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Begriff und Funktion der „öffentlichen Meinung" im bürgerlichen und sozialistischen Gesellschaftssystem | APuZ 13/1971 | bpb.de

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APuZ 13/1971 Artikel 1 Begriff und Funktion der „öffentlichen Meinung" im bürgerlichen und sozialistischen Gesellschaftssystem Massenkommunikation in der Volksrepublik China

Begriff und Funktion der „öffentlichen Meinung" im bürgerlichen und sozialistischen Gesellschaftssystem

Hansjürgen Koschwitz

/ 58 Minuten zu lesen

Studien zum Themenkreis „öffentliche Meinung", seien sie unter geistes-, problemge-schichtlichen, historischen oder unter soziologischen und sozialpsychologischen Aspekten konzipiert, liegen in ansehnlicher Zahl vor — in apologetischem oder glorifizierendem Sinne häufig aus der Feder von Verfassern liberaler Provenienz Außerdem haben sich in jüngster Zeit Autoren von betont nicht-bürgerlicher Wissenschaftsauffassung, nicht nur in den sozialistischen Ländern, in zunehmendem Maße mit dem Fragenkomplex „öffentliche Meinung" auseinandergesetzt.

Allgemein noch wenig behandelt worden sind hingegen die Rolle der „öffentlichen Meinung", deren theoretische Fundierung sowie tatsächliche Wirksamkeit aus systemvergleichender Sicht. Vor allem die spezifische Funktion der „öffentlichen Meinung" im Gefüge unterschiedlicher oder gegensätzlicher politisch-ideologischer Ordnungen ist bislang ein mehr als spärlich erörterter Untersuchungsgegenstand geblieben. Wurde bereits über die Begriffsauslegung der „öffentlichen Meinung" in liberalen oder demokratischen Staatsformeh heftig — und oftmals im Resultat recht unergiebig — gestritten, so kompliziert sich nun der Sachverhalt zusätzlich dadurch, daß in der Gegenwart gerade dieser Begriff „als ideologieintensive Erscheinung ein bedeutsamer Faktor im Kampf der beiden Weltsysteme" geworden und in den unterschiedlichen, ja konträren Gesellschaftsordnungen sowohl in der politischen Praxis

I. Einleitung

Abbildung 1

als auch den wissenschaftlich geführten Fach-diskussionen in die grundsätzlichen ideologischen Auseinandersetzungen einbezogen worden ist.

Die Aussage, daß der Rolle der „öffentlichen Meinung" — zumindest als politisches Schlagwort — in der politischen Wirklichkeit entscheidendes Gewicht zufällt, gilt generell für sämtliche Staats-und Gesellschaftsordnungen unserer Zeit, für die demokratisch-rechtsstaatlichen bzw. parlamentarischen, die diktatorisch-autoritären wie für die totalitären. Besonderes Interesse hat hierbei die für die Gegenwart kennzeichnende Gegenüberstellung von parlamentarischer Demokratie einerseits und Sozialismus andererseits zu beanspruchen. Daher sollen das in bürgerlich-liberalen Staats-und Gesellschaftssystemen vorherrschende Verständnis von der Rolle der „öffentlichen Meinung" und die in sozialistischen Ländern überwiegend gängige Auslegung dieses Begriffes im Vordergrund dieser Untersuchung stehen.

Unser eigener Sprach-(und Denk-) gebrauch leugnet gewöhnlich die Existenz einer „öffentlichen Meinung" in den sozialistischen Staaten und sieht in ihr ein wesentliches Merkmal, wenn nicht gar das Primärmerkmal, ausschließlich der Demokratien westlichen Typs. Man wird leicht eine stattliche Anzahl von Belegen für diesen Gebrauch anführen können; erwähnt sei hier eine Passage aus dem Leitartikel einer größeren Zeitung, in dem im Zusammenhang mit der Frage vertretbarer deutscher, der Sowjetunion gegenüber zu leistender Konzessionen auf die als völlig unvereinbar angesehene Bedeutung der „öffentlichen Meinung" in West und Ost hingewiesen werden sollte: „Vorleistungen konnten sich in den fünfziger Jahren gegenüber den Westmächten auszahlen, wenn es darum ging, die öffentliche Meinung dieser Staaten zugunsten der Bundesrepublik zu beeinflussen. Gegenüber einem Staat, der keine öffentliche Meinung kennt, sind Vorleistungen kein geeignetes Mittel der Politik." Berechtigung oder Angreifbarkeit der politischen Wertung dieses Satzes stehen nicht zur Debatte. Von Belang ist allein die in dem genannten Passus implizit enthaltene Behauptung, eine „öffentliche Meinung" gäbe es allein in den sich zur liberalen Demokratie bekennenden Gesellschaftsordnungen. Diese Ansicht ist als durchaus typisch zu bezeichnen.

Eine ähnliche Auffassung, wie sie in der Publizistik oft erkennbar wird, herrscht vielfach auch in wissenschaftlichen Erörterungen vor. Zwei Beispiele seien dazu angeführt. In einer Untersuchung zum Verhältnis von „öffentlicher Meinung" und internationaler Politik hat der Politologe Ernst Fraenkel die Frage des Einflusses der Regierenden auf die „öffentliche Meinung" angeschnitten und Gegensätzlichkeiten aufzuzeigen versucht: „In einer Diktatur kann ein Staatsmann gleichzeitig die Herrschaft der öffentlichen Meinung verkünden und die öffentliche Meinung beseitigen. In einer Demokratie läßt sich die öffentliche Meinung weder herausfordern noch umschmeicheln, ohne ihren Tribut zu fordern. Einem demokratischen Staatsmann, der der öffentlichen Meinung ein neues Wirkungsfeld eröffnet, bleibt nur die Wahl, entweder ihr Werkzeug oder ihr Troubadour, entweder der Gefangene seiner eigenen Propaganda oder der Hörige einer Autosuggestion zu

Umstritten ist nicht allein, ob die Existenz einer „öffentlichen Meinung" an eine spezifische Form staatlicher Machtausübung und an den jeweiligen Modus gesellschaftlicher Mitbestimmung bei innen-und außenpolitischen Entscheidungen gebunden ist. Umstritten ist darüber hinaus der gesamte Begriff als solcher; in Frage gestellt wird insbesondere, ob man überhaupt von der „öffentlichen Meinung" als Konkretum sprechen kann. In einem unlängst erschienenen Nachschlageband zur Publizistik wird der Artikel über „öffentliche Meinung" überraschenderweise mit einer Feststellung eingeleitet, die vollständig im sein." Als ein konstitutives Systemmerkmal der parlamentarischen Demokratie begreift auch der Soziologe Gottfried Eisermann die „öffentliche Meinung" und setzt diese Staatsform deutlich vom Totalitarismus ab: „In allen Fällen .,. findet letztlich immer ein Ringen um die öffentliche Meinung statt, die nicht nur generell ein wesentliches Element des Wahlkampfes, sondern auch des Kampfes um die staatliche Entscheidungsgewalt im Rechtsstaat und im Wohlfahrtsstaat darstellt, während sie im totalitären Staat kraft der perfektionierten Kontrolle über die Massenmedien zu einem Objekt der Propaganda zu werden droht. All solche Äußerungen, wiewohl sie unterschiedliche Aspekte des Problems „öffentliche Meinung" beleuchten, gehen einheitlich von der Annahme der zentralen Rolle der jeweiligen Offentlichkeitsstruktur für die Klassifizierung politischer Systeme aus, Ungeachtet der generellen Negation einer „öffentlichen Meinung" in nicht-parlamentarisch-demokratischen Ordnungen durch viele westliche Publizisten oder Wissenschaftler spielt aber auch in sozialistischen Gesellschaftsordnungen der Begriff — oder das Phänomen — der „öffentlichen Meinung" eine überaus wichtige Rolle in der praktischen Politik und neuerdings ebenso in der politischen Wissenschaft sowie der marxistischen Soziologie. Worin sind nun die grundlegenden Unterschiede zwischen den offenkundig voneinander abweichenden Interpretationsweisen zu sehen und welches Gewicht fällt der „öffentlichen Meinung" in den Entscheidungsprozessen der verschiedenen Gesellschaftssysteme zu?

II. Zur Genesis des Begriffs „öffentliche Meinung"

Widerspruch zu der Tatsache zu stehen scheint, daß diese Vokabel in den Aussagen der Massenmedien oder den politischen De batten in der Öffentlichkeit wie eh und je en vogue ist. „Nach einhelliger Auffassung in Publizistikwissenschaft, Soziologie und Sozial-psychologie", so heißt es im Wörterbuch zur Publizistik recht lakonisch, „gibt es die öffentliche Meinung nicht.“ Diese Feststellung Kurt Koszyk/Karl Hugo Pruys, dtv-Wörterbuc veranschaulicht eine für die Gegenwart charakteristische Wendung: von der einst übersteigerten Wertschätzung der „öffentlichen Meinung" in früheren Jahrzehnten zu ihrer Negation als Kollektivbegriff zumindest im akademischen Sprachgebrauch. In ähnlicher Weise wie in dem genannten Wörterbuch erkannte der Zeitungswissenschaftler Emil Dovifat zwar ihre unleugbare Wirksamkeit in der Tagespolitik an, sah in ihr jedoch ein Mittel bewußter Täuschung: „Packend und zugkräftig wird mit , der'öffentlichen Meinung politisch operiert, aber schon ein kurzes Nachdenken läßt erkennen, daß es die öffentliche Meinung nicht gibt. Auch historische Beobachtungen belegen, daß dieser Begriff eine propagandistische Finte ist, ein . Hilfsbegriff für Wissende'." Demgegenüber ließ Dovifat nur den Begriff „Meinungen in der Öffentlichkeit" gelten.

Die akademische Diskussion über die „öffentliche Meinung", über die Frage, wie diese begrifflich in präziser Form zu fassen und zu definieren sei, hat keineswegs erst im 20. Jahrhundert begonnen. Sie war im wesentlichen der Reflex des enormen Einflusses, den die . öffentliche Meinung" auf das Handeln der Machtelite genommen hat, vor allem, seitdem sich emporsteigende Volksschichten mit erwachendem politischen Bewußtsein, bei Unterstützung technischer Medien der Kommunikation in der staatlich-gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu äußern wagten und dem Willen geschlossener Herrschaftszirkel eigene, oft widerstreitende Konzeptionen entgegensetzten. „Öffentliche Meinung" war von Anbeginn ein politisch relevanter, vornehmlich gesellschaftsbezogener Terminus, nicht zuletzt auch ein Mittel zur Sanktionierung neu entstehender Denkmuster und Verhaltensweisen. Das Attribut . öffentlich'entstammt noch deutlich der Gegensätzlichkeit zwischen der einst unangetasteten Dominanz eines exklusiven Kreises staatlich-politischer Machtträger einerseits und dem Anspruch eines hinzutretenden Standes, dem Bürgertum, auf Mitsprache und Mitentscheidung andererseits. „Öffentliche" Meinung ist daher stets „gesellschaftliche" Meinung gewesen

Da sich die verschiedensten akademischen Disziplinen an der Suche nach tieferem Verstehen, nach Aufhellung des Phänomens der „öffentlichen Meinung" beteiligt haben, weichen die Begriffsumschreibungen entsprechend voneinander ab. Geschichtswissenschaft, Jurisprudenz, Zeitungsund Publizistikwissenschaft, Soziologie und Sozialpsychologie, Politikwissenschaft — sie alle haben ihr eigenes Fachverständnis in den Begriff projiziert, doch ebenso gemeinsam zu seiner allmählichen Klärung durch Hinzufügung spezifischer Wesenheiten oder einzelner typischer Aspekte beigesteuert. Oft genug spiegelten die Definitionen die besonderen politischen Zeitauffassungen wider oder aber ließen ein bestimmtes vorherrschendes Wissenschaftsverständnis erkennen. Die Genesis des Begriffes „öffentliche Meinung" zeigt dabei vor allem zwei markante Richtungen: Erstens die klassisch-liberale, dem Geist des Rationalismus entspringende Vorstellung, nach der die „öffentliche Meinung" vornehmlich als die Äußerung des gebildeten und politisch aufgeklärten Bürgers zu sehen ist, der aufgrund vernunftgeleiteter, rationaler Überlegung und Diskussion mit Andersgesinnten einer optimalen politischen Entscheidung und Handlungsweise fähig ist Zweitens die der klassisch-liberalen Auffassung chronologisch nachfolgende soziologisch-sozialpsychologische Vorstellung, nach der die Erscheinung der „öffentlichen Meinung" in stärkerem Maße von den jeweils zeitbedingten sozialen, gesellschaftlichen oder politischen Zusammenhängen gesondert betrachtet wird und als hauptsächlich kommunikationswissenschaftliches Einzelproblem auftritt Der Begriff wurde nun zusehends seines ideologischen Hintergrundes und seines normativen Gehaltes entkleidet und „positivistischer" verstanden als ehedem. Zumindest machte sich eine solche Tendenz in der politischen und akademischen Fachliteratur bemerkbar. In der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit behielt er dessen-ungeachtet sein ungeschmälertes Gewicht. Die Einengung der wissenschaftlich-akademischen Betrachtungsweise auf einen stärker empirischen Aspekt verhinderte nicht, daß er zentraler Bestandteil der politischen Auseinander-Setzung blieb — wenn sich auch der Blickwinkel änderte, unter dem er gesehen wurde.

Das für unsere Gegenwart allzu optimistisch überzeichnete Bild der „öffentlichen Meinung" in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die klassisch-liberale Vorstellung dominierte, wirkt in der Rückschau fast wie eine unkritische Verklärung. Spürbar wird dieser Über-schwang, diese emotionale Überladung des Begriffes besonders in den enzyklopädischen Darstellungen jener Zeit. Enzyklopädien sind nicht nur geeignet, die gängigen Zeitauffassungen, den allgemeinen Zeitgeist späteren Generationen aufzuzeichnen; seit Pierre Bayles „Dictionnaire historique et critique" von 1697 sind Enzyklopädien dazu ausersehen gewesen, in getarnter Form dem absolutistischen oder monarchischen Staats-und Regierungssystem zuwiderlaufende, der politischen Zensur jedoch leichter entrinnbare Gedanken vorzubringen. Das gilt vorzugsweise für staats-und gesellschaftspolitische Schlüsselbegriffe und aktuelle, programmatische Schlagworte oder Losungen (wie etwa Publizität oder Pressefreiheit).

