Studien zum Themenkreis „öffentliche Meinung", seien sie unter geistes-, problemge-schichtlichen, historischen oder unter soziologischen und sozialpsychologischen Aspekten konzipiert, liegen in ansehnlicher Zahl vor — in apologetischem oder glorifizierendem Sinne häufig aus der Feder von Verfassern liberaler Provenienz
Allgemein noch wenig behandelt worden sind hingegen die Rolle der „öffentlichen Meinung", deren theoretische Fundierung sowie tatsächliche Wirksamkeit aus systemvergleichender Sicht. Vor allem die spezifische Funktion der „öffentlichen Meinung" im Gefüge unterschiedlicher oder gegensätzlicher politisch-ideologischer Ordnungen ist bislang ein mehr als spärlich erörterter Untersuchungsgegenstand geblieben. Wurde bereits über die Begriffsauslegung der „öffentlichen Meinung" in liberalen oder demokratischen Staatsformeh heftig — und oftmals im Resultat recht unergiebig — gestritten, so kompliziert sich nun der Sachverhalt zusätzlich dadurch, daß in der Gegenwart gerade dieser Begriff „als ideologieintensive Erscheinung ein bedeutsamer Faktor im Kampf der beiden Weltsysteme"
I. Einleitung
als auch den wissenschaftlich geführten Fach-diskussionen in die grundsätzlichen ideologischen Auseinandersetzungen einbezogen worden ist.
Die Aussage, daß der Rolle der „öffentlichen Meinung" — zumindest als politisches Schlagwort — in der politischen Wirklichkeit entscheidendes Gewicht zufällt, gilt generell für sämtliche Staats-und Gesellschaftsordnungen unserer Zeit, für die demokratisch-rechtsstaatlichen bzw. parlamentarischen, die diktatorisch-autoritären wie für die totalitären. Besonderes Interesse hat hierbei die für die Gegenwart kennzeichnende Gegenüberstellung von parlamentarischer Demokratie einerseits und Sozialismus andererseits zu beanspruchen. Daher sollen das in bürgerlich-liberalen Staats-und Gesellschaftssystemen vorherrschende Verständnis von der Rolle der „öffentlichen Meinung" und die in sozialistischen Ländern überwiegend gängige Auslegung dieses Begriffes im Vordergrund dieser Untersuchung stehen.
Unser eigener Sprach-(und Denk-) gebrauch leugnet gewöhnlich die Existenz einer „öffentlichen Meinung" in den sozialistischen Staaten und sieht in ihr ein wesentliches Merkmal, wenn nicht gar das Primärmerkmal, ausschließlich der Demokratien westlichen Typs. Man wird leicht eine stattliche Anzahl von Belegen für diesen Gebrauch anführen können; erwähnt sei hier eine Passage aus dem Leitartikel einer größeren Zeitung, in dem im Zusammenhang mit der Frage vertretbarer deutscher, der Sowjetunion gegenüber zu leistender Konzessionen auf die als völlig unvereinbar angesehene Bedeutung der „öffentlichen Meinung" in West und Ost hingewiesen werden sollte: „Vorleistungen konnten sich in den fünfziger Jahren gegenüber den Westmächten auszahlen, wenn es darum ging, die öffentliche Meinung dieser Staaten zugunsten der Bundesrepublik zu beeinflussen. Gegenüber einem Staat, der keine öffentliche Meinung kennt, sind Vorleistungen kein geeignetes Mittel der Politik."
Eine ähnliche Auffassung, wie sie in der Publizistik oft erkennbar wird, herrscht vielfach auch in wissenschaftlichen Erörterungen vor. Zwei Beispiele seien dazu angeführt. In einer Untersuchung zum Verhältnis von „öffentlicher Meinung" und internationaler Politik hat der Politologe Ernst Fraenkel die Frage des Einflusses der Regierenden auf die „öffentliche Meinung" angeschnitten und Gegensätzlichkeiten aufzuzeigen versucht: „In einer Diktatur kann ein Staatsmann gleichzeitig die Herrschaft der öffentlichen Meinung verkünden und die öffentliche Meinung beseitigen. In einer Demokratie läßt sich die öffentliche Meinung weder herausfordern noch umschmeicheln, ohne ihren Tribut zu fordern. Einem demokratischen Staatsmann, der der öffentlichen Meinung ein neues Wirkungsfeld eröffnet, bleibt nur die Wahl, entweder ihr Werkzeug oder ihr Troubadour, entweder der Gefangene seiner eigenen Propaganda oder der Hörige einer Autosuggestion zu
Umstritten ist nicht allein, ob die Existenz einer „öffentlichen Meinung" an eine spezifische Form staatlicher Machtausübung und an den jeweiligen Modus gesellschaftlicher Mitbestimmung bei innen-und außenpolitischen Entscheidungen gebunden ist. Umstritten ist darüber hinaus der gesamte Begriff als solcher; in Frage gestellt wird insbesondere, ob man überhaupt von der „öffentlichen Meinung" als Konkretum sprechen kann. In einem unlängst erschienenen Nachschlageband zur Publizistik wird der Artikel über „öffentliche Meinung" überraschenderweise mit einer Feststellung eingeleitet, die vollständig im sein."
II. Zur Genesis des Begriffs „öffentliche Meinung"
Widerspruch zu der Tatsache zu stehen scheint, daß diese Vokabel in den Aussagen der Massenmedien oder den politischen De batten in der Öffentlichkeit wie eh und je en vogue ist. „Nach einhelliger Auffassung in Publizistikwissenschaft, Soziologie und Sozial-psychologie", so heißt es im Wörterbuch zur Publizistik recht lakonisch, „gibt es die öffentliche Meinung nicht.“
Die akademische Diskussion über die „öffentliche Meinung", über die Frage, wie diese begrifflich in präziser Form zu fassen und zu definieren sei, hat keineswegs erst im 20. Jahrhundert begonnen. Sie war im wesentlichen der Reflex des enormen Einflusses, den die . öffentliche Meinung" auf das Handeln der Machtelite genommen hat, vor allem, seitdem sich emporsteigende Volksschichten mit erwachendem politischen Bewußtsein, bei Unterstützung technischer Medien der Kommunikation in der staatlich-gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu äußern wagten und dem Willen geschlossener Herrschaftszirkel eigene, oft widerstreitende Konzeptionen entgegensetzten. „Öffentliche Meinung" war von Anbeginn ein politisch relevanter, vornehmlich gesellschaftsbezogener Terminus, nicht zuletzt auch ein Mittel zur Sanktionierung neu entstehender Denkmuster und Verhaltensweisen. Das Attribut . öffentlich'entstammt noch deutlich der Gegensätzlichkeit zwischen der einst unangetasteten Dominanz eines exklusiven Kreises staatlich-politischer Machtträger einerseits und dem Anspruch eines hinzutretenden Standes, dem Bürgertum, auf Mitsprache und Mitentscheidung andererseits. „Öffentliche" Meinung ist daher stets „gesellschaftliche" Meinung gewesen
Da sich die verschiedensten akademischen Disziplinen an der Suche nach tieferem Verstehen, nach Aufhellung des Phänomens der „öffentlichen Meinung" beteiligt haben, weichen die Begriffsumschreibungen entsprechend voneinander ab. Geschichtswissenschaft, Jurisprudenz, Zeitungsund Publizistikwissenschaft, Soziologie und Sozialpsychologie, Politikwissenschaft — sie alle haben ihr eigenes Fachverständnis in den Begriff projiziert, doch ebenso gemeinsam zu seiner allmählichen Klärung durch Hinzufügung spezifischer Wesenheiten oder einzelner typischer Aspekte beigesteuert. Oft genug spiegelten die Definitionen die besonderen politischen Zeitauffassungen wider oder aber ließen ein bestimmtes vorherrschendes Wissenschaftsverständnis erkennen. Die Genesis des Begriffes „öffentliche Meinung" zeigt dabei vor allem zwei markante Richtungen: Erstens die klassisch-liberale, dem Geist des Rationalismus entspringende Vorstellung, nach der die „öffentliche Meinung" vornehmlich als die Äußerung des gebildeten und politisch aufgeklärten Bürgers zu sehen ist, der aufgrund vernunftgeleiteter, rationaler Überlegung und Diskussion mit Andersgesinnten einer optimalen politischen Entscheidung und Handlungsweise fähig ist
Das für unsere Gegenwart allzu optimistisch überzeichnete Bild der „öffentlichen Meinung" in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die klassisch-liberale Vorstellung dominierte, wirkt in der Rückschau fast wie eine unkritische Verklärung. Spürbar wird dieser Über-schwang, diese emotionale Überladung des Begriffes besonders in den enzyklopädischen Darstellungen jener Zeit. Enzyklopädien sind nicht nur geeignet, die gängigen Zeitauffassungen, den allgemeinen Zeitgeist späteren Generationen aufzuzeichnen; seit Pierre Bayles „Dictionnaire historique et critique" von 1697 sind Enzyklopädien dazu ausersehen gewesen, in getarnter Form dem absolutistischen oder monarchischen Staats-und Regierungssystem zuwiderlaufende, der politischen Zensur jedoch leichter entrinnbare Gedanken vorzubringen. Das gilt vorzugsweise für staats-und gesellschaftspolitische Schlüsselbegriffe und aktuelle, programmatische Schlagworte oder Losungen (wie etwa Publizität oder Pressefreiheit).
Beispiel für das glorifizierende Verständnis der „öffentlichen Meinung" im vorigen Jahrhundert sei das „Neue Rheinische Con-versations-Lexicon" von 1834 angeführt, das unter dem betreffenden Stichwort den folgenden Kernsatz enthält: „In jedem Volke bilden sich über Gegenstände, die ein allgemeines Interesse haben und somit tief in sein Leben eingreifen, Ansichten und Meinungen aus. Lange können sie gegeneinander im Kampfe liegen, doch muß endlich aus dieser Reibung eine siegend hervorgehen, oder besser, die widerstreitenden Ideen setzen sich auf die Dauer ins Gleichgewicht, sich gegenseitig austauschend, beschränkend, berichtigend, bis endlich das Wahre, Rechte und Vortheilhafte anerkannt und mehr oder weniger allgemein angenommen wird."
