an ihre Stelle treten? Die Kommunisten gaben eine revolutionäre Antwort: Zu den hervorstechendsten Merkmalen des alten Kaiserreichs hatte die scharfe Trennung zwischen Staat und Gesellschaft gehört. Die Zentrale verfügte im allgemeinen über keine direkten Verbindungskanäle zu den Dörfern als solchen. Ihre untersten administrativen Einheiten reichten nur bis zur Kreisebene. Alle Einheiten, die darunter lagen, hatten sich selbst zu organisieren, wobei, wie bereits erwähnt, ein fester Bestand traditioneller Moralbegriffe und religiöser Vorstellungen die wesentliche Orientierungshilfe leistete. Den Kommunisten nun daran, zum lag erstenmal in der chinesischen Geschichte auch das bisher vergessene Dorf direkt anzusprechen und unter Kontrolle zu bringen. Nicht zuletzt mit Hilfe der breit gefächerten und auf die bäuerlichen Verhältnisse abgestimmten MK-Mittel gelang es ihnen, auch das Hinterland in eine soziale Klinik umzuwandeln.
Zu neuen Autoritäten wurden anfangs der Staat, später die Partei und schließlich das „Denken Mao Tse-tungs".
Was aber den kommunistischen Maßnahmen erst den eigentlichen revolutionären Charakter verlieh, war nicht so sehr die Errichtung einer neuen Autoritätsstruktur, sondern vielmehr der neue Verhaltenskodex, der als Regulativ des gesellschaftlichen Integrationsprozesses eingeführt wurde. Drei solcher Steuerungsmechanismen waren es vor allem, die in der chinesischen Sozialphilosophie so unerhört neu sind, daß man von einem Kontrast-, wenn nicht gar von einem Antipodenprogramm sprechen könnte: Fluktuation, Kampf und Egalitarismus.
Der ordnungserhaltenden, statistisch-routinemäßigen Funktionsweise des traditionellen Systems setzten die Kommunisten das Prinzip entgegen, daß alles sich im Fluß befinde. Die alte Gesellschaft hatte sich an den Vorbildern der Vergangenheit orientiert und war der ewigen Wiederkehr des Gestrigen verhaftet gewesen. Dieser Haltung des „ein für allemal“ setzten die Kommunisten ihre Bereitschaft zu „erstmaligem Verhalten" und ihre Zukunftsgläubigkeit entgegen. Es war der Begriff der Revolution, unter der diese , rerum novarum cupiditas'zusammengefaßt wurde, eine Revolution, die nicht etwa sich , uno actu'vollziehen, sondern in einem permanenten Kampf der Widersprüche abspielen sollte. Jede in diesem dialektischen Prozeß erreichte qualitative Wandlung gilt als „Revolution", sofern sie den überbau einen Schritt näher an die sozialistische Basis heranführt.
Als weitaus folgenschwerer noch sollte es sich erweisen, daß die Kommunisten den Konflikt, der in der alten Gesellschaft so ängstlich tabuisiert worden war, zum eigentlichen Element des sozialen Integrationsprozesses machten. Wie ein roter Faden zieht sich die Bejahung des Klassenkampfes durch das gesamte Werk Mao Tse-tungs, Klassenkampf, der als positiver Wert definiert wird, ist wie eine Impfung ge-gegen den Virus des „Revisionismus", jene Haltung also, die das Alte wiederbeleben möchte. Nach Mao erwächst die Wahrheit aus dem Kampf gegen den Irrtum. Ständiger Kampf macht wissend; teilweiser Verzicht auf den Klassenkampf macht partiell unwissend. Verzicht auf den Konflikt überhaupt bedeutet Rückfall in den Dämmerzustand des sozialen Sklavendaseins.
Als Ergebnis des Kampfes stellt sich nicht nur die Erkenntnis der Warheit ein, sondern auch die revolutionäre Einheit, Dieser Glaube an die dynamisierende und integrierende Kraft des Klassenkampfes hängt aufs engste mit den jahrzehntelangen Guerilla-Erfahrungen zusammen, die den Führungsstil der chinesischen Kommunisten militarisiert haben.
Wie Mao den Konflikt als Integrationsfaktor verstanden haben will, geht aus seiner Formel „Einheit-Kritik-Einheit" hervor, die nichts anderes bedeutet, als „von dem Wunsch nach Einheit ausgehen, durch Kritik und Kampf die Widersprüche lösen, um damit eine neue Einheit auf neuer Grundlage zu erreichen" 4). Die Situation eines solchen Klassenkampfes läßt sich zur Mobilisierung von Haßgefühlen gegen die alte Gesellschaft und ebenso gegen den auch in der Epoche des Sozialismus noch vorhandenen Klassenfeind hervorrufen.
Der Grundsatz universeller sozialer Gleichheit soll schließlich dafür garantieren, daß die Unterschiede nicht nur im Verhältnis der Generationen und der beiden Geschlechter, sondern auch zwischen „Führern und Geführten" eingeebnet werden.
Als die in diesem Zusammenhang weitaus wichtigste maoistische Führungsmethode gilt die sog. „Massenlinie", deren Hauptfunktion es ist, „die Meinungen der Massen zu sammeln, zu konzentrieren und sie wieder in die Masse hineinzutragen"
Mit dieser Forderung nach permanenter Wechselwirkung hängt es zusammen, daß die chinesische Führung sich nicht mit den herkömmlichen formalen MK-Mitteln (Presse, Rundfunk) begnügen kann, sondern Instrumente entwickeln mußte, die sich in so spezifischen Formen, wie Wandzeitungen, Studienkursen, „Massenveranstaltungen zu Kritik und Verurteilung", „Familienkursen“ u. dgl. -stieren und die in ihrer Gesamtheit eine eigenartige Partizipationskultur abgeben.
Zukunftsorientierung, Konfliktbereitschaft und Egalisierungswille sind also die eigentlich neuen Rollenkonzepte, die gründlich eingeübt sein wollen, wenn die kommunistische Gesellschaftsordnung in China Bestand haben soll. Der dafür nötige Lernprozeß läßt sich, da Zwang und materielle Anreize ausfallen, schlechterdings nur mit Hilfe der MK bewerkstelligen. Diese Tendenz wird noch durch drei weitere Impulse verstärkt, die sich aus der aktiven Rolle des Überbaus, aus der besonderen, ideologisch bedingten Motivationslage und als Folge von spezifisch politischen Auswirkungen der Kulturrevolution ergeben.
Subjektivierung des Revolutionsprozesses:
Die Chinesen gestehen dem überbau eine so vitale und autonome Rolle zu, daß das Basis-überbau-Modell in seiner herkömmlichen marxistischen Formulierung nur noch als kraftloses Postulat existiert. Weniger auf die Sozialisierung der Produktionsmittel als vielmehr auf die Sozialisierung des Denkens aufgrund der richtigen Ideen kommt es demnach an.
Beinahe sprichwörtlich in diesem Zusammenhang ist der maoistische Voluntarismus und Aktionismus, der die Ungeduld operationalisiert und die Menschen aus ihrer „Versklavung" . gegenüber der Wirklichkeit befreien will. Dieser übersteigerte Glaube an die Fähigkeit der organisierten Massen, mit jedem Feinde fertig zu werden, kennt nur ein Hindernis, nämlich das Fehlen eben dieses Willens. Für diesen „voluntaristischen Illuminismus“ wird das Objektive letzten Endes zum Werkzeug des Subjektiven.
Wie sehr die marxistische Lehre im Begriff ist, sich in der Säure des Subjektivismus aufzulösen, ergibt sich noch aus anderen Gesichtspunkten: So hängt z. B. die Klassenposition des einzelnen nach maoistischen Vorstellungen nicht von seiner objektiven Herkunft, sondern vielmehr von der Gesinnung ab: Der Gesinnungsproletarier tritt an die Stelle des Abstammungsproletariers. Dementsprechend ist jeder Mensch erziehbar. Er braucht nicht, wie bei Stalin, physisch liquidiert zu werden; es genügt, seine falsche Einstellung auf kommunikativem Wege zu liquidieren und ihn „wie einen Patienten" zu heilen. Die Forderung, „sein eigenes Selbst zu bekämpfen und den Revisionismus zu kritisieren"
Auf derselben Linie liegt das Postulat, daß der Mensch wichtiger sei als Waffenbesitz, daß das politische Bewußtsein dem fachmännischen Köhnen vorgehe und daß überhaupt ein Individuum ohne richtigen politischen Standpunkt wie ein Mensch ohne Seele sei.
Nicht zuletzt aber sind es die „Mao Tse-tung-Ideen", die seit der Kulturrevolution China wie ein magnetisches Feld beherrschen. Ihrer Wirkung erst ist es zuzuschreiben, daß aus dem marxistischen Materialismus eine Art maoistischer Idealismus geworden ist. Kein Wunder, daß in einer politischen Kultur, bei der alles darauf ankommt, die Menschen richtig denken zu lehren, die MK zum Dreh-und Angelpunkt des politischen Gestaltungsprozesses wird. Propaganda und Überredung sind nach alledem wesentlich wichtiger als Ausübung von „Macht", „wenngleich sie ohne die Macht im Hintergrund natürlich weit weniger wirkungsvoll wären"
Die besondere Motivationslage:
Nicht zuletzt deshalb auch ist MK in China von so einzigartiger Bedeutung, weil die beiden anderen Mobilisierungsmöglichkeiten, nämlich Strafe und materieller Anreiz, im China Mao Tse-tungs streng verpönt sind, zumindest seit der Kulturrevolution: Materielle Anreize, wie sie nach sowjetischem Vorbild in den fünfziger Jahren noch durchaus üblich waren, werden seit der Kulturrevolution unter dem negativ eingefärbten Sichwort „Ökonomismus" angeprangert. Kaum ein Gegenstand bietet heute mehr Anlaß zu klassenkämpferischen Auseinandersetzungen wie der weiter-schwelende Wunsch nach materiellen Belohnungen.