Beispiel für das glorifizierende Verständnis der „öffentlichen Meinung" im vorigen Jahrhundert sei das „Neue Rheinische Con-versations-Lexicon" von 1834 angeführt, das unter dem betreffenden Stichwort den folgenden Kernsatz enthält: „In jedem Volke bilden sich über Gegenstände, die ein allgemeines Interesse haben und somit tief in sein Leben eingreifen, Ansichten und Meinungen aus. Lange können sie gegeneinander im Kampfe liegen, doch muß endlich aus dieser Reibung eine siegend hervorgehen, oder besser, die widerstreitenden Ideen setzen sich auf die Dauer ins Gleichgewicht, sich gegenseitig austauschend, beschränkend, berichtigend, bis endlich das Wahre, Rechte und Vortheilhafte anerkannt und mehr oder weniger allgemein angenommen wird." Zweierlei fällt an diesen Formulierungen auf: einmal der naive Glaube an die in der allgemeinen, öffentlichen Diskussion sich letztlich durchsetzende Wahrheit und an die fortschreitende Vervollkommnung des Denkens, ebenso das offensichtliche Verkennen der Möglichkeit, daß die öffentliche Meinungsdiskussion, die öffentliche Selbstaussprache dem Irrtum, dem Irrationalen erliegen und dadurch zu politisch haltlosen Urteilen führen können; zum ande-ren der Bezug der „öffentlichen Meinung" auf die Gesamtheit des Volkes, die Ablehnung eines bestimmten Standes oder einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht, einer politisch oder bildungsmäßig qualifizierten Elite als vorrangiger Träger der öffentlichen Meinungsbildung. Es äußert sich gerade hierin noch ganz die idealisierende Vorstellung, der man in jener Epoche allgemein anhing. Eine weitere Neigung zur Idealisierung, die nur aus den Grundauffassungen jener Zeit mit der sich endgültig vollziehenden Lösung von vorgegebenen absolutistischen Denkweisen und dem Streben nach freieren, von staatlicher Obrigkeit ungehemmteren Formen politisch-gesellschaftlichen Lebens erklärlich ist, liegt in der Überzeugung, daß die „öffentliche Meinung" eine nicht beliebig manipulierbare Größe ist, daß ihre Entstehung von verfälschenden Einflüssen weitestgehend frei ist. Abgeleugnet wird augenscheinlich, daß menschliche Individualität allein die „öffentliche Meinung" unmittelbar nachhaltig zu beeinflussen imstande sei: „Nicht der einzelne vermag eine öffentliche Meinung zu schaffen, zu lenken und zu leiten; ihre eigene Wurzel hat sie in dem ewigen Charakter der Menschheit, welchem ihre höchsten, wichtigsten Zwecke nie gleichgültig seyn können, und ihre andre in der Zeit, in den Weltverhältnissen und Umständen, kurz in Dem, was man Schicksal nennt und es auch allein ist."

Eine solche Haltung weist natürlich noch deutlich auf die fehlenden Erfahrungen mit dem erst in späteren Jahrzehnten auftretenden Problem der publizistischen Massenführung und politischen Massenpropaganda hin. Es schien noch gänzlich undenkbar, daß die „öffentliche Meinung", mochte man darunter nun die Volksmeinung (opinion du peuple) oder nur die Meinung einer auserwählten Schicht der Gesellschaft verstehen, durch andere als rationale Methoden beeinflußbar war, noch fehlte das Verständnis dafür, daß sich in einer in stets wachsendem Maße industrialisierenden Gesellschaft die maßgeblichen Denk-und Verhaltensmuster nicht immer mittels vernunftgeleiteter Diskussionen zwischen aufgeklärten Individuen herausbildeten, sondern zu einem wesentlichen Teil oder gar entscheidend durch die Einwirkung des sich rasdi potenzierenden Kommunikationssystems mitbestimmt werden könnten. Die Presse, das einzige massenwirksame Kommunikationsme dium jener Zeit, wird ganz als Instrumen gegenseitiger Information und Ausspra e (des „Gedankenverkehrs") gesehen, ni als mögliches publizistisch-propagandistisches Führungsmittel gefürchtet.

Die Vielfältigkeit der Einflußnahme auf die Bildung der „öffentlichen Meinung" und deren (allerdings durchaus nicht unbegrenzt mögliche) Manipulation oder Steuerung zu diskutieren, blieb damit hauptsächlich dem nachfolgenden Jahrhundert vorbehalten, das das unkritische, Gefahren und Chancen nicht zurückhaltend abwägende Vertrauen in einen fast selbständig ablaufenden, durch rationalen Dialog gesicherten Prozeß des Entstehens verfeinerter und sich immerfort läuternder Denkweisen zunehmend verloren hat. Ebensowenig werden in der Gegenwart Worte wie das . Wahre“, das „Rechte" oder das „Vorteilhafte" in ähnlicher Form ungeprüft übernommen; derart absolut gesetzte oder objektiv scheinende Kriterien sind kaum noch in modernen Begriffsbestimmungen zu finden, sind zumeist durch weitaus behutsamere Wendungen ersetzt worden.

Es ist denkbar, daß die Verfasser des Artikels zur „öffentlichen Meinung" in der genannten Enzyklopädie mit ihren überaus optimistisch klingenden Formulierungen gleichzeitig im Sinne hatten, die staatliche Obrigkeit davon zu überzeugen, daß eine sich frei bildende und entfaltende „öffentliche Meinung" keine Gefährdung der etablierten Ordnung darstellen könne, da sie unvernünftige, irrationale Motivationen in ihrem Läuterungsprozeß wieder ausscheiden und deshalb niemals einem Umsturz der bestehenden Verhältnisse förderlich sein würde — womit jede Begründung für die Einschränkung der Meinungsund Publikationsfreiheit entfiel. Faßt man die Darstellung des angeführten Lexikons in diesem Sinne auf, so ist ihr indirekt der Wille zu politisch-gesellschaftlicher Kritik zu entnehmen.

Einen solchen Willen bringt das von Carl v.

Rotteck und Carl Welcker herausgegebene . Staats-Lexikon" aus dem Jahre 1841 pointiert zum Ausdruck. Zunächst akzeptiert Welcker, der Verfasser des Artikels über die „Öffentlichkeit", uneingeschränkt die herrschende Zeitauffassung, derzufolge die „öffentliche Meinung" ein Attribut der Gesamtgesellschaft, nicht aber das intellektuelle Privileg einer elitären Schicht von Bürgern sein sollte.

Außerdem wird der Einwand, die „öffentliche Meinung" könne ein Ergebnis rein zufälliger, sich nicht auf sachbezogen rationale Uberle-

gungen gründender, vorwiegend von Leidenschaften geprägter Auseinandersetzungen sein, ^scheinend noch abgelehnt: „Die wahre öf-

entliche Meinung ist vielmehr das dem wahSein un(] Wesen, dem Endzwecke und ochsten Gesetze des ganzen historischen und politischen Volkslebens entsprechende öffentliche oder gemeinsame Bewußtsein, Gewissen und Wollen und die dadurch bestimmte und damit zusammenstimmende Ansicht und Absicht (Consensus) des Volks in Beziehung auf seine öffentlichen Angelegenheiten." Nichtsdestoweniger wird durchaus zugestanden, daß in der geschichtlichen Entwicklung einer Nation unter Umständen Stadien eintreten, in denen nur von einer kranken „öffentlichen Meinung" gesprochen werden kann, sofern die sittlichen Grundlagen der Gesellschaft unterhöhlt sind, Amoral, Egoismus und Materialismus die Oberherrschaft gewonnen haben und die Stimmen der Besonnenen der Resonanz in der Öffentlichkeit beraubt sind. In einem solchen Niedergang müsse die reinigende und veredelnde Kraft der „öffentlichen Meinung" versagen — gleichviel, ob die „öffentliche Meinung" sich frei regen und äußern kann, oder ob Meinungstyrannei herrscht.

Das „Staats-Lexikon" zeichnet, jenseits einer übersteigerten Idealisierung und einer allzu abstrakten Betrachtungsweise, den Begriff der „öffentlichen Meinung" in seiner Abhängigkeit von spezifischen Zeitfaktoren und dem Zeitgeist nach. Danach besteht dieser Zeitgeist „in der besonderen Richtung der öffentlichen Meinung, welche durch bestimmte Entwicklungsperioden oder besondere Zeitverhältnisse bestimmt und vorzugsweise auf gewisse besondere Seiten des Culturlebens gerichtet ist, welche jetzt gerade vorherrschen oder jetzt als vorzugsweise wesentlich erscheinen" Durch die Einbeziehung des Zeitgeistes in die Diskussion um den Begriff „öffentliche Meinung" läßt sich die Fiktion, die „öffentliche Meinung" kristallisiere sich gewissermaßen ausschließlich als Ergebnis und Quintessenz einer vernunftgeprägten, klärenden Diskussion heraus, nicht länger halten. Weit stärker wird jetzt anerkannt, daß die „öffentliche Meinung" auch durch gesellschaftliche Faktoren mitbedingt wird. Vor allem wird auf die jeweilige politische und sozio-ökonomische Verfassung der Gesellschaftsordnung verwiesen. Man sah einen dialektischen Prozeß insofern am Werke, als der Zeitgeist in verschiedenen Epochen andersartig geprägt ist: durch Vorwiegen industrieller, kultureller, politischer, religiöser, liberaler, aufklärender oder monarchischer Elemente, und als eine dominierende Richtung auf den Widerstand anderer Elemente des Zeitgeistes treffen und diesen letztlich erliegen muß.

Damit wird deutlich die Gebundenheit der „öffentlichen Meinung“ an politisch-gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse oder ideologische Wertsysteme erkannt und ein wirklichkeitsnaherer Blick für die Beeinflußbarkeit der öffentlichen Meinungsbildung durch komplexere Faktoren als lediglich Gedankenaustausch und rationale Diskussion gewonnen. Gleichwohl verfällt man keineswegs in den Irrtum späterer Jahrzehnte, das Gewicht allzu einseitig auf die Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Ausprägung des menschlichen Bewußtseins zu legen.

Die übliche Glorifizierung der „öffentlichen Meinung" relativiert das „Staats-Lexikon" zudem dadurch, daß gegensätzliche Auffassungen zur „öffentlichen Meinung" nicht verschwiegen werden. Einerseits wird auf diejenigen Stimmen hingewiesen, die in ihr eine regierende, eine unwiderstehliche Macht sehen wollten, andererseits werden solche konträren Ansichten zitiert, die sie für ein „vielköpfiges Ungethüm" oder für eine „Thörin" hielten. Für das frühe 19. Jahrhundert überwog jedoch noch ganz eindeutig die Anerkennung der „öffentlichen Meinung" als gesellschaftspolitisch positiv wirkender und die Realität in günstiger Richtung verändernder Kraft. — Aus der Perspektive unseres Jahrhunderts läßt sich die oft überhöht gesehene Rolle der „öffentlichen Meinung" hauptsächlich daraus erklären, daß die Losungen „öffentliche Meinung", „Öffentlichkeit", „Publizität" ein politisches Programm darstellten, um den Bedrängnissen seitens der Staatsautorität wirksam entgegenzutreten und deren rigorose Eingriffe abzuwehren. Die Vorstellung nämlich, daß „Publizität" und „freie öffentliche Meinung" eine Garantie gegen die politische Willkür dieser Staatsautorität erzwingen könnten, hatte sich vor allem in dem zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufblühenden Zeitschriften-wesen niedergeschlagen. Bereits Joseph Görres hatte die besondere Funktion der Zeitschriften als Organe der „öffentlichen Meinung" unterstrichen, vor allem als er das Programm seines revolutionsfreundlichen „Rothen Blattes" (1798) ankündigte: „In keinem Falle darf .. . ein Volk, wenn es seine Freyheit nicht bald zu Grabe gehen sehen will, jene Waffe aus den Händen geben, durch die es allein dem Ehrgeize und der Habsucht sich fürchterlich macht. Nie darf es, wenn es sich nicht eine dumpfe Fühllosigkeit, und einen sklavischen Stumpfsinn zu Schulden kommen lassen will, jene Oberaufsicht über seine Beamten und Stellvertreter aufgeben, die durch die öffen liehe Opinion, und das Organ derselben, die Zeit-Schriftsteller, das Resultat ihrer Erfahrungen und Schlüsse dargelegt." Der entschlossenste Bösewicht schrecke vor einer Untat zurück, sobald er sich von tausend Augen beobachtet wisse, wenigstens verschiebe ei sie auf eine ihm günstiger dünkende Gelegenheit. Es wird hier frühzeitig ausgesprochen, was der „öffentlichen Meinung" zu ihrer enormen Aufwertung verhülfen hat; ihre moralische Fundierung als politische Kontrollund Schutzinstanz

Doch mit dieser Funktion erschöpfte sich die positive Rolle der „öffentlichen Meinung“ keineswegs, denn die Hindernisse für die un-gegängelte und von Zensur befreite Meinungsäußerung sollten nicht nur beseitigt werden, um einen ungehemmten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sondern auch, damit die sich durch den kommunikativen Akt des öffentlichen Gedankenaustausches bildende gesellschaftliche Meinung zu einer aktiven Kraft im staatlich-politischen Leben entwickelt und hierdurch das Vorrecht politischer Entscheidungsbefugnisse auf bislang nicht privilegierte Schichten ausgedehnt werden konnte: „Die Freiheit der öffentlichen Meinung . . . besteht eben in jener vollkommenen Öffentlichkeit und in jener Freiheit aller Organe der Mittheilung, sich auszusprechen und so auf die verfassungsmäßige Bestimmung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten einzuwirken."

In diesen Kontext ist der Hinweis einzufügen, daß das Vorhandensein einer „öffentlichen Meinung" oftmals nur für solche Gesellschaftsordnungen zugestanden worden ist, die Legalität der Meinungsvielfalt gelten lassen. Es wird argumentiert, daß sich eine „öffentliche Meinung" erst dann bilden könne, wenn das einst starre Verhältnis von Staatsautorität und Untertanentum aufgelöst und liberaleren Modi staatlicher Machtausübung gewichen sei. Doch scheint diese Argumentation kaum der tatsächlichen historischen Entwicklung zu entsprechen. Die wirkende Kraft der „öffentlichen", das heißt der gesellschaftlich wirksamen Meinung ist auch dann noch nachweisbar, wenn einer ungehinderten Entfaltung der öffentlich-publizistischen Urteils-und Willens-bildung enge Grenzen gesetzt sind oder diese gar völlig unterbunden ist. Die „öffentliche Meinung" mag sich dergestalt nicht auf die Gesamtheit der staatspolitischen Sphäre ausdehnen, sondern wird sich zumeist nur in dem einen oder anderen Teilbereich Gehör und Achtung verschaffen können Von diesen Teilbereichen dringt sie jedoch oft sehr rasch in den gesamtgesellschaftlichen Bereich vor.