Eine solche Haltung weist natürlich noch deutlich auf die fehlenden Erfahrungen mit dem erst in späteren Jahrzehnten auftretenden Problem der publizistischen Massenführung und politischen Massenpropaganda hin. Es schien noch gänzlich undenkbar, daß die „öffentliche Meinung", mochte man darunter nun die Volksmeinung (opinion du peuple) oder nur die Meinung einer auserwählten Schicht der Gesellschaft verstehen, durch andere als rationale Methoden beeinflußbar war, noch fehlte das Verständnis dafür, daß sich in einer in stets wachsendem Maße industrialisierenden Gesellschaft die maßgeblichen Denk-und Verhaltensmuster nicht immer mittels vernunftgeleiteter Diskussionen zwischen aufgeklärten Individuen herausbildeten, sondern zu einem wesentlichen Teil oder gar entscheidend durch die Einwirkung des sich rasdi potenzierenden Kommunikationssystems mitbestimmt werden könnten. Die Presse, das einzige massenwirksame Kommunikationsme dium jener Zeit, wird ganz als Instrumen gegenseitiger Information und Ausspra e (des „Gedankenverkehrs") gesehen, ni als mögliches publizistisch-propagandistisches Führungsmittel gefürchtet.
Die Vielfältigkeit der Einflußnahme auf die Bildung der „öffentlichen Meinung" und deren (allerdings durchaus nicht unbegrenzt mögliche) Manipulation oder Steuerung zu diskutieren, blieb damit hauptsächlich dem nachfolgenden Jahrhundert vorbehalten, das das unkritische, Gefahren und Chancen nicht zurückhaltend abwägende Vertrauen in einen fast selbständig ablaufenden, durch rationalen Dialog gesicherten Prozeß des Entstehens verfeinerter und sich immerfort läuternder Denkweisen zunehmend verloren hat. Ebensowenig werden in der Gegenwart Worte wie das . Wahre“, das „Rechte" oder das „Vorteilhafte" in ähnlicher Form ungeprüft übernommen; derart absolut gesetzte oder objektiv scheinende Kriterien sind kaum noch in modernen Begriffsbestimmungen zu finden, sind zumeist durch weitaus behutsamere Wendungen ersetzt worden.
Es ist denkbar, daß die Verfasser des Artikels zur „öffentlichen Meinung" in der genannten Enzyklopädie mit ihren überaus optimistisch klingenden Formulierungen gleichzeitig im Sinne hatten, die staatliche Obrigkeit davon zu überzeugen, daß eine sich frei bildende und entfaltende „öffentliche Meinung" keine Gefährdung der etablierten Ordnung darstellen könne, da sie unvernünftige, irrationale Motivationen in ihrem Läuterungsprozeß wieder ausscheiden und deshalb niemals einem Umsturz der bestehenden Verhältnisse förderlich sein würde — womit jede Begründung für die Einschränkung der Meinungsund Publikationsfreiheit entfiel. Faßt man die Darstellung des angeführten Lexikons in diesem Sinne auf, so ist ihr indirekt der Wille zu politisch-gesellschaftlicher Kritik zu entnehmen.
Einen solchen Willen bringt das von Carl v.
Rotteck und Carl Welcker herausgegebene . Staats-Lexikon" aus dem Jahre 1841 pointiert zum Ausdruck. Zunächst akzeptiert Welcker, der Verfasser des Artikels über die „Öffentlichkeit", uneingeschränkt die herrschende Zeitauffassung, derzufolge die „öffentliche Meinung" ein Attribut der Gesamtgesellschaft, nicht aber das intellektuelle Privileg einer elitären Schicht von Bürgern sein sollte.
Außerdem wird der Einwand, die „öffentliche Meinung" könne ein Ergebnis rein zufälliger, sich nicht auf sachbezogen rationale Uberle-
gungen gründender, vorwiegend von Leidenschaften geprägter Auseinandersetzungen sein, ^scheinend noch abgelehnt: „Die wahre öf-
entliche Meinung ist vielmehr das dem wahSein un(] Wesen, dem Endzwecke und ochsten Gesetze des ganzen historischen und politischen Volkslebens entsprechende öffentliche oder gemeinsame Bewußtsein, Gewissen und Wollen und die dadurch bestimmte und damit zusammenstimmende Ansicht und Absicht (Consensus) des Volks in Beziehung auf seine öffentlichen Angelegenheiten."
Das „Staats-Lexikon" zeichnet, jenseits einer übersteigerten Idealisierung und einer allzu abstrakten Betrachtungsweise, den Begriff der „öffentlichen Meinung" in seiner Abhängigkeit von spezifischen Zeitfaktoren und dem Zeitgeist nach. Danach besteht dieser Zeitgeist „in der besonderen Richtung der öffentlichen Meinung, welche durch bestimmte Entwicklungsperioden oder besondere Zeitverhältnisse bestimmt und vorzugsweise auf gewisse besondere Seiten des Culturlebens gerichtet ist, welche jetzt gerade vorherrschen oder jetzt als vorzugsweise wesentlich erscheinen"
Damit wird deutlich die Gebundenheit der „öffentlichen Meinung“ an politisch-gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse oder ideologische Wertsysteme erkannt und ein wirklichkeitsnaherer Blick für die Beeinflußbarkeit der öffentlichen Meinungsbildung durch komplexere Faktoren als lediglich Gedankenaustausch und rationale Diskussion gewonnen. Gleichwohl verfällt man keineswegs in den Irrtum späterer Jahrzehnte, das Gewicht allzu einseitig auf die Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Ausprägung des menschlichen Bewußtseins zu legen.
Die übliche Glorifizierung der „öffentlichen Meinung" relativiert das „Staats-Lexikon" zudem dadurch, daß gegensätzliche Auffassungen zur „öffentlichen Meinung" nicht verschwiegen werden. Einerseits wird auf diejenigen Stimmen hingewiesen, die in ihr eine regierende, eine unwiderstehliche Macht sehen wollten, andererseits werden solche konträren Ansichten zitiert, die sie für ein „vielköpfiges Ungethüm" oder für eine „Thörin" hielten. Für das frühe 19. Jahrhundert überwog jedoch noch ganz eindeutig die Anerkennung der „öffentlichen Meinung" als gesellschaftspolitisch positiv wirkender und die Realität in günstiger Richtung verändernder Kraft. — Aus der Perspektive unseres Jahrhunderts läßt sich die oft überhöht gesehene Rolle der „öffentlichen Meinung" hauptsächlich daraus erklären, daß die Losungen „öffentliche Meinung", „Öffentlichkeit", „Publizität" ein politisches Programm darstellten, um den Bedrängnissen seitens der Staatsautorität wirksam entgegenzutreten und deren rigorose Eingriffe abzuwehren. Die Vorstellung nämlich, daß „Publizität" und „freie öffentliche Meinung" eine Garantie gegen die politische Willkür dieser Staatsautorität erzwingen könnten, hatte sich vor allem in dem zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufblühenden Zeitschriften-wesen niedergeschlagen. Bereits Joseph Görres hatte die besondere Funktion der Zeitschriften als Organe der „öffentlichen Meinung" unterstrichen, vor allem als er das Programm seines revolutionsfreundlichen „Rothen Blattes" (1798) ankündigte: „In keinem Falle darf .. . ein Volk, wenn es seine Freyheit nicht bald zu Grabe gehen sehen will, jene Waffe aus den Händen geben, durch die es allein dem Ehrgeize und der Habsucht sich fürchterlich macht. Nie darf es, wenn es sich nicht eine dumpfe Fühllosigkeit, und einen sklavischen Stumpfsinn zu Schulden kommen lassen will, jene Oberaufsicht über seine Beamten und Stellvertreter aufgeben, die durch die öffen liehe Opinion, und das Organ derselben, die Zeit-Schriftsteller, das Resultat ihrer Erfahrungen und Schlüsse dargelegt."
Doch mit dieser Funktion erschöpfte sich die positive Rolle der „öffentlichen Meinung“ keineswegs, denn die Hindernisse für die un-gegängelte und von Zensur befreite Meinungsäußerung sollten nicht nur beseitigt werden, um einen ungehemmten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sondern auch, damit die sich durch den kommunikativen Akt des öffentlichen Gedankenaustausches bildende gesellschaftliche Meinung zu einer aktiven Kraft im staatlich-politischen Leben entwickelt und hierdurch das Vorrecht politischer Entscheidungsbefugnisse auf bislang nicht privilegierte Schichten ausgedehnt werden konnte: „Die Freiheit der öffentlichen Meinung . . . besteht eben in jener vollkommenen Öffentlichkeit und in jener Freiheit aller Organe der Mittheilung, sich auszusprechen und so auf die verfassungsmäßige Bestimmung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten einzuwirken."