Strafe gehört zu jenen Maßnahmen, die nur den „Feinden" gegenüber angebracht sind.
Nach seinem bekannten Schema unterscheidet Mao Tse-tung ja deutlich zwischen „Widersprüchen im Volk" und „Widersprüchen zwischen uns und dem Feinde". Zur ersten Kategorie gehören solche Konflikte, die aus der Gleichartigkeit grundlegender Interessen erwachsen; sind doch trotz prinzipieller Gemeinsamkeiten „Kontroversen zwischen verschiedenen Ansichten unvermeidlich, notwendig und nützlich"
Nur den „Feinden" gegenüber sind Maßnahmen der „Diktatur des Proletariats" zulässig, u. a. Zwangsmaßnahmen durch Strafe. Zur „Lösung der Widersprüche im Volk“ dagegen können nur die sog. „demokratischen Methoden" beitragen, die sich mit den Stichworten „Argument, Werbung und Hilfe"
Die Erziehung zu einer komplexen kommunistischen Rollenidentifikation wird also nicht mit punitiven — auch nicht mit permissiven — Erziehungsmethoden erreicht, sondern mit Hilfe eines forciert „persuasiven" Stils der Massenkommunikation.
Politische Auswirkungen der Kulturrevolution:
Neben den oben angeführten fünf ideologischen Gründen, ‘die der MK einen besonderen Rang im politischen Leben der Volksrepublik China einräumen, kam während der Kultur-revolution ein besonderes politisches Phänomen hinzu, das dem Ruf nach einem effektiven Kommunikationssystem zusätzlich Nahrung gab:
Wie bereits erwähnt, waren die traditionellen Klammern, die das größte Volk der Erde zusammengehalten hatten, längst funktionslos geworden. Das Vakuum, das durch den Wegfall dieses traditionellen Bestandes aufgebrochen war, konnte zunächst durch die Aktivität des neuen Partei-und Regierungsapparates zum Teil überspielt und ausgefüllt werden.
Diese Organisationen wurden nun aber im Laufe der Kulturrevolution entweder aufgelöst oder so sehr angeschlagen, daß sie praktisch funktionslos waren. Das gesamte kommunistische Establishment hatte also seinerseits einem neuen Vakuum Platz gemacht.
Sollte das Land mit seinen 800 Millionen Einwohnern, seinen 29 Provinzen (und provinz-gleichen Einheiten), seinen zahlreichen Fremd-völkern und seinen soziologisch wie wirtschaftlich ungleich entwickelten Großlandschaften nicht in lauter kleine „Königreiche“ zerfallen und damit wieder den „Warlordis-mus" der zwanziger Jahre aufleben lassen, so galt es, unverzüglich das Kommunikationsnetz noch enger zu knüpfen und die totale Mobilisierung eines neuen Glaubens durchzuführen, des Glaubens an Mao Tse-tung und seine Linie. 2. Die Funktionen der Massenkommunikationsmittel Die Massenkommunikationsmittel lassen sich in der VRCh hauptsächlich auf sechs Funktionen zurückführen: Agitation und Propaganda, Organisation, Erziehung, Information, Kritik und Selbstkritik sowie Kontrolle. Agitation und Propaganda Da wie in der Sowjetunion und in der DDR
Missionsbewußtsein, Einsatzbereitschaft und Überzeugung, einer erhabenen und gerechten Aufgabe zu dienen, sollen damit ebenso genährt werden wie feindliche Gefühle gegenüber wirklichen oder potentiellen Gegnern.
Gleicht das chinesische MK-Wesen insoweit den Praktiken anderer kommunistischer Staaten, so besteht ein wichtiger Unterschied doch darin, daß das leninistische Begriffspaar Propaganda-Agitation nicht so recht auf die VRCh passen will, obwohl die mit ihm verquickten Techniken und Inhalte volle Anwendung finden. Dieser Punkt ist so bezeichnend, daß es sich lohnt, nähere Betrachtungen anzustellen.
Agitation und Propaganda weisen nach der sowjetischen Lehre eine Anzahl von Gemeinsamkeiten auf, vor allem in ihren Funktionen:
Beide stehen im Dienste der inneren Festigung der Partei und der Massenorganisationen sowie der Forderung des Zusammenhalts, der Aktivität und Einsatzbereitschaft ihrer Mitglieder. Sie sollen das Missionsbewußtsein stärken und die Massen mobilisieren.
Sie dienen der Rechtfertigung des politischen Kurses.
Sie sollen ferner sicherstellen, daß die Adressaten den Handlungsrahmen fest in den Griff bekommen, um innerhalb des festgelegten Kurses eigene Initiative entfalten zu können. Die extreme „Entinstitutionalisierung" und „Spiritualisierung" aller Kontrollfunktionen, wie sie unten noch näher zu beschreiben ist, bringt es mit sich, daß die Überwachung — ganz nach Partisanenart — nur in großen Linien erfolgt, während hoheitliche Abstinenz geübt wird, soweit es um die'konkrete Ausführung an Ort und Stelle sowie um organisatorische Gestaltungen geht.
Gemeinsam ist ihnen ferner, daß sie den Informationsfluß auf bestimmte Nachrichtenmengen einschränken und störende Einflüsse ausschalten. Nicht zuletzt aber haben sie der Erziehung der Volksmassen zu einem sozialistischen Bewußtsein zu verhelfen
Neben solchen Gemeinsamkeiten gibt es aber auch eine Anzahl unterscheidender Merkmale, die seit Plechanow und Lenin zum festen Bestandteil der Massenkommunikation der Sowjetunion gehören. Stichwortartig lassen sie sich folgendermaßen verdeutlichen: Alle diese Kriterien
„Agitation" und „Propaganda" wenden sich, wie bereits oben ausgeführt, sowohl an die Massen als auch an die Funktionäre!
In der VRCh besteht ferner eine Tendenz, die Agitation auf Kosten der Propaganda zu bevorzugen. Besonders die sogenannten „Vier Großen" („großes Singen und großes Blühen", „großes Diskutieren" und „große Wandzeitungen"), die so recht eigentlich den Gehalt der „großen Demokratie"
Formale Kommunikationsmittel, die vor allem im Dienste der „Propaganda" stehen, treten demgegenüber zurück. Nur Zu Zeiten, in denen der maoistische Einfluß stärker zurückgedrängt war, rangierte beispielsweise das Pressewesen an der Spitze der Kommunikationsskala (vor allem in der ersten Hälfte der sechziger Jahre!). Nicht zuletzt hängen solche Entwicklungen mit der jeweils mehr oder weniger starken Realisierung des Konzepts der Massenlinie und des Geistes von Yenan zusammen.
Organisation Angesichts der organisatorischen „Spiritualisierung", von der noch die Rede sein wird, kommt es darauf an, neue Klammern zu finden, die für den Zusammenhalt einer Gesellschaft von 800 Millionen Menschen herhalten können. Seit der Kulturrevolution sind es die „Mao Tse-tung-Ideen", die die charismatische Rolle einer einheitstiftenden Kraft übernehmen und das Handeln der unübersehbaren Massen auf einen einzigen Nenner bringen sollen. „Einheitliche Auffassungen, einheit-liehe Politik, einheitliche Pläne, ein einheitliches Kommando und einheitliche Aktionen“
Erziehung Soweit es darum geht, etwa Erfahrungen auf landwirtschaftlichem oder schulischem Gebiet zu popularisieren und Verhaltensmuster zu vermitteln, kann von einer erziehenden Funktion der MK die Rede sein.
Eine besonders wichtige Rolle spielen hierbei in China die sogenannten „Modelle". Da gibt es etwa den Modellbauer, den Modellkader, den Modellarbeiter. Noch aktueller sind Modellorganisationen, So hat z. B. die „Industrie von den Ta-Ch'ing-Erdölfeldern, die Landwirtschaft von der Ta-Chai-Produktionsbrigade und das ganze Land von der Volksbefreiungsarmee zu lernen"
Auch „negative Modelle" ließen sich in Fülle nachweisen. Liu Shao-ch'i etwa ist mit so vielen abzulehnenden Eigenschaften versehen worden, daß er eigentlich gar nicht mehr als physisches Wesen, sondern als Allegorie und Inbegriff des Negativen schlechthin erscheint.
In diesem gerade während der Kulturrevolution besonders stark angewachsenen Arsenal von Modellen kommt die Sorge zum Ausdruck, den ohnehin mit abstrakten Allerweltsformen überfütterten Befehlsadressaten anschauliche Elemente an die Hand zu geben, die ihnen konkrete Vorstellungen von den Intentionen der Führung zu geben vermöchten. Ohnehin vermag der noch weitgehend in überkommenen Denkvorstellungen verhaftete Durchschnittschinese mit allzu abstrakt gehaltenen Anweisungen wenig anzufangen. Nicht zuletzt aber wirkt hier auch die konfuzianische Tradition weiter, deren pädagogische Bemühungen so nachhaltig vom permanenten Entwurf ethischer Vorbilder absorbiert waren, daß Strafe und Reglementierung weitgehend zurücktraten.