Allerdings: im Sinne des klassischen Liberalismus konnte unter solchen Eingrenzungen von einer „öffentlichen Meinung" nicht mehr gesprochen werden. Denn für die klassische Prägung des Begriffes sind, resümierend, die folgenden Merkmale als grundlegend und maßgeblich anzusehen: die Voraussetzung der (formalen) bürgerlichen Freiheit des Individuums; das ungeschmälerte Recht der Individuen auf unzensurierte Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit, was in jener Zeit vornehmlich Zugang zur Pressepublizistik hieß; Teilnahme an der staats-und gesellschaftspolitischen Diskussion in weitestem Maße, das heißt Durchsetzung des Publizitätsprinzips bei allen die res publica betreffenden Angelegenheiten; Konkurrenz der Meinungen im Rahmen einer allgemeinen öffentlichen Aussprache in der Erwartung, auf diesem Wege zu inhaltlich ausgewogenen, von Leidenschaften und irrationalen Motiven ungetrübten Schlußfolgerungen zu gelangen; legale Ein-wirkungsmöglichkeit dieser „artikulierten" und geläuterten Meinung auf die praktische Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Realität

Die allmähliche Auflösung dieses idealtypischen Modells der „öffentlichen Meinung" im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte politische wie soziologische Ursachen. Das im Verlauf des allgemeinen Industrialisierungsprozesses unaufhaltsame Wachsen einer zur politischen Passivität verdammten Masse trug zu der Abkehr von der einst so hochgeschätzten Idee bei, daß das Volk als Ganzes zum Träger der „öffentlichen Meinung" berufen sei. Diese Entwicklung war im wesentlichen für die Einschränkung der zur Prägung einer „öffentlichen Meinung" kompetenten Schicht auf ein Elitepublikum verantwortlich. Eine weitere Transformation des Begriffes war andererseits in der Erweiterung des thematischen Rahmens der „öffentlichen Meinung" zu sehen, die sich nun nicht mehr auf die Angelegenheiten der res publica im engeren Sinne bezog, sondern sämtliche Bereiche des Kultur-, Geistes-und Gesellschaftslebens erfaßte.

Außerdem ließen sich immer mehr Stimmen vernehmen, die vor einer Überbewertung der rationalen Elemente in dem Phänomen „öffentliche Meinung" warnten und demgegenüber das unvermeidlich Irrationale in dem Begriff bloßlegen wollten. Bereits auf Hegel ist dieser Zwiespalt zurückzuverfolgen: die „öffentliche Meinung" als eine zu achtende wie zugleich zu verachtende Erscheinung.

Wenn in späterer Zeit, zu Beginn des Jahrhunderts, die „öffentliche Meinung" — so von Max Weber — als „ein aus irrationalen . Gefühlen'geborenes, normalerweise von Parteiführern und Presse inszeniertes oder gelenktes Gemeinschaftshandeln" 20) charakterisiert wird, so brechen hier deutlich die Distanzierung und Gegenpositionen zu der in früherer Zeit üblichen verklärenden Sicht der „öffentlichen Meinung“ durch: Nun meint man offenbar, ihre Willfährigkeit gegenüber allen Manipulationsbestrebungen zu entdecken — eine Einstellung, die auch heute noch erstaunlich viele Anhänger findet, trotz der zur Vorsicht und Reserve gemahnenden Erkenntnisse der empirischen Kommunikationswissenschaft.

Der schrittweise sich vollziehende Umdeutungsprozeß in der Auslegung des Begriffes „öffentliche Meinung" war nicht zuletzt bedingt durch die Ausbreitung der Massenpublizistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die in der politischen Öffentlichkeit widerstreitenden Meinungen sich dank der Intensivierung der technischen Reproduktionsmittel profilierter und massenwirksamer äußern konnten. Die politische und gesellschaftliche Diskussion verlagerte sich fortschreitend von 20 den kleineren exklusiven Zirkeln und Presseorganen früherer Zeit in diese Massenpublizistik. Mit deren rascher quantitativer Ausbreitung, vor allem mit dem Emporkommen der Publikumsblätter, insbesondere der Sensationspresse, ging häufig ein qualitativer Abfall des publizistisch-journalistischen Niveaus einher, der dem Ideal der politischen Zei-tungs-(und Zeitschriften-) presse als moralischer Instanz, als öffentlicher Wächterin äußerst abträglich sein mußte. Nun war es unvermeidlich, daß sich in verstärktem Maße politisch weniger ernst zu nehmende gesellschaftliche Kräfte Einfluß und Gehör in der Öffentlichkeit sicherten.

Die sachlich-rationale Diskussion innerhalb der Publizistik wurde überdies zunehmend durch das Streben nach gewinnversprechenden Sensationseffekten gefährdet. Die übertriebene politische Emotionalisierung — ohnehin im Zuge der Gründung zahlloser Partei-blätter im Zunehmen begriffen — und die Abhängigkeit eines Teils des Journalismus von finanzkräftigen Verlegern mögen als wichtigste Faktoren zu der Abwertung der „öffentlichen Meinung" beigesteuert haben. In jedem Falle erhielt das Schlagwort von der „Macht der öffentlichen Meinung" nun einen Skepsis verratenden Klang und verlor seinen einst ungetrübten Glanz.

Diese nicht zu verkennende Wandlung hat ein wachsamer Beobachter jener Jahrzehnte, Kurt Baschwitz, in einer seiner zahlreichen Studien zu Themen der Massenpsychologie nach-gezeichnet und hierbei besonders die wachsende Tendenz zum Prestigeverlust des Begriffes „öffentliche Meinung" aufgezeigt: „Man sprach früher viel häufiger von der . Macht der öffentlichen Meinung', als man das gegenwärtig tut; die Vorstellung von dem zwingenden Einfluß, der von der öffentlichen Meinung ausgehe, wurde in den Zeitungen und in den Büchern der Periode, die mit dem ersten Weltkrieg endigte, als etwas Selbstverständliches beschriebep. Von da ab sprach und spricht man aber weniger von der Macht, welche die öffentliche Meinung ausüben soll, sondern spricht umgekehrt meistens von dem Einfluß, den mächtige Privatpersonen auf sie zu gewinnen suchen (mittels des Privatmonopols der Zeitungstrusts), und von dem Einfluß, den Regierungen auf die öffentliche Meinung aus. zuüben trachten (mittels Zensur und Propaganda). Die Sorge, daß eine Regierung oder ein Pressemagnat die öffentliche Meinung sozusagen als ein willenloses Objekt behandeln könnte, ist für unsere Zeit geradezu kenn, zeichnend; diese Sorge steht in unvermitteltem Gegensatz zu der früheren Vorstellung von der öffentlichen Meinung als einer selbständigen geistigen Macht, die ihrerseits den Regierungen Respekt einflößte."

In den Aufzeichnungen von Baschwitz spiegeln sich all jene Erfahrungen und Erkenntnisse wider, die sich aufgrund der veränderten gesellschaftlich-politischen Realitäten zwangsläufig einstellten. Diesen Wandlungen der „öffentlichen Meinung" hatte im übrigen auch die Wissenschaft Rechnung getragen, als sie begann, mit dem Aufkommen der akademischen Disziplinen Zeitungswissenschaft, Publizistik, Massenkommunikationsforschung, vor allem mit der Intensivierung der interdisziplinären Forschungen, das heißt in Verbindung mit der Soziologie, Sozialpsychologie und politischen Wissenschaft, die „öffentliche Meinung" auf einen konkret faßbaren Gehalt hin zu erforschen, und sich darum bemühte, die differenzierteren Aspekte des Gesamtphänomens zu analysieren. Es erwies sich aber nun erst recht, wie schwierig es war, die „öffentliche Meinung" als konkreten Begriff zu definieren, sobald man darauf verzichtete, ihre politische Wirksamkeit in den Vordergrund zu stellen und geneigt war, das sich mit diesem Begriff historisch verknüpfende Ideal außer acht zu lassen; und als es nur darum gehen sollte, die „öffentliche Meinung" als reale Kategorie politisch-gesellschaftlichen Lebens und Geschehens einzugrenzen.

Vielfach zog man es daher vor, sich auf rein „praktikabel" oder nur funktional erscheinende Lösungen zu beschränken — so wie es der amerikanische Sozialwissenschaftler Leonard W. Doob tat, als er schlicht definierte: „Public opinion refers to people's attitudes on an issue when they are members of the same social group." Daß aller Erfahrung nach das Entstehen einer „öffentlichen Meinung“ zwar zu einem wesentlichen Teil den Impulsen bestimmender (oberer) Sozialschichten zu verdanken ist, daß die „öffentliche Meinung als gesamtgesellschaftliche Erscheinung jedoch vielfach, möglicherweise überwiegend, sämtliche soziologischen Bereiche und Kreise zu erfassen imstande ist, daß sich die Subjekte einer kollektiven gesellschaftlichen Meinung oft nicht aus homogenen sozialen Gruppen rekrutieren, läßt diese Definition anscheinend offen. Als noch überraschender erweist sich der an früherer Stelle bereits erwähnte Umstand, daß derartige soziologisch-sozialpsycho-logische Erklärungen die politische Brisanz und die ideologische Bedeutsamkeit des Begriffes „öffentliche Meinung" gänzlich zu vernachlässigen bereit sind. Man geht ganz und gar der Frage aus dem Wege, welche Konsequenzen das Operieren mit dem Begriff der „öffentlichen Meinung" in politischer Hinsicht zeitigt. Mithin signalisiert der Rückzug auf die rein empirische Deskription die endgültige Abkehr vom traditionellen Ideal des Phänomens „öffentliche Meinung".

III. Zur Problematik des Begriffs „öffentliche Meinung" in der Gegenwart

Eine präzise Begriffsumschreibung der „öffentlichen Meinung" ist demnach sowohl aus dem Verständnis der historischen Entwicklung heraus als auch infolge der vielfältigen Auffächerungen der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen schwierig. Daher muß in der Gegenwart von einer Ungeklärtheit der Auffassungen und Interpretationen ausgegangen werden. Zumindest fehlt in den nicht-sozialistischen Ländern, denen eine offiziell verbindliche Auslegung politischer und ideologischer Schlüsselbegriffe fremd ist, ein klarer Konsens.

Ein zusätzlicher Grund für dieses Fehlen liegt zweifellos in der im wissenschaftlichen ebenso wie politischen Bereich herrschenden Unsicherheit und Verwirrung bei den Auseinandersetzungen um den Einfluß der Massenkommunikationsmittel auf den Prozeß der Meinungsbildung, in den auch plausible und durch empirische Forschungen erhärtete Erkenntnisse, wie beispielsweise die Theorie vom „two-step flow of communication", bislang keinen restlos klaren Einblick verschafft haben. Allein der Zweifel an dem Grad der psychologischen Manipulierbarkeit der Kommunikationsempfänger (Leser, Hörer, Zuschauer) macht die Entscheidung schwierig, wieweit überhaupt gesellschaftliche Realitäten, wie sie der einzelne subjektiv erlebt, und politische Propaganda (oder politische Werbung) bei der gesellschaftlichen Meinungsbildung zusammenwirken, inwieweit das eine Element gegenüber dem anderen den Ausschlag gibt. Zudem ist in den Forschungen oftmals der wesentliche Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Kommunikationssystemen vernachlässigt Worden. Sicher erscheint aufgrund der bisherigen Forschungsergebnisse, daß die Möglichkeit einer willkürlichen Änderung kollektiver erhaltensmuster durch gezielte Kommunika-

tionsimpulse in Abrede gestellt werden kann.

Die „öffentliche Meinung" — verstanden als vorherrschendes gesellschaftliches Bewußtsein in allgemeinen wie speziellen Fragen — entzieht sich der Steuerung durch die Massenmedien in höherem Maße, als dies zumeist kulturkritisch und pessimistisch gesonnene Analytiker befürchtet oder simplifizierende Ideologen vorgetäuscht haben, die die Stabilität bestimmter Grundhaltungen oft unterschätzten und die Manipulierbarkeit einer Minorität von Bürgern voreilig auf die Gesamtbevölkerung übertrugen.

Massenkommunikation ist stets nur einer der Faktoren, die eine Änderung in den Attitüden der einzelnen initiieren können; ihre Impulse und Aussagen müssen jedoch weitgehend mit den grundsätzlichen Dispositionen der angesprochenen Rezipienten übereinstimmen, um nachhaltige Wirkung zu erzielen Selbst die Beseitigung der Meinungs-und Informationsfreiheit und die Monopolisierung aller Kommunikationsmedien durch eine bestimmte politische Gruppe der Staatspartei zieht durchaus nicht automatisch das Verschwinden einer von der „veröffentlichten Meinung" deutlich unterschiedenen gesellschaftlichen Kollektiv-oder Teilmeinung nach sich. Totalitäre Gesellschaftsordnungen liefern hierfür mannigfache Beweise.

Somit wird fragwürdig, ob die als unumstößliches „Gesetz" von Marx und Engels formulierte These, daß sich Verfügung über die materielle Macht in der Gesellschaft und Herrschaft über das Bewußtsein entsprechen müs-sen, als tatsächlich so zutreffend angesehen werden kann, wie dies die Konzision und Bündigkeit ihrer Schlußfolgerungen zunächst nahe-zulegen scheinen Diese Schlußfolgerungen lassen hingegen keinerlei Raum für die historisch vielfach nachweisbare Möglichkeit einer Entfremdung zwischen materieller gesellschaftlicher Macht oder der dieser materiellen Macht zugrunde liegenden Ideologie einerseits und einem dieser Ideologie tendenziell zuwiderlaufenden geistigen Bewußtsein andererseits. Wird hier nicht ein dialektisch verlaufender Prozeß vorausgesetzt, so bleiben zum Beispiel die Unterhöhlung absolutistischer Herrschaftsformen durch aufklärerische Bewußtseinsinhalte oder der Widerstreit zwischen orthodoxem und reformerischem Kommunismus in einigen sozialistisch regierten Staaten Osteuropas unerklärt.

Auch in der jüngsten Gegenwart ist zweifelsohne eine Überschätzung der „geistigen Produktionsmittel", der Einflußmöglichkeiten der „Bewußtseinsindustrie", das heißt der Massenmedien, bei der Bildung der „öffentlichen Meinung“ zu verzeichnen gewesen. Sie wurde zum Teil bis zu dem Punkt getrieben, wo man von einer Allmacht der Massenmedien zu sprechen bereit war. So unbestreitbar jedoch die Wirksamkeit der Massenkommunikationsmittel ist, so zweifelhaft muß die leichtfertige Annahme eines allzu simplen einseitigen Kommunikationsschemas und eines völligen Ausgeliefertseins der Rezipienten an den staatlich gelenkten oder privatwirtschaftlich betriebenen Kommunikationsapparat sein. Die von den realen Lebensumständen, von der objektiv gegebenen gesellschaftlich-sozialen Lage bestimmten und geprägten Denkhaltungen werden stets auf die Medien zurückwirken und, mittels dieses Reziprozitätsverhältnisses, die Medien zumeist daran hindern, auf die Dauer von sich aus einen fortschreitenden Entfremdungsprozeß zu riskieren. Die Herausbildung einer „öffentlichen Meinung" unterliegt somit sicherlich dem Einsatz manipulativer Techniken und Methoden, -ebenso aber der Einwirkung der aus der Gesellschaft selbst stammenden Spontaneität. In diesem Sinn läßt sich die „öffentliche Meinung" durchaus treffend als „ein Komplex übereinstimmender Äußerungen von großen und kleinen Gruppen unserer Gesellschaft über öffentliche Angelegenheiten, manchmal spontan, manchmal kunstvoll manipuliert" umschreiben

Das Element der Spontaneität in der Bildung und Prägung der „öffentlichen Meinung" widerspricht nicht nur der These von der Leichtigkeit einer Reglementierung gesellschaftlicher Denkund Verhaltensweisen durch Massenkommunikation oder Propaganda. Es läßt vielmehr Raum für die Vielschichtigkeit der Erscheinung „öffentliche Meinung", die weder empirisch in einfachen Formeln zu fassen ist (sieht man von dem Sonderfall der demoskopisch errechneten öffentlichen Meinung als Durchschnittsverhalten oder Summation von Individualmeinungen ab) noch einseitig als eine metaphysische Sinneinheit gesehen werden darf. Daher wird als eine der wichtigsten Eigenschaften einer sich frei regulierenden „öffentlichen Meinung" anzuerkennen sein, daß sie auch potentielles Verhalten anzuzeigen in der Lage ist. Gerade in diesem Bezug ist das verzweigte System der Massenmedien unentbehrlich, die eben nicht nur die ideologische Grundhaltung einer gegebenen Gesellschaftsordnung ständig reflektieren, sondern mehr noch durch dauerndes Infragestellen künftige Denkweisen vorwegnehmen: „Die Publizistik setzt öffentliche Meinung frei, die latent vorhanden ist; sie kann auch das Gegenteil bewirken, indem sie ein Tabu zu früh bricht."