In diesen Kontext ist der Hinweis einzufügen, daß das Vorhandensein einer „öffentlichen Meinung" oftmals nur für solche Gesellschaftsordnungen zugestanden worden ist, die Legalität der Meinungsvielfalt gelten lassen. Es wird argumentiert, daß sich eine „öffentliche Meinung" erst dann bilden könne, wenn das einst starre Verhältnis von Staatsautorität und Untertanentum aufgelöst und liberaleren Modi staatlicher Machtausübung gewichen sei. Doch scheint diese Argumentation kaum der tatsächlichen historischen Entwicklung zu entsprechen. Die wirkende Kraft der „öffentlichen", das heißt der gesellschaftlich wirksamen Meinung ist auch dann noch nachweisbar, wenn einer ungehinderten Entfaltung der öffentlich-publizistischen Urteils-und Willens-bildung enge Grenzen gesetzt sind oder diese gar völlig unterbunden ist. Die „öffentliche Meinung" mag sich dergestalt nicht auf die Gesamtheit der staatspolitischen Sphäre ausdehnen, sondern wird sich zumeist nur in dem einen oder anderen Teilbereich Gehör und Achtung verschaffen können
Allerdings: im Sinne des klassischen Liberalismus konnte unter solchen Eingrenzungen von einer „öffentlichen Meinung" nicht mehr gesprochen werden. Denn für die klassische Prägung des Begriffes sind, resümierend, die folgenden Merkmale als grundlegend und maßgeblich anzusehen: die Voraussetzung der (formalen) bürgerlichen Freiheit des Individuums; das ungeschmälerte Recht der Individuen auf unzensurierte Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit, was in jener Zeit vornehmlich Zugang zur Pressepublizistik hieß; Teilnahme an der staats-und gesellschaftspolitischen Diskussion in weitestem Maße, das heißt Durchsetzung des Publizitätsprinzips bei allen die res publica betreffenden Angelegenheiten; Konkurrenz der Meinungen im Rahmen einer allgemeinen öffentlichen Aussprache in der Erwartung, auf diesem Wege zu inhaltlich ausgewogenen, von Leidenschaften und irrationalen Motiven ungetrübten Schlußfolgerungen zu gelangen; legale Ein-wirkungsmöglichkeit dieser „artikulierten" und geläuterten Meinung auf die praktische Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Realität
Die allmähliche Auflösung dieses idealtypischen Modells der „öffentlichen Meinung" im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte politische wie soziologische Ursachen. Das im Verlauf des allgemeinen Industrialisierungsprozesses unaufhaltsame Wachsen einer zur politischen Passivität verdammten Masse trug zu der Abkehr von der einst so hochgeschätzten Idee bei, daß das Volk als Ganzes zum Träger der „öffentlichen Meinung" berufen sei. Diese Entwicklung war im wesentlichen für die Einschränkung der zur Prägung einer „öffentlichen Meinung" kompetenten Schicht auf ein Elitepublikum verantwortlich. Eine weitere Transformation des Begriffes war andererseits in der Erweiterung des thematischen Rahmens der „öffentlichen Meinung" zu sehen, die sich nun nicht mehr auf die Angelegenheiten der res publica im engeren Sinne bezog, sondern sämtliche Bereiche des Kultur-, Geistes-und Gesellschaftslebens erfaßte.
Außerdem ließen sich immer mehr Stimmen vernehmen, die vor einer Überbewertung der rationalen Elemente in dem Phänomen „öffentliche Meinung" warnten und demgegenüber das unvermeidlich Irrationale in dem Begriff bloßlegen wollten. Bereits auf Hegel ist dieser Zwiespalt zurückzuverfolgen: die „öffentliche Meinung" als eine zu achtende wie zugleich zu verachtende Erscheinung.
Wenn in späterer Zeit, zu Beginn des
Der schrittweise sich vollziehende Umdeutungsprozeß in der Auslegung des Begriffes „öffentliche Meinung" war nicht zuletzt bedingt durch die Ausbreitung der Massenpublizistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die in der politischen Öffentlichkeit widerstreitenden Meinungen sich dank der Intensivierung der technischen Reproduktionsmittel profilierter und massenwirksamer äußern konnten. Die politische und gesellschaftliche Diskussion verlagerte sich fortschreitend von 20 den kleineren exklusiven Zirkeln und Presseorganen früherer Zeit in diese Massenpublizistik. Mit deren rascher quantitativer Ausbreitung, vor allem mit dem Emporkommen der Publikumsblätter, insbesondere der Sensationspresse, ging häufig ein qualitativer Abfall des publizistisch-journalistischen Niveaus einher, der dem Ideal der politischen Zei-tungs-(und Zeitschriften-) presse als moralischer Instanz, als öffentlicher Wächterin äußerst abträglich sein mußte. Nun war es unvermeidlich, daß sich in verstärktem Maße politisch weniger ernst zu nehmende gesellschaftliche Kräfte Einfluß und Gehör in der Öffentlichkeit sicherten.
Die sachlich-rationale Diskussion innerhalb der Publizistik wurde überdies zunehmend durch das Streben nach gewinnversprechenden Sensationseffekten gefährdet. Die übertriebene politische Emotionalisierung — ohnehin im Zuge der Gründung zahlloser Partei-blätter im Zunehmen begriffen — und die Abhängigkeit eines Teils des Journalismus von finanzkräftigen Verlegern
Diese nicht zu verkennende Wandlung hat ein wachsamer Beobachter jener Jahrzehnte, Kurt Baschwitz, in einer seiner zahlreichen Studien zu Themen der Massenpsychologie nach-gezeichnet und hierbei besonders die wachsende Tendenz zum Prestigeverlust des Begriffes „öffentliche Meinung" aufgezeigt: „Man sprach früher viel häufiger von der . Macht der öffentlichen Meinung', als man das gegenwärtig tut; die Vorstellung von dem zwingenden Einfluß, der von der öffentlichen Meinung ausgehe, wurde in den Zeitungen und in den Büchern der Periode, die mit dem ersten Weltkrieg endigte, als etwas Selbstverständliches beschriebep. Von da ab sprach und spricht man aber weniger von der Macht, welche die öffentliche Meinung ausüben soll, sondern spricht umgekehrt meistens von dem Einfluß, den mächtige Privatpersonen auf sie zu gewinnen suchen (mittels des Privatmonopols der Zeitungstrusts), und von dem Einfluß, den Regierungen auf die öffentliche Meinung aus. zuüben trachten (mittels Zensur und Propaganda). Die Sorge, daß eine Regierung oder ein Pressemagnat die öffentliche Meinung sozusagen als ein willenloses Objekt behandeln könnte, ist für unsere Zeit geradezu kenn, zeichnend; diese Sorge steht in unvermitteltem Gegensatz zu der früheren Vorstellung von der öffentlichen Meinung als einer selbständigen geistigen Macht, die ihrerseits den Regierungen Respekt einflößte."
In den Aufzeichnungen von Baschwitz spiegeln sich all jene Erfahrungen und Erkenntnisse wider, die sich aufgrund der veränderten gesellschaftlich-politischen Realitäten zwangsläufig einstellten. Diesen Wandlungen der „öffentlichen Meinung" hatte im übrigen auch die Wissenschaft Rechnung getragen, als sie begann, mit dem Aufkommen der akademischen Disziplinen Zeitungswissenschaft, Publizistik, Massenkommunikationsforschung, vor allem mit der Intensivierung der interdisziplinären Forschungen, das heißt in Verbindung mit der Soziologie, Sozialpsychologie und politischen Wissenschaft, die „öffentliche Meinung" auf einen konkret faßbaren Gehalt hin zu erforschen, und sich darum bemühte, die differenzierteren Aspekte des Gesamtphänomens zu analysieren. Es erwies sich aber nun erst recht, wie schwierig es war, die „öffentliche Meinung" als konkreten Begriff zu definieren, sobald man darauf verzichtete, ihre politische Wirksamkeit in den Vordergrund zu stellen und geneigt war, das sich mit diesem Begriff historisch verknüpfende Ideal außer acht zu lassen; und als es nur darum gehen sollte, die „öffentliche Meinung" als reale Kategorie politisch-gesellschaftlichen Lebens und Geschehens einzugrenzen.
Vielfach zog man es daher vor, sich auf rein „praktikabel" oder nur funktional erscheinende Lösungen zu beschränken — so wie es der amerikanische Sozialwissenschaftler Leonard W. Doob tat, als er schlicht definierte: „Public opinion refers to people's attitudes on an issue when they are members of the same social group."
III. Zur Problematik des Begriffs „öffentliche Meinung" in der Gegenwart
Eine präzise Begriffsumschreibung der „öffentlichen Meinung" ist demnach sowohl aus dem Verständnis der historischen Entwicklung heraus als auch infolge der vielfältigen Auffächerungen der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen schwierig. Daher muß in der Gegenwart von einer Ungeklärtheit der Auffassungen und Interpretationen ausgegangen werden. Zumindest fehlt in den nicht-sozialistischen Ländern, denen eine offiziell verbindliche Auslegung politischer und ideologischer Schlüsselbegriffe fremd ist, ein klarer Konsens.
Ein zusätzlicher Grund für dieses Fehlen liegt zweifellos in der im wissenschaftlichen ebenso wie politischen Bereich herrschenden Unsicherheit und Verwirrung bei den Auseinandersetzungen um den Einfluß der Massenkommunikationsmittel auf den Prozeß der Meinungsbildung, in den auch plausible und durch empirische Forschungen erhärtete Erkenntnisse, wie beispielsweise die Theorie vom „two-step flow of communication", bislang keinen restlos klaren Einblick verschafft haben. Allein der Zweifel an dem Grad der psychologischen Manipulierbarkeit der Kommunikationsempfänger (Leser, Hörer, Zuschauer) macht die Entscheidung schwierig, wieweit überhaupt gesellschaftliche Realitäten, wie sie der einzelne subjektiv erlebt, und politische Propaganda (oder politische Werbung) bei der gesellschaftlichen Meinungsbildung zusammenwirken, inwieweit das eine Element gegenüber dem anderen den Ausschlag gibt. Zudem ist in den Forschungen oftmals der wesentliche Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Kommunikationssystemen vernachlässigt Worden. Sicher erscheint aufgrund der bisherigen Forschungsergebnisse, daß die Möglichkeit einer willkürlichen Änderung kollektiver erhaltensmuster durch gezielte Kommunika-
tionsimpulse in Abrede gestellt werden kann.
Die „öffentliche Meinung" — verstanden als vorherrschendes gesellschaftliches Bewußtsein in allgemeinen wie speziellen Fragen — entzieht sich der Steuerung durch die Massenmedien in höherem Maße, als dies zumeist kulturkritisch und pessimistisch gesonnene Analytiker befürchtet oder simplifizierende Ideologen vorgetäuscht haben, die die Stabilität bestimmter Grundhaltungen oft unterschätzten und die Manipulierbarkeit einer Minorität von Bürgern voreilig auf die Gesamtbevölkerung übertrugen.
Massenkommunikation ist stets nur einer der Faktoren, die eine Änderung in den Attitüden der einzelnen initiieren können; ihre Impulse und Aussagen müssen jedoch weitgehend mit den grundsätzlichen Dispositionen der angesprochenen Rezipienten übereinstimmen, um nachhaltige Wirkung zu erzielen
Somit wird fragwürdig, ob die als unumstößliches „Gesetz" von Marx und Engels formulierte These, daß sich Verfügung über die materielle Macht in der Gesellschaft und Herrschaft über das Bewußtsein entsprechen müs-sen, als tatsächlich so zutreffend angesehen werden kann, wie dies die Konzision und Bündigkeit ihrer Schlußfolgerungen zunächst nahe-zulegen scheinen
Auch in der jüngsten Gegenwart ist zweifelsohne eine Überschätzung der „geistigen Produktionsmittel", der Einflußmöglichkeiten der „Bewußtseinsindustrie", das heißt der Massenmedien, bei der Bildung der „öffentlichen Meinung“ zu verzeichnen gewesen. Sie wurde zum Teil bis zu dem Punkt getrieben, wo man von einer Allmacht der Massenmedien zu sprechen bereit war. So unbestreitbar jedoch die Wirksamkeit der Massenkommunikationsmittel ist, so zweifelhaft muß die leichtfertige Annahme eines allzu simplen einseitigen Kommunikationsschemas und eines völligen Ausgeliefertseins der Rezipienten an den staatlich gelenkten oder privatwirtschaftlich betriebenen Kommunikationsapparat sein. Die von den realen Lebensumständen, von der objektiv gegebenen gesellschaftlich-sozialen Lage bestimmten und geprägten Denkhaltungen werden stets auf die Medien zurückwirken und, mittels dieses Reziprozitätsverhältnisses, die Medien zumeist daran hindern, auf die Dauer von sich aus einen fortschreitenden Entfremdungsprozeß zu riskieren. Die Herausbildung einer „öffentlichen Meinung" unterliegt somit sicherlich dem Einsatz manipulativer Techniken und Methoden, -ebenso aber der Einwirkung der aus der Gesellschaft selbst stammenden Spontaneität. In diesem Sinn läßt sich die „öffentliche Meinung" durchaus treffend als „ein Komplex übereinstimmender Äußerungen von großen und kleinen Gruppen unserer Gesellschaft über öffentliche Angelegenheiten, manchmal spontan, manchmal kunstvoll manipuliert" umschreiben
Das Element der Spontaneität in der Bildung und Prägung der „öffentlichen Meinung" widerspricht nicht nur der These von der Leichtigkeit einer Reglementierung gesellschaftlicher Denkund Verhaltensweisen durch Massenkommunikation oder Propaganda. Es läßt vielmehr Raum für die Vielschichtigkeit der Erscheinung „öffentliche Meinung", die weder empirisch in einfachen Formeln zu fassen ist (sieht man von dem Sonderfall der demoskopisch errechneten öffentlichen Meinung als Durchschnittsverhalten oder Summation von Individualmeinungen ab) noch einseitig als eine metaphysische Sinneinheit gesehen werden darf. Daher wird als eine der wichtigsten Eigenschaften einer sich frei regulierenden „öffentlichen Meinung" anzuerkennen sein, daß sie auch potentielles Verhalten anzuzeigen in der Lage ist. Gerade in diesem Bezug ist das verzweigte System der Massenmedien unentbehrlich, die eben nicht nur die ideologische Grundhaltung einer gegebenen Gesellschaftsordnung ständig reflektieren, sondern mehr noch durch dauerndes Infragestellen künftige Denkweisen vorwegnehmen: „Die Publizistik setzt öffentliche Meinung frei, die latent vorhanden ist; sie kann auch das Gegenteil bewirken, indem sie ein Tabu zu früh bricht."
Wenn auch auf die mangelnde Begründung für die These von der unbegrenzten Manipulierbarkeit der „öffentlichen Meinung" hingewiesen worden ist, so heißt dies andererseits keineswegs, der Annahme, allein die verfassungsmäßige Garantie der Meinungs-und Informationsfreiheit schütze automatisch vor allen Gefährdungen der öffentlichen Meinungsbildung, das Wort zu reden. Ohne in die Gewohnheit früherer Jahrzehnte zurückzuverfallen, die „öffentliche Meinung" nur als unsichere und unstete Größe hinzunehmen, muß dennoch das beachtliche Maß an irrationalen Elementen, die auch in der Gegenwart in die Formung der „öffentlichen Meinung“ aus den verschiedensten Gründen eindringen können, beachtet werden. Allein Informationsdefizite bedingen oft genug eine Tendenz der „öffentlichen Meinung", die den „objektiven" Notwendigkeiten nicht adäquat erscheint. So ist das Bildungsproblem in der Bundesrepublik auch von der politisch interessierten Öffentlichkeit bekanntlich lange Zeit nicht mit der Bewußtheit diskutiert worden, wie es — in der Retrospektive — den Erfordernissen der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung entsprochen hätte. Mangel an sachgerechten Informationen, Unkenntnis der möglichen Konsequenzen verfehlter oder nachlässiger Bildungspolitik waren Ursachen für die generelle, später oft bedauerte Passivität der Öffentlichkeit.
Noch schwerer als die Gefahr des Informationsdefizits fällt sicherlich ins Gewicht, daß an der Bildung der „öffentlichen Meinung" stets Kräfte mitwirken, die weniger auf das Gemeinwohl achten, als ihren Bestrebungen Sonderinteressen zugrunde legen. Ernst Fraenkel erklärt den Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung dadurch, daß eine von einer oder mehreren Eliten konzipierte Auffassung oder Forderung die Billigung einer unbestimmt großen und unorganisierten Masse der Bevölkerung findet
schaftlichen Leben nur selten erreicht werden kann. Die staatlich-politische Führung wird auch in der Demokratie häufiger dem offen erklärten oder nur erahnten Willen der „öffentlichen Meinung" eine eigene Konzeption entgegensetzen müssen, um auf eine später er-folgende Billigung durch die gewandelte „öffentliche Meinung" zu hoffen. Die gerade durch die Ausbreitung der Massenmedien geförderte Emotionalisierung der öffentlichen politischen Diskussionen zwingt die Machtträger in Staat und Gesellschaft zuweilen zu einer vorsichtigen, wenn nicht gar deutlichen Distanzierung von der in der Öffentlichkeit dominierenden politischen Grundeinstellung. Der Ausdruck „öffentliche Meinung" bietet im übrigen in beiden Wortbestandteilen Anlaß zu Unklarheiten. Das Attribut „öffentlich" kann mit dem Äquivalent: , die gesellschaftliche Sphäre als Ganzes betreffend'in zureichender Weise bestimmt werden, das heißt eine gesellschaftlich repräsentative Meinung bekundet sich stets öffentlich. Der Wortinhalt von „Meinung" ist weit weniger eindeutig festzulegen. Dieses Wort findet relativ variable Verwendung: es kann einen unterschiedlichen Grad von Fundiertheit und Absicherung gegenüber willkürlichen und unbegründeten Vermutungen anzeigen: „Meinung ist die wie immer auch eingeschränkte Setzung eines subjektiven, in seinem Wahrheitsgehalt beschränkten Bewußtseins als gültig."
Th. W. Adorno sieht den Zwiespalt weniger in der Unfähigkeit der Subjekte der „öffentlichen Meinung", sich zu festeren Orientierungen durchzuringen, als in der Entfremdung des einzelnen Subjektes von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die er als vorgegeben konstatiert, sowie in der Unmöglichkeit einer völligen Harmonisierung zwischen individuellem Bewußtsein und Erkennen des rationalen Ge-samtinteresses: „Das Paradoxon rührt nicht von schwankender Unentschiedenheit derer her, die über Meinungen nachzudenken haben, sondern ist unmittelbar eins mit dem Widerspruch der Realität, der die Meinung gilt und von der die Meinung produziert wird. Keine Freiheit ohne die Meinung, die von der Realität abweicht; aber solche Abweichung gefährdet die Freiheit. Die Idee der freien Meinungsäußerung, die von der Idee einer freien Gesellschaft gar nicht getrennt werden kann, wird notwendig zu dem Recht, die eigene Meinung vorzubringen, zu verfechten und womöglich durchzusetzen, auch wenn sie falsch, irr, verhängnisvoll ist. Wollte man aber darum das Recht der freien Meinungsäußerung beschneiden, so steuerte man unmittelbar auf jene Tyrannei los, die mittelbar in der Konsequenz von Meinung selbst liegt."
Der Antagonismus im Begriffe „öffentliche Meinung", das Eingeständnis, daß Freiheit untrennbar mit ihrer eigenen Gefährdung verbunden ist, legitimieren keineswegs den Rückgriff auf das überholte Modell, nach dem ausschließlich qualitative Eliten zu Wortführern der „öffentlichen Meinung" befähigt sind, denen eine folgsame Masse als Rezipient gegenüberzutreten hat. Zwar werden die Impulse zur Veränderung des gesellschaftlichen Bewußtseins, sei es ein Teilbewußtsein oder ein Gesamtbewußtsein, in der Regel nicht von der „Masse" ausgehen; die Bewußtmachung neuer Erfordernisse, Notwendigkeiten oder das artikulierte Aussprechen bisheriger Mutmaßungen werden sich überwiegend durch gesellschaftspolitisch aktive Gruppen oder auch nur Einzelpersonen vollziehen. Das wird allein schon durch die Struktur der Massenmedien selbst bestimmt. An dieser Entwicklung ändert ebensowenig der Traum von einer grenzenlos „fundamental-oder radikaldemokratischen Utopie"
Was diesen Prozeß der Bewußtmachung jedoch immer stärker fördern wird, ihn in wachsendem Maße verläßlicher machen kann, ist das zunehmende Eindringen wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse in die politischen und gesellschaftlichen Diskussionen und der Zwang, öffentliche Argumentationen durch wissenschaftliche und empirische Befunde zu erhärten, was dem rein Spekulativen mehr und mehr den Boden zu entziehen geeignet ist. Zumindest in Detailfragen dürfte dies künftig stärker als bisher der Fall sein. „Öffentliche Meinung" ist somit auch hierin ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung.
All jene Auffassungen und Thesen zu Begriff und Erscheinung der „öffentlichen Meinung'könnten naturgemäß zunächst nur für diejenigen Gesellschaftsordnungen Gültigkeit beanspruchen, die hinsichtlich ihrer ideologischen Grundlagen und verfassungsmäßigen Traditionen auf dem bürgerlich-liberalen Modell vor allem des 19. Jahrhunderts fußen, das als Gegenpol zum autokratisch absolutistischen System entworfen worden war. Trotz mannigfacher verschiedener Ausprägungen hatten diese Gesellschaftsordnungen ein einheitliches Konzept einer sich öffentlich frei entfaltenden allgemein-gesellschaftlichen Meinung, wenn ihr auch in den einzelnen Staaten mehr oder weniger starre Grenzen gesetzt waren. Als im 20. Jahrhundert der Durchbruch gänzlich andersgearteter Ideologien zum Aufbau betont anti-bürgerlicher und anti-liberaler Staats-und Gesellschaftsordnungen führte, erfuhr das traditionelle Verständnis für das Prinzip der Öffentlichkeit eine völlige Umdeutung. Die sich im 20. Jahrhundert etablierenden ideologisch radikal entgegengesetzten Systeme hatten zur Folge, daß die einst im Grundsätzlichen übereinstimmenden Auffassungen zum Begriff der „öffentlicheh Meinung" nun nicht mehr allgemein gelten konnten. Von den neuen Gesellschaftsordnungen hat hauptsächlich der Sozialismus marxistisch-leninistischer Prägung ein eigenes, sich von bürgerlichen und liberalen Vorstellungen bewußt abhebendes Modell der „öffentlichen Meinung“ ah verbindlich entwickelt und formuliert. Sowohl in der politischen Praxis als auch der wissenschaftlichen Theorie ist hierin die Sowjetunion Vorbild geworden.
IV. Erscheinung und Begriff der „öffentlichen Meinung" in sozialistischer Sicht
Sofern man die in den sozialistischen Ländern gängigen, substantiell nicht voneinander abweichenden Begriffsbestimmungen der „öffentlichen Meinung"
Karl Marx hat noch eindeutig, in Übereinstimmung mit zeitgenössischem Sprachgebrauch, unter „öffentlicher Meinung" das Urteil des Zur Volkes verstanden
Marx hat zwar zur liberalen Ideologie der bürgerlichen Öffentlichkeit ein sozialistisches Gegenmodell entworfen, in sich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre entscheidend wandelt; dieses Modell war jedoch vorerst nicht durchsetzbar gewesen
Die Bildung der „öffentlichen Meinung", verstanden als Ausdruck einer „Teilwahrheit" über die staatlich-gesellschaftliche Gesamt-wirklichkeit, wollte Marx von Verfälschungen durch einseitige Monopolisierungen freihalten, er wollte sie offen halten für die „Kommunikation und Transmission des Wissens und Wollens von der gesellschaftlichen in die staatliche Sphäre"
Dieses Verständnis ergibt sich besonders aus den von Marx formulierten Funktionsbestimmungen der Presse, deren Kern lautet: „Damit die Presse ihre Bestimmung erreiche, ist es vor allem notwendig, ihr keine Bestimmung von außen vorzuschreiben und ihr jene Anerkennung zu gewähren, die man selbst der Pflanze zu gewähren gewöhnt ist, die Anerkennung ihrer innern Gesetze, denen sie nicht nach Willkür sich entziehen darf und kann."
Marx hat in seiner Konzeption das Problem offen gelassen, wie im sozialistischen Zukunftsstaat das System der öffentlichen gesellschaftlichen Kommunikation praktisch zu organisieren sei
Die Transformation des liberalen und bürger-liehen Modells politisch-gesellschaftlicher Öffentlichkeit in ein sozialistisches Gegenmodell, die nach der russischen Oktoberrevolution aus dem Stadium der akademischen Diskussion und politischen Polemik heraustrat und konkrete Gestalt gewann, ließ die in der Marxschen Konzeption angelegten spürbaren Unklarheiten in dieser Frage deutlich werden, ließ vor allem zutage treten, daß die als prinzipiell zu verstehenden Äußerungen Marx’ zur Freiheit der Publizistik und zur vermittelnden Funktion der „öffentlichen Meinung" in der Konkretisierung des Sozialismus nicht mehr volle Geltung beanspruchen konnten. Die revolutionären Sowjetführer haben ihr neues Modell von Anbeginn nicht als eine provisori-sehe Übergangslösung angesehen, sondern ihm klar das Attribut grundsätzlich'zuerkannt. Darüber hinaus trachteten sie unentwegt danach, ihr eigenes, das Leninsche Modell in den neu hinzutretenden sozialistischen Staaten als verbindliches Vorbild durchzusetzen. Im übrigen aber kann ihnen keineswegs vorgeworfen werden, daß sie die von ihnen vollzogene radikale Umdeutung herkömmlicher Begriffe des politischen und gesellschaftlichen Lebens abgeleugnet oder verschleiert hätten. Strittig bleibt allenfalls die Berechtigung, das neue, von ihnen realisierte konkrete Modell als legitime Erfüllung des Marxschen gesellschaftspolitischen Konzeptes auszugeben.
Die nicht abstreitbaren Mängel und Schwächen des neuen sozialistischen Modells politischer Öffentlichkeit und „öffentlicher Meinung" werden häufig teils mit dem Hinweis auf die spezifischen sozio-ökonomischen oder soziokulturellen Gegebenheiten derjenigen Staaten, in denen sich der Sozialismus etabliert hat, verteidigt, teils mit der permanenten äußeren Bedrohung erklärt oder aber auf die moralischen Unzulänglichkeiten der betreffenden politischen Führungsschicht zurückgeführt. Daß der Sozialismus ein auch nur einigermaßen attraktives Gegenmodell in der Praxis bislang nicht entwickelt hat, möglicherweise nicht entwickeln kann, ist jedoch weit eher im besonderen Zusammenhang mit dem moderMn sozialistischen Menschenbild zu sehen
Die Entwicklung in der Sowjetunion nach dem Sturz des Zarismus ist sehr früh auf Mißtrauen und Kritik vor allem marxistischer Kreise außerhalb Rußlands gestoßen, die ihre Ideale durch die Praxis der sowjetrussischen Revolutionäre verfälscht glaubten. Prominentes Zeugnis für diese Kritik ist die im Jahre 1922 erschienene, von Rosa Luxemburg verfaßte Schrift über „Die russische Revolution", in der die Maßnahmen der russischen KP polemisch kommentiert und insbesondere die strikte Disziplinierung und Uniformierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens abgelehnt wurden. Demgegenüber forderte R. Luxemburg: „Der einzige Weg zur Wiedergeburt ist die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkteste breiteste Demokratie, ötlentliche Meinung."
Die Forderungen Rosa Luxemburgs konnten allerdings im Grund nur bedeuten, daß die sowjetischen Revolutionäre, selbst auf Kosten ihrer eigenen Machtpositionen, die traditionellen sozialistischen Prinzipien höher stellen sollten als taktische Erwägungen der momentanen Herrschaftssicherung. Das aber war kaum eine realistische Alternative
Der Begriff „öffentliche Meinung" erhielt im sozialistischen Gesellschaftssystem den Rang einer gesellschaftlich verbindlichen Kollektiv-meinung und nahm rasch normativen Charakter an. Statt der Aufhebung des Konfliktes zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre schrieb die staatliche Sphäre nun allen Bereichen der gesellschaftlichen Sphäre — Erziehung, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft — zwingend die Normen der neuen Gesellschafts-moral vor. Folgt man der marxistisch-lenini-
stischen Lehre von Basis und überbau, so ist die „öffentliche Meinung" als Erscheinung dem überbau zuzurechnen. Sie ist im Sozialismus zu einem bedeutsamen Faktor geworden, um das Bewußtsein als Regulator des menschlichen Gesamtverhaltens „planmäßig" zu entwickeln
Um die aktive Rolle der „öffentlichen, gesellschaftlichen Meinung" im Prozeß der Transformation von Gesellschaft und Bewußtsein zu sichern, hatte Lenin sofort nach Eroberung der Macht und Konsolidierung seiner Herrschaft nach der Verfügung über alle Mittel der „geistigen Produktion", der Informationsund Publikationsmedien, getrachtet: „Der Erfolg und die Bedeutung Lenins rühren wohl in entscheidendem Maße daher, daß er eine Theorie moderner Macht entwickelte und in Rußland in die Praxis umsetzte. Wie wenige vor ihm erkannte er das umwälzende Potential der neuen technischen Kommunikationsmittel, der Druckerpresse, von Telegraph und Radio. Was heute als . Kommunikationstheorie 'immer größeren Einfluß auf den Ablauf technischer, ökonomischer, sozialer, wissenschaftlicher und militärischer Vorgänge erhält, hatte eigentlich schon Lenin samt ihrem revolutionären Gehalt vorweggenommen und strategisch richtig angewandt."
Als bedeutsamstes und massenwirksamstes Kommunikationsorgan erhielt vor allem die Presse die Aufgabe, den gesellschaftlichen und ideologischen Transformationsprozeß zu stimulieren; sie wurde zum Hauptträger der Umgestaltung und Umerziehung. Im sozialistischen Journalismus wurde nun vom „Werkzeugcharakter" oder der instrumentalen Funk-tioh der Presse gesprochen: „Presse und Information sind keine Werte an sich — etwa zur Befriedigung eines allgemein-menschlichen Bedürfnisses. Sie sind auf der Grundlage bestimmter menschlicher Bedürfnisse entstanden, und sie sind unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen von den verschiedenen Klassen oder Klassengruppen als Werkzeuge zur Durchsetzung ihrer Interessen entwickelt worden."
Damit ist ein grundsätzlicher Wandel der Pressefunktion eingetreten im Vergleich zu derjenigen, wie sie, wenn auch oft nur als idealtypisches Modell, für das 19. Jahrhundert kennzeichnend gewesen war. Die Publizistik ist nun zu einem Garanten der System-sicherung und -Stabilisierung geworden. Nur noch rhetorischen Wert haben jetzt Umschreibungen, nach denen sie Ausdruck der in der Öffentlichkeit vorhandenen und sich regenden Meinungen sein solle, wenn etwa in dem offiziösen sowjetischen Parteijoumal „Kommunist" behauptet wird: „Die Sowjetpresse ist nicht nur ein Mittel zur Bildung einer politisch aktiven und handlungsfähigen öffentlichen Meinung, sondern gleichzeitig ihr Organ und Sprachrohr."
Begriffsbestimmungen ähnlicher Art sind nach leninistischem Verständnis dann jedoch als konsequent anzusehen, wenn berücksichtigt wird, daß, entsprechend geltender sozialistischer Auffassung, „öffentliche Meinung" nicht mehr mit der Vorstellung der sich ausgleichenden oder widerstreitenden Diskussion einer unbegrenzten Öffentlichkeit wesens-gemäß verbunden ist. Der Schwerpunkt der formalen Begriffsbestimmung erscheint nun in ganz anderer Sicht: „Die sozialistische gesellschaftliche Meinung bezeichnet die Einstellung des Volkes zu den wichtigen Aufgaben des kommunistischen Aufbaus, zur Politik der Partei und des Staates, zu den Ereignissen und Prozessen des innenpolitischen wie internationalen Lebens und zu den Handlungen und Taten der Mitbürger." 51)
Die Kernfrage ist jedoch stets, in welcher Weise diese Einstellung sich herausbilden kann, ferner, welche Instanz sie vom grundsätzlichen Standpunkt als Rechtens zu sanktionieren hat.
V. Die Diskussion um den Begriff „öffentliche Meinung" in der UdSSR
Obwohl der Begriff der „öffentlichen Meinung" seit Etablierung des sozialistischen Systems in der UdSSR in seinem Sinngehalt nicht umstritten gewesen ist, entwickelte sich hier erst zu Beginn der sechziger Jahre die theoretische Diskussion über das Phänomen »öffentliche Meinung" 52). Begonnen hat diese Diskussion im Zuge der generellen Aufwertung der „öffentlichen Meinung" in der Sowjetunion, die besonders als eine Folge der Wandlungen des sowjetischen Gesellschaftssystems seit Ende der Stalin-Ära zu sehen ist. Die Indoktrinierung des Massenbewußtseins ist zwar nach der Stalinzeit als grundsätzliches Erfordernis der Parteiarbeit worden; jedoch änderten sich in erheblichem Maße die Methoden der politischen, ideologischen und moralischen Erziehung. Außerdem trugen der graduelle Abbau der von der Sicherheitspolizei geübten Willkür, die Tendenzen gegen die übertriebene Eigenmächtigkeit der Staats-und Parteibürokratie sowie die allmähliche Ausbildung einer neuen sozialistischen Gesetzlichkeit zu der dynamischen Entwicklung der . öffentlichen Meinung" nach 1953 bei. Auffällig war ferner der Wandel in den Methoden und Techniken der Massenpropaganda, in dessen Verlauf das erstarrte Kommunikationssystem mit seinem von verantwortlicher Seite offen eingestandenen unbefriedigenden Wirkungsgrad dem neuen Führungsstil der Partei unter Chruschtschow angepaßt wurde. Zunächst betraf die Reform des Massenkommunikationswesens in erster Linie die Presse als wichtigstes Massenmedium. Das Fehlen von Spontaneität, Originalität, schöpferischer Initiative, ganz besonders aber die Uniformierung und Stereotypisierung von Sprache und Inhalten waren die hauptsächlichen Punkte der offiziellen Kritik, wie sie u. a. die Parteipublizistik übte: „Die im Zeitungswesen tief eingewurzelten Schablonen beeinträchtigen die Wirkung der Zeitungen auf den Leser und vergrößern eben dadurch ihre Distanz vom Leben. Die Redaktionen vieler Blätter haben die besten Vorbilder der Zeitungsarbeit, wie sie in den Jahren der Sowjetmacht entstanden sind, vergessen." 53)
Statt des bis dahin gängigen Stils der Berichterstattung erhoffte man sich von nun an stärkere Beachtung der Aufnahmebereitschaft, der individuellen Prädispositionen sowie der Bedürfnisse und Interessen des einzelnen, an den sich die publizistischen Aussagen richteten. Aktivität und Initiative des Medienpublikums sollten geweckt werden, um die Bürger intensiver an der gesellschaftlichen Praxis teilnehmen lassen.
Im Gegensatz zu der monolithischen Verfestigung des sowjetischen Gesellschaftssystems unter Stalin wurde in zunehmendem Maße verschiedenen gesellschaftlichen Kräften in begrenztem Umfang ein Eigenleben zugestanden, wodurch es innerhalb des Systems zur Ausbildung eines gewissen gesellschaftlichen Pluralismus und zum Entstehen einzelner Interessengruppen kam 54). Dieser Tendenz mußte die Partei mit dem Streben nach Durchdringung aller Bereiche des öffentlichen Lebens begegnen. Dies galt insbesondere angesichts der stets latenten Gefahr, daß sich unter den intellektuellen Schichten eine selbständige, sich absondernde „gesellschaftliche Teil-meinung" bildete, die nicht mehr mit der parteigerichteten „öffentlichen Meinung" übereinstimmte. Zwischen tatsächlicher gesellschaftlicher Meinung und offizieller Meinung durfte kein Zwiespalt aufkommen. Denn die neue, aufgewertete „öffentliche Meinung" sollte letztlich auch dazu dienen, der Führungsund Erziehungsarbeit der Partei zu höherer Effizienz zu verhelfen. Gleichwohl entstand in begrenztem Rahmen ein Reziprozitätsverhältnis insofern, als diese „gesellschaftliche Meinung"
wiederum auf die Haltung der Partei und ihre Entscheidungen zurückwirkte.
Jene gesellschaftspolitischen Entwicklungen bildeten die wesentliche Voraussetzung für die neubeginnende Diskussion um Begriff und Erscheinung der „öffentlichen Meinung" auch im wissenschaftlichen Bereich. Vor allem ist ihre wachsende Beachtung im Zusammenhang mit der Renaissance der sowjetischen Soziologie seit Ausgang der fünfziger Jahre zu sehen. Die „öffentliche Meinung", das hieß zunehmend auch: die tatsächliche Einstellung der Bevölkerung zu allen politischen und gesellschaftlichen Fragen, zu diagnostizieren und analysieren wurde nun Teil der wissenschaftlichen Methode der allgemeinen Massenführung. Sie bedeutete in diesem Bereich eine Verfeinerung und Intensivierung der ideologischen Bewußtseinserziehung. Andererseits trugen die empirisch ermittelten Resultate dazu bei, latent vorhandene Spannungen und Konflikte zu entschärfen, da man einen genaueren Einblick in die Struktur der Meinungsbildung in der Bevölkerung gewann. Die empirischen Untersuchungen (die konkret-soziologischen Forschungen) ließen einerseits ein hohes Maß der Aneignung sozialistischer Denkmuster durch die Bevölkerung offenbar werden, widerlegten andererseits jedoch ebenso die These von der Geschlossenheit und einheitlichen Struktur der „gesellschaftlichen Meinung" in der UdSSR
Entscheidend aber blieb, daß es sich — nach offizieller Interpretation — nicht um „antagonistische" Widersprüche oder Gegensätzlichkeiten handelte, da zu den Grundthesen der marxistischen Soziologie die Auffassung gehört, daß sich das Problem der Einheitlichkeit der „öffentlichen Meinung" nur unter klassenbedingtem Aspekt stellt; die Möglichkeit einer solchen Einheitlichkeit und Geschlossenheit der „öffentlichen, gesellschaftlichen Meinung" wird allein für sozialistische Ordnungen anerkannt: „Entsprechend der gegebenen sozialökonomischen Struktur der Gesellschaft kommen in der öffentlichen Meinung die unterschiedlichsten und differenziertesten Klassen-und Gruppeninteressen zum Ausdruck. Die von bürgerlichen Kommunikationsforschern oft verbreitete Auffassung, die öffentliche Meinung sei der Extrakt aller im Volke vorhandenen Meinungen und repräsentiere die Durchschnittsmeinung aller, ist eine Fiktion um von den unterschiedlichen Klassen-und Gruppeninteressen abzulenken. Eine einheitliche öffentliche Meinung kann es nur dann geben, wenn eine Interessenübereinstimmung von Klassen und Gruppen vorhanden ist... Mit der Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten Klassen und Schichten, mit der Schaffung einheitlicher sozialistischer Produktionsverhältnisse, entwickeln sich objektive Bedingungen für die Herausbildung einer einheitlichen öffentlichen Meinung, in der sich die Interessen der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten Werktätigen widerspiegeln."
Es ist schwerlich zu leugnen, daß in solchen Formulierungen ebenfalls Fiktionen aufrecht-erhalten werden. Ebenso wie für bürgerliche Systeme ist für sozialistische Gesellschaftsordnungen die Möglichkeit eines prinzipiellen, also antagonistischen Gegensatzes von gesellschaftlichen Teil-oder Gruppenmeinungen (d. h. Parteimeinungen) und einer sämtliche (oder viele) Gruppen bzw. Klassen erfassenden und durchdringenden einheitlichen gesamtgesellschaftlichen Meinung anzuerkennen. Wenn der sowjetische Gesellschaftswissenschaftler A. K. Uledow, ganz im Sinne der marxistisch-soziologischen Theorie, die „öffentliche Meinung" in bezug auf die sozialistische Gesellschaft als „einmütiges Urteil des Volkes zu Fragen des gesellschaftlichen Lebens, die die allgemeinen Interessen berühren und eine praktische Lösung fordern", definiert
In Abkehr von traditionellen Theorien wird geleugnet, daß Massen Träger der „öffentlichen Meinung" sein können, und die Annahme, daß die „öffentliche Meinung" die Meinung eines bestimmten Publikums sei, als unzulänglich erachtet. Die „Masse" bringe keine „öffentliche Meinung" zum Ausdruck, sondern sei lediglich als vorübergehende, sporadische Vereinigung von Personen zu charakterisieren: „Ihr liegen keine tieferen allgemeinen Interessen der Menschen zugrunde, welche allein eine öffentliche Meinung hervorbringen können. Für die Menge ist nicht Meinung, sondern Stimmung kennzeichnend." 58) Unterstrichen wird, daß die „öffentliche Meinung" rationale Elemente einschließt, so vor allem die Diskussion und den mit ihr verbundenen Kampf unterschiedlicher Auffassungen. Die Frage, wer tatsächlich als eigentlicher Träger der „öffentlichen Meinung" anzusehen sei, wird vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung beantwortet. Nach Uledows Ansicht begünstigt insbesondere die marxistische Lehre von der Klassenstruktur der Gesellschaft ein klares Erfassen der Problematik. Da jede Klasse, entsprechend ihren eigenen fundamentalen Interessen, spezifische Meinungen vertrete, rückt der Begriffsinhalt . öffentliche Meinung" in die Nähe der Klas-senmeinung, doch wird die „öffentliche Meinung" als eine umfassendere Erscheinung im Vergleich zur Meinung einzelner Klassen betrachtet. Objektives Kriterium, welche Klassen die „öffentliche Meinung" zum Ausdruck bringen, ist die Übereinstimmung von Klassen-interesse und Interesse der Gesellschaft; Träger der „öffentlichen Meinung" sind somit die am „gesellschaftlichen Fortschritt" interessierten Klassen. „Anders gesagt: die öffentliche Meinung ist mit dem Volke verbunden. Das Volk ist eine umfassendere soziale Gemeinschaft als die Klasse; es ist der wirkliche Träger der öffentlichen Meinung."
Die Ideologie des Sozialismus legt fest, wem die Rolle der progressiven Minorität zufällt und wer damit zugleich stellvertretend für die gesamte Gesellschaft als der originäre Träger der „öffentlichen Meinung" fungiert: die sich als Avantgarde der Massen verstehende proletarische Partei. Somit erhält die sozialistische Konzeption der „öffentlichen Meinung" das Kennzeichen eines elitären Modells
Werden die von der progressiven proletarischen Minderheit vertretenen Auffassungen nicht von der Meinung der Mehrheit des Volkes ausgenommen, bildet die Mehrheit möglicherweise eine der Meinung der „progressiven" Minderheit zuwiderlaufende Meinung, so kann demnach unter sozialistischen Bedingungen von einer echten „öffentlichen Meinung" nicht die Rede sein.
In bezug auf die Medien der Information und Kommunikation bedeutet diese sozialistische Theorie, daß die Kommunikationsmittel nur im Dienste der zur allgemeinen gesellschaftlichen Meinung gewordenen fortschrittlichen Meinung der elitären Minderheit stehen können. Damit ist die Forderung, die Massenmedien sollten die Vielfalt der gesellschaftlichen Meinungen in der Öffentlichkeit widerspiegeln und den Bürger zur Selbständigkeit des politischen Urteilens erziehen, völlig abwegig. Vielmehr liegt die Erziehungsaufgabe der „Masseninformationsmittel" (so der heutzutage gebräuchliche Terminus in der UdSSR) darin, ihrem Publikum zum besseren Verständnis gegenüber den von der progressiven Minderheit, der Partei, beschlossenen Maßnahmen und Zielen zu verhelfen und es für diese Ziele zu mobilisieren. Die Bildung der „öffentlichen Meinung“ ist in diesem Sinne im wesentlichen ein einseitig zielgerichteter Prozeß.
Das Problem der „öffentlichen Meinung" als Leitbild und Sanktion der Gesellschaftsmoral, in ihrer Funktion als Organ der sozialen Kontrolle, stellt sich im Sozialismus demgemäß in schärferer Form als in nicht-marxistischen Systemen. Die gemeinsame Meinung eines Kollektivs beispielsweise, so wird argumentiert, wirkt auf die Meinung des Individuums in der Weise ein, daß dem einzelnen die Möglichkeit gegeben wird, sich auf die kollektive Erfahrung zu stützen und das gemeinsame Interesse schärfer zu erkennen. Das Kollektiv prägt damit die Einstellung des ihm zugehörigen individuellen Mitglieds, die Kollektivmeinung gilt als Norm, nach der sich der einzelne zu richten hat. In gleicher Weise übt auch die „öffentliche Meinung" die Kontrolle über das Verhalten des einzelnen Bürgers aus, sie ist dabei überdies wirksamer als das Recht. Dies gilt zunächst insbesondere für die Bereiche des Alltagslebens und für die familiären Beziehungen.
In dem Maße, wie sich der Übergang von der sozialistischen zur kommunistischen Etappe gesellschaftlicher Evolution verwirklicht, soll die von der „öffentlichen Meinung" geprägte gesellschaftliche Moral nicht mehr als Pflicht empfunden, sondern mehr und mehr zu einer Moral des Gewissens werden; die früher oktroyierte Norm des Kollektivs wird nun als freiwilliges Bekenntnis zum gesellschaftlichen „Fortschritt" empfunden. Die Zwangsfunktionen des Staates werden an die „öffentliche Meinung" delegiert: „Im Kommunismus wird man sich auf die Methode der gesellschaftlichen Einwirkung, auf den Einfluß der öffentlichen Meinung stützen. Sie wird im Kommunismus zu einer mächtigen Kraft, die ausreicht, um jene zur Vernunft zu bringen, die die kommunistischen Gepflogenheiten und Prinzipien des Gemeinschaftslebens nicht beachten wollen."
Der erhoffte Übergang von der Pflichtmoral zur Gewissensmoral im kommunistischen Gesellschaftsstadium stellt aber nur scheinbar einen grundsätzlichen Funktionswandel der „öffentlichen Meinung" dar, denn der jetzt formell in Gestalt der Partei weiterexistierende und agierende Staat bleibt oberste Instanz zur Prägung der für die „kommunistische Öffentlichkeit" verbindlichen gesellschaftlichen Moral.
VI. Die Kritik des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski an der Interpretation des Begriffes „öffentliche Meinung" im Sozialismus
Lassen sich aus offiziellen Stellungnahmen (beispielsweise nach den Dezember-Unruhen in Polen) die Diskrepanzen zwischen Theorien der „öffentlichen Meinung" in sozialistischer Sicht und der Realität meist nur indirekt, obschon mit zuverlässiger Deutlichkeit erschließen, so haben andererseits einige marxistische Autoren selbst direkt auf die Problematik des Begriffs „öffentliche Meinung“ im Sozialismus hingewiesen. Kritik aus erklärtermaßen „systemimmanenter“ Sicht äußerte u. a.der polnische Philosoph Leszek Kolakowski in einem Essay über den „Platonismus, die Empirie und die öffentliche Meinung"
In dieser Darlegung greift Kolakowski das Eindringen des platonisierenden Denkens in die Praxis des Marxismus und seine schädlichen Wirkungen auf, wobei er eben diese Erscheinung an zwei Begriffen, nämlich der „öffentlichen Meinung“ und dem „Bewußtsein der Massen" zu exemplifizieren versucht. Den Unterschied zwischen ihnen kennzeichnet er zunächst in der folgenden Weise: „Mit dem Begriff . öffentliche Meinung'sind einmalige Reaktionen der Gesellschaft auf einzelne Erscheinungen gekennzeichnet; die öffentliche Meinung drückt immer die Haltung der Gesellschaft gegenüber einer bestimmten Tatsache aus. Der Begriff . Bewußtsein der Massen dient zur Bezeichnung einer allgemeinen und beständigen Situation, eher eines Zustandes als eines besonderen Ereignisses. Er charakterisiert eine Veranlagung zu einer bestimmten Reaktion, nicht die einzelnen Reaktionen der Gesellschaft selbst."
Psychologie, indem sie sie aus der Kenntnis der Beziehungen ableiten, die zwischen dem sozialen Bewußtsein und dem sozialen Dasein bestehen. So hat das Lackieren der Wirklichkeit und der Schematismus in Presse und Literatur einen unbewußten Platonismus zur Grundlage: die Ableitung einer besonderen Existenz aus dem allgemeinen Wesen der Sache; was in den menschlichen Reaktionen, das heißt, in der empirischen . öffentlichen Meinung'nicht von theoretischen Schemen vorgezeichnet, also bisher nicht in die Theorie einbezogen wurde, wird übergangen; was diesen Schemen widerspricht, wird als eine zufällige Abweichung vom Ideal aufgefaßt, das keine Beachtung verdiene."
In dieser rein theoriebezogenen, ideologie-verhafteten Auslegung der realen gesellschaftlichen Existenz sieht Kolakowski eine ausgesprochen antidemokratische Praxis. Für ihn gilt es deshalb vordringlich, dem Begriff „öffentliche Meinung" seinen empirischen Sinn wiederzugeben, nicht aber, der Theorie Vorrang vor den realen Erscheinungen des Lebens einzuräumen. Diese Forderung bedeutet jedoch in letzter Konsequenz die fällige Revision der sozialistischen Konzeption der „öffentlichen Meinung", die — in ihrer gegenwärtigen Gestalt und Praktizierung — die Kollision zwischen theoretischen Prämissen und Erfahrungen der praktischen Politik beziehungsweise der gesellschaftlichen Realität allzu oft außer acht zu lassen bereit oder hierzu gezwungen ist. Nur als Frage kann in diesem Zusammenhang formuliert werden, ob sich in der von Kolakowski erhofften Tendenz zum stärkeren Eindringen der Empirie in das Phänomen „öffentliche Meinung" im Sozialismus eine Analogie zu der historischen Wandlung des Begriffs in bürgerlichen Gesellschaftssystemen ziehen läßt, wo teilweise ebenfalls eine vom normativen zum empirischen Verständnis verlaufende Entwicklung sichtbar geworden ist. Die Erfahrungen des vergangenen Jahrzehnts machen überdies deutlich, daß die von Kolakowski geäußerten Hoffnungen äuf eine Modifizierung oder gar Revision des sozialistischen Begriffs „öffentliche Meinung" ohne Echo geblieben sind.
VII. Zusammenfassung
mannigfachen Äußerungen und Versuchen, der Verfremdung des politischen wie ideologischen Schlüsselbegriffs „öffentliche • einung" im Sozialismus entgegenzuwirken, iSt die noch bestehende Ungesichertheit des elitären Modells sozialistischer Prägung zu erkennen, das das Attribut einer echten „öffentlichen Meinung" häufig nicht den konkre-ten, empirisch verifizierbaren Gegebenheiten gemäß zuerkennt; dennoch scheint die herkömmliche Deutung, nach der „öffentliche Meinung" als mit der Tatsächlichkeit des allgemeinen Meinungsbildes in den politisch bewußten Teilen der Bevölkerung übereinstimmend aufgefaßt wird, den meisten Kritikern als Begriffsnorm vorzuschweben.
Abseits der offiziellen politischen Sprachgebung und unabhängig von den jeweils maßgebenden Denkund Wertsystemen gibt es offenkundig noch immer genügend Raum für einen begrifflichen Konsens zwischen nicht-sozialistischen und sozialistisch-marxistischen Verfechtern, sofern die Erstarrung von Gesellschaftsordnung und verbindlicher Sprach-form einer ideologiefreieren Betrachtungsweise weichen kann. In jedem Falle ist anzunehmen, daß die Verfremdung der zentralen politischen Begriffe durch den orthodoxen Marxismus bislang nicht total gelungen ist, zumal sich der Ausdruck „öffentliche Meinung" auf die Dauer nicht von der Kategorie des real Erfahrbaren absondern lassen wird.
Dem orthodoxen Denken weniger verhaftete Marxisten nehmen in dieser Frage ohnehin eine flexiblere Position ein. Zumindest suchen sie eine Lösung von allzu dogmatischen Auffassungen, ohne dabei ihre prinzipiell gegen die bürgerlich-liberalen Gesellschaftskonzeptionen gerichtete Einstellung aufzugeben. So hat der Ostberliner Marxist Robert Havemann die Frage, ob er Sozialismus und eine freie „öffentliche Meinung" für miteinander vereinbar halte, unzweideutig bejaht: „Er hat sie sogar nötiger als der Kapitalismus, der sie nur gestattet, solange sie seiner Macht nicht gefährlich ist. Der Sozialismus braucht die freie öffentliche Meinung als wichtigen Antrieb seiner Entwicklung."
Abgesehen jedoch davon, daß Havemann einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem politischen Wertsystem der westlichen Demokratie aus dem Wege geht, läßt er es beim rein verbalen Postulat bewenden. Noch wird von ihm keinerlei Konkretisierung der „sozialistischen Öffentlichkeit" vorgeschlagen, was auch, oder sogar wesentlich, eine präzise Vorstellung von der Organisation und Kontrolle der öffentlichen Informations-und Kommunikationsmedien voraussetzen würde. Eine „freie öffentliche Meinung" ist nur dann als gegeben anzusehen, sofern die Diskussionen in der politischen Öffentlichkeit ohne grundsätzliche Eingrenzung, ohne den Vorbehalt einer grundsätzlichen Systemkritik möglich sind, sofern sämtliche politisch bedeutsamen und wichtigen gesellschaftlichen Gruppierungen legalen Zugang zu den Massenmedien erhalten. Eine „freie öffentliche Meinung" muß stets das Recht in Anspruch nehmen dürfen, das bestehende politische und ökonomische Wertsystem in Frage zu stellen und die Aussprache über neue Ideologien einzuleiten. Wird diese Möglichkeit nicht gewährt, so kann allenfalls von einem liberaleren Unterfall einer „gelenkten öffentlichen Meinung“ die Rede sein.
Havemanns Äußerungen, insbesondere sein Hinweis auf die „öffentliche Meinung" als Impuls zu einer fortschreitenden sozialistischen Entwicklung, knüpfen deutlich an die einst von Rosa Luxemburg geübte Kritik an der Praxis der sowjetischen Revolutionäre an. Was für diese Kritik zutraf, gilt jedoch in ähnlicher Weise auch für die Haltung Havemanns: das Fehlen eines konkreten, Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren abwägenden Alternativprogramms einer „sozialistischen Öffentlichkeit“. So stehen sich gegenwärtig im Grunde nur zwei verschiedene theoretisch wie ideologisch begründete Modelle „öffentlicher Meinung'gegenüber: einmal das in den westlichen Demokratien verwirklichte, in denen „öffentliche Meinung" als Gegenpol zur staatlichen Macht fungieren wie auch als ein Mittel der Rechtfertigung ihrer Politik verstanden werden kann, in denen staatliche Sphäre und „öffentliche Meinung", Offentlichkeitssphäre in einem Reziprozitätsverhältnis zueinander stehen können; zum anderen die herrschende sozialistische Konzeption „öffentlicher Meinung", nach der dieser die Funktion zufällt, die Einheit von Partei-und Regierungspolitik und Interesse der Gesellschaft zu konstruieren.
In beiden Gesellschaftsordnungen wirkt die „öffentliche Meinung" normsetzend. Abweichend ist hingegen der Ermessensspielraum des Individuums, sich von der Kollektivmeinung zu lösen, ohne Sanktionen von staatlicher oder gesellschaftlicher Seite herauszufordern, sich in seinem praktischen Verhalten der Norm zu entziehen oder diese Norm öffentlich anzufechten, übt die „öffentliche Meinung im Sozialismus oft eine Zwangsfunktion (neben dem Recht) aus, so kommt ihr in bürgerlichen Ordnungen in stärkerem Maße nur eine Orientierungsfunktion für den einzelnen zu.
Setzt man „öffentliche Meinung“ nicht mit der „veröffentlichten Meinung“ der Massenmedien gleich, sondern begreift sie als Ausdruck eines vorherrschenden, Denken und Verhalten von einzelnen wie Gruppen bestimmenden kollektiven Bewußtseins in allgemeinen wie besonderen Fragen, so besteht in jedem Gesellschaftssystem die Möglichkeit, daß sich die . öffentliche, gesellschaftliche Meinung" zunehmend der staatlichen Macht entfremdet. Demokratien mit dem institutionalisierten Austausch von politischen und administrativen Eliten werden diese Entfremdung zumeist auf evolutionärem Wege wieder aufheben. Gesellschaftsordnungen mit geringerer Flexibilität im Modus staatlicher Machtausübung, mit einer größeren Tendenz zur Verfestigung und Erstarrung der herrschenden Schichten und Machtstrukturen, werden weit eher zu abrupteren Wandlungen, zu revolutionären Formen der Anpassung an gesellschaftliche, ökonomische und soziale Verhältnisse und Erfordernisse neigen.
Auf die Frage, ob von der „öffentlichen Meinung" gesprochen werden kann, ist eine bejahende Antwort zu geben. Die „öffentliche Meinung" ist mehr als nur ein politisches Schlagwort, sie ist Widerspiegelung des gesellschaftlich bewußten Sichverhaltens und Strebens, ist Faktor gesellschaftlicher Entscheidungen und reflektiert bereits potentielle, künftige Entwicklungen. Der Terminus „Meinungen in der Öffentlichkeit" bleibt dagegen amorph, ihm fehlt jede Aussage über die Qualität und das Gewicht einzelner Meinungen innerhalb des Meinungspluralismus und stellt letztlich eine quantifizierende Aufrechnung von -Einzel-meinungen dar. Die „öffentliche Meinung" zeichnet sich aber gerade durch ein spezifisch qualitatives Moment aus; sie ist jeweils Ausdruck derjenigen Ideen, Anschauungen und Verhaltensweisen, die lange Zeit im Widerstreit gegeneinander verharren können, bis entweder Altes, Traditionelles sich bestätigt sieht, oder aber bis sich Neues durchzusetzen vermag und Geltung gewinnt.
„Öffentliche Meinung" heißt nicht Stagnation, Verfestigung, sondern ist immer als ein kontinuierlicher Prozeß anzusehen. Daß die Tendenz dieses Prozesses unausweichlich zur Wahrheit und im Interesse der gesamten Gesellschaft verlaufen werde, war einst noch die naive Überzeugung zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Daß dieses Ziel durchaus nicht mit jener Selbstverständlichkeit zu erreichen ist, das besagen mannigfache, seither gewonnene Erfahrungen. Hier aber stellt sich die jeweils nur aus historischer Perspektive eindeutig beantwortbare Frage nach der echten und der wahrhaften „öffentlichen Meinung".