Enformation Informationen ergehen im allgemeinen nicht im „Nachrichtenstil"
Der Informationsfluß läßt sich übrigens durch Auslassungen ebenso steuern wie mit wertenden Eingriffen. Eine solche Manipulation vom Klassenstandpunkt her liegt z. B. vor, wenn die Berichterstattung über die westliche Welt nur „revolutionäre" Aktivitäten und Unruhe-herde herausstreicht oder aber Persönlichkeiten in den Mittelpunkt stellt, die jedoch in ihrem Land nur eine Marginalrolle spielen
In Einzelfällen allerdings hält sich auch das chinesische MK-Wesen in gewissen Grenzen an den „Nachrichtenstil": vor allem wenn es gilt, Erfolgsmeldungen mitzuteilen (z. B. Produktionserhöhungen in Landwirtschaft und Industrie, neue technische Erfindungen, Erdsatelliten usw.). Die bemerkenswertesten — und auch für den „China-Wäscher" dankbarsten — Informationsquellen sind jedoch die sogenannten „Untersuchungsberichte", die das Ergebnis einer Art Feldforschung sind und deshalb nüchternes Tatsachenmaterial zum Zwecke des „Erfahrungsaustauschs" ausbreiten. Die wohl berühmteste Arbeit dieser Art ist Maos „Untersuchungs-Bericht über die Bauernbewegung in Hunan" vom März 1927.
Kritik und Selbstkritik Kritik und Selbstkritik spielen sich meist in den eigens dazu etablierten „Versammlungen zur Kritik und Verurteilung", in „Mao Tsetung-Studienkursen" sowie überhaupt in allen Kampfversammlungen ab. Eine nicht unerhebliche Rolle in diesem Zusammenhang spielen Briefe und Sprechstunden.
In den fünfziger Jahren kamen Briefe vor allem in den Zeitungen groß heraus. Dies hat sich im Laufe der Zeit geändert. Seit der Kulturrevolution sind es vor allem die Revolutionskomitees, denen das Korrespondenzwesen aufgebürdet wurde. Vor allem die „Massenvertreter" in den nach dem Dreier-Allianz-Prinzip aufgebauten Revolutionskomitees werden für Sprechstunden eingeteilt, beraten Hilfesuchende und beantworten Leserbriefe. Vom rein Quantitativen her scheint dies eine Sisyphusarbeit zu sein. Das RK der Provinz Kiangsu erhielt vom November 1967 bis Mitte März 1968 beispielsweise nicht weniger als 12 500 Briefe, wovon es bis Anfang April angeblich 95 0/0 beantworten konnte. Ich gleichen Zeitraum gab es Audienzen für 9000 Besucher. Selbst wenn man unterstellt, daß diese Zahlen etwas überhöht sind, ist die vom RK geleistete Öffentlichkeitsarbeit staunenswert. Dieser Arbeitsaufwand läßt sich nicht zuletzt damit erklären, daß die Politik der Massenlinie es gebietet, keine Fragen aus dem Volk unbeantwortet zu lassen. Auf diese Weise werden die „Empfangsstationen für die Massen" zu einer Art Umschlagplatz für Fragen, Antworten und gegenseitige Anregungen
Kontrolle Daß mit den MK-Mitteln auch eine Kontrollfunktion verbunden ist, wird nicht weiter verwundern, wenn man bedenkt, daß Kontrolle nicht — wie in der Sowjetunion — durch einen institutionalisierten Überwachungsapparatausgeübt wird („äußere Kontrolle"), sondern durch Methoden „innerer Kontrolle"
Kritik und Selbstkritik, Plakat-und Briefaktionen, Kampfversammlungen und intensive Kleingruppenarbeit sollen — ganz im Sinne der bürokratiefeindlichen Massenlinie — die Institution eines speziellen Kontrollapparates überflüssig machen und an seine Stelle eine Art prophylaktischer Kontrolle durch permanente Indoktrination setzen. Demzufolge kommt es weniger darauf an, das äußere Handeln mit dem Scheinwerfer der Kontrolle abzutasten, als vielmehr den inneren Menschen zurechtzurücken und ihn in seinem politischen Denken zu bestimmen. Auch insofern kommt also der Massenkommunikation eine überragende Funktion zu. 3. Kontrolle der Massenkommunikationsmittel „Äußere“ Kontrolle: Vor der Kulturrevolution unterstanden sämtliche propagandistischen Äußerungen der Parteikontrolle, die mit einem Netz von Propagandastellen das Land überzog. Die Endfäden dieses Netzes liefen bei der Propagandaabteilung des ZK zusammen, das vor allem über drei Kanäle arbeitete
Die zentrale Parteistelle übte nicht nur Kontrolle aus, sondern erarbeitete auch Handbücher sowie periodisch erscheinende Propa-gandaschriften und übernahm seit 1951 überdies auch noch die Führung eines nach ZK-Richtlinien aufgebauten institutionalisierten „Propagandanetzwerkes".
Die Kulturrevolution brachte dieses System an den Rand des Zusammenbruchs. Sämtliche mit Kultur und Propaganda befaßten Zentral-organe 29) kamen nach gründlicher Säuberung unter die direkte Leitung der am 16. Mai 1966 gebildeten „Kulturrevolutionsgruppe beim ZK", die eine Neugliederung in drei Abteilungen (Propaganda und Publizistik; Kunst und Film; Erziehung) vornahm 30). Die Sektion für Propaganda existiert freilich — gleich den anderen neu geschaffenen Organen — nur noch dem Namen nach, seitdem die ZK-Kulturrevolutionsgruppe personell bis auf wenige Mitglieder zusammengeschmolzen ist. So kommt es, daß die Kontrolle über Massenkommunikationsmittel aller Art „dezentralisiert" wurde und nun fast ganz auf die Revolutionskomitees der verschiedenen Ebenen übergegangen ist, die ja in der Regel mit einer „Politischen Abteilung" ausgestattet und für die „öffentliche Meinung verantwortlich sind.
II. Die einzelnen Massenkommunikationsmittel
1. Herkömmliche MK-Mittel Die Agentur „Neues China“ (Hsinhua)
Die Agentur Hsinhua ist das Nadelöhr, durch das die Informationen zu laufen haben, ehe sie offiziellen Charakter annehmen. Zugleich bildet ihr Korrespondentennetz den einzigen Kanal, über den Nachrichten von der Außenwelt durch den Bambusvorhang gelangen können. Da seit 1950 praktisch sämtliche Informationen über die laufen, ist „Neues China" die Schaltstelle in der Bewußtseinsindustrie Chinas. Mit gutem Recht läßt sie sich deshalb als „Auge, Ohr und Mund" der Volksrepublik bezeichnen.
Hsinhua ist eine regierungseigene Organisation, die dem Staatsrat direkt unterstellt ist und gleichzeitig der zentralen Parteikontrolle unterworfen ist. Sie unterhält in der Volksrepublik China selbst etwa 30 Unterbüros und hat ihre Ausländskorrespondenten in rund 50 Ländern etabliert, u. a. in der Bundesrepublik. Da die Agentur nicht nur Nachrichten umschlägt, sondern gleichzeitig als eine Art Auch die im August 1968 neu geschaffenen Arbeiter-Propagandatrupps treten als eine Art Kontrollorgan auf. Mit dem Wiederaufbau der Neo-KPCh wird vermutlich auf lange Sicht der Status quo ante wiederhergestellt.
„Innere" Kontrolle: Wichtiger freilich als diese „äußere" Kontrolle der Kommunikationsmittel ist die „innere" Kontrolle der Journalisten durch permanente Erziehung und Indoktrination, wie sie seit dem 8. Parteitag (1956) in sämtlichen Bereichen des Überbaus üblich geworden ist. Kritik und Selbstkritik, Mao Tse-tung-Studienkurse, intensive Kleingruppenarbeit, vor allem aber „Hinunterschicken" zur Mitarbeit in Industrie und Landwirtschaft gelten als die besten Mittel, um eine richtige ideologische • Ausrichtung zu gewährleisten und die Verbindung mit den Massen wiederherzustellen. Die Kulturrevolution hat Tendenzen dieser Art noch verstärkt, vor allem, nachdem Zeitungen (und Rundfunkstationen) direkt den örtlichen Revolutionskomitees unterstellt und mehr Bauern, Arbeiter und Soldaten in die Redaktionen hinein verpflichtet wurden. „Intelligence Service" sowie als Verbindungsglied zu linksgerichteten Gruppen in anderen Ländern fungiert, kamen verschiedene Hsinhua-Büros bereits in Konflikt mit ihren Gastländern. Einzelne Agenturen mußten geschlossen werden, verschiedene Korrespondenten wurden ausgewiesen.
Presse Chinas Presse läßt sich hierarchisch gliedern in überregionale Zeitungen, Provinzzeitungen, städtische Zeitungen und Kreiszeitungen. Neuerdings ist das „Kurzkritik" -Journal hinzugekommen, das eine Art Betriebszeitung vor allem im ländlichen Bereich verkörpert.
— Die überregionale Presse:
Bis zur Kulturrevolution war die überregionale Presse durch eine Anzahl maßgebender Blätter vertreten, die zumeist funktional orientiert waren. So hatten z. B. die Arbeiterschaft („Arbeiterzeitung"), die Intelligenz (Kuang-ming-Zeitung), die Armee („Zeitung der Volks-befreiungsarmee"), die Jugend („Jugendzeitung") und die nationale „Bourgeoisie“ (Ta-kung-Zeitung) jeweils ihr eigenes Blatt. Auch die Bauern erhielten in der Nan-fang-Zeitung (= „südliche Zeitung"), die unsprünglich nur als Lokalzeitung in der Provinz Kuangtung verbreitet war, nach und nach ihr spezifisches, überregionales Presseorgan. Die alles überragende Zeitung aber, die an sämtliche Schichten der Bevölkerung adressiert war und auch — neben der Kuang-ming-Zeitung — regelmäßig über den Bambusvorhang hinaus die offizielle Stimme Pekings verkörperte, war die Volkszeitung. Was dies Blatt brachte war Gesetz, zumal es nicht nur, wie die Prawda in der Sowjetunion, die Partei vertrat, sondern obendrein als Sprachrohr der Zentralregierung diente, also sozusagen auch noch die Funktion der Istwestija wahrnahm. — Provinzpresse und städtisches Zeitungswesen:
China besteht aus 29 Provinzen bzw. provinz-gleichen Einheiten (21 Provinzen, 5 autonome Regionen, 3 unmittelbar unterstellte Städte). Jede dieser Einheiten besitzt ihr eigenes Presseorgan. Im großen und ganzen ist die Provinzpresse lediglich ein Echo der Volks-zeitung. Die Lokalzeitungen fungieren damit sozusagen als „Volkszeitung“ ihrer jeweiligen Region.
Am Verteilungsbild der Provinzzeitungen hat sich äußerlich durch die Kulturrevolution nicht viel geändert. Die meisten Redaktionen mußten allerdings „Besetzungen" über sich ergehen lassen, Machtkämpfe ausfechten, führende Mitglieder absetzen, ein Revolutionskomitee aufbauen und — in wenigen Fällen — den Namen ihres Presseorgans ändern. Anders war das Bild bei den städtischen Zeitungen, die erhebliche Einbußen hinnehmen mußten.
Von diesen fest institutionalisierten Lokalzeitungen abgesehen, hat das chinesische Pressewesen durch die Kulturrevolution jedoch schwere Schäden erlitten: Waren beim Postamt der Stadt Peking im Jahre 1966 noch 648 Zeitungen und Zeitschriften verzeichnet, so sank die Zahl 1967 auf 132 und 1968 auf 58. Vor allem das Zeitschriftenwesen hatte zu leiden: Kein Wunder, denn es war ganz urban orientiert und für das Landvolk praktisch ohne Bedeutung. — Die Kreispresse Von den 2003 Kreisen der VRCh hatten vor der Kulturrevolution nahezu alle ihr eigenes, den lokalen Gegebenheiten angepaßtes Blatt, über das Schicksal dieser „ländlichen" Presse während der Kulturrevolution läßt sich wenig ausmachen. Im großen und ganzen dürfte sie genauso untergegangen sein wie die zahllosen Parteiausschüsse auf unterster Ebene. Allgemein beginnt sich heute ein neues Bild abzuzeichnen, das vom „Volksjournalismus“ geprägt ist, also von jenen „Arbeiter-, Bauern-und Soldatenkorrespondenten" bestimmt wird, die ihre Schreibarbeit nicht nach Art der „bourgeoisen" Intellektuellen „hauptberuflich“ betreiben, sondern nebenher in ihrer Freizeit erledigen. Die journalistische Arbeit spielt sich nun nicht mehr nur auf Kreisebene ab, sondern wurde noch weiter dezentralisiert und zu den Volkskommunen und Produktionsbrigaden „hinuntergeschickt".
Dies entspricht ganz maoistischen Vorstellungen: denn nach der von den Kommunisten propagierten „Massenlinie" sind die Massenmedien ja für das Volk da und müssen deshalb auch volksnah gestaltet werden. — Kurzkommentare:
Das Schlüsselwort für die neue Methode des Volksjournalismus heißt „Kurzkritik": Konkrete Fälle werden an Ort und Stelle aufgegriffen und in volksnaher Diktion ohne großen Zeitverlust zur Diskussion gestellt. Journalisten können sich von nun an nicht mehr „hinter Polstertüren verschanzen"; vielmehr haben sie „frische Luft zu schöpfen", bei den Massen „in die Lehre zu gehen", „die Ärmel hochzukrempeln" und turnusweise an der Massenarbeit teilzunehmen
Die chinesischen Kommunisten haben aber nicht nur vom Schreiben, sondern auch vom Lesen einer Zeitung genaue Vorstellungen. Sie wissen, daß Zeitungen ohne präzise „reading patterns" Makulatur blieben. War doch die Lektüre sino-kommunistischer Zeitungen noch nie ein angenehmes Geschäft. Keine Unterhaltung, kein Roman, natürlich auch keine anekdotische Plauderei, keine Reklame, nicht einmal Sport lockert die spröde Materie auf. Was Fernand Gigon über die Volkszeitung bemerkt, gilt eigentlich für die gesamte chinesische Presse: „Nirgendwo ein Lächeln, nirgends eine Spur gelöster Heiterkeit in ihren Spalten ..."
Die militante und klassenkämpferische Aufgabenstellung der Presse wurde vor allem während der Kulturrevolution deutlich. Nach § 11 des grundlegenden „ 16-Punkte-Beschlus-ses" vom 8. August 1966 hat die Presse vor allem die „reaktionären Ansichten . . . von Vertretern der Bourgeoise ... in Philosophie, in Geschichte, in politischer Ökonomie und im Erziehungswesen, in Literatur und Kunstwerken usw. zu kritisieren . . . und diese Kritik mit der Verbreitung ...der Lehre Mao Tse-tungs zu verknüpfen". — Da zahlreiche Zeitungen diesen Anforderungen nicht genügten, mußten sie ihren Betrieb einstellen. Die meisten Redaktionen kamen überdies unter Militärkontrolle und erhielten später ihre Revolutionskomitees, die wiederum mit Vertretern der Streitkräfte durchsetzt waren.
Sogar die zwei wichtigsten Presseorgane der Volksrepublik China, die Pekinger Volkszeitung und die Rote Fahne, gerieten in den Sog dieser Ereignisse. Kein Wunder, denn beide Organe hatten ja lange Zeit unter dem direkten Einfluß von Gegnern Maos gestanden und kamen als Sprachrohre für die Kulturrevolution deshalb nicht in Betracht. Der Parteivorsitzende hatte sich an ihrer Stelle der Shanghaier Wen-hui-Zeitung sowie der Armee-Zeitung versichert, die der Volkszeitung, dem großen Schrittmacher seit 18 Jahren, von nun •-------------an (Mai 1966) das Nachsehen gaben
Ein noch merkwürdigeres Schicksal als die Volkszeitung hatte die halbmonatlich erscheinende Rote Fahne, die — ganz ohne Bilder und in asketisch strenger Gedankenführung — seit 1958 so etwas wie den ideologischen Gralshüter des ZK der KPCh spielen konnte. Da die Rote Fahne zu einem Repräsentanten der Linksradikalen wurde und in ihren Attakken gegen die Armee-Führung zu weit ging, hatte sie im November 1967 ihr Erscheinen einzustellen. Als wäre nichts geschehen, erschien sie jedoch sieben Monate später wieder mit dem schlichten Aufdruck „ 1968, 1. Ausgabe" und kommt seitdem alle ein bis zwei Monate heraus. Nur noch selten bringt die Rote Fahne freilich eigene Leitartikel. Dagegen ist sie so etwas wie der Fackelträger auf dem Gebiet des Opern-und Literaturschaffens geworden. Diese Aktivitäten tragen die Handschrift Chiang Ch’ings, der Ehefrau Mao Tse-tungs.
Gerieten schon so angesehene Organe wie die Volkszeitung und die Rote Fahne an den Rand einer Katastrophe, so waren es erst recht fachlich-professionell ausgerichtete Blätter, die der kulturrevolutionären Kritik („Politik vor Ex-pertentum") weichen mußten. Zeitschriften philosophischen, medizinischen oder juristischen Inhalts hatten ihr Erscheinen einzustellen.
An überregionalen Zeitungen sind heute nur noch vier zu nennen: die Volkszeitung, die Armee-Zeitung, die Kuang-Ming-Zeitung und die vom Shanghaier Lokalblatt zu einem überall gelesenen Organ aufgerückte Wen-hui-Zeitung. Die Funktionalzeitungen haben, soweit sie noch existieren, aufgehört, spezifischen Lesergruppen zu dienen. Der Egalisie-35 rungsprozeß hat somit auch im Pressewesen um sich gegriffen. Diese Tendenz entspricht der Forderung, daß politische Gesinnung wichtiger ist als fachliches Können. Nicht der Experte oder Vertreter einer speziellen Gesellschaftsschicht wird also angesprochen, sondern das Volk als politisch-ideologische Einheit.
Die Provinzpresse blieb demgegenüber im wesentlichen erhalten. Nur die Stadtzeitungen, vor allem die von Peking und Kanton, erlitten stärkere Einbrüche, während die linke Presse Shanghais aus den revolutionären Ereignissen gestärkt hervorging.
Besonders kräftig begann die Presse unterhalb der Kreisebene zu florieren. Hier entstanden Ansätze die vielleicht zukunftsträchtigsten Kommunikationswesens. eines neuen Alles in allem wurde der Kopf zugunsten der Füße verkleinert. Die von der Kulturrevolution ausgegangenen Impulse zu einer nachdrücklichen und Dezentralisierung Entstaatlichung aller Funktionen hat sich also auch im Pressewesen ausgewirkt. Zu welchem Ziel die Zeitungsrevolution führen soll, wurde in einem Artikel der Volkszeitung mit dem Titel „Führt die Große Proletarische Kulturrevolution an der journalistischen Front bis zu ihrem Ende durch!" prägnant zusammengefaßt
Rundiunk Anders als in der Sowjetunion, wo das Pressewesen vorherrscht, steht in China unter den formalen Kommunikationsmedien der Rundfunk an erster Stelle. Angesichts verschiedener chinesischer Besonderheiten ist diese Entwicklung nicht weiter verwunderlich: Zahlreiche Dörfer im Hinterland sind immer noch vom Verkehr abgeschnitten und können deshalb nicht ausreichend mit Zeitungen beliefert werden. Neben diesen geographischen Hindernissen gibt es auch noch die Barriere des An-alphabetismus. Hinzu kommt das Minoritätenprobiern: 50— 60 0/0 des chinesischen Staats-gebietes werden von nicht weniger als 60 Minderheitenvölkern besiedelt, die immerhin 40 Millionen Menschen ausmachen und in ein buntes Mosaik verschiedenster Sprachen und Dialekte aufgesplittert sind. Viele von ihnen wohnen obendrein in so kritischen Grenzgebieten wie Sinkiang, Tibet und der Inneren Mongolei — also im Sendebereich feindlicher Staaten —, lind müssen schon deshalb durch chinesische Gegenpropaganda besonders nachhaltig beeinflußt werden.
Welchen Zwecken der Rundfunk zu dienen hat, läßt sich — besser als mit Worten — durch Wiedergabe Ersten und des Zweiten Sommer-programms der Rundfunksendungen im Jahre 1968 illustrieren [vgl. Anhang]
Dient der Rundfunk — wie sich der Programm-aufstellung entnehmen läßt — als Erziehungsinstrument für die Massen und als bedeutende Waffe im Klassenkampf
Die Kulturrevolution hat einschneidende Änderungen mit sich gebracht: Im Zuge der allgemeinen Dezentralisierung nahm die Zahl der Sendeanstalten lawinenartig zu. Sogar Kreise und Volkskommunen unterhalten nun eigene „Rundfunkstationen", die zum größten Teil das Pekinger Programm wörtlich übernehmen, manchmal jedoch auch den ursprünglichen Sendetext „dezentralisieren" und ihn durch lokale Berichte über Wetter und exemplarische Arbeitsleistungen anreichern. Auch hat sich das Rundfunkdrahtnetz besonders stark ausgedehnt. Gegenüber dem drahtlosen Rundfunk hat der Lautsprecherbetrieb den Vorteil, daß er billiger ist und daß überdies keine Feindsender abgehört werden können. Außerdem wird auf diese Weise das kollektive Radiohören gefördert. Alle diese Verbesserungen fallen den lokalen Einheiten zur Last, die im Wege der Massenmobilisierung „barfüßige Techniker" auszubilden und die nötigen Geldmittel selbst aufzubringen haben. 2. Spezifisch „chinesische" Massenkommunikationsinstrumente Wandzeitungen:
Wandzeitungen (ta-tzu-pao) seit langem, sind vor allem aber seit Beginn der Kulturrevolution, ein ungewöhnlich brauchbares Werkzeug im Kampf um die öffentliche Meinung. Jeder einigermaßen couragierte und mit paar ein Schriftzeichen vertraute Aktivist kann sich ihrer bedienen, zumal sie billig sind und ihre Grenze eigentlich nur vor Papier-und Tusche-Engpässen finden. Wandzeitungen wirken zupackend frisch und heben sich angenehm von dem ermüdenden und sattsam bekannten Einerlei der offiziösen Zeitungen ab. Sie beschränken sich im allgemeinen auf ein spezifisches, leicht überschaubares Problem und sprechen den Gegner mit einer Unzweideutigkeit an, die für eine Zeitung mit unüberschaubarem Leserkreis sich ganz von selbst verbietet. Da die Angriffe so direkt sind und die Dinge beim Namen nennen, kann der Angegriffene schwerlich auf eine Stellungnahme verzichten.
Ein einheitlicher Stil hat sich für die Wand-zeitungen trotz ausgiebigen Gebrauchs nicht eingebürgert. Manche ta-tzu-pao sind so flächig, daß sie ganze Hauswände überziehen; andere wiederum begnügen sich mit ein paar bescheidenen Zeichen auf Buchformat. Alle aber enthalten sie Schlagworte, satirische Glossen, Anklagen, Hochrufe auf Mao, Wiedergaben von Dokumenten, Verhandlungsprotokolle, Karikaturen und Gedichte.
Die Plakate sind meist weniger langlebig als die Ambitionen ihrer Schreiber. Oft wird ein Plakat vom Wind weggerissen, vom Regen ausgewaschen oder schon wenige Minuten »ach seinem Erscheinen durch einen „GegenSChriftsatz"
überklebt. Der Leser hat sich daher mit der Lektüre zu beeilen, so daß sich oft Menschentrauben vor einem neuen Plakat bilden.
Zweifellos vermag ein solcher „Krieg der Worte" die Aufmerksamkeit des Lesers wach-zuhalten und so am besten dem alten maoistischen Grundsatz zu dienen, daß man „den Massen vertrauen, sich auf sie stützen und sie aufwecken soll".
Zu Beginn der Kulturrevolution verwandelten sich die Städte in riesige Papiermontagen. Pinsel und Farbe änderten das Antlitz der Nation. Löwenfiguren, Straßenlaternen, Pfosten und Straßenbäume mußten als Plakatsäulen herhalten. Manchmal lagen die „Wandzeitungen" mit ein paar Steinen beschwert auch auf dem Straßenpflaster
Diese ganz im Zeichen des „Bürgerkriegs" stehende Methode des Plakatierens mußte der Regierung vor allem deshalb besonders willkommen sein, weil sie ganz der „Massenlinie" entspricht, die auf spontane Äußerungen der Volksmeinung Wert legt, überdies sorgten gerade die Wandzeitungen dafür, daß der Eindruck entstehen konnte, die Säuberungen des Regimes seien nur eine Antwort auf die Forderung der Massen. Nicht ganz zu Unrecht vergleicht ein Parteifunktionär die Wirkungen der Wandzeitungen mit denen der Artillerie: „Du feuerst ein oder zwei Salven ab, und die Probleme kommen zum Vorschein. Dann zerlegst Du, was da auftaucht, und Du hast alle Nachrichten, die Du brauchst."
Die „kleinen Zeitungen“:
Neben den Wandzeitungen machten sich während der Kulturrevolution besonders die Rot-gardisten-Zeitungen — auch „kleine Zeitungen” (hsiao pao) genannt — bemerkbar, die nur Pfennige kosteten und die darauf abzielten, Mao Tse-tungs Gedanken zu verbreiten sowie über das (Tun und Treiben der Rotgardisten zu berichten.
Diese inoffiziellen „kleinen Zeitungen", die seit Anfang September 1966 als Nachfolger der amtlichen „Chinesischen Jugendzeitung" erschienen, waren teils gedruckt, teils hekto-graphiert; einige hielten auf Originalität, andere lebten vom Plagiat. Ihnen allen aber war eine frische unkonventionelle Art eigen, die sich von der trockenen Schreibweise der etablierten Presse genau so unterschied, wie etwa eine Wandzeitung vom Stil administrativer Weisungen.
Während der Zeitungsvertrieb sonst über die Post erfolgte, wurden die „kleinen Zeitungen" von den Rotgardisten selbst auf der Straße verteilt oder von einem durchfahrenden LKW herunter ausgestreut. Die hsiao-pao brachten neues Leben in den grauen Blätterwald der offiziösen Zeitungen, freilich nicht für lange Zeit. Ihre Zahl schrumpfte nach einem beinahe inflationären Beginn in dem Maße, wie die Rotgardisten verschwanden. Vor allem im Herbst 1968 setzte ein großes Zeitungssterben die eigentliche Zäsur.
Kampfversaminlungen:
Das schriftliche Gefecht der Wandzeitungen findet sein mündliches Gegenstück in den „Versammlungen zur Kritik und Verurteilung", deren Kurswert während der Kulturrevolution wieder hoch nach oben geschnellt ist. Der äußere Rahmen solcher Versammlungen ist ziemlich elastisch, umfaßt er doch nicht nur kleine fabrik-und schulinterne Gruppen, sondern manchmal riesige Massen von bis zu 11/2 Millionen Menschen
Die Technik der Kampfversammlungen hat eine lange Geschichte und läßt sich bis auf den berühmten Bericht Maos über die Bauern-aufstände in Hunan (1927) zurückführen. Mit leidenschaftlicher Anteilnahme schildert er dort die Methoden, mit denen aufgebrachte Bauern die Grundherren demütigten und sie zu den gewünschten Konzessionen zwangen. Vielleicht sind es diese Erlebnisse, die Mao zu dem Schluß kommen ließen, seine Gegner nicht — wie Stalin — physisch zu liquidieren, sondern sie durch eine Strategie des Gesichts-verlustes umzuerziehen. Voraussetzung für ein* solches Unternehmen war freilich starkes Vertrauen auf die Massen und die Kontrollierbarkeit emotional getragener Massenaktionen. Hier nun lag die eigentliche Stärke Maos: Kaum ein Staatsmann Chinas hatte es bisher gewagt, die bäuerliche Bevölkerung aus ihrer politischen Apathie herauszulocken. Die Angst vor unkontrollierbaren Emotionen war stets größer gewesen als der Wunsch, sich mit der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung zusammenzutun.
An Angriffszielen ist kein Mangel. Kampfversammlungen können sich gegen eine bestimmte Person oder zusammengefaßte Personengruppen, gegen eine Personifizierung (Liu Shao-ch’i und Chruschtschow als Allegorisie-rungen alles Ablehnenswerten) oder gegen gewisse Erscheinungen im politischen Leben richten (z. B. Korruption, Rassendiskriminierung usw.), die bisweilen höchst abstrakter Natur sein können (z. B. Kampf gegen eine bestimmte „revisionistische Linie").
Ganz allgemein gesprochen verlaufen Kampf-versammlungen in vier Etappen (Vorbereitung, Mobilisierung der Massen, Durchführung, Zusammenfassung).
a) Zuständig für die Vorbereitung und den Ablauf einer Kampfversammlung ist das Partei-bzw. das Revolutionskomitee der betreffenden Einheit — einer Schule, einer Fabrik, einer Volkskommune oder eines Verwaltungsorgans. Der zuständigen Behörde obliegt es insbesondere, den Kundgebungsplan auszuarbeiten, der nach einem komplizierten Genehmigungsverfahren an die Parteiausschüsse bzw. Revolutionskomitees der Provinzen versandt wird, Soll eine Massenkampagne im gesamtnationalen Rahmen ablaufen, so übernimmt Peking die Regie. Für die nähere organisatorische Zuständigkeit kommt es auf die Natur der geplanten Massenversammlung an. Soll beispielsweise der Kampf gegen kriminelle Delikte ausgenommen werden, so ist hauptsächlich das Sicherheitsministerium federführend. Gilt es dagegen eine außenpolitische Entscheidung in dem einen oder anderen Sinne zu beeinflussen und zu unterstützen, so rückt das Außenministerium in den Vordergrund — allerdings nur insoweit, als die geplante Versammlung den Resonanzboden für Akte der klassischen Diplomatie abgeben soll (z. B. beim Empfang eines fremden Staatsoberhauptes), Will sich Peking dagegen nicht der konventionellen diplomatischen Kanäle bedienen, sondern „Diplomatie von Volk zu Volk" betreiben, so übernimmt das ZK, also eine Partei-organisation, die Durchführung. Ist eine Sym-pathiekundgebung, z. B. für die streikenden „Versprechenskundgebungen", bei denen die Arbeiter in Frankreich, oder eine Veranstaltung Menge sich feierlich zu bestimmten gegen die Diskriminierung der Farbigen Leistungen verpflichtet. Besonders dramatische den USA erwünscht, so läuft die Parteiorganisationsmaschine Formen nehmen häufig Gerichtsver- an, während die Regierungsorgane an, bei denen es auch zu Todesurteilen sozusagen „zur Seite blicken". kommen kann
b) Mobilisierung: Sobald die Kundgebungspläne Kampfversammlungen im kleineren Rahmen verteilt sind, beginnen die lokalen Parteiorganisationen hat sich ein Bestand von Techniken entwickelt, bzw. Revolutionskomitees die sich auf die jeweiligen Bedürfnisse der Einladung der Gäste. Rechtzeitig abstimmen lassen. In einem geistig anspruchsvolleren sie über die verschiedenen Massenorganisationen Milieu (z. B. in einem Ministerium eine bestimmte Anzahl von oder einer Parteibehörde) kann eine Personen an. Oft genügt ein bloßer Telefonanruf. die dort in periodischen Die „Aktivisten", „Arbeiter-Propagandatrupps" stattfindet, nach folgendem Vierer-Rhythmus und andere Propagandisten, die für ablaufen:
die Ausrichtung der Kampagne verantwortlich — gegenseitige Kritik der Anwesenden, wobei sind, beginnen gleichzeitig mit einem gründlichen Fehler konkretisiert werden;
Vorbereitungskurs.
— -Selbstkritik jedes einzelnen, wobei jeder Die Aufgabe der Aktivisten ist es vor allem, Kritisierte „laut zu denken" hat;
das Versammlungsthema so weit zu aktualisieren, daß eine gewisse Spannung gesichert — je nach Lage der Dinge, kann es sich als ist. Besondere Schulungskurse, bei denen jeder nötig oder opportun erweisen, die Kritik nur Teilnehmer wenigstens einmal zu Wort auf wenige Teilnehmer oder gar nur auf eine kommt und durch die Verbalisierung „seiner" einzige Person zu konzentrieren. In einem solchen Fall kann der Ton der Versammlung Meinung „seinen" Standpunkt fixiert, vermögen diesem Zweck zu dienen. Leserbriefaktionen, umschlagen und dramatische Schärfe Wandzeitungen und Aufrufe annehmen, runden diese da ja der Angegriffene mit unangenehmen Konsequenzen (z. B. Landverschikkung) abrechnen muß.
c) Durchführung: Bei Großveranstaltungen ist -— Beim vierten Schritt kommt es zur Zusammenfassung, allem der fast uhrwerkartige Verlauf des in der dem Angriffenen seine Kundgebungsmechanismus bemerkenswert.
Vergehen vorgeworfen werden.
Der Aufmarsch riesiger Menschenmassen erfordert planerische Millimeterarbeit. Ein Kundgebungsleiter einer geistig etwas einfacheren Umgebung eröffnet die Versammlung mit entwickelt sich der Kampf weniger eloquent einem kurzen Prolog und erteilt sodann verschiedenen in anschaulicheren Formen.
Rednern nacheinander das Wort.
Besonders beliebt ist hier der Vergleich zwischen wird die Versammlung auch durch „gegenwärtigem Glück und vergangenem eines der gängigen Revolutionslieder Elend", der von älteren Bauern oder Arbeitern und abgeschlossen. Kaum jemals versäumen angestellt wird und als eine der probatesten es die Verantwortlichen, die „Massen"
Methoden zur Klassenerziehung gilt. um ihre Zustimmung zu bitten. Beliebt ist auch Beliebt, weil handfest, ist darüber hinaus die die Frage, ob jemand gegenteiliger Ansicht sei.
Verbrennung sogenannter „schwarzer Materialien" soll eine Veranstaltung dieser Art den
Resonanzboden für eine neue Kampagne abgeben. spielt selbstverständlich auch die Die größte Massenbewegung seit Gründung eine bedeutende Rolle. Schlichtes der Volksrepublik ging z. B. im Anschluß Eingeständnis und „Verzeihung durch die Massen" den Aufruf Mao Tsetungs zum Kampf gegen sind hier die Regel.
den US-Imperialismus (20. 5. 1970) über die Bühne
sowie zur Feier eines der zahlreichen Jahrestage ziehen sich bisweilen aber auch — mit kurzen Unterbrechungen — über Mo43 können Gegenstand solcher Veranstaltungen sein. Wichtig sind auch sogenannte nate hin. Eine Kampagne zur Popularisierung der „sozialistischen Erziehung auf dem Lande" dauerte z. B. in einem kantonesischen Dorf im Jahre 1964 ungefähr drei Monate. Einzelne Dorfbewohner hatten während dieser Zeit an über 100 Versammlungen teilzunehmen, die den ganzen Tag dauerten und sich manchmal bis über Mitternacht hinauszogen
d) Die Zusammenfassung spielt besonders seit der Kulturrevolution wieder eine besondere Rolle. In den „Studienklassen" muß vor allem die Frage nach der Zweckmäßigkeit der eingesetzten Mittel, nach dem erreichten Bewußtseinsstand sowie nach den immer noch verbliebenen Feinden über Monate hin als Ausgangspunkt der Diskussion herhalten. Ein nicht unwichtiges Ergebnis ist die Entdeckung neuer Aktivisten, die sich bei der Kampagne besonders hervorgetan hatten und nun entsprechend herausgestellt werden.
Die maoistischen Sozialisierungstaktiken kulminieren in den Kampfversammlungen. Man könnte insofern von einer Politik der Integrationdurch Konflikt sprechen.
Da hier ein Punkt erreicht ist, der besonders beachtet sein will, seien noch zwei Gedanken-komplexe angefügt, die das maoistische Postulat nach permanentem Kampf einerseits von der Motivation her beleuchten und ihm andererseits einen systematischen Standort in der modernen Organisationssoziologie zuzuweisen. Die wichtigste Rolle im Dynamisierungsprozeß spielt, wie insbesondere Lucian Pye nachgewiesen hat
Die Ursache für diese systematische Mobilisierung des Hasses lag zunächst im außenpolitischen Bereich, wo die Phänomene der Erniedrigung des chinesischen Volkes besonders fühlbar waren. Daneben hat aber auch die innere Situation Chinas Anlaß zur Kultivierung des Hasses gegeben. Das Versagen der bisher so stabilen chinesischen Gesellschaft durch die nagenden Zweifel an der traditionsverankerten Autoritätsstruktur, insbesondere im Rahmen der Familie, führten zu erheblichen Frustrationen, deren Folgen sich merkwürdigerweise nicht gegen den unmittelbaren Träger der Autorität, nämlich den Familienvater mit seiner formalisierten Stellung richteten, sondern vielmehr gegen die gesamte gesellschaftliche Infrastruktur, von deren Integrität die Autorität des Vaters ja letztlich abhing. Nicht zufällig haben z. B. die meisten chinesischen Revolutionäre, allen voran Mao Tse-tung, ihre revolutionäre Karriere mit innerfamiliären Konflikten begonnen. Ist es unter solchen Umständen spekulativ, zu behaupten, daß Mao auf der Suche nach einer Rechtfertigung seiner innerfamiliären Revolte (im alten China ein todeswürdiges Verbrechen!) schließlich sein Kalkül von der sozialen Schädlichkeit des „reichen Bauern" erfand, das sich zunächst indirekt nur gegen den eigenen Vater wenden sollte, später aber gegen diesen Bauerntyp schlechthin ins Feld geführt wurde?
Von welch nützlichen Nebenerscheinungen übrigens solche Haßkampagnen begleitet sein können, haben erst vor kurzer Zeit wieder die Rotgardistenbewegung und die Kampagnen gegen die Sowjetunion und die USA bewiesen. Bei all diesen Massenbewegungen waren die Teilnehmer aufgefordert, ihrem Haß durch Produktionssteigerungen Luft zu machen
In den Kampfversammlungen offenbart sich aber nicht nur eine ausgeklügelte Manipulation von Haßgefühlen, sondern auch ein gewisses Fingerspitzengefühl für die Möglichkeiten sozialer Integration. Die moderne „human relations" -Schule, die mit punitiven, permissiven und persuasiven Modellen experimentierte, kam zu dem Ergebnis, daß am intensivsten jene Gruppen mitarbeiten, die voll an den Informations-, Einarbeitungsund Planungsprogrammen teilgenommen hatten. Kurz angebundener autoritärer Stil oder — am anderen Ende der Skala — eine „laisser faire" -Haltung werden von den Befehlsadressaten demgegenüber nur halbherzig akzeptiert
Mao Tse-tung-Studienkurse (einschließlich der , Aktivistenkongresse“ und „ 4-5-Gut-Kongresse“):
Da die Kulturrevolution im Zuge einer umfassenden Wiederbelebung der Ideologie ausgelöst worden ist, wird es kaum verwundern, daß das ideologische Selbstverständnis der Massen durch verschärfte ideologische Schulungsarbeit vertieft werden soll. Ganz in diesem Sinne ordnete Mao mit seiner Direktive vom 7. Mai 1966 an, daß jeder Beruf und jeder Betrieb in die Rolle einer „Roten Schule" hineinwachsen solle. Inhalt dieser Schulungsarbeit ist selbstverständlich das „Denken Mao Tse-tungs". Ideologische Schulung in diesem Sinn ist das „zentrale Kettenglied", ohne dessen Verbindungsfunktion „keine einzige der politischen Aufgaben erfüllt werden kann"
Besonders hervorragende Kursteilnehmer wurden zu „Aktivisten im lebendigen Studium und in der lebendigen Anwendung der Mao Tse-tung-Ideen" ernannt. Aktivisten sind Verbindungsglieder zwischen Führung und Massen — gehören also (noch) nicht der Partei an — und fungieren als Leiter von Massen-bewegungen. Sie sind wegen ihrer Kenntnis der lokalen Verhältnisse unentbehrlich und zeigen eine von „heroischen Modellen" vorgelebte Bereitschaft, im Dienste an der Partei, vor allem aber auch an Mao Tse-tung, sich kämpfend einzusetzen und ihre eigenen Belange dabei ganz in den Hintergrund zu stellen, wobei es ihnen vor allem darauf ankommt, sich als „würdige revolutionäre Nachfolger" zu erweisen.
Aktivisten treffen sich im Rahmen besonderer Aktivistenkongresse zur lebendigen Anwendung und zum lebendigen Studium der Mao Tse-tung-Ideen" auf den verschiedenen Ebenen (seit Januar 1968 sogar auf Provinzebene), um -------------ihre „revolutionären Erfahrungen" auszutauschen. Seit Anfang 1969 traten neben die Aktivisten-kongresse die sogenannten „ 4-5-Gut-Kon-gresse", denen es besonders darum geht, einen spezifisch militärischen Tugendkatalog Lin Piaos zu verwirklichen. Wie die Aktivisten-kongresse sind auch die 4-5-Gut-Versammlungen auf allen Verwaltungsebenen angesiedelt.
Beide Kongresse waren ursprünglich militärische Einrichtungen, griffen aber dann — im Zuge der Militarisierung der Nation — auf den zivilen Sektor über. Beide zielen sie — nebeneinander! — auf eine Mobilisierung der Massen ab und stehen nicht etwa — wie La Dany es behauptet
Das Personalaufgebot bei solchen Kongressen ist nicht unerheblich: Allein in der Provinz Kuangtung nahmen z. B. im Jahre 1969 nicht weniger als 373 000 Repräsentanten verschiedenster Organisationen an den „Mao Tse-tung-Aktivistenkongressen" auf Stadt-und Kreisebene teil. 35 000 erschienen überdies bei den Aktivistenkongressen der Sonderdistrikte und über 7000 bei der Provinzveranstaltung 52). Auch die 4-5-Gut-Kongresse weisen hohe Teilnehmerzahlen auf: Bei der Provinzveranstaltung im Februar 1970 in Kianghsi waren es z. B. 15 000
Arbeiter-Propagandatrupps (APTs):
In engem Zusammenhang mit den „Mao Tsetung-Studienkursen" stehen die „Arbeiter-Propagandatrupps", die Ende Juli 1968 erstmals an die Öffentlichkeit traten, und zwar als eine Art Feuerwehr gegen die überhitzten Umtriebe und schwelenden Streitigkeiten der Rotgardisten an einigen Pekinger Hochschulen. Was niemand erwartet hatte, gelang damals in wenigen Tagen: Sämtliche „Fraktionen" und Splittergruppen waren nämlich binnen kurzem zu einer „Großen Allianz" vereinigt. Zusammensetzung und Aufgabenstellung wurden durch folgende Direktive Mao Tse-tungs vorgeschrieben: „Bei der Durchführung der Großen Proletarischen Kulturrevolution im Erziehungswesen muß die Arbeiterklasse die Führung innehaben. Mitwirkende sind hier-bei Kämpfer der Befreiungsarmee sowie Aktivisten unter den Schülern und Studenten, Lehrern und Arbeitern in den einzelnen Lehranstalten, soweit sie entschlossen sind, die proletarische Revolution im Erziehungswesen zu Ende zu führen und die revolutionäre Dreierverbindung zu schaffen. Die APTs sollen lange Zeit in den Lehranstalten verbleiben, sie sollen sich an allen Aufgaben im Rahmen von Kampf-Kritik-Umgestaltung beteiligen und für immer die Lehranstalten leiten.“
Innerhalb dieses Rahmenwerks läßt sich das Porträt der APTs in folgenden vier Zügen verdeutlichen:
Organisatorisch sind sie wie Militäreinheiten in Züge, Kompanien, Bataillone usw. eingeteilt. Die Mitglieder der APTs rekrutieren sich aus militärischen „Einheiten zur Unterstützung der Linken", ferner aus Arbeitern, vor allem aber auch aus revolutionären Studenten und Lehrern, sowie aus Bauern, wenn es um ländliche Einsätze geht.
Ihr Einsatzbereich liegt überall dort, wo normalerweise „Intellektuelle“ zu Hause sind, also in Schulen, Akademien sowie in Institutionen für Kunst und Literatur.
Zu den Aufgaben der APTs gehört es, in den Schulen die Leitung zu übernehmen, für die Einhaltung der politischen Richtlinien zu sorgen, über die ideologische Reinheit des-Lehrpersonals zu wachen und regelmäßig Lehrer sowie Schüler an die Produktionsstätten zu führen, um sie dort an ein Zusammenleben mit Arbeitern und Bauern zu gewöhnen. Insbesondere sollen sie auch dafür sorgen, daß Theorie und Praxis nicht voneinander gelöst werden.
Als Mittel für die Durchsetzung dieser Aufgaben benutzen die APTs Rundfunk, Wandzeitungen, Mao Tse-tung-Studienkurse und vor allem Einzelgespräche. An der Ch'ing-hua-Universität in Peking z. B. formierten sie sich zu rd. 100 Gruppen, die über die ganze Hochschule ausschwärmten und in Vortragssälen und Wohnheimen erschienen, um dort, wie es heißt, tiefgehende Propaganda-und Erziehungsarbeit zu leisten
Nach zwei Jahren praktischen Einsatzes haben die APTs viel von ihren Vorschußlorbeeren verspielt. Vor allem müssen sie ihre in den Schulen fast monopolartige Stellung mit immer mehr Konkurrenzgruppen und -Organisationen teilen: In jeder einigermaßen bedeutenden Schule gibt es neben den APTs ein Revolu52)
Peking Rundschau 1968 Nr. 43, S. 2. 55) Peking Rundschau 1968 Nr. 43, S. 10. tionskomitee, eine Parteikerngruppe, einen Ausschuß der sich langsam wieder revitali-sierenden Kommunistischen Jugendliga oder — je nach Alter — Gruppen „kleiner roter Soldaten", die wiederum über eigene Propagandatrupps verfügen. Vor allem aber sind es die rein „militärischen Propagandatrupps", die den 1968 erstmals entsandten APTs an Volks-und Mittelschulen, vor allem aber an Universitäten und Hochschulen immer mehr den Rang abläufen und zum eigentlichen Disziplinierungsinstrument für die schwierigen Intellektuellen geworden sind.
Familien-Studienkurse:
Die alte Drei-Generationen-Formel, die ja schon im alten China den Idealzustand einer Bauernfamilie umschrieben hatte, taucht seit einiger Zeit im neuen Gewände wieder auf. Bezeichnenderweise geht es der Pekinger Führung Anfang der siebziger Jahre nicht mehr darum, die Familie als solche zu zerstören. Ihre vorgegebene Form soll vielmehr mit neuen Inhalten gefüllt werden, wobei an die Stelle der als „feudalistisch" abqualifizierten Autorität und der auf „Pietät" basierenden Loyalitätsstruktur neue „sozialistische" Haltungen treten sollen. „Im Ergebnis . .. soll sich jede Familie ... in einen Lehrsaal der Mao-Tse-tung-Ideen verwandeln . . .“
Die „revolutionierte" und „rot gewordene" Familie hält regelmäßig Studienkurse im Denken Mao Tse-tungs ab. Dabei führt vor allem die jüngere Generation das Wort. Innerfamiliäre „Kampf-Kritik-Änderungs" -Treffen sind weitere Errungenschaften eines „revolutionären Familienlebens". Die einzelnen Mitglieder sollen sich gegenseitig beobachten und die immer wieder zutage tretenden Fehler kritisieren. Wer nur die Familie im Sinne hat, nicht aber nach Mao Tse-tungs Anweisungen handelt, muß sich Belehrungen gefallen lassen.
Das Buch, die „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung“:
Die Volksrepublik China ist der größte Buch-produzent der Welt — nicht der Titelzahl nach, wohl aber vom Ausstoß her gesehen.
Von 1966 bis Ende November 1968 verteilten die betrauten Stellen im Inland nicht weniger als 150 Millionen Drei-Band-Sätze der „Ausgewählten Werke" Mao Tse-tungs. Von den „Ausgewählten Lesestücken aus den Werken des Vorsitzenden Mao Tse-tung" erschienen 140 Millionen, von den „Worten" gar 740 Millionen. Selbst die lyrischen Gedichte Maos erreichten noch die für einen Lyrik-Band in der Weltliteratur einzig dastehende Auflagen-höhe von 96 Millionen Stück.
Bei einem Ausstoß von 740 Millionen Exemplaren der „Worte" sollte die Sättigungsgrenze bei einer Bevölkerung von 800 Millionen eigentlich längst erreicht sein. Wenn die Presse trotzdem auf Hochtouren weiterläuft, so kommt dies mehr einem Ritual gleich, das seinen Zweck in sich selbst trägt. Schenkt man den offiziellen Berichten Glauben, so ist das „ganze chinesische Volk der Auffassung, daß es zwar ohne Nahrung ... auskommen könne", nicht aber ohne das Studium der Worte Maos
Wie sehr Agitation (Pamphlete) und Propaganda (Mao Tse-tung-Werke) den literarischen Markt monopolisiert haben, geht vor allem aus der Tatsache hervor, daß sich z. B. für das Jahr 1968 überhaupt nur drei unpolitische Titel ausmachen ließen: ein Handbuch über Metallschneidemaschinen, eine Monographie über Sandstrahlmethodik und eine Darstellung der Modernisierung in den Volkskommunen
Werk es vor allem, das einem Fünftel Ein ist der Weltbevölkerung zum „Leuchtturm" -ge hinaus Art worden ist und es darüber zu einer Welt-Bestseller gebracht hat: das „kleine rote Buch" mit dem Titel „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung", das nicht nur zu einem Kommunikationsmittel ganz besonderer Art geworden ist, sondern überdies in der Welt zahlreiche Nachahmungen, allerdings meist humoristischer Natur, gefunden hat.
Es ist das Buch, das, wie schon vorher der konfuzianische Kodex mit seinen elf Teilen und später das Hauptwerk Sun Yat-sens, wieder einmal zum Mittelpunkt chinesischer Aufmerksamkeit geworden ist. Es war der alte und ewig neue Wunsch, die Welt einheitlich und frei von kaleidoskopartig verwirrender Vielfalt zu sehen, der dem roten Buch seine einzigartige Popularität verschafft hat.
Das in seiner chinesischen Ausgabe 270 Seiten starke, in 33 Kapitel unterteilte und 426 Paragraphen umfassende Taschenbuch mit seinem feuerroten Plastikumschlag war unter dem Tutorat Lin Piaos bereits im Mai 1964 für ausschließlich innermilitärische Zwecke publiziert worden. Im Oktober 1966, als die Kulturrevolution überbrodelte, wurde das kleine rote Buch zum erstenmal auf den Markt geworfen. Zur Neuauflage im Dezember 1966
verfaßte Lin Piao sein berühmtes „Vorwort zur zweiten Auflage", in dem er die für einen Revolutionär recht merkwürdige Empfehlung aussprach, „die Sentenzen immer wieder zu studieren und einige ... am besten ... auswendig zu lernen". Die „Worte" sind eine systematisch gestraffte Blütenlese aus den „Ausgewählten Werken“, die im chinesischen Sammelband nicht weniger als 1520 Seiten umfassen.
Nicht uninteressant ist der Werdegang, den die „Ausgewählten Werke" durchzumachen hatten, ehe sie zum „roten Buch" kondensiert wurden. Es ist einzuräumen, daß die „Worte" das Verdienst haben, die eigentlich maoistischen Elemente mit ziemlich sicherem Instinkt aus dem Wust der „Ausgewählten Werke" herausgesucht zu haben. Obwohl die „Worte" demnach maoistischer als die „Ausgewählten Werke" sind, kann doch nicht daran vorbei-gesehen werden, daß sie gewisse Verzerrungen mit sich gebracht haben. Sie sind z. B. so sehr abstrahiert, daß die Jahresringe am Denken Maos überhaupt nicht mehr abzulesen sind. Aus erkenntnistheoretischen Geschichtsanalysen wurden Postulate der praktischen Vernunft, Unter den Formzwängen der aphoristischen Gattung verwandelten sich historisch bedingte konkrete Einsichten zu allgemeinen Weisheiten von universaler Gültigkeit. Am auffallendsten aber ist das Mißverhältnis zwischen den „Ausgewählten Werken" und den „Worten": Dutzende von größeren und kleineren Werken Maos fallen nämlich völlig unter den Tisch. Umgekehrt bestreiten allein neun Schriften nicht weniger als 40% der „Worte". Am meisten wurde bezeichnenderweise die Widerspruchsrede von 1957 „ausgeschlachtet", die nicht weniger als 36mal auftaucht. Die chronologische Verteilung jener Aufsätze, die als Hauptlieferanten herangezogen wurden, gibt interessante Aufschlüsse: Sie stammen durchweg aus solchen Zeiten, in denen Mao das Geschehen besonders souverän im Griff hatte, nämlich während der frühen Guerilla-Periode, am Anfang der Yenan-Zeit, bei der Ausrichtungsbewegung von 1942, am Ende des Bürgerkriegs, bei der Kollektivierung der Landwirtschaft (1955) und während der „Hundert Blumen“ -Periode (1957)
Auf den Inhalt (es werden fast ausschließlich innenpolitische Fragen behandelt) kann hier nicht näher eingegangen werden. Lediglich ein formaler Aspekt sei hier angeschnitten: Manche Aussprüche sind so verblüffend simpel, daß sich der westliche Leser nicht selten fragt, warum solche Selbstverständlichkeiten überhaupt der Niederschrift bedürfen. Nun ist aber nicht zu vergessen, daß Mao ausschließlich für den innerchinesischen Hausgebrauch schreibt und daß sich seine jeweils aus einer praktischen Situation heraus entstandenen Schriften an Bauern wandten, die nicht nur Analphabeten, sondern im Gefolge einer langen Tradition auch Fatalisten waren, denen der individuelle Impuls zum Handeln weitgehend fehlte. Ein Beispiel möge dies illustrieren: „Wir müssen nicht nur Aufgaben stellen, sondern auch die Frage lösen, mit welchen Methoden diese Aufgaben zu erfüllen sind. Wenn wir die Aufgabe haben, einen Fluß zu überschreiten, können wir das ohne eine Brücke oder ein Boot nicht tun. Wird die Frage der Brücke oder des Bootes nicht gelöst, dann ist es müßig, von einem übersetzen auf das andere Ufer zu reden ..
Vielleicht wäre die Mao-Bibel auch ohne den schrillen Propagandaaufwand zu einem po-pulären Buch in China geworden. Das hohe persönliche Ansehen des Verfassers, das Plädoyer für die breiten Massen des einfachen Volkes, das Einfühlungsvermögen in die Denkungsart der Adressaten und die leicht verständliche Sprache entsprechen im hohen Maße den Erwartungen, die das chinesische Bauern-volk an einen Führer stellen mußte. Eine Dimension freilich könnte dem Buch — und damit dem Maoismus überhaupt — auf die Dauer zum Nachteil . werden, nämlich das Fehlen irgendwelcher klar definierter Endziele