Wenn auch auf die mangelnde Begründung für die These von der unbegrenzten Manipulierbarkeit der „öffentlichen Meinung" hingewiesen worden ist, so heißt dies andererseits keineswegs, der Annahme, allein die verfassungsmäßige Garantie der Meinungs-und Informationsfreiheit schütze automatisch vor allen Gefährdungen der öffentlichen Meinungsbildung, das Wort zu reden. Ohne in die Gewohnheit früherer Jahrzehnte zurückzuverfallen, die „öffentliche Meinung" nur als unsichere und unstete Größe hinzunehmen, muß dennoch das beachtliche Maß an irrationalen Elementen, die auch in der Gegenwart in die Formung der „öffentlichen Meinung“ aus den verschiedensten Gründen eindringen können, beachtet werden. Allein Informationsdefizite bedingen oft genug eine Tendenz der „öffentlichen Meinung", die den „objektiven" Notwendigkeiten nicht adäquat erscheint. So ist das Bildungsproblem in der Bundesrepublik auch von der politisch interessierten Öffentlichkeit bekanntlich lange Zeit nicht mit der Bewußtheit diskutiert worden, wie es — in der Retrospektive — den Erfordernissen der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung entsprochen hätte. Mangel an sachgerechten Informationen, Unkenntnis der möglichen Konsequenzen verfehlter oder nachlässiger Bildungspolitik waren Ursachen für die generelle, später oft bedauerte Passivität der Öffentlichkeit.

Noch schwerer als die Gefahr des Informationsdefizits fällt sicherlich ins Gewicht, daß an der Bildung der „öffentlichen Meinung" stets Kräfte mitwirken, die weniger auf das Gemeinwohl achten, als ihren Bestrebungen Sonderinteressen zugrunde legen. Ernst Fraenkel erklärt den Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung dadurch, daß eine von einer oder mehreren Eliten konzipierte Auffassung oder Forderung die Billigung einer unbestimmt großen und unorganisierten Masse der Bevölkerung findet weist jedoch gleichzeitig darauf hin, daß die an der Meinungsbildung beteiligten Eliten (Parteien, Verbände, Massenmedien, Institutionen staatlicher oder privater Öffentlichkeitsarbeit) die Motive ihres Handelns oft nicht den Erwägungen des Gesamtinteresses unterzuordnen bereit sind. Dadurch bleibe das Zustandekommen der . öffentlichen Meinung" stets ein Experiment, dessen Unwägbarkeiten in der Hauptsache mittels Durchsetzung des Publizitätsprinzips gemildert werden können. Überdies kann auch ein einer -Idealmodell plu ralistischen Massendemokratie nicht mehr voll auf die von der klassisch-liberalen Theorie vertretene Überzeugung von der qualitativen Auslesefunktion der „öffentlichen Meinung“ zurückgreifen, allein schon deshalb nicht, weil die völlige Transparenz im politisch-gesell-

schaftlichen Leben nur selten erreicht werden kann. Die staatlich-politische Führung wird auch in der Demokratie häufiger dem offen erklärten oder nur erahnten Willen der „öffentlichen Meinung" eine eigene Konzeption entgegensetzen müssen, um auf eine später er-folgende Billigung durch die gewandelte „öffentliche Meinung" zu hoffen. Die gerade durch die Ausbreitung der Massenmedien geförderte Emotionalisierung der öffentlichen politischen Diskussionen zwingt die Machtträger in Staat und Gesellschaft zuweilen zu einer vorsichtigen, wenn nicht gar deutlichen Distanzierung von der in der Öffentlichkeit dominierenden politischen Grundeinstellung. Der Ausdruck „öffentliche Meinung" bietet im übrigen in beiden Wortbestandteilen Anlaß zu Unklarheiten. Das Attribut „öffentlich" kann mit dem Äquivalent: , die gesellschaftliche Sphäre als Ganzes betreffend'in zureichender Weise bestimmt werden, das heißt eine gesellschaftlich repräsentative Meinung bekundet sich stets öffentlich. Der Wortinhalt von „Meinung" ist weit weniger eindeutig festzulegen. Dieses Wort findet relativ variable Verwendung: es kann einen unterschiedlichen Grad von Fundiertheit und Absicherung gegenüber willkürlichen und unbegründeten Vermutungen anzeigen: „Meinung ist die wie immer auch eingeschränkte Setzung eines subjektiven, in seinem Wahrheitsgehalt beschränkten Bewußtseins als gültig." Angesichts der oft schwachen tatsachen-und erfahrungserhärteten Fundierung einer subjektiven Meinung ist der im vergangenen Jahrhundert für „öffentliche Meinung" vielfach synonym gebrauchte Ausdruck „öffentliche Stimmung" auch jetzt noch häufig eine treffende Umschreibung. Diese „Stimmung“ wird sich dann durch akut werdende Entwicklungen und Fakten möglicherweise rasch zu einem beständigeren, auf Erkenntnis maßgebender Tatsachen gegründeten „gesellschaftlichen Bewußtsein" verdichten, das weniger zu einem plötzlichen Umschlag tendiert und daher von den Regierungen und Machtträgern weit ernsthafter in Rechnung zu stellen ist.

Th. W. Adorno sieht den Zwiespalt weniger in der Unfähigkeit der Subjekte der „öffentlichen Meinung", sich zu festeren Orientierungen durchzuringen, als in der Entfremdung des einzelnen Subjektes von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die er als vorgegeben konstatiert, sowie in der Unmöglichkeit einer völligen Harmonisierung zwischen individuellem Bewußtsein und Erkennen des rationalen Ge-samtinteresses: „Das Paradoxon rührt nicht von schwankender Unentschiedenheit derer her, die über Meinungen nachzudenken haben, sondern ist unmittelbar eins mit dem Widerspruch der Realität, der die Meinung gilt und von der die Meinung produziert wird. Keine Freiheit ohne die Meinung, die von der Realität abweicht; aber solche Abweichung gefährdet die Freiheit. Die Idee der freien Meinungsäußerung, die von der Idee einer freien Gesellschaft gar nicht getrennt werden kann, wird notwendig zu dem Recht, die eigene Meinung vorzubringen, zu verfechten und womöglich durchzusetzen, auch wenn sie falsch, irr, verhängnisvoll ist. Wollte man aber darum das Recht der freien Meinungsäußerung beschneiden, so steuerte man unmittelbar auf jene Tyrannei los, die mittelbar in der Konsequenz von Meinung selbst liegt." Freilich, das Faktum und auch das Maß der „Regression" der Subjekte, die nach Adornos Prämi. sse von der gesellschaftlichen Verfassung reproduziert wird, bleiben vollends hypothetisch; fragwürdig bleibt ebenso die Suche nach einem vorgegebenen rationalen Gesamtinteresse.

Der Antagonismus im Begriffe „öffentliche Meinung", das Eingeständnis, daß Freiheit untrennbar mit ihrer eigenen Gefährdung verbunden ist, legitimieren keineswegs den Rückgriff auf das überholte Modell, nach dem ausschließlich qualitative Eliten zu Wortführern der „öffentlichen Meinung" befähigt sind, denen eine folgsame Masse als Rezipient gegenüberzutreten hat. Zwar werden die Impulse zur Veränderung des gesellschaftlichen Bewußtseins, sei es ein Teilbewußtsein oder ein Gesamtbewußtsein, in der Regel nicht von der „Masse" ausgehen; die Bewußtmachung neuer Erfordernisse, Notwendigkeiten oder das artikulierte Aussprechen bisheriger Mutmaßungen werden sich überwiegend durch gesellschaftspolitisch aktive Gruppen oder auch nur Einzelpersonen vollziehen. Das wird allein schon durch die Struktur der Massenmedien selbst bestimmt. An dieser Entwicklung ändert ebensowenig der Traum von einer grenzenlos „fundamental-oder radikaldemokratischen Utopie"

Was diesen Prozeß der Bewußtmachung jedoch immer stärker fördern wird, ihn in wachsendem Maße verläßlicher machen kann, ist das zunehmende Eindringen wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse in die politischen und gesellschaftlichen Diskussionen und der Zwang, öffentliche Argumentationen durch wissenschaftliche und empirische Befunde zu erhärten, was dem rein Spekulativen mehr und mehr den Boden zu entziehen geeignet ist. Zumindest in Detailfragen dürfte dies künftig stärker als bisher der Fall sein. „Öffentliche Meinung" ist somit auch hierin ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung.

All jene Auffassungen und Thesen zu Begriff und Erscheinung der „öffentlichen Meinung'könnten naturgemäß zunächst nur für diejenigen Gesellschaftsordnungen Gültigkeit beanspruchen, die hinsichtlich ihrer ideologischen Grundlagen und verfassungsmäßigen Traditionen auf dem bürgerlich-liberalen Modell vor allem des 19. Jahrhunderts fußen, das als Gegenpol zum autokratisch absolutistischen System entworfen worden war. Trotz mannigfacher verschiedener Ausprägungen hatten diese Gesellschaftsordnungen ein einheitliches Konzept einer sich öffentlich frei entfaltenden allgemein-gesellschaftlichen Meinung, wenn ihr auch in den einzelnen Staaten mehr oder weniger starre Grenzen gesetzt waren. Als im 20. Jahrhundert der Durchbruch gänzlich andersgearteter Ideologien zum Aufbau betont anti-bürgerlicher und anti-liberaler Staats-und Gesellschaftsordnungen führte, erfuhr das traditionelle Verständnis für das Prinzip der Öffentlichkeit eine völlige Umdeutung. Die sich im 20. Jahrhundert etablierenden ideologisch radikal entgegengesetzten Systeme hatten zur Folge, daß die einst im Grundsätzlichen übereinstimmenden Auffassungen zum Begriff der „öffentlicheh Meinung" nun nicht mehr allgemein gelten konnten. Von den neuen Gesellschaftsordnungen hat hauptsächlich der Sozialismus marxistisch-leninistischer Prägung ein eigenes, sich von bürgerlichen und liberalen Vorstellungen bewußt abhebendes Modell der „öffentlichen Meinung“ ah verbindlich entwickelt und formuliert. Sowohl in der politischen Praxis als auch der wissenschaftlichen Theorie ist hierin die Sowjetunion Vorbild geworden.

IV. Erscheinung und Begriff der „öffentlichen Meinung" in sozialistischer Sicht

Sofern man die in den sozialistischen Ländern gängigen, substantiell nicht voneinander abweichenden Begriffsbestimmungen der „öffentlichen Meinung" vor allem die im offiziellen und akademischen Sprachgebrauch üblichen, nicht vorbehaltlos übernimmt, bereitet es erhebliche Schwierigkeiten, zu einer wissenschaftlich gesicherten Umschreibung zu gelangen. Gleiches für das gilt Operieren im politischen Bereich, wo sich ständig Hinweise auf die „öffentliche Meinung" nachweisen lassen, wo die Verwendung dieses Begriffes häufig jedoch beträchtliches Maß an Willkür und Fragwürdigkeit offenbart. Hier deckt sich „öffentliche Meinung“ vielfach nicht mehr mit dem „vorhandenen gesellschaftlichen Bewußtsein", hier identifiziert sie sich leicht mit der offiziellen, „veröffentlichten Meinung". Dies kommt schon darin zum Ausdruck, daß völlig unrepräsentative Meinungen, beispielsweise unbedeutender, aber mit der kommunistischen Politik sympathisierender -Grup pen, künstlich zur maßgeblichen gesellschaftlichen Gesamtmeinung hochgespielt werden. Voraussetzung für diese rigoros parteiische Auslegung der Erscheinung „öffentliche Meinung" ist die bewußte und ideologisch rein motivierte Vernachlässigung der empirisch-demoskopischen Verifizierbarkeit, ist die Bestimmung einer Teilmeinung, eines Teilbewußtseins als das „objektiv" richtige und daher maßgebende wie verbindliche Kriterium politisch-gesellschaftlichen Denkens und Verhaltens.

Karl Marx hat noch eindeutig, in Übereinstimmung mit zeitgenössischem Sprachgebrauch, unter „öffentlicher Meinung" das Urteil des Zur Volkes verstanden Bildung der„öffent-RanShdruck in: dnd 15, Berlin liehen Meinung" und damit zur Sicherung demokratischer Verhältnisse war für ihn. — ebenso wie für Friedrich Engels — die Existenz einer von Zensur freien, nicht-regle-mentierten Publizistik Voraussetzung

Marx hat zwar zur liberalen Ideologie der bürgerlichen Öffentlichkeit ein sozialistisches Gegenmodell entworfen, in sich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre entscheidend wandelt; dieses Modell war jedoch vorerst nicht durchsetzbar gewesen Außerdem ließ er das entscheidend wichtige Problem des konkreten Funktionierens dieses Entwurfes, so etwa die künftige Rolle der „Organe der Mitteilung", der Publikationsmittel, völlig offen. Die Gefährdung der bürgerlichen Freiheitsideologie, vor allem die Möglichkeit, daß das vom Bürgertum geschmiedete Instrument sich gegen das Bürgertum Publizität selbst wenden könne, ist von ihm gesehen worden, nicht aber war ihm bewußt, daß der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus von einem Abbau der Freiheiten überhaupt begleitet sein könnte Diese Tendenz hatten hingegen schon viele seiner zeitgenössischen Kritiker und Gegner erkannt, oft als unvermeidliche Folge vorausgesehen.

Die Bildung der „öffentlichen Meinung", verstanden als Ausdruck einer „Teilwahrheit" über die staatlich-gesellschaftliche Gesamt-wirklichkeit, wollte Marx von Verfälschungen durch einseitige Monopolisierungen freihalten, er wollte sie offen halten für die „Kommunikation und Transmission des Wissens und Wollens von der gesellschaftlichen in die staatliche Sphäre" Eine freie Ausbildung und Entfaltung der „öffentlichen Meinung", gewährleistet durch die Freiheit der Organe politischer Publizistik, waren für ihn letztlich Vorbedingung für das endgültige übergehen der staatlichen und gesellschaftlichen Sphäre ineinander, für die Aufhebung der Dualität Staat — Gesellschaft, die wiederum die Voraussetzung für die angestrebte Selbstverwirklichung des Individuums darstellen sollte. Die „öffentliche Meinung" bildete für Marx das vermittelnde geistige Bindeglied zwischen der politischen Öffentlichkeit, der Gesamtheit aller politisch denkenden und öffentlich argumentierenden Bürger einerseits und dem staatlichen Bereich andererseits. Es ist sicherlich im Sinne der Marxschen Argumentation, so wie sie vor allem aus den „Debatten über die Preßfreiheit" von 1842 überliefert sind, wenn die ungehinderte Entwicklung und Entfaltung der „öffentlichen Meinung" als Faktor angesehen wird, um die Entfremdung zwischen Staat und Gesellschaft aufzuheben oder ihr entgegenzuwirken.

Dieses Verständnis ergibt sich besonders aus den von Marx formulierten Funktionsbestimmungen der Presse, deren Kern lautet: „Damit die Presse ihre Bestimmung erreiche, ist es vor allem notwendig, ihr keine Bestimmung von außen vorzuschreiben und ihr jene Anerkennung zu gewähren, die man selbst der Pflanze zu gewähren gewöhnt ist, die Anerkennung ihrer innern Gesetze, denen sie nicht nach Willkür sich entziehen darf und kann." Diese „innern Gesetze" konnten aber nur in eben jener Vermittlerfunktion zwischen gesellschaftlicher und staatlicher Sphäre gesehen werden. Radikal hat Marx in späteren Jahren jedoch diese Funktion als gegen die staatliche Sphäre gerichtet sehen wollen, vor allem als er in den Gerichtsverhandlungen gegen die „Neue Rheinische Zeitung" im Februar 1849 die Presse zum „öffentlichen Wächter", zum „unermüdlichen Denunzianten der Machthaber" erklärte und ihr die Aufgabe zuwies, „alle Grundlagen des bestehenden Zustandes zu unterwühlen", Da die Bildung einer „öffentlichen, gesellschaftlichen Meinung", die nicht nur oktroyiertes Bewußtsein darstellt, mehr als lediglich eine Funktion der Informationsund Publikationsorgane ist, erhebt sich die Frage nach der Situation und dem politischen Spielraum des Individuums in den gesellschaftlichen Prozessen. Eine sich frei bildende „öffentliche Meinung" bedarf ganz wesentlich der Spontaneität einzelner Wortführer oder einzelner Gruppen der Gesellschaft, die fähig sind, das noch kollektiv Unbewußte zu artikulieren und weiteren Individuen zum Bewußtsein zu bringen, um es später als Teilmeinung oder Gesamtmeinung reflektiert zu sehen. Eine solche Spontaneität wird sich überdies selbst dort nicht gänzlich unterdrücken lassen, wo die Organe gesellschaftlicher Kommunikation von staatlichen oder ökonomischen Machtinstanzen monopolisiert worden sind. Marxisten se-hen sich nun heutzutage zunehmend gezwungen anzuerkennen, daß Marx einmal die Frage nach der Situation des Individuums in den gesellschaftlichen Prozessen vernachlässigt und daher übersehen hat, daß der Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft durch den Abbau des kapitalistischen und die Errichtung des sozialistischen Systems keineswegs gelöst, ja möglicherweise noch verschärft auftreten wird, daß, zum anderen, schon in den Marxschen Gedanken und Lehren Elemente der Herrschaft eines bürokratischen Parteiapparates und die Intoleranz gegenüber andersartigen Ideen angelegt sind Die Idee der Toleranz und die Möglichkeit, den Widerstreit Staat — Individuum durch öffentliche, rationale Diskussion auszugleichen, müssen jedoch als unabdingbar für eine unreglementierte freie Meinungsbildung in der politisch-gesellschaftlichen Öffentlichkeit vorausgesetzt werden. Diese Freiheit bedingt andererseits die zwangsläufige Frage nach der Legitimation und nach den Grundsätzen der praktischen Verwirklichung jedes etablierten gesellschaftspolitischen und ökonomischen Modells. „öffentliche Meinung", abgesetzt von oktroyierter offizieller Staats-oder Partei-meinung, verträgt keine Eingrenzung der prinzipiellen Kritik, sondern erfaßt stets das Grundsätzliche mit, erfaßt vor allem die Frage nach dem Selbstverständnis der jeweiligen Gesellschaftsordnung.

Marx hat in seiner Konzeption das Problem offen gelassen, wie im sozialistischen Zukunftsstaat das System der öffentlichen gesellschaftlichen Kommunikation praktisch zu organisieren sei > obwohl es bereits von Zeitgenossen als entscheidend bezeichnet worden ist. Spätere Erfahrungen haben zur Genüge den Beweis für seine Gewichtigkeit erbracht Für die Bindung des öffentlichen Äußerungsrechtes an die ausschließliche Befugnis von Kollektiven hat sich Marx jedenfalls nicht ausgesprochen. Auch dies erhellt aus seinen Formulierungen zum Wesen der Presse-w(Sie ist die allgemeinste Weise der Individuen, ihr geistiges Dasein mitzuteilen, Sie kennt kein Ansehen der Person, sondern nur das Ansehen der Intelligenz ... So gut, wie jeder schrei-ben und lesen lernt, muß jeder schreiben und lesen dürfen."

Die Transformation des liberalen und bürger-liehen Modells politisch-gesellschaftlicher Öffentlichkeit in ein sozialistisches Gegenmodell, die nach der russischen Oktoberrevolution aus dem Stadium der akademischen Diskussion und politischen Polemik heraustrat und konkrete Gestalt gewann, ließ die in der Marxschen Konzeption angelegten spürbaren Unklarheiten in dieser Frage deutlich werden, ließ vor allem zutage treten, daß die als prinzipiell zu verstehenden Äußerungen Marx’ zur Freiheit der Publizistik und zur vermittelnden Funktion der „öffentlichen Meinung" in der Konkretisierung des Sozialismus nicht mehr volle Geltung beanspruchen konnten. Die revolutionären Sowjetführer haben ihr neues Modell von Anbeginn nicht als eine provisori-sehe Übergangslösung angesehen, sondern ihm klar das Attribut grundsätzlich'zuerkannt. Darüber hinaus trachteten sie unentwegt danach, ihr eigenes, das Leninsche Modell in den neu hinzutretenden sozialistischen Staaten als verbindliches Vorbild durchzusetzen. Im übrigen aber kann ihnen keineswegs vorgeworfen werden, daß sie die von ihnen vollzogene radikale Umdeutung herkömmlicher Begriffe des politischen und gesellschaftlichen Lebens abgeleugnet oder verschleiert hätten. Strittig bleibt allenfalls die Berechtigung, das neue, von ihnen realisierte konkrete Modell als legitime Erfüllung des Marxschen gesellschaftspolitischen Konzeptes auszugeben.

Die nicht abstreitbaren Mängel und Schwächen des neuen sozialistischen Modells politischer Öffentlichkeit und „öffentlicher Meinung" werden häufig teils mit dem Hinweis auf die spezifischen sozio-ökonomischen oder soziokulturellen Gegebenheiten derjenigen Staaten, in denen sich der Sozialismus etabliert hat, verteidigt, teils mit der permanenten äußeren Bedrohung erklärt oder aber auf die moralischen Unzulänglichkeiten der betreffenden politischen Führungsschicht zurückgeführt. Daß der Sozialismus ein auch nur einigermaßen attraktives Gegenmodell in der Praxis bislang nicht entwickelt hat, möglicherweise nicht entwickeln kann, ist jedoch weit eher im besonderen Zusammenhang mit dem moderMn sozialistischen Menschenbild zu sehen

Die Entwicklung in der Sowjetunion nach dem Sturz des Zarismus ist sehr früh auf Mißtrauen und Kritik vor allem marxistischer Kreise außerhalb Rußlands gestoßen, die ihre Ideale durch die Praxis der sowjetrussischen Revolutionäre verfälscht glaubten. Prominentes Zeugnis für diese Kritik ist die im Jahre 1922 erschienene, von Rosa Luxemburg verfaßte Schrift über „Die russische Revolution", in der die Maßnahmen der russischen KP polemisch kommentiert und insbesondere die strikte Disziplinierung und Uniformierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens abgelehnt wurden. Demgegenüber forderte R. Luxemburg: „Der einzige Weg zur Wiedergeburt ist die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkteste breiteste Demokratie, ötlentliche Meinung." Ihr ging es hierbei eingestandenermaßen nicht um einen „Gerechtigkeitsfanatismus", sondern in erster Linie um die Überzeugung, daß die heilsamen und reinigenden Impulse für das politische und gesellschaftliche Leben im Sozialismus versiegen könnten, sobald Freiheit zum Privilegium einiger weniger wird: „Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse-und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institutionen, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt."

Die Forderungen Rosa Luxemburgs konnten allerdings im Grund nur bedeuten, daß die sowjetischen Revolutionäre, selbst auf Kosten ihrer eigenen Machtpositionen, die traditionellen sozialistischen Prinzipien höher stellen sollten als taktische Erwägungen der momentanen Herrschaftssicherung. Das aber war kaum eine realistische Alternative Gleiches trifft auch auf die spätere Kritik westlicher Marxisten an der kommunistischen Herrschaftspraxis zu, die oft genug irrtümlich an die Chance glaubten, sozialistische wie bürgerliche Konzeptionen in einem einzigen Gesellschaftssystem verwirklichen zu können.

Der Begriff „öffentliche Meinung" erhielt im sozialistischen Gesellschaftssystem den Rang einer gesellschaftlich verbindlichen Kollektiv-meinung und nahm rasch normativen Charakter an. Statt der Aufhebung des Konfliktes zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre schrieb die staatliche Sphäre nun allen Bereichen der gesellschaftlichen Sphäre — Erziehung, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft — zwingend die Normen der neuen Gesellschafts-moral vor. Folgt man der marxistisch-lenini-

stischen Lehre von Basis und überbau, so ist die „öffentliche Meinung" als Erscheinung dem überbau zuzurechnen. Sie ist im Sozialismus zu einem bedeutsamen Faktor geworden, um das Bewußtsein als Regulator des menschlichen Gesamtverhaltens „planmäßig" zu entwickeln

Um die aktive Rolle der „öffentlichen, gesellschaftlichen Meinung" im Prozeß der Transformation von Gesellschaft und Bewußtsein zu sichern, hatte Lenin sofort nach Eroberung der Macht und Konsolidierung seiner Herrschaft nach der Verfügung über alle Mittel der „geistigen Produktion", der Informationsund Publikationsmedien, getrachtet: „Der Erfolg und die Bedeutung Lenins rühren wohl in entscheidendem Maße daher, daß er eine Theorie moderner Macht entwickelte und in Rußland in die Praxis umsetzte. Wie wenige vor ihm erkannte er das umwälzende Potential der neuen technischen Kommunikationsmittel, der Druckerpresse, von Telegraph und Radio. Was heute als . Kommunikationstheorie 'immer größeren Einfluß auf den Ablauf technischer, ökonomischer, sozialer, wissenschaftlicher und militärischer Vorgänge erhält, hatte eigentlich schon Lenin samt ihrem revolutionären Gehalt vorweggenommen und strategisch richtig angewandt."

Als bedeutsamstes und massenwirksamstes Kommunikationsorgan erhielt vor allem die Presse die Aufgabe, den gesellschaftlichen und ideologischen Transformationsprozeß zu stimulieren; sie wurde zum Hauptträger der Umgestaltung und Umerziehung. Im sozialistischen Journalismus wurde nun vom „Werkzeugcharakter" oder der instrumentalen Funk-tioh der Presse gesprochen: „Presse und Information sind keine Werte an sich — etwa zur Befriedigung eines allgemein-menschlichen Bedürfnisses. Sie sind auf der Grundlage bestimmter menschlicher Bedürfnisse entstanden, und sie sind unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen von den verschiedenen Klassen oder Klassengruppen als Werkzeuge zur Durchsetzung ihrer Interessen entwickelt worden." *

Damit ist ein grundsätzlicher Wandel der Pressefunktion eingetreten im Vergleich zu derjenigen, wie sie, wenn auch oft nur als idealtypisches Modell, für das 19. Jahrhundert kennzeichnend gewesen war. Die Publizistik ist nun zu einem Garanten der System-sicherung und -Stabilisierung geworden. Nur noch rhetorischen Wert haben jetzt Umschreibungen, nach denen sie Ausdruck der in der Öffentlichkeit vorhandenen und sich regenden Meinungen sein solle, wenn etwa in dem offiziösen sowjetischen Parteijoumal „Kommunist" behauptet wird: „Die Sowjetpresse ist nicht nur ein Mittel zur Bildung einer politisch aktiven und handlungsfähigen öffentlichen Meinung, sondern gleichzeitig ihr Organ und Sprachrohr." Das aber bleibt eine Floskel, solange zumindest Lenins Forderung nach Pressefreiheit für verschiedene gesellschaftliche Gruppen nicht verwirklicht ist.

Begriffsbestimmungen ähnlicher Art sind nach leninistischem Verständnis dann jedoch als konsequent anzusehen, wenn berücksichtigt wird, daß, entsprechend geltender sozialistischer Auffassung, „öffentliche Meinung" nicht mehr mit der Vorstellung der sich ausgleichenden oder widerstreitenden Diskussion einer unbegrenzten Öffentlichkeit wesens-gemäß verbunden ist. Der Schwerpunkt der formalen Begriffsbestimmung erscheint nun in ganz anderer Sicht: „Die sozialistische gesellschaftliche Meinung bezeichnet die Einstellung des Volkes zu den wichtigen Aufgaben des kommunistischen Aufbaus, zur Politik der Partei und des Staates, zu den Ereignissen und Prozessen des innenpolitischen wie internationalen Lebens und zu den Handlungen und Taten der Mitbürger." 51)

Die Kernfrage ist jedoch stets, in welcher Weise diese Einstellung sich herausbilden kann, ferner, welche Instanz sie vom grundsätzlichen Standpunkt als Rechtens zu sanktionieren hat.

V. Die Diskussion um den Begriff „öffentliche Meinung" in der UdSSR

Obwohl der Begriff der „öffentlichen Meinung" seit Etablierung des sozialistischen Systems in der UdSSR in seinem Sinngehalt nicht umstritten gewesen ist, entwickelte sich hier erst zu Beginn der sechziger Jahre die theoretische Diskussion über das Phänomen »öffentliche Meinung" 52). Begonnen hat diese Diskussion im Zuge der generellen Aufwertung der „öffentlichen Meinung" in der Sowjetunion, die besonders als eine Folge der Wandlungen des sowjetischen Gesellschaftssystems seit Ende der Stalin-Ära zu sehen ist. Die Indoktrinierung des Massenbewußtseins ist zwar nach der Stalinzeit als grundsätzliches Erfordernis der Parteiarbeit worden; jedoch änderten sich in erheblichem Maße die Methoden der politischen, ideologischen und moralischen Erziehung. Außerdem trugen der graduelle Abbau der von der Sicherheitspolizei geübten Willkür, die Tendenzen gegen die übertriebene Eigenmächtigkeit der Staats-und Parteibürokratie sowie die allmähliche Ausbildung einer neuen sozialistischen Gesetzlichkeit zu der dynamischen Entwicklung der . öffentlichen Meinung" nach 1953 bei. Auffällig war ferner der Wandel in den Methoden und Techniken der Massenpropaganda, in dessen Verlauf das erstarrte Kommunikationssystem mit seinem von verantwortlicher Seite offen eingestandenen unbefriedigenden Wirkungsgrad dem neuen Führungsstil der Partei unter Chruschtschow angepaßt wurde. Zunächst betraf die Reform des Massenkommunikationswesens in erster Linie die Presse als wichtigstes Massenmedium. Das Fehlen von Spontaneität, Originalität, schöpferischer Initiative, ganz besonders aber die Uniformierung und Stereotypisierung von Sprache und Inhalten waren die hauptsächlichen Punkte der offiziellen Kritik, wie sie u. a. die Parteipublizistik übte: „Die im Zeitungswesen tief eingewurzelten Schablonen beeinträchtigen die Wirkung der Zeitungen auf den Leser und vergrößern eben dadurch ihre Distanz vom Leben. Die Redaktionen vieler Blätter haben die besten Vorbilder der Zeitungsarbeit, wie sie in den Jahren der Sowjetmacht entstanden sind, vergessen." 53)

Statt des bis dahin gängigen Stils der Berichterstattung erhoffte man sich von nun an stärkere Beachtung der Aufnahmebereitschaft, der individuellen Prädispositionen sowie der Bedürfnisse und Interessen des einzelnen, an den sich die publizistischen Aussagen richteten. Aktivität und Initiative des Medienpublikums sollten geweckt werden, um die Bürger intensiver an der gesellschaftlichen Praxis teilnehmen lassen.

Im Gegensatz zu der monolithischen Verfestigung des sowjetischen Gesellschaftssystems unter Stalin wurde in zunehmendem Maße verschiedenen gesellschaftlichen Kräften in begrenztem Umfang ein Eigenleben zugestanden, wodurch es innerhalb des Systems zur Ausbildung eines gewissen gesellschaftlichen Pluralismus und zum Entstehen einzelner Interessengruppen kam 54). Dieser Tendenz mußte die Partei mit dem Streben nach Durchdringung aller Bereiche des öffentlichen Lebens begegnen. Dies galt insbesondere angesichts der stets latenten Gefahr, daß sich unter den intellektuellen Schichten eine selbständige, sich absondernde „gesellschaftliche Teil-meinung" bildete, die nicht mehr mit der parteigerichteten „öffentlichen Meinung" übereinstimmte. Zwischen tatsächlicher gesellschaftlicher Meinung und offizieller Meinung durfte kein Zwiespalt aufkommen. Denn die neue, aufgewertete „öffentliche Meinung" sollte letztlich auch dazu dienen, der Führungsund Erziehungsarbeit der Partei zu höherer Effizienz zu verhelfen. Gleichwohl entstand in begrenztem Rahmen ein Reziprozitätsverhältnis insofern, als diese „gesellschaftliche Meinung"

wiederum auf die Haltung der Partei und ihre Entscheidungen zurückwirkte.

Jene gesellschaftspolitischen Entwicklungen bildeten die wesentliche Voraussetzung für die neubeginnende Diskussion um Begriff und Erscheinung der „öffentlichen Meinung" auch im wissenschaftlichen Bereich. Vor allem ist ihre wachsende Beachtung im Zusammenhang mit der Renaissance der sowjetischen Soziologie seit Ausgang der fünfziger Jahre zu sehen. Die „öffentliche Meinung", das hieß zunehmend auch: die tatsächliche Einstellung der Bevölkerung zu allen politischen und gesellschaftlichen Fragen, zu diagnostizieren und analysieren wurde nun Teil der wissenschaftlichen Methode der allgemeinen Massenführung. Sie bedeutete in diesem Bereich eine Verfeinerung und Intensivierung der ideologischen Bewußtseinserziehung. Andererseits trugen die empirisch ermittelten Resultate dazu bei, latent vorhandene Spannungen und Konflikte zu entschärfen, da man einen genaueren Einblick in die Struktur der Meinungsbildung in der Bevölkerung gewann. Die empirischen Untersuchungen (die konkret-soziologischen Forschungen) ließen einerseits ein hohes Maß der Aneignung sozialistischer Denkmuster durch die Bevölkerung offenbar werden, widerlegten andererseits jedoch ebenso die These von der Geschlossenheit und einheitlichen Struktur der „gesellschaftlichen Meinung" in der UdSSR

Entscheidend aber blieb, daß es sich — nach offizieller Interpretation — nicht um „antagonistische" Widersprüche oder Gegensätzlichkeiten handelte, da zu den Grundthesen der marxistischen Soziologie die Auffassung gehört, daß sich das Problem der Einheitlichkeit der „öffentlichen Meinung" nur unter klassenbedingtem Aspekt stellt; die Möglichkeit einer solchen Einheitlichkeit und Geschlossenheit der „öffentlichen, gesellschaftlichen Meinung" wird allein für sozialistische Ordnungen anerkannt: „Entsprechend der gegebenen sozialökonomischen Struktur der Gesellschaft kommen in der öffentlichen Meinung die unterschiedlichsten und differenziertesten Klassen-und Gruppeninteressen zum Ausdruck. Die von bürgerlichen Kommunikationsforschern oft verbreitete Auffassung, die öffentliche Meinung sei der Extrakt aller im Volke vorhandenen Meinungen und repräsentiere die Durchschnittsmeinung aller, ist eine Fiktion um von den unterschiedlichen Klassen-und Gruppeninteressen abzulenken. Eine einheitliche öffentliche Meinung kann es nur dann geben, wenn eine Interessenübereinstimmung von Klassen und Gruppen vorhanden ist... Mit der Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten Klassen und Schichten, mit der Schaffung einheitlicher sozialistischer Produktionsverhältnisse, entwickeln sich objektive Bedingungen für die Herausbildung einer einheitlichen öffentlichen Meinung, in der sich die Interessen der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten Werktätigen widerspiegeln."

Es ist schwerlich zu leugnen, daß in solchen Formulierungen ebenfalls Fiktionen aufrecht-erhalten werden. Ebenso wie für bürgerliche Systeme ist für sozialistische Gesellschaftsordnungen die Möglichkeit eines prinzipiellen, also antagonistischen Gegensatzes von gesellschaftlichen Teil-oder Gruppenmeinungen (d. h. Parteimeinungen) und einer sämtliche (oder viele) Gruppen bzw. Klassen erfassenden und durchdringenden einheitlichen gesamtgesellschaftlichen Meinung anzuerkennen. Wenn der sowjetische Gesellschaftswissenschaftler A. K. Uledow, ganz im Sinne der marxistisch-soziologischen Theorie, die „öffentliche Meinung" in bezug auf die sozialistische Gesellschaft als „einmütiges Urteil des Volkes zu Fragen des gesellschaftlichen Lebens, die die allgemeinen Interessen berühren und eine praktische Lösung fordern", definiert , läßt sich rein formal von dieser Definition aus eine Analogie zu den Auffassungen nicht-marxistischer Autoren herstellen. Was Uledows Begriffsumschreibung aber vor allem abhebt, ist die Frage, wie sich der Prozeß der Bildung einer „öffentlichen Meinung" konkret gestaltet, ist besonders die Festlegung derjenigen Instanz, die über den qualitativen Aspekt der „öffentlichen Meinung" zu entscheiden hat. Die Antwort auf diese Frage erhellt zugleich die Motive für die Eliminierung einer unkontrollierten, sich frei entfaltenden „öffentlichen Meinung" im Sozialismus.

In Abkehr von traditionellen Theorien wird geleugnet, daß Massen Träger der „öffentlichen Meinung" sein können, und die Annahme, daß die „öffentliche Meinung" die Meinung eines bestimmten Publikums sei, als unzulänglich erachtet. Die „Masse" bringe keine „öffentliche Meinung" zum Ausdruck, sondern sei lediglich als vorübergehende, sporadische Vereinigung von Personen zu charakterisieren: „Ihr liegen keine tieferen allgemeinen Interessen der Menschen zugrunde, welche allein eine öffentliche Meinung hervorbringen können. Für die Menge ist nicht Meinung, sondern Stimmung kennzeichnend." 58) Unterstrichen wird, daß die „öffentliche Meinung" rationale Elemente einschließt, so vor allem die Diskussion und den mit ihr verbundenen Kampf unterschiedlicher Auffassungen. Die Frage, wer tatsächlich als eigentlicher Träger der „öffentlichen Meinung" anzusehen sei, wird vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung beantwortet. Nach Uledows Ansicht begünstigt insbesondere die marxistische Lehre von der Klassenstruktur der Gesellschaft ein klares Erfassen der Problematik. Da jede Klasse, entsprechend ihren eigenen fundamentalen Interessen, spezifische Meinungen vertrete, rückt der Begriffsinhalt . öffentliche Meinung" in die Nähe der Klas-senmeinung, doch wird die „öffentliche Meinung" als eine umfassendere Erscheinung im Vergleich zur Meinung einzelner Klassen betrachtet. Objektives Kriterium, welche Klassen die „öffentliche Meinung" zum Ausdruck bringen, ist die Übereinstimmung von Klassen-interesse und Interesse der Gesellschaft; Träger der „öffentlichen Meinung" sind somit die am „gesellschaftlichen Fortschritt" interessierten Klassen. „Anders gesagt: die öffentliche Meinung ist mit dem Volke verbunden. Das Volk ist eine umfassendere soziale Gemeinschaft als die Klasse; es ist der wirkliche Träger der öffentlichen Meinung." Da die „öffentliche Meinung" nicht auch die Meinung der Minderheit in sich begreife, ist „öffentliche Meinung" mit der Meinung der Mehrheit gleichzusetzen, Unterordnung der Minderheitenmeinung unter die von der Mehrheit vertretene Meinung ist daher Vorbedingung für das Entstehen der „öffentlichen Meinung." «Öffentliche Meinung" ist dabei durchaus nicht die Quersumme der mehrheitlichen Klassenmeinungen, sie ist also primär nicht quantitativ bestimmbar. „Allein qualitative Bestimmung gestattet es, die öffentliche Meinung von anderen Formen der Meinung zu unterscheiden." Das Zusammenfallen von Klasseninteresse und gesamtgesellschaftli-chem Interesse als einzig „objektivem Kriterium" entscheidet nun ausschließlich darüber, welche der Klassen dieses Gesamtinteresse zu vertreten und zu formulieren fähig und legitimiert ist. Die Dialektik der „öffentlichen Meinung" ist dadurch gekennzeichnet, daß die Meinung einer fortschrittlichen Minderheit zur öffentlichen — und damit zur gesellschaftlich sanktionierten und verbindlichen — Meinung wird, und daß folglich alle konträren (Sonder) Meinungen den Charakter einer „öffentlichen Meinung" verlieren.

Die Ideologie des Sozialismus legt fest, wem die Rolle der progressiven Minorität zufällt und wer damit zugleich stellvertretend für die gesamte Gesellschaft als der originäre Träger der „öffentlichen Meinung" fungiert: die sich als Avantgarde der Massen verstehende proletarische Partei. Somit erhält die sozialistische Konzeption der „öffentlichen Meinung" das Kennzeichen eines elitären Modells In diesem Verständnis liegt die eindeutige Abkehr von der Vorstellung, „öffentliche Meinung" sei ihrem Wesen nach „pluralistisches staatsbürgerliches Selbstbewußtsein" (Friedrich Lenz), wie dies einige nicht-marxistische Denkschulen annehmen.

Werden die von der progressiven proletarischen Minderheit vertretenen Auffassungen nicht von der Meinung der Mehrheit des Volkes ausgenommen, bildet die Mehrheit möglicherweise eine der Meinung der „progressiven" Minderheit zuwiderlaufende Meinung, so kann demnach unter sozialistischen Bedingungen von einer echten „öffentlichen Meinung" nicht die Rede sein.

In bezug auf die Medien der Information und Kommunikation bedeutet diese sozialistische Theorie, daß die Kommunikationsmittel nur im Dienste der zur allgemeinen gesellschaftlichen Meinung gewordenen fortschrittlichen Meinung der elitären Minderheit stehen können. Damit ist die Forderung, die Massenmedien sollten die Vielfalt der gesellschaftlichen Meinungen in der Öffentlichkeit widerspiegeln und den Bürger zur Selbständigkeit des politischen Urteilens erziehen, völlig abwegig. Vielmehr liegt die Erziehungsaufgabe der „Masseninformationsmittel" (so der heutzutage gebräuchliche Terminus in der UdSSR) darin, ihrem Publikum zum besseren Verständnis gegenüber den von der progressiven Minderheit, der Partei, beschlossenen Maßnahmen und Zielen zu verhelfen und es für diese Ziele zu mobilisieren. Die Bildung der „öffentlichen Meinung“ ist in diesem Sinne im wesentlichen ein einseitig zielgerichteter Prozeß.

Das Problem der „öffentlichen Meinung" als Leitbild und Sanktion der Gesellschaftsmoral, in ihrer Funktion als Organ der sozialen Kontrolle, stellt sich im Sozialismus demgemäß in schärferer Form als in nicht-marxistischen Systemen. Die gemeinsame Meinung eines Kollektivs beispielsweise, so wird argumentiert, wirkt auf die Meinung des Individuums in der Weise ein, daß dem einzelnen die Möglichkeit gegeben wird, sich auf die kollektive Erfahrung zu stützen und das gemeinsame Interesse schärfer zu erkennen. Das Kollektiv prägt damit die Einstellung des ihm zugehörigen individuellen Mitglieds, die Kollektivmeinung gilt als Norm, nach der sich der einzelne zu richten hat. In gleicher Weise übt auch die „öffentliche Meinung" die Kontrolle über das Verhalten des einzelnen Bürgers aus, sie ist dabei überdies wirksamer als das Recht. Dies gilt zunächst insbesondere für die Bereiche des Alltagslebens und für die familiären Beziehungen.

In dem Maße, wie sich der Übergang von der sozialistischen zur kommunistischen Etappe gesellschaftlicher Evolution verwirklicht, soll die von der „öffentlichen Meinung" geprägte gesellschaftliche Moral nicht mehr als Pflicht empfunden, sondern mehr und mehr zu einer Moral des Gewissens werden; die früher oktroyierte Norm des Kollektivs wird nun als freiwilliges Bekenntnis zum gesellschaftlichen „Fortschritt" empfunden. Die Zwangsfunktionen des Staates werden an die „öffentliche Meinung" delegiert: „Im Kommunismus wird man sich auf die Methode der gesellschaftlichen Einwirkung, auf den Einfluß der öffentlichen Meinung stützen. Sie wird im Kommunismus zu einer mächtigen Kraft, die ausreicht, um jene zur Vernunft zu bringen, die die kommunistischen Gepflogenheiten und Prinzipien des Gemeinschaftslebens nicht beachten wollen."

Der erhoffte Übergang von der Pflichtmoral zur Gewissensmoral im kommunistischen Gesellschaftsstadium stellt aber nur scheinbar einen grundsätzlichen Funktionswandel der „öffentlichen Meinung" dar, denn der jetzt formell in Gestalt der Partei weiterexistierende und agierende Staat bleibt oberste Instanz zur Prägung der für die „kommunistische Öffentlichkeit" verbindlichen gesellschaftlichen Moral.

VI. Die Kritik des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski an der Interpretation des Begriffes „öffentliche Meinung" im Sozialismus

Lassen sich aus offiziellen Stellungnahmen (beispielsweise nach den Dezember-Unruhen in Polen) die Diskrepanzen zwischen Theorien der „öffentlichen Meinung" in sozialistischer Sicht und der Realität meist nur indirekt, obschon mit zuverlässiger Deutlichkeit erschließen, so haben andererseits einige marxistische Autoren selbst direkt auf die Problematik des Begriffs „öffentliche Meinung“ im Sozialismus hingewiesen. Kritik aus erklärtermaßen „systemimmanenter“ Sicht äußerte u. a.der polnische Philosoph Leszek Kolakowski in einem Essay über den „Platonismus, die Empirie und die öffentliche Meinung"

In dieser Darlegung greift Kolakowski das Eindringen des platonisierenden Denkens in die Praxis des Marxismus und seine schädlichen Wirkungen auf, wobei er eben diese Erscheinung an zwei Begriffen, nämlich der „öffentlichen Meinung“ und dem „Bewußtsein der Massen" zu exemplifizieren versucht. Den Unterschied zwischen ihnen kennzeichnet er zunächst in der folgenden Weise: „Mit dem Begriff . öffentliche Meinung'sind einmalige Reaktionen der Gesellschaft auf einzelne Erscheinungen gekennzeichnet; die öffentliche Meinung drückt immer die Haltung der Gesellschaft gegenüber einer bestimmten Tatsache aus. Der Begriff . Bewußtsein der Massen dient zur Bezeichnung einer allgemeinen und beständigen Situation, eher eines Zustandes als eines besonderen Ereignisses. Er charakterisiert eine Veranlagung zu einer bestimmten Reaktion, nicht die einzelnen Reaktionen der Gesellschaft selbst." Während sich „öffentliche Meinung" auf Erscheinungen von beliebiger Wichtigkeit beziehe, sei „Bewußtsein der Massen" nur im Zusammenhang mit gesellschaftlich bedeutsamen Ereignissen und entscheidenden Geschichtsprozessen zu sehen, sie ist gleichsam die in der „öffentlichen Meinung" erscheinende verborgene Qualität. Außerdem ist ein Unterschied insofern erkennbar, als „öffentliche Meinung" eine empirische Kategorie darstellt, wohingegen „Bewußtsein der Massen" ein deduktiver und normativer Begriff ist. Die platonische Praxis im marxistischen Denken sieht Kolakowski vor allem im Ersatz des empiri-schen Begriffes „öffentliche Meinung" durch den deduktiv und normativ verstandenen Begriff „Bewußtsein der Massen", das heißt in einer SinnverfMischung des ursprünglichen Begriffes „öffentliche Meinung". Als Beispiel führt er die Nachrichtenpolitik besonders in der Publizistik an: Die Reaktion der „öffentlichen Meinung“ auf Presseinformationen werde bereits simultan mit der Veröffentlichung dieser Nachrichten beschrieben und charakterisiert, obwohl die „öffentliche Meinung" in Wahrheit erst aufgrund der näheren Kenntnisnahme solcher Nachrichten zu einem dezidierten Standpunkt gelangen könne. Man setzt somit die Haltung der „öffentlichen Meinung" als bekannt voraus, obwohl sie empirisch überhaupt noch nicht erforscht werden konnte; allein das Wissen um Interessen der Gesellschaft und Grundsätze der Staatsmacht genügt den Redakteuren, um die gewünschte Norm des Reagierens und Verhaltens seitens des Publikums als tatsächlich und bereits der Wirklichkeit entsprechend auszugeben: „Sie beschreiben ein Konkretum nicht auf Grund seiner Analyse, sondern auf Grund der Deduktion aus dem von ihnen normativ angenommenen Vorbild; sie beschreiben die psychischen Reaktionen der Menschen nicht nach einer wirklichen Beobachtung, sondern gestützt auf die allgemeine Kenntnis über den Rang, den die betreffenden Ereignisse im Geschichtsprozeß einnehmen; so beschreiben sie auch soziale Einrichtungen, indem sie sie aus dem , Wesen'der sozialistischen Gesellschaft ableiten, beschreiben den überbau, indem sie ihn aus der Basis deduzieren, beschreiben die

Psychologie, indem sie sie aus der Kenntnis der Beziehungen ableiten, die zwischen dem sozialen Bewußtsein und dem sozialen Dasein bestehen. So hat das Lackieren der Wirklichkeit und der Schematismus in Presse und Literatur einen unbewußten Platonismus zur Grundlage: die Ableitung einer besonderen Existenz aus dem allgemeinen Wesen der Sache; was in den menschlichen Reaktionen, das heißt, in der empirischen . öffentlichen Meinung'nicht von theoretischen Schemen vorgezeichnet, also bisher nicht in die Theorie einbezogen wurde, wird übergangen; was diesen Schemen widerspricht, wird als eine zufällige Abweichung vom Ideal aufgefaßt, das keine Beachtung verdiene."

In dieser rein theoriebezogenen, ideologie-verhafteten Auslegung der realen gesellschaftlichen Existenz sieht Kolakowski eine ausgesprochen antidemokratische Praxis. Für ihn gilt es deshalb vordringlich, dem Begriff „öffentliche Meinung" seinen empirischen Sinn wiederzugeben, nicht aber, der Theorie Vorrang vor den realen Erscheinungen des Lebens einzuräumen. Diese Forderung bedeutet jedoch in letzter Konsequenz die fällige Revision der sozialistischen Konzeption der „öffentlichen Meinung", die — in ihrer gegenwärtigen Gestalt und Praktizierung — die Kollision zwischen theoretischen Prämissen und Erfahrungen der praktischen Politik beziehungsweise der gesellschaftlichen Realität allzu oft außer acht zu lassen bereit oder hierzu gezwungen ist. Nur als Frage kann in diesem Zusammenhang formuliert werden, ob sich in der von Kolakowski erhofften Tendenz zum stärkeren Eindringen der Empirie in das Phänomen „öffentliche Meinung" im Sozialismus eine Analogie zu der historischen Wandlung des Begriffs in bürgerlichen Gesellschaftssystemen ziehen läßt, wo teilweise ebenfalls eine vom normativen zum empirischen Verständnis verlaufende Entwicklung sichtbar geworden ist. Die Erfahrungen des vergangenen Jahrzehnts machen überdies deutlich, daß die von Kolakowski geäußerten Hoffnungen äuf eine Modifizierung oder gar Revision des sozialistischen Begriffs „öffentliche Meinung" ohne Echo geblieben sind.

VII. Zusammenfassung

mannigfachen Äußerungen und Versuchen, der Verfremdung des politischen wie ideologischen Schlüsselbegriffs „öffentliche • einung" im Sozialismus entgegenzuwirken, iSt die noch bestehende Ungesichertheit des elitären Modells sozialistischer Prägung zu erkennen, das das Attribut einer echten „öffentlichen Meinung" häufig nicht den konkre-ten, empirisch verifizierbaren Gegebenheiten gemäß zuerkennt; dennoch scheint die herkömmliche Deutung, nach der „öffentliche Meinung" als mit der Tatsächlichkeit des allgemeinen Meinungsbildes in den politisch bewußten Teilen der Bevölkerung übereinstimmend aufgefaßt wird, den meisten Kritikern als Begriffsnorm vorzuschweben.

Abseits der offiziellen politischen Sprachgebung und unabhängig von den jeweils maßgebenden Denkund Wertsystemen gibt es offenkundig noch immer genügend Raum für einen begrifflichen Konsens zwischen nicht-sozialistischen und sozialistisch-marxistischen Verfechtern, sofern die Erstarrung von Gesellschaftsordnung und verbindlicher Sprach-form einer ideologiefreieren Betrachtungsweise weichen kann. In jedem Falle ist anzunehmen, daß die Verfremdung der zentralen politischen Begriffe durch den orthodoxen Marxismus bislang nicht total gelungen ist, zumal sich der Ausdruck „öffentliche Meinung" auf die Dauer nicht von der Kategorie des real Erfahrbaren absondern lassen wird.

Dem orthodoxen Denken weniger verhaftete Marxisten nehmen in dieser Frage ohnehin eine flexiblere Position ein. Zumindest suchen sie eine Lösung von allzu dogmatischen Auffassungen, ohne dabei ihre prinzipiell gegen die bürgerlich-liberalen Gesellschaftskonzeptionen gerichtete Einstellung aufzugeben. So hat der Ostberliner Marxist Robert Havemann die Frage, ob er Sozialismus und eine freie „öffentliche Meinung" für miteinander vereinbar halte, unzweideutig bejaht: „Er hat sie sogar nötiger als der Kapitalismus, der sie nur gestattet, solange sie seiner Macht nicht gefährlich ist. Der Sozialismus braucht die freie öffentliche Meinung als wichtigen Antrieb seiner Entwicklung."

Abgesehen jedoch davon, daß Havemann einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem politischen Wertsystem der westlichen Demokratie aus dem Wege geht, läßt er es beim rein verbalen Postulat bewenden. Noch wird von ihm keinerlei Konkretisierung der „sozialistischen Öffentlichkeit" vorgeschlagen, was auch, oder sogar wesentlich, eine präzise Vorstellung von der Organisation und Kontrolle der öffentlichen Informations-und Kommunikationsmedien voraussetzen würde. Eine „freie öffentliche Meinung" ist nur dann als gegeben anzusehen, sofern die Diskussionen in der politischen Öffentlichkeit ohne grundsätzliche Eingrenzung, ohne den Vorbehalt einer grundsätzlichen Systemkritik möglich sind, sofern sämtliche politisch bedeutsamen und wichtigen gesellschaftlichen Gruppierungen legalen Zugang zu den Massenmedien erhalten. Eine „freie öffentliche Meinung" muß stets das Recht in Anspruch nehmen dürfen, das bestehende politische und ökonomische Wertsystem in Frage zu stellen und die Aussprache über neue Ideologien einzuleiten. Wird diese Möglichkeit nicht gewährt, so kann allenfalls von einem liberaleren Unterfall einer „gelenkten öffentlichen Meinung“ die Rede sein.

Havemanns Äußerungen, insbesondere sein Hinweis auf die „öffentliche Meinung" als Impuls zu einer fortschreitenden sozialistischen Entwicklung, knüpfen deutlich an die einst von Rosa Luxemburg geübte Kritik an der Praxis der sowjetischen Revolutionäre an. Was für diese Kritik zutraf, gilt jedoch in ähnlicher Weise auch für die Haltung Havemanns: das Fehlen eines konkreten, Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren abwägenden Alternativprogramms einer „sozialistischen Öffentlichkeit“. So stehen sich gegenwärtig im Grunde nur zwei verschiedene theoretisch wie ideologisch begründete Modelle „öffentlicher Meinung'gegenüber: einmal das in den westlichen Demokratien verwirklichte, in denen „öffentliche Meinung" als Gegenpol zur staatlichen Macht fungieren wie auch als ein Mittel der Rechtfertigung ihrer Politik verstanden werden kann, in denen staatliche Sphäre und „öffentliche Meinung", Offentlichkeitssphäre in einem Reziprozitätsverhältnis zueinander stehen können; zum anderen die herrschende sozialistische Konzeption „öffentlicher Meinung", nach der dieser die Funktion zufällt, die Einheit von Partei-und Regierungspolitik und Interesse der Gesellschaft zu konstruieren.

In beiden Gesellschaftsordnungen wirkt die „öffentliche Meinung" normsetzend. Abweichend ist hingegen der Ermessensspielraum des Individuums, sich von der Kollektivmeinung zu lösen, ohne Sanktionen von staatlicher oder gesellschaftlicher Seite herauszufordern, sich in seinem praktischen Verhalten der Norm zu entziehen oder diese Norm öffentlich anzufechten, übt die „öffentliche Meinung im Sozialismus oft eine Zwangsfunktion (neben dem Recht) aus, so kommt ihr in bürgerlichen Ordnungen in stärkerem Maße nur eine Orientierungsfunktion für den einzelnen zu.

Setzt man „öffentliche Meinung“ nicht mit der „veröffentlichten Meinung“ der Massenmedien gleich, sondern begreift sie als Ausdruck eines vorherrschenden, Denken und Verhalten von einzelnen wie Gruppen bestimmenden kollektiven Bewußtseins in allgemeinen wie besonderen Fragen, so besteht in jedem Gesellschaftssystem die Möglichkeit, daß sich die . öffentliche, gesellschaftliche Meinung" zunehmend der staatlichen Macht entfremdet. Demokratien mit dem institutionalisierten Austausch von politischen und administrativen Eliten werden diese Entfremdung zumeist auf evolutionärem Wege wieder aufheben. Gesellschaftsordnungen mit geringerer Flexibilität im Modus staatlicher Machtausübung, mit einer größeren Tendenz zur Verfestigung und Erstarrung der herrschenden Schichten und Machtstrukturen, werden weit eher zu abrupteren Wandlungen, zu revolutionären Formen der Anpassung an gesellschaftliche, ökonomische und soziale Verhältnisse und Erfordernisse neigen.

Auf die Frage, ob von der „öffentlichen Meinung" gesprochen werden kann, ist eine bejahende Antwort zu geben. Die „öffentliche Meinung" ist mehr als nur ein politisches Schlagwort, sie ist Widerspiegelung des gesellschaftlich bewußten Sichverhaltens und Strebens, ist Faktor gesellschaftlicher Entscheidungen und reflektiert bereits potentielle, künftige Entwicklungen. Der Terminus „Meinungen in der Öffentlichkeit" bleibt dagegen amorph, ihm fehlt jede Aussage über die Qualität und das Gewicht einzelner Meinungen innerhalb des Meinungspluralismus und stellt letztlich eine quantifizierende Aufrechnung von -Einzel-meinungen dar. Die „öffentliche Meinung" zeichnet sich aber gerade durch ein spezifisch qualitatives Moment aus; sie ist jeweils Ausdruck derjenigen Ideen, Anschauungen und Verhaltensweisen, die lange Zeit im Widerstreit gegeneinander verharren können, bis entweder Altes, Traditionelles sich bestätigt sieht, oder aber bis sich Neues durchzusetzen vermag und Geltung gewinnt.

„Öffentliche Meinung" heißt nicht Stagnation, Verfestigung, sondern ist immer als ein kontinuierlicher Prozeß anzusehen. Daß die Tendenz dieses Prozesses unausweichlich zur Wahrheit und im Interesse der gesamten Gesellschaft verlaufen werde, war einst noch die naive Überzeugung zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Daß dieses Ziel durchaus nicht mit jener Selbstverständlichkeit zu erreichen ist, das besagen mannigfache, seither gewonnene Erfahrungen. Hier aber stellt sich die jeweils nur aus historischer Perspektive eindeutig beantwortbare Frage nach der echten und der wahrhaften „öffentlichen Meinung".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur näheren Erklärung dieser Tatsache diene ein tat aus einer Darstellung Ferdinand Tönnies': caLs. ein spezifisch gesellschaftliches und liberales debilde erkennt man die öffentliche Meinung auch aran, daß nicht nur ihre Macht und Bedeutung, na em auch ihr Wert und ihre Richtigkeit, ja wohl PaV-Unfehlbarkeit, immer von den liberalen von eien tierausgestrichen wurde, während sowohl sanrechts wie von links scharfe Kritik und Geringrip tzung gegen sie aufgetreten sind." (Zur Theo-budder öffentlichen Meinung, in: Schmöllers Jahr-sntrur Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt-1916 s. 3995utschen Reiche, 40. Jg., 4. Heft, Leipzig

  2. Heinz Wolter, Uber den Begriff der öffentlichen Ja nung, in: Neue Deutsche Presse (Ost-Berlin), 9 1909, Nr. 14, s. 13,

  3. Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 3. /4. Oktober 1970, S. 2.

  4. Ernst Fraenkel, Öffentliche Meinung und Internationale Politik, Tübingen 1962 (= Rechtsund Staat in Geschichte und Gegenwart, Heft 255/230/1 S. 35,

  5. Gottfried Eisermann, Soziologie der Politik, ini Die Lehre von der Gesellschaft (Ein Lehrbuch det Soziologie), Stuttgart 1969 2, S. 357. .

  6. zur Publizistik, München 1969, S. 263.

  7. Emil Dovifat, öffentliche Meinung, in: Ernst paenkel/Karl Dietrich Bracher (Hrsg.), Staat und Solitik, Frankfurt/Main 1957, S. 215.

  8. gl. hierzu auch: Adolf Arndt, Begriff und We-san der öffentlichen Meinung, in: Martin Löffler Mrs 9., Die öffentliche Meinung. Publizistik als stedium und Faktor der öffentlichen Meinung, u gart 1962 (= Schriftenreihe der Deutschen Stu-dengesellschaft für Publizistik, Band 4), S. 3 Öffentliche Meinung ist nicht die Ansicht eines einzelnen, sondern die Auffassung einer Vielheit, eine Gruppenmeinung, die sowohl von einer Gruppe geprägt wird als auch ihrerseits die Gruppe prägt, also gruppenbildend wirkt, Gemeinschaft hervorbringt, gesellschaftlich ist."

  9. Hierzu siehe Ulla Otto, Die Problematik des Begriffes der öffentlichen Meinung, in: Publizistik, 11. Jg. 1966, H. 2, S. 99 ff.

  10. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962, S. 260 ff.

  11. Öffentliche Meinung, in: Neues Rheinisches Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, herausgegeben von einer Gesellschaft rheinländischer Gelehrten, 8. Band, Köln 1834, S. 1116 (Hervorhebung vom Verfasser).

  12. Ebenda, S. 1117.

  13. Carl Th. Welcker, Öffentlichkeit, in: Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften in Verbindung mit vielen der angesehensten Publi-eisten Deutschlands herausgegeben von Carl von Rotteck und Carl Welcker, 12. Band, Altona 1841, S. 265.

  14. Ebenda, S. 278.

  15. Das Rothe Blatt, 6. Jahr der Frankenrepublik 1. Trimester, 5. Heft, 10. Germinal. Ankündigung.

  16. Vgl. in diesem Zusammenhang: WilmontHaa, e. Politische Zeitschrift und Öffentlichkeit, in: -e 1 schrift für Politik, 17. Jg. 1970, H. 1, S. 40 ff., De 5 S. 43.

  17. Staats-Lexikon, S. 268.

  18. Vgl. Georg Weippert, öffentliche Meinung, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 8. Band, Göttingen — Tübingen — Stuttgart 1964, S. 32: Die Struktureinheit öffentliche Meinung ist, unabhängig von den jeweiligen Inhalten, vieler Formen fähig. Schon durch geringfügig erscheinende Veränderungen innerhalb eines einzigen Strukturmerk-mals, erst recht natürlich durch Modifikation mehrerer Strukturelemente, stellen sich andere Erschei-nungsformen und Typen öffentlicher Meinung ein, die jeweils eine entsprechende begriffliche Fassung «heischen. Doch bringen auch die einschneidendsten Veränderungen der einzelnen Strukturmerkmale Vs Phänomen öffentlicher Meinung nicht voll zum verschwinden. Es ändert sich aber ihre Gestalt, die Desondere Weise ihrer formalen Struktur. Ein der aysentlichen Meinung verwandter Tatbestand ist 7150 auch dann noch existent, wenn etwa die Einseundividuen weder frei noch Träger des politi-bmen Willens, in ihrer Meinungsäußerung stark sollt itten oder gar ohne die Möglichkeit sein ben sen ihre Stimme in der Öffentlichkeit zu erheben."

  19. Vgl. Weippert, a. a. O., S. 31,

  20. Zit. ebenda, S. 33.

  21. Hierzu vgl. Georg Franz, Liberalismus, München 1955, S. 176. Erinnert sei ebenfalls an die von Ferdinand Lassalle im Jahre 1863 im Rheinland gehaltene Agitationsrede „Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag“, nachgedruckt in: F. Lassalle, Reden und Schriften, Berlin 1893, s. bes. S. 636.

  22. Kurt Baschwitz, Die Macht der Öffentlichen Mei nung, in: Publizistik als Wissenschaft. Sieben 58 träge für Emil Dovifat, Emsdetten 1951, S. 25.

  23. Leonard W. Doob, Public Opinion and Propaganda, Hamden, Conn. 1966 2, S. 35.

  24. Vgl. Gerhard Baumert, Betrachtungen zur öffentlichen Meinung und Massenkommunikation heute, in: Publizistik, 10. Jg. 1965, H. 2, S. 102. Ferner: Wolfgang Manz, Zur Psychologie der öffentlichen Meinung, in: Politische Bildung, 3. Jg. 1970, H. 3, S. 34 ff.

  25. „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse . .." Karl Marx und Friedrich Engels, Deutsche Ideologie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 46.

  26. Elisabeth Noelle-Neumann, Die Träger d öffentlichen Meinung, in: Martin Löffler (Hrsg" Die öffentliche Meinung, S. 29.

  27. Hartmut von Hentig, Gedanken zur öffentlice Meinung, in: Merkur, XVII. Jg. 1963, S. 130.

  28. Emst Fraenkel, a. a. O., S. 16.

  29. Theodor W. Adorno, Meinung—Wahn—Gesellschaft, in: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frank-furt/M. 1963, S. 148.

  30. Vgl. z. B.den Londoner Korrespondentenbericht der (Augsburger) Allgemeinen Zeitung vom 3. Dezember 1861, in dem die Reaktion der englischen Öffentlichkeit auf einen akuten Konflikt mit der nordamerikanischen Regierung (Trent-Affaire) geschildert wurde: „Die hiesige öffentliche Stimmung ist vollkommen ruhig, sogar gemäßigt, aber entschieden.“

  31. Adorno, a. a. O., S. 167.

  32. Vgl. hierzu Ralf Dahrendorf, Aktive und passive Öffentlichkeit, in: Merkur XXI. Jg. 1967, H. 12, S. 1109 ff.

  33. In Rußland ist stets von „gesellschaftlicher Meinung" (obestvennoe mnenie) gesprochen worden, ein Ausdruck, der schon vor der Revolution üblich War; die Polen lehnen sich an den westeuropäischen Sprachgebrauch an: opinia publiczna. Auch in der DDR hat sich der traditionelle Terminus erhalten, obwohl gerade hier in dem politischen Vokabular die UdSSR vielfach terminologisch richtungweisend geworden ist. Die Chinesen umschrei-ben „öffentliche Meinung" mit dem Binom „yulun" omer „gongzhong yulun", was mit Massenmeinung am ehesten wörtlich zu übersetzen ist.

  34. Vgl. vor allem die Korrespondentenberichte: '16 Meinung des Volkes und die Meinung der dournale" und „Die öffentliche Meinung in England, die Marx für die Wiener „Presse", Ausgabe vom 3. Dezember 1861, und die „New-York Daily Nune ’ Ausgabe vom 1. Februar 1862, verfaßte Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, 1961, S. 430 ff. bzw. S. 439 ff.)

  35. Vgl. Iring Fetscher, Einleitung zu: Karl Marx/Friedrich Engels: Pressefreiheit und Zensur, Frankfurt—Wien 1969, S. 5.

  36. Hierzu vgl.: Karl Forster, Wahrheit und Massenmedien, in: Publizistik, 8. Jg. 1963, H. 5/6, S. 446 ff., bes. S. 451.

  37. Vgl. Fetscher, a. a. O., S. 15.

  38. Werner Maihofer, Demokratie im Sozialismus. Recht und Staat im Denken des jungen Marx, Frankfurt/Main 1968, S. 79.

  39. Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 1, Berlin 1961, S. 155.

  40. Vgl. Robert Havemann, Der Irrtum der Leni nisten, in: Die Zeit, Nr. 14 vom 24. April 1970. S

  41. Vgl. auch Wilbur Schramm, The Soviet Comm nist theory of the press, in: Siebert /Peterson Schramm, Four theories of the press, Urbana, 1963, S. 111: „On many doctrinal points. aDo which his followers speak with assurance and Marx said practically nothing — for examP about the use of mass communication."

  42. Rheinische Zeitung Nr. 139 vom 19. Mai 1842 (Nachdruck in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 1, S. 73).

  43. Vgl. hierzu u. a.: Hans-Gerhard Koch, Das soziapstsche Menschenbild, in: Zeitwende — Die neue as. u 8r 1c 9eff,. 40 Jg. 1969, H. 10 u. 12, S. 678 ff. bzw. S. 819 ff.

  44. Rosa Luxemburg, Die russische Revolution, in: Ossip K. Flechtheim, Rosa Luxemburg. Politische Schriften III, Frankfurt—Wien 1968, S. 136.

  45. Ebenda.

  46. Vgl. hierzu bes. Peter Netti, Rosa Luxemburg, Köln—Berlin 1965, S. 668.

  47. Vgl. Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Soziologie, Köln—Opladen 1969, S. 279 (Stichwort: Öffentliche Meinung).

  48. Ernst Kux, Lenin und der moderne Totalitarismus, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 178 vom 19. April 1970, Fernausgabe Nr. 106.

  49. Hermann Budzislawski, Einige Aspekte für die Anwendung des dialektischen und historischen Materialismus in der Journalistik, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, 13. Jg. 1964, Gesellschaftsund Sprachwissenschaftliehe Reihe, H. 5, S. 1022. — In der Gegenwart ist man, vor allem aufgrund der seit Mitte der sechziger Jahre einsetzenden Leserschaftsforschungen, im Journalismus sozialistischer Länder trotzdem mehr und mehr zur Anerkennung eines Reziprozitätsverhältnisses in der Beziehung zwischen Kommunikator (Massenmedien) und Rezipienten (Leser, Hörer, Zuschauer) gelangt. Typisch hierfür ist die in der sowjetischen Regierungszeitung „Izvestija vom 11. Juli 1968 veröffentlichte Formulierung: „Die tiefe und feste Verbindung der Sowjetpresse mit den Massen und mit dem Leser, das Bestreben, stets als Tribüne der Willensbekundung der Mehrheit zu dienen — dies ist eines ihrer grundlegenden leninistischen parteilichen Prinzipien. Dabei besteht diese Verbindung nicht nur , in einer Richtung, sondern sie wirkt auch . reziprok'. Die Presse wirkt an der Bildung der öffentlichen Meinung mit, verfügt aber gleichzeitig über ein Gespür, die öffentliche Meinung zu erfassen und in sich aufzunehmen. Die Zeitung selbst ist kein einfaches System: es besteht nicht nur aus den Journalisten, sondern auch aus den Lesern, nicht nur aus der informierenden Redaktion, sondern auch aus dem reagierenden Publikum ...“ Dieses Verständnis bedeutet eine Modifizierung gegenüber früheren Jahrzehnten, vor allem der Stalinära, jedoch keine prinzipielle Neubewertung.

  50. M. Jgitchanjan, Die Kraft der öffentlichen Meinung (russ .), in: Kommunist, 39. Jg. 1962, Nr. 8, S. 95.

  51. Vgl. Ahlberg, a. a. O., S. 163.

  52. Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, S. 277/279.

  53. A. K. Uledow, Die Öffentliche Meinung. Eine Studie zum geistigen Leben der sozialistischen Gesellschaft, Berlin 1964. S. 57.

  54. Ebenda, S. 49.

  55. Ebenda, S. 55.

  56. „Auf dem Hintergrund des sowjetischen Herrschaftssystems erweist sich die kritische Abweisung der radikal-demokratischen Grundlagen der positiv-empirischen und massenpsychologischen Konzeption der öffentlichen Meinung als ideologische Rechtfertigung eines elitär beschränkten Zugangs zur sozialistischen Öffentlichkeit und einer jeden freien Diskussion enthobenen . öffentlichen Meinung'." Ahlberg, a. a. O., S. 166.

  57. Grundlagen des Marxismus-Leninismus. Lehrbuch, Berlin 1960, S. 820. Zu dem genannten Passus vgl. auch Kurt Marko, Sic et Non. Kritisches Wörterbuch des sowjetrussischen Marxismus-Leninismus der Gegenwart, Wiesbaden 1962, S. 190 f.

  58. Erschienen in: Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein, München 1961, S. 216— 224.

  59. Ebenda, S. 216.

  60. Ebenda, S. 219 f.

  61. Die unvollendete Revolution, in: Die Zeit vom 25. September 1970, S. 7.

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Hansjürgen Koschwitz, Dr. phil., Dr. disc. pol. habil., geb. 1933, Privatdozent für das Fach Publizistikwissenschaft an der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Fakultät Göttingen. Veröffentlichungen zu Problemen der Presse-und Informationspolitik in der UdSSR und China sowie zu Fragen der politischen Wochenpresse, der Studentenpresse und der Pressegeschichte.