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Parlament, Parteien und Regierung im Wilhelminischen Reich 1890-1914 | APuZ 12/1971 | bpb.de

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APuZ 12/1971 Artikel 1 Nation und Nationalstaat in der deutschen Geschichte Zum Gedenktag der Reichsgründung Parlament, Parteien und Regierung im Wilhelminischen Reich 1890-1914 Die Einführung des parlamentarischen Systems in Deutschland 1918

Parlament, Parteien und Regierung im Wilhelminischen Reich 1890-1914

Gert Udo Scheideler

/ 24 Minuten zu lesen

I. Das Dilemma des monarchischen Konstitutionalismus

Der monarchische Konstitutionalismus des Kaiserreichs war — wie die Regierungssysteme der deutschen Einzelstaaten und insbesondere Preußens — ein dualistisch strukturiertes System, in dem sich monarchische Regierung und Volksvertretung als unabhängige Machtfaktoren gegenüberstanden, verbunden nur durch das „balancierende Element der Ministerverantwortlichkeit" und zusammengezwungen durch die verfassungsmäßige Auflage, sowohl Gesetzgebung als auch Budgetbewilligung gemeinsam zu vollziehen.

Der mit der Trennung von Regierung und Volksvertretung institutionalisierte Konflikt verlangte nach dauernder Schlichtung auf dem Wege des Kompromisses und provozierte im Falle des Scheiterns als extremste Aushilfsmittel den Staatsstreich von oben oder die Revolution von unten mit ihrer systemvernichtenden Wirkung. Gewiß ist es weder zum Staatsstreich von oben noch zur Revolution von unten gekommen, doch wurden die sich eröffnenden Möglichkeiten in der Form der Staatsstreichdrohung und der Revolutionsfurcht von Bedeutung für die konkrete Politik. Als eigentlich systemtypische Form der Willensbildung und Konfliktschlichtung im monarchischen Konstitutionalismus erwies sich die Suche nach der Diagonalen aller politischen Kräfte — ein Verfahren, bei dem sich die Regierung darauf beschränkte, die Resultante im Parallelogramm der außer-und innerparlamentarischen Kräfte zu finden und zu verwirklichen. Außer dieser systemtypischen Mittelform entwickelten sich zwei Nebenformen, bei denen das System der prinzipiell gleichgewichtigen Schwebelage zugunsten jeweils des einen oder anderen Elements durchbrochen wurde: Einmal die Form des plebiszitären Cäsarismus, verbunden mit einer Kampfpolitik gegen das Parlament, zum anderen die Möglichkeit eines engen Zusammenwirkens von Regierung und einer auf Dauer angelegten festen Mehrheit im Parlament.

Die Geschichte des Kaiserreichs bietet hinreichend Beispiele für alle drei Formen der Herrschaftsausübung im konstitutionellen Regierungssystem, und wir werden jeder einzelnen bei einer genaueren Betrachtung des Verhältnisses von Parlament, Parteien und Regierung begegnen.

In allen drei Formen zeigt sich jedoch ein jeweils eigentümliches Dilemma des monarchischen Konstitutionalismus: Die Politik der Diagonale mit wechselnden Mehrheiten im Parlament läßt eine offenkundige Führungsschwäche der Regierung erkennen. Die Politik des plebiszitären Cäsarismus mit ihrem kräfte-verzehrenden Kampf gegen die Parteien und dem überspielen des Parlaments führte zu baldigen Abnutzungserscheinungen innerhalb der Regierung und war bei zunehmendem Gewicht des Parlaments nicht mehr praktikabel. Die Politik des Zusammenwirkens von Regierung und fester Mehrheit im Parlament brachte eine erhebliche Bedeutungssteigerung des Parlaments mit sich und barg in sich die Möglichkeit einer allmählichen Schwergewiditsverlagerung zugunsten des Parlaments.

II. Institutioneller Wandel im Bereich der Regierung

Eine erhebliche Komplizierung erfuhr das eindeutige Muster des Dualismus von Regierung und Parlament dadurch, daß die „Regierung" im Reich aus einem vielgliedrigen komplexen Gefüge aus Kaiser, Kanzler, Staatssekretären der Reichsämter, Preußischem Staats-ministerium und Bundesrat bestand, deren einzelne Elemente im Laufe der Entwicklung ein verändertes Gewicht erhielten.

Der Bundesrat, die von der Verfassung intendierte eigentliche Reichsleitung, war kaum ein arbeitsfähiges, die Richtlinien der Politik bestimmendes Reichsorgan. Einmal lag die Schwierigkeit des Bundesrats darin, daß die ursprünglich vorgesehene . Ministerbank as Vereinigung der politischen Leitungen der ein zelnen Bundesstaaten, die dem Reichstag g 6 genübertreten sollte, sich nicht auf Dauer V wirklichen ließ und an ihre Stelle Abgesan e der Einzelstaaten traten, die nach den Instru'tionen ihrer Regierungen im Bundesrat nu einzelstaatliche Interessen verwalteten, aber nicht in der Lage waren, einen vorwärtsweisenden gesamtstaatlichen politischen Willen zu entwickeln.

Neben diesem strukturellen Defekt wurde die Arbeit im Bundesrat erschwert durch die Vielfalt der in diesem Organ aufeinandertreffenden, divergierenden regionalen Interessen der Einzelstaaten, die allerdings durch den übermächtigen Einfluß Preußens kanalisiert wurden. Politische Eigeninitiativen ergriffen die außerpreußischen Mitglieder des Bundesrats so gut wie nie. Sie beschränkten sich darauf, eine Berücksichtigung ihrer jeweiligen Interessen in den in Preußischen Ministerien ausgearbeiteten Reichsgesetzen bei der Beratung im Bundesrat unter dem Gesichtspunkt der einzelstaatlichen Besitzstandswahrung zu erreichen. „Das Hauptstück der Reichsverfassung Bismarcks, die Reichsregierung durch den Bundesrat war also von Anfang an eine offenkundige Fiktion." Der Bundesrat entpuppte sich als das „konstitutionelle Feigenblatt für die preußische Regierung über das Reich" Allerdings ging der Einfluß Preußens via Bundesrat und damit auch des Bundesrats als dominierender Reichsinstitution zusehends zurück, weil sich eine eigenständige oberste Reichsverwaltung herausbildete und preußische Funktionen auf das Reich verlagert wurden.

Die Institutionalisierung einer leistungsfähigen Reichsverwaltung machte es seit den achtziger Jahren möglich, die Reichsgesetzentwürfe nicht mehr wie vorher in den preußischen Ministerien, sondern in diesen Reichsämtern auszuarbeiten und als sog. Präsidial-anträge ohne Zwischenschaltung Preußens direkt an den Bundesrat gelangen zu lassen. Die Funktion des Reichskanzlers als des Vorsitzenden des Bundesrats trat damit an Bedeutung völlig hinter der Funktion des Reichskanzlers als Chefs einer sich ständig ausweitenden und differenzierenden Reichsverwaltung zurück.

Mit dieser Verlagerung ging auch die Funktion der Reichsregierung von ihrem ursprünglichen Träger, dem Bundesrat, auf das neue Gremium über. Außerdem wurde der Einfluß reußens dadurch geschwächt, daß seit Ende er neunziger Jahre der größere Teil der preuizschen Bundesratsbevollmächtigten mit Ange-

origen der neu entstandenen Reichsämter besetzt wurde, die zwar formell als preußische folmächtigte galten, faktisch aber Reichs-

teressen vertraten. Weiter wurde der sich aus dem unterschiedlichen Wahlrecht ergebende Dualismus Reich — Preußen gemildert durch die „Staatssekretarisierung" des Preußischen Staatsministeriums. In zunehmendem Maße traten Leiter von Reichsämtern als Staatsminister ohne Portefeuille in das Preußische Staatsministerium ein und nahmen regelmäßig an dessen Beratungen und Beschlüssen teil, um sie im Sinne der Reichspolitik zu beeinflussen. Diese Entwicklung war bis 1914 so weit gediehen, daß die Vertreter von Reichsinteressen im preußischen Staatsministerium, einschließlich des Kriegsministers und des Reichskanzlers, auf sechs angewachsen waren und damit den preußischen Ressortministern fast die Waage hielten.

Neben der Personalunion von Kanzler und preußischem Ministerpräsidenten erwies sich die Staatssekretarisierung des Preußischen Staatsministeriums als ein wirksames Mittel, das preußische Pferd, d. h. die Verwaltungsorganisation, vor den Reichskarren zu spannen. Trotzdem blieb ein nicht unmaßgeblicher Einfluß Preußens bestehen: Entscheidende Aktionen des Reichs hatten — wenn auch nicht mehr formell, so doch de facto — ihren Weg durch das kollegial organisierte Preußische Staatsministerium zu nehmen, bevor sie als Anträge des Reichs zu einer eventuellen Einflußnahme der anderen größeren Bundesstaaten im Bundesrat eingebracht wurden.

Insgesamt gelang es aber doch, die Macht Preußens im Reich immer weiter einzuschränken und die Möglichkeiten der direkten Einflußnahme der Reichsleitung auf die preußische Politik zu stärken.

Die Herausbildung der Reichsämter und ihre ständige Bedeutungssteigerung — einmal durch die wachsenden Aufgaben des Reichs als Folge des Übergangs vom wirtschaftspolitischen Laisser-faire zum staatlichen Interventionismus, als Folge von Welt-, Flotten-und Kolonialpolitik, zum anderen durch die Übernahme ehemals preußischer Ministerialfunktionen und die damit verbundene Entstehung einer echten Reichsregierung mit einem die Richtlinien der Politik bestimmenden Kanzler an der Spitze und Staatssekretären, die von Handlangern des Kanzlers zu minister-ähnlichen Leitern der Reichsämter geworden waren — ermöglichten erst eine eigentliche Polarisierung von Reichsregierung und Reichstag. Erst so konnte der Reichstag einen direkten Adressaten seiner politischen Forderungen finden. Erst die Tatsache, daß das Reich nicht mehr durch Preußen regiert wurde, erweiterte den Handlungsspielraum des Reichstags.

III. Parteiensystem und Parteien-struktur

Das Grundmuster der deutschen Parteienentwicklung ist die konstante Existenz eines Vielparteiensystems. Gründe dafür finden sich bereits in der Entstehungssituation der politischen Parteien in Deutschland. Hervorgegangen aus verschiedenen philosophischen Schulen, regional geprägt durch die unterschiedliche sozio-politische Struktur der deutschen Einzelstaaten und orientiert an jeweils gegeneinander abgegrenzten „sozial-moralischen" Milieus trat ein vielfältiges Spektrum politischer Parteien in den neuen Handlungsrahmen des Deutschen Reiches ein. Die Frühformen der Parteien galten als Ausdruck jener in partikulare Interessen aufgespaltenen . Gesellschaft', die dem Einheit stiftenden , Staat'gegenüberstand, der mit Hilfe seiner bürokratischen Organisation und gestützt auf seinen Militär-apparat den Interessenausgleich vornahm und das . Allgemeine Wohl'verwaltete.

Diese ältere Doktrin der politischen Partei wurde durchbrochen, als sich die Parteien in die Lösung der großen Fragen der deutschen Politik, in die Lösung der .deutschen Frage'einschalteten und diese in pro und contra aktiv mitbestimmten. Doch die gesamtpolitische Orientierung der Parteien blieb von kurzer Dauer. Nach vollzogener Reichsgründung gelang es Bismarck, die Forderungen der Liberalen nach weitergehender politischer Mitwirkung über den Weg einer Parlamentarisierung abzuwehren, die Liberalen nach wirtschaftspolitischen Interessengesichtspunkten zu zerspalten, die Parteien insgesamt zu „bloßen Agenturen wirtschafts-und sozialpolitischer Interessenwahrung zu degradieren" und den Reichstag erneut zu entpolitisieren. Damit war der Regierung wieder jene Position über den Parteien gesichert, die ihr die Verfügungsgewalt über den Bereich der eigentlich politischen Fragen vorbehielt und sie wieder in die Funktion einsetzte, „als Vertreterin der Staatsinteressen den Parteien als den Vertreterinnen der Sonderinteressen einzelner Gesellschaftsklassen, Berufs-und Wirtschaftszweige, Landesteile, Religionsge. meinschaften" gegenüberzutreten.

Otto Hintze hat den unpolitischen Charakter der deutschen Parteien und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Regierungssystem 1911 in klassischer Weise beschrieben: „Bei uns sind die Parteien eigentlich keine politischen, sondern mehr wirtschaftlich-soziale oder religiös-konfessionelle Bildungen. Das hängt damit zusammen, daß es eigentlich nur das Leben der bürgerlichen Gesellschaft ist, im Gegensatz zum eigentlichen politischen Betrieb, was in unseren Volksvertretungen zu Worte kommt. Was Bismarck vom Standpunkte einer monarchischen Staatsleitung aus wünschte, daß die Parteien als scharf charakterisierte wirtschaftlich-soziale Interessengemeinschaften auftreten möchten, mit denen man rechnen und Politik treiben kann nach dem do ut des-Prinzip, das realisiert sich in der Gegenwart in ungeahntem Maße: ich verweise nur auf den Bund der Landwirte und den Hansabund! Das ist aber eine Gestaltung des Parteiwesens, die mehr zu monarchischer Staatsleitung als zu parlamentarischem Einfluß führt."

Reformfreudige Zeitgenossen haben die Degeneration der Parteien zu reinen Interessen-agenturen häufig kritisiert, weil ihnen bewußt war, daß diese Interessengebundenheit, die selbst wieder hochgradig ideologisch aufgeladen im Gewand von Weltanschauungen auftrat, Koalitionen der Parteien untereinander erheblich erschwerte und eine von den Parteien initiierte Mehrheitsbildung im Parlament verhinderte. Damit begaben sich die Parteien aber des einzigen für sie in Frage kommenden effektiven Machtmittels, mit dem sie über einen Druck auf die Regierung Reformen auch im Bereich des Regierungss! stems hätten erreichen können. Die Gründe für das Unvermögen der Parteien, ihre jeweilige Ausrichtung auf eng begrenzte wirtschaftliche, soziale und konfessionelle Ziele zu durchbrechen, die heterogenen gesellschaftlichen Interessen zu politisieren und im Rahmen eines politischen Gesamtkonzepts zu integrieren und einen Interessenausgleich innerhalb des großen Rahmens selbst vorzunehmen, sind allerdings nicht bei den Parteien allein zu suchen, sondern sie stehen in einem ursächlichen Zusammenhang mit der fehlenden Möglichkeit zur Übernahme der politischen Verantwortung. Erst die Möglichkeit, selbst R gierung zu werden, hätte den Parteien den Zwang auferlegt, ein politisches Gesamtkon zept für alle Bereiche des politischen Lebens bereitzuhalten und widerstreitende Interessen innerhalb der Partei selbst auszugleichen. Bei allen Gemeinsamkeiten der Parteien im Parteiensystem zeigt eine nähere Betrachtung ihrer inneren Struktur doch erhebliche Unterschiede. Die Spannweite der im Reichstag vertretenen Parteien reichte von den Konservativen, die, ohne eigene wirksame Organisation, ihre Massenbasis in dem straff organisierten und autoritär geführten Bund der Landwirte hatten, über das Zentrum mit seiner Hilfsorganisation des Volksvereins für das katholische Deutschland, ferner über die von ständigen Flügelbildungen und latenten Spaltungstendenzen bedrohten Nationalliberalen und linksliberalen Gruppierungen bis hin zu der schlagkräftig organisierten und von einer großen Mitgliederzahl getragenen SPD. Die Konservativen, mit ihrem eigentlichen Macht-und Entscheidungszentrum im preußischen Landtag, hatten sich in den neunziger Jahren unter dem Einfluß des Bundes der Landwirte von einer aristokratischen gou-vernementalen Honoratiorenpartei in eine Interessenpartei des ostelbischen Großgrundbesitzes verwandelt, die in ihrem parlamentarischen Verhalten je nach Vorteil zwischen Stütze der Regierung und radikaler Opposition schwankte. Der Bund der Landwirte, der 1913 mit seinen 330 000 Mitgliedern mehr als 20 °/o der konservativen Wähler organisierte, bestimmte nicht nur nachhaltig die „ganze Richtung der wirtschaftlichen Gesetzgebung" von 1894 bis zum Zolltarif 1902 und zur Finanzreform 1909. Die außerordentliche Integrationskraft seiner „militanten neukonservativ-agrarischen, völkisch-nationalen Ideologie mit sozial-darwinistischen, mittelständischen und antisemitischen Zügen" ließ ihn darüber hinaus zum Kristallisationskern der an der Bewahrung des sozial-und verfassungspolitischen Status quo interessierten Kräfte werden.

Das Zentrum, politischer Ausschuß zur Wahrung der Interessen der katholischen Minderheit, war eine mittelständisch-ländliche Partei, ohne eigene Mitgliederschaft. Jedoch konnte sie sich ihrer Wähler auch nach der verblassenden Prägekraft der Kulturkampfzeit sicher sein, da nach 1890 der Volksverein für das katholische Deutschland als Hilfsorganisation di Mitgliedersammlung auf der Basis der atholischen Soziallehre übernommen hatte.

Mit 805 000 Mitgliedern war der Volks-^erein 1914 eine der größten bürgerlichen Massenorganisationen und erfaßte etwa 40 °/o der Zentrumswähler. Die Arbeit des Volks-vereins trug viel dazu bei, daß das überkommene katholische sozial-moralische Milieu nach außen hin abgesichert blieb und den Mörtel für jenen festgefügten „Zentrumssturm'abgab. Indem der Volksverein aber die Mehrheit der deutschen Katholiken in einer Subkultur integrierte, isolierte er sie zugleich von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung

Die Spannweite der sozialen Basis war im Zentrum größer als bei allen anderen Parteien. Sie reichte von schlesischen Magnaten, rheinischen und westfälischen adeligen Groß-grundbesitzern über kleine Bauern und Gewerbetreibende bis hin zur Arbeiterschaft. Diese einzelnen Gruppen waren in jeweils eigenen Verbänden organisiert, etwa den christlichen Bauernvereinen, den christlichen Gewerkschaften, den katholischen kaufmännischen Vereinigungen u. a. mehr, die innerhalb der Partei um Kandidatenplätze und die Linien der Wirtschaftspolitik rangen Doch trotz scharfer innerparteilicher Konflikte ist es nie zu Abspaltungen gekommen. Das konfessionelle Band und die vom Volksverein im Lande und von der starken Gruppe der Rechtsanwälte und Justizbeamten in der Fraktion getragene Politik des Ausgleichs erwiesen sich stärker als alle Konflikte der heterogenen Interessengruppen.

Das Zentrum wies am ehesten die Züge einer alle Schichten umfassenden modernen Volkspartei auf und hatte wohl den größten Einfluß im Parlament wegen seiner kontinuierlich hohen Mandatszahl und seiner Fähigkeit, als Mittelpartei nach allen Seiten hin zu koalieren. Für die Nationalliberalen brachte der Zug der Verwirtschaftlichung der Parteien eine Konfrontation mit ständigen Zerreißproben. Die divergierenden wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder und Wähler verhinderten eine eindeutige Interessenorientierung. Als „Partei der Reichsgründung" blieb ihre Politik primär auf verfassungs-und nationalpolitische Fragen gerichtet, doch wurde sie durch die aus wirtschaftspolitischen Kontroversen hervorgerufenen Flügelbildungen so geschwächt, daß ihre verfassungspolitische Stoßkraft entscheidend nachließ. Zwar verringerte sich der großagrarische Einfluß in der Reichstagsfraktion ständig und war nach 1909 nur noch von untergeordneter Bedeutung, doch wurden die zwischen Landwirtschaft und Industrie bestehenden wirtschaftspolitischen Konflikte ersetzt durch die Interessengegensätze zwischen der Schwerindustrie — organisiert im Centralverband deutscher Industrieller — und der Fertigwarenindustrie, die im Bund der Industriellen vereinigt war. Um sich im Lande wirksamer zu verankern und ein Gegengewicht gegen unliebsame Verbandseinflüsse zu schaffen, bauten sich die Nationalliberalen eine eigene moderne Organisation auf, die sich nach der Jahrhundertwende sprunghaft ausbreitete und sich bis 1914 von 400 auf 2000 Vereine verfünffachte; 1912 waren bereits 11% der Wähler organisiert. Die Zahl der Mitglieder stieg bis 1914 auf über 280 000.

Darüber hinaus versuchten die Nationalliberalen dem Druck der Verbände durch parteigesteuerte Gegengründungen zu begegnen. 1909 gründete die Partei als Gegenorganisation zum großagrarischen Bund der Landwirte den Deutschen Bauernbund, der allerdings bis 1914 nicht mehr als 50 000 meist kleinere Landwirte organisieren konnte. Weiterhin nahm die Partei 1909 erheblichen Einfluß auf die Gründung des Hansabundes, eine Protestorganisation des Gewerbes, der Banken, des Handels und der Industrie zur Bekämpfung des übermächtigen Einflusses der Agrarier auf die Regierungspolitik. Zwar schwächte der wegen sozialpolitischer Differenzen bald vollzogene Austritt der Schwerindustrie den Hansabund, doch blieb er wegen der hohen Zahl seiner Mitglieder (1914 = 250 000 neben 870 angeschlossenen Vereinen), seiner Leistung als Geldgeber und seiner Brückenfunktion zu den linksliberalen Parteien ein wichtiges Element der sozialen Fundierung für die allmähliche Mitte-links-Orientierung der Nationalliberalen Partei.

Die Spannungen, Spaltungen und erneuten Vereinigungen innerhalb der linksliberalen Gruppierungen haben ihre Ursachen kaum in wirtschaftspolitischen Kontroversen — die wirtschaftspolitischen Ziele der in den linksliberalen Parteien vertretenen Interessen der Banken, des Handels und der Exportindustrie ließen sich unschwer auf den einen Nenner des Freihandels bringen —, sondern mehr in unterschiedlichen allgemeinpolitischen Über-zeugungen, etwa der Frage der Zusammenarbeit mit der Regierung oder der aus dogmatischer Prinzipienstarrheit betriebenen Oppositionspolitik, wie sie für die in der Freisinnigen Volkspartei gut organisierten Gruppe um Eugen Richter charakteristisch war.

An eine Vereinigung aller Linksliberalen, der Freisinnigen Volkspartei, der Freisinnigen Vereinigung, zu der 1903 die Mitglieder von Naumanns National-sozialem Verein gestoßen waren, und der in Südwestdeutschland verbreiteten Deutschen Volkspartei, war erst nach dem Tode Eugen Richters zu denken. Nach der schon während der Zeit des Bülow-Blocks erfolgreich geführten Fraktionsgemeinschaft gelang der Zusammenschluß 1910 in der Fortschrittlichen Volkspartei auf der Basis eines Kompromisses, der die — früher von der Richter-Gruppe bekämpften — Heeresbewilligungen mit Forderungen nach Demokratisierung und Parlamentarisierung sowie nach Hebung der sozialen Lage der Lohnarbeiter und Angestellten verband. Bis 1912 konnte die Partei in ca. 1500 Vereinen 130 000 Mitglieder erfassen und erreichte damit den für eine linksradikale Partei beachtlichen Organisationsgrad von etwa 9 %.

Die linksliberalen Hilfsorganisationen — der freihändlerische Handelsvertragsverein, einzelne liberale Bauernvereine und die Hirsch-

Dunckerschen Gewerkschaftsvereine — litten hingegen unter Mitgliederschwund, der kaum durch die Zahl der fortschrittlich wählenden Mitglieder des Hansabundes ausgeglichen werden konnte.

Ein Hauptproblem für die Linksliberalen blieb unter den Bedingungen des absoluten Mehrheitswahlrechts die Tatsache, daß sie keine eindeutigen Hochburgen besaßen 1912 errangen sie keines ihrer 42 Mandate in der Hauptwahl. Die Partei war zunächst deshalb auf die Stichwahlhilfe von links, später, als bei dem wachsenden Kampf um dieselben Wählerschichten die Stichwahlen zwischen Linksliberalen und Sozialdemokraten anstiegen, zunehmend auf die Stichwahlhilfe von rechts angewiesen.

Diese Entwicklung zog der Möglichkeit eines Zusammengehens mit den Sozialdemokraten zur Durchsetzung der Forderungen nach Demokratisierung und Parlamentarisierung eine enge Grenze.

Die Sozialdemokratie, die bereits 1890 nach Zahl der Wähler und 1912 auch nach Zahl der Mandate die stärkste Partei im Reichstag geworden war, beeinflußte den politischen Entscheidungsprozeß weitgehend nur indirekt: Ihre Existenz und ihr mögliches weiteres Anwachsen waren ein im Kalkül der Regierung wie der anderen Parteien zu berücksichtigender Faktor.

Erst in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg kam es zu einem Ausbrechen aus der aufgezwungenen wie teilweise auch selbstauferlegten Gettosituation der Partei und zu einer aktiven, in Einzelfragen sogar ausschlaggebenden Mitarbeit im Reichstag, die auch von der Regierung in Anspruch genommen wurde Damit war die langdauernde politische Isolation durchbrochen, in die die Partei durch die staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen und die Verteufelung als Reichsfeinde’, . Umstürzler' und . vaterlandslose Gesellen'getrieben worden war.

Die Partei konnte die politische und soziale Diskriminierung durchstehen, indem sie sich während der Herrschaft des Sozialistengesetzes eine eigene Subkultur aufbaute, die mit ihren eigenen sozial-moralischen Wertvorstellungen und ihrem auf alle Lebensbereiche ausgedehnten Vereinswesen die Mitglieder der Partei integrierte und ihnen inmitten einer feindlich gesonnenen Umwelt das Gefühl der Geborgenheit gab

Das Ziel einer stärkeren Bindung an die politischen Prinzipien der Partei und einer Förderung des revolutinären Elans wurde allerdings nicht durchweg erreicht. Die ausgedehnten Betätigungsmöglichkeiten innerhalb der Subkultur schufen für viele Sozialdemokraten eine innere Befriedigung, die den Gedanken an die Notwendigkeit der Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung verdrängte und „indirekt dazu beitrug, die Arbeiter an die bestehende Gesellschaft anzupassen"

Trotz aller entgegenstehenden Hemmnisse der parteioffiziellen Theorie setzte sich, angeregt von der nüchternen Reformpolitik der süddeutschen Sozialdemokraten um Vollmar und Ludwig Frank und verstärkt durch die pragmatische Politik der Gewerkschaften, die Tendenz zum praktischen, kompromißbereiten Handeln, zur Verbesserung der Lage der Arbeiter in der bestehenden Staats-und Gesellschaftsordnung durch. Die Bestätigung der Richtigkeit dieses Weges fanden die Reformisten in der schnell auf über eine Million im Jahre 1914 anwachsenden Zahl der Mitglieder und in dem Wahlergebnis von 1912, als 34, 8 °/o aller Stimmen auf die Sozialdemokratie entfielen.

Mit dieser Ausweitung ihrer Anhängerschaft war die Partei in Wählerschichten vorgesto-

Ben, die nicht mehr durch eine Theorie des Ab-wartens auf den bevorstehenden Zusammen-

ruch des Kapitalismus oder eine Theorie der direkten revolutionären Aktion, sondern nur noch durch Erfolge einer praktischen Reform-arbeit integriert werden konnten.

VI. Stationen im Verhältnis von Parteien und Regierung

Drei verschiedenen Versuchen, Politik unter den Bedingungen des Regierung und Parlament trennenden konstitutionellen Systems zu machen und eine Antwort auf die strukturelle Dauerkrisis des monarchischen Konstitutiona-lismus zu finden, soll im folgenden nachgegangen werden.

Einmal handelt es sich um jenen Versuch der Regierung und des Kaisers, mit der 1897 eingeleiteten „Politik der Sammlung" eine Technik des Regierens zu inaugurieren, bei der unter Umgehung des Reichstags durch eine In-dienstnahme der großen Interessenverbände von Landwirtschaft und Industrie und durch einen mit den Mitteln der Propagierung von „Welt-und Flottenpolitik" vorgetragenen direkten Appell an die breite Öffentlichkeit die Regierung plebiszitär abgesichert und das „Regierungssystem in Richtung auf das persönliche Regiment" transformiert werden sollte. Zweitens handelt es sich um den 1907 bis 1909 unternommenen Versuch Bülows, eine Basis für die Regierung nicht gegen den Reichstag, sondern mit ihm auf der Grundlage einer festen, mehrheitsgarantierenden Parteienkoalition zu schaffen.

Als letztes geht es um Bethmann Hollwegs Versuch, nach 1909 mit seiner „Politik der Diagonale" eine Regierung „über den Parteien" zu führen, die sowohl auf die plebiszitäre Absicherung außerhalb des Reichstages wie auf eine feste Verankerung innerhalb des Reichstags verzichtete.

a) Sammlungspolitik Mitte der neunziger Jahre zeigte die politische Szenerie das Bild einer fatalen Zerrissenheit. „Zwischen Sozialdemokratie und Agrariern als den in ihrer politischen Potenz stärksten Kräften zunehmend eingekeilt" und an der schwierigen Aufgabe der Mehrheitsbildung mit den über Zoll-und Handelsfragen zerstrittenen Parteien der besitzenden Schichten scheiternd, hatte die Regierung die Fähigkeit zu politischer Initiative verloren.

Reichskanzler Hohenlohe bekannte das selbst im Reichstag: „Wenn der Regierung Mangel an kräftiger Initiative vorgeworfen wird, so möchte ich doch dabei bemerken, daß eine kräftige Initiative nur mit einem Reichstag zu machen ist, der eine geschlossene Majorität aufweist. Das ist bei uns nicht der Fall. Dazu kommt, daß zahlreiche Interessen sich im Reichstag geltend machen, die den Gang der Regierung erschweren." Als Spiegelbild zur Zersplitterung im Parlament zeigten sich in der Regierung Ratlosigkeit, Uneinigkeit, Ziellosigkeit und ein völliger Verlust an Autorität.

Miquel, der preußische Finanzminister und Vizepräsident des Preußischen Staatsministeriums, verfocht als Heilmittel gegen die Krise die „Politik der Sammlung", die die widerstreitenden Interessen von Landwirtschaft und Industrie ausgleichen und alle besitzenden Schichten zu einer gemeinsamen Bekämpfung der Sozialdemokratie zusammenfassen sollte. Materielle Basis für den Interessenausgleich war eine Revision der Caprivischen Handelsverträge mit dem Ziel, der Landwirtschaft und der für den Binnenmarkt produzierenden Industrie auf Kosten der Verbraucher und der am Export interessierten Kreise einen höheren Zollschutz zu sichern. Die zerstrittenen Parteien der Besitzenden sollten auf wirtschaftlichem Gebiet wieder zusammengeführt werden, damit bei den bevorstehenden Wahlen „politische Meinungsverschiedenheiten eine weniger wichtige Rolle spielten" Deshalb, so erklärte Miquel, müsse die Regierung darauf achtgeben, „politisch keine Maßregeln zu treffen, ohne gewiß zu sein, ob sie sich der Zustimmung der besitzenden Klassen zu erfreuen habe"

Als Mittel, um die Rechtsparteien wieder mit der Regierung und die Kartellparteien wieder untereinander zu versöhnen, wählte Miquel, unter Umgehung der Parteien, direkte Verhandlungen mit den großen Interessenvertretungen von Landwirtschaft, Industrie und Handel. Als Clearingstelle wurde beim Reichsamt des Innern ein . Wirtschaftlicher Ausschuß zur Vorbereitung handelspolitischer Maßnahmen'eingerichtet, in dem die jeweiligen Verbände vertreten waren. Hier versuchten sie, zusammen mit der Bürokratie eine gemeinsame Interessenbasis auszuhandeln, die dann als integrierendes Element zur Sammlung der bürgerlichen Parteien eingesetzt werden sollte.

Die Reichstagswahl im Sommer 1898 bot dazu einen ersten Anlaß. Mitglieder des Wirtschaftlichen Ausschusses hatten ein „wirtschaftspolitisches Wahlprogramm im Sinne der Politik der Sammlung" entworfen, um auch die Parteien auf das wirtschaftliche Bündnis festzulegen und sie in einer Art verbandspolitisch gesteuerter Überfraktion zusammenzufassen. Damit hatten die Verbandsvertreter allerdings nur zum Teil Erfolg. Eine erste Fassung des Programms, die vorsah, die Meistbegünstigungsverträge nicht mehr aufrechtzuerhalten und zur besseren Vertretung der wirtschaftlichen Interessen Parteiunterschiede beiseite zu lassen, mußte aus Rücksichtnahme auf Mitglieder des Zentrums Und der Nationalliberalen abgeschwächt werden zu einem Programm, das die „Sammlung aller derjenigen Parteien und wirtschaftlichen Gruppen" propagierte, „welche an Stelle des Kampfes der Interessen gegeneinander den friedlichen Ausgleich derselben erstreben" Diese Abschwächung der Forderungen des Ausschusses trug deutlich dem Eigengewicht der Parteien Rechnung

Getragen wurde der Aufruf vom Deutschen Landwirtschaftsrat, dem Bund der Landwirte, den katholischen Bauernvereinen und dem Centralverband deutscher Industrieller.

Von den Parteien schlossen sich die Fraktionen der Konservativen Partei im Reichstag und im Abgeordnetenhaus an. Bei den Nationalliberalen unterstützten der Zentralvorstand und die Vorstände der beiden Fraktionen das Programm. Von den Mitgliedern der beiden Fraktionen ließen sich allerdings nur eine knappe Hälfte auf das Programm verpflichten. Abgeordnete, die den Handels-und Exportkreisen nahe standen, hielten sich fern. In den Unterschriften von Miquel und Posadowsky kam noch einmal das Bestreben der Regierung zum Ausdruck, mit Hilfe der Wirtschaftsverbände die Parteien zu sammeln und zu einem gefügigen Instrument zu machen. Doch hat die Politik der Sammlung ihr Ziel, die Parteien der Besitzenden auf der Basis der Schutzzollpolitik wirtschaftlich und auch politisch zu einigen, nur zu einem geringen Teil erreicht.

Tiefgreifende und fortdauernde Interessengegensätze, wie sie in der Ablehnung des Mittellandkanals und schließlich auch in der Ablehnung des Zolltarifs durch die extremen Agrarier zum Ausdruck kamen, zeigen die Brüchigkeit der Allianz. Auch hat die Sammlungspolitik keine hinreichende parlamentarische Basis für die Verschärfung der staatlichen Repressivpolitik gegen die Sozialdemokratie geliefert. Wie früher die „Umsturzvorlage im Parlament gefallen war, so scheiterten in Preußen das „kleine Sozialistengesetz" und im Reich die „Zuchthausvorlage" am parlamentarischen Widerstand.

Weit wirkungsmächtiger als die Politik der Sammlung erwies sich die parallel dazu einge leitete Bülowsche Weltpolitik und die Tir pitzsche Flottenpolitik. Sie gaben das Inst mentarium her, um bei den Massen den a tionalismus zu wecken, das Volk um en Thron zu sammeln und die inneren Konflikte nach außen zu verdrängen. „Ich lege den Hauptaccent auf die auswärtige Politik", schrieb Bülow an Eulenburg. „Nur eine erfolgreiche Außenpolitik kann helfen, versöhnen, beruhigen, sammeln, einigen."

Dazu schuf die von Tirpitz und den nationalen Agitationsvereinen angefachte Propaganda-kampagne für die Flottenvorlagen in breiten Schichten des Bürgertums einen nationalen Konsensus, auf den nun auch jene Parteien einzuschwenken gezwungen waren, die sich noch zurückgehalten hatten. „Die Regierung hatte sich zum Ziel gesetzt, das Volk zur Stütze der Monarchie zu machen und es als Trumpf gegen den Reichstag auszuspielen.“ Und das war ihr auch gelungen — jedenfalls in der Flottenfrage. bDie Block-Politik ist der Versuch Bülows, durch die Bildung einer stabilen Parteienkoalition als Stütze der Regierung im Parlament die Stagnation, in die das Regieren mit wechselnden Mehrheiten geführt hatte, zu überwinden. Bis zur Reichstagsauflösung von 1906 hatte das Zentrum eine ausschlaggebende Stellung im Reichstag, weil es sowohl nach rechts wie nach links koalitionsfähig und in der Lage war, mit den Rechtsparteien Mehrheiten für die Regierung oder mit den Sozialdemokraten Abwehrmehrheiten zu bilden. Nachdem die Regierung stark unter dem Einfluß des ausschlaggebenden Zentrums geraten war und einige schwere Niederlagen erlitten hatte, suchte Bülow nach einer Möglichkeit, diesen unkalkulierbaren Faktor, der ständig die Stabilität der Regierungspolitik bedrohte, auszuschalten und seine Stellung als Kanzler im Parlament besser abzusichern. Für die von ihm weitgehend gesteuerten Neuwahlen initiierte er deshalb ein Zusammengehen von Konservativen, Freikonservativen, Nationalliberalen und Linksliberalen gegen Sozialdemokraten und Zentrum. Das Bündnis vereinte erhebliche Interessengegensätze in sich.

Doch unter der geschickten Regie Bülows verfestigte sich die Mehrheit zunehmend zum •Block", einer auf Dauer angelegten Koalition. Die Verfestigung des Blockgefüges bot u die beteiligten Parteien die Möglichkeit, ^ehr als je zuvor Einfluß auf die Reichspoli-tik zu nehmen. Sie ermöglichte es dem Kanzler, durch eine dauernde Hinorientierung auf diese Regierungsmehrheit neue Kräfte für die Stärkung seiner eigenen Position im Spannungsfeld zwischen Kaiser und Parlament zu erschließen.

Im Gegensatz zur Theorie der konstitutionellen Monarchie und der zeitgenössischen Verfassungsinterpretation, die die Stärke des Kanzlers in seiner alleinigen Abhängigkeit vom Monarchen und seiner Unabhängigkeit vom Parlament verbürgt sahen, hatte die Praxis der Regierungsweise — spätestens seit dem Ende der achtziger Jahre — die von der Theorie behauptete Stärke als Schwäche erwiesen. Bülows Blockpolitik ist die Konsequenz aus diesen Erfahrungen und zugleich der Versuch, durch einen Wechsel der Abhängigkeitsverhältnisse diese Schwäche zu überwinden. Um dieses Ziel zu erreichen, war er bereit, sich fest an seine neue Mehrheit zu binden: Als erster Kanzler stellte er der Parlamentsmehrheit die Vertrauensfrage. „Die Rücksicht auf die Krone sank, die aufs Parlament stieg." Die Zusammenarbeit von Kanzler und Mehrheit nahm bald halbparlamentarische Formen an. Wichtige Vorhaben der Reichsleitung wurden in regelmäßigen direkten Besprechungen zwischen dem Kanzler und den Parteiführern der Blockparteien abgesprochen. Dem Entgegenkommen der Parteien entsprach ein Entgegenkommen der Regierung. „Dem Block wurden die ministeriellen Mitarbeiter angepaßt." Auf Drängen der Blockparteien wurden der Blockgegner Posadowsky (Staatssekretär des Innern), der zentrumsfreundliche Schatzsekretär von Stengel sowie der erzkonservative Kultusminister von Studt entlassen. Vor entscheidenden Verhandlungen mit der Regierung besprachen sich die Mehrheitsparteien in Ad-hoc-Ausschüssen, die allerdings noch nicht zur Bildung eines auf Dauer angelegten interfraktionellen Koordinationsgremiums führten. Ein Ergebnis von dauernder Bedeutung für die Arbeitsfähigkeit der Parteien war der Zusammenschluß der drei linksliberalen Fraktionen zu einer Fraktionsgemeinschaft, aus der die Fortschrittliche Volkspartei hervorging. Das Abstimmungsverhalten der Blockparteien bei den einzelnen Regierungsvorlagen zeigte ein geschlossenes Bild. Einschränkung der Bestrafung der Majestätsbeleidigung, Novellen zum Flottengesetz und zum Börsengesetz, Reichsvereinsgesetz und Etatgesetze bezeichnen die Klippen, die von den Blockparteien überwunden wurden, und jeder dieser Erfolge machte das Block-gefüge widerstandsfähiger.

Doch erst die Reform der Reichsfinanzen mit einer geplanten Erbschaftssteuer für Ehegatten und Kinder und eine Ankündigung zur Weiterentwicklung des preußischen Wahlrechts wurden zu den entscheidenden Belastungsproben für den Block. Ausschlaggebend war die Haltung der Konservativen Partei. Bülow hoffte, die Konservativen für einen gemäßigten Reformkurs gewinnen zu können, doch war die Partei längst entschlossen, weder eine direkte Steuer zu bewilligen, noch das preußische Wahlrecht ändern zu lassen. Sollte Bülow an dem einen oder dem anderen festhalten, war die Partei gewillt, den Block zu sprengen und den Kanzler zu stürzen.

Die ohnehin schon schwierige Situation gewann durch die Daily Telegraph-Krise eine neue Dimension Gegen die einheitliche, antikaiserliche Front im Reichstag, in die sich selbst die Konservativen einreihten, vermochte Bülow, der zunächst zur Deckung des Kaisers durchaus bereit war, den Kaiser nicht zu verteidigen, wollte er sich nicht von seiner parlamentarischen Stütze isolieren. Der Kaiser fühlte sich verraten’ Das Vertrauensverhältnis zwischen Kaiser und Kanzler war gestört. Die Konservativen, die in der Krise zwar den Kanzler gegen den Kaiser bestärkt hatten, nutzten später den schwindenden Rückhalt des Kanzlers, um Bülow wegen der Erbschaftssteuer zu stürzen und ihre rigorose Interessenpolitik in eine Sorge um die Prärogative des Kaisers umzustilisieren.

Nicht die Tatsache des Vertrauensverlustes des Kaisers zu seinem Kanzler war für Bülows Sturz entscheidend, sondern die Sprengung des Blocks durch die Konservativen. Nach einem Erfolg Bülows in der Finanzreform hätte der Kaiser den Kanzler gegen den Willen des Parlaments nicht entlassen können.

Der Sturz Bülows zeigte, daß zumindest die Konservativen, gegen die die Regierung das Mittel der Reichstagsauflösung aus Furcht vor einer aus den Wahlen hervorgehenden Links-mehrheit nicht anwenden wollte und konnte, eine Entscheidungsgewalt über das Verbleiben des Kanzlers im Amt hatten und zugleich die Verantwortung für den Sturz von sich abwälzen konnten mit dem Hinweis auf die Verfassung, die allein dem Kaiser das Recht zur Entlassung des Kanzlers vorbehielt. Damit trat das Dilemma des Regierungssystems erneut grell in Erscheinung. Das System des monarchischen Konstitutionalismus ermunterte die Parteien geradezu, ihre partikularen Interessen mit größter Vehemenz und Unnachgiebigkeit zu vertreten, weil sie die Verantwortung nicht zu tragen hatten. Bülow hatte während der Auseinandersetzungen um die Finanzreform das Dilemma deutlich erkannt: Die Gründe für die Schwierigkeiten lagen in einem „Mangel an Verantwortlichkeitsgefühl bei den Parteiführern, die nicht wie in parlamentarisch regierten Ländern mit der Möglichkeit rechnen, in absehbarer Zeit selbst Regierung zu sein" 27a). Das war eine Umschreibung dafür, daß die Schwierigkeiten letztlich in dem System selbst zu suchen waren, weil es die Parteien von der Regierung ausschloß.

c) Politik der Diagonale Nach dem Scheitern des Bülow-Blocks kehrte Bethmann Hollweg zu einer Regierung „über den Parteien" zurück.

Sah er zunächst darin eine Möglichkeit, die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Regierung zu erhalten, „was nach diesem be-denklichen Hinabgleiten zum Parlamentarismus notwendig war" so beklagte er 1914 den bedauerlichen Umstand, daß er keine Partei hinter sich wisse Und 1917 heißt es: Wenn er sich stärker fühlen würde, würde er sich selbst an die Spitze der Sozialdemokraten setzen und dem konservativen Einfluß entgegen das gleiche Wahlrecht sofort und ohne weiteres einführen Das waren Einsichten in die geringen Möglichkeiten einer „Politik der Diagonale". Doch Bethmann glaubte keine andere Wahl zu haben.

Die Entscheidung über die Reichsfinanzreform hatte eine Polarisierung innerhalb des Parteiensystems zwischen der Finanzreformmehrheit aus Konservativen und Zentrum und einer oppositionellen linken Gruppierung aus Nationalliberalen, Linksliberalen und Sozialdemokraten eingeleitet, die jedoch auf keiner Seite festere Formen annahm. Der Naumannsche Gedanke einer linken Reformmehrheit von Bebel bis Bassermann wurde von allen drei Parteileitungen abgelehnt. Auch das Bündnis zwischen Konservativen und Zentrum war situationsbedingt. Zentrum und Nationalliberale kehrten bald wieder zur Taktik der wechselnden Mehrheiten zurück. In Ansätzen entwik kelte sich eine Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Linksliberalen, währen die Konservativen immer mehr in die Isolation gedrängt wurden. Eingekeilt zwischen den Mächten der politischen Reform und der Re tion, konnte die von Bethmann Hollweg he triebene Politik der Diagonale nur „auf eine Akzeptierung des politisch-sozialen Status Hu. und ein Dahinwursteln auf der Linie des 95 ringsten Widerstandes" hinauslaufen

Fussnoten

Fußnoten

  1. E. —W. Böckenförde. Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: Beiträge zur deutschen und belgischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, hrsg. von Werner Conze, Stuttgart 1967, S. 79.

  2. A Rosenberg, Entstehung der Weimarer Repu-blik, Frankfurt a. M. 1951, S. 15.

  3. M. R. Lepsius, Parteisystem und Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte, Lütge-Festschrift, Stuttgart 1966, S. 382 f.

  4. H. —J. Puhle, Parlament, Parteien und Interessenverbände 1890— 1914, in: Das kaiserliche Deutschland, hrsg. von M. Stürmer, Düsseldorf 1970, S. 343.

  5. O. Hintze, Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung, in: Staat und Verfassung, Göttingen 19622, S. 381.

  6. Ebenda, S. 378.

  7. Th Nipperdey, Interessenverbände und Parin-nin Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, HHpV M. oW dee rnh eler d, euK tö sl cn he Sozialgeschichte, hrsg. von 1966, S. 379.

  8. Kuhle, a. a. O., S. 360.

  9. azu Lepsius, a. a. O., S. 388 ff.

  10. Pperdey, a. a. O., S. 384.

  11. G. A. Ritter, Kontinuität und Umformung des deutschen Parteiensystems 1918— 1920, in: Entste hung und Wandel der modernen Gesellschaft, senberg-Festschrift, hrsg. von G. A. Ritter, Ber 1970 S. 375.

  12. C. von Delbrück, die wirtschaftliche Mobilma. chung in Deutschland 1914, hrsg. von J-von -brück, München 1924, S. 28.

  13. Historisches Lesebuch 2: 1871— 1914, hrsg. von »i r n Frankfurt a. M. 1967, Einleitung S. 17 f.

  14. G. Roth, Die kulturellen Bestrebung n der So-

  15. Stürmer, Staatsstreichgedanken im Bis-

  16. Historisches Lesebuch, a. a. O. S. 1 '.

  17. Sten. Ber. Reichstag, 143, S. 40.

  18. J. C. G. Röhl, Deutschland ohne Bismarck, Tübingen 1969, S. 225.

  19. Röhl, a. a O„ S. 225.

  20. Zit. nach D. Stegmann, Die Erben Bismarcks, Köln 1970, S. 74.

  21. Zit. nach Stegmann, a. a. O., S. 74.

  22. Vgl. Stegmann, a. a. O., auch zum folgenden, S. 74 ff.

  23. Röhl, a. a-°-s-235.

  24. Ebenda, S. 229.

  25. W. Frauendienst, Demokratisierung des deut-in. 7 Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms II, S. 739 sChrift f. die ges. Staatswiss., Bd. 113, 1957,

  26. p _ ssthuEttg. arHt a 1r 9t 6u 4n 8, g, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 290.

  27. Frauendienst, a. a. O„ S. 738.

  28. Brief an Eisendecher, zit. nach E. v. Vietsch, Bethmann Hollweg, Boppard 1969, S. 114.

  29. Tagebuch Oettingen, ebda, S. 166.

  30. Tagebuch Oettingen, ebda, S. 265.

  31. Historisches Lesebuch, a. a. O., S. 22.

Weitere Inhalte

Gert Udo Scheideler, geb. 1939 in Dortmund, Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik in Berlin und Münster, arbeitet zur Zeit an einer Studie über die innenpolitische Machtstruktur im Wilhelminischen Reich während des Bülow-Blocks 1907 bis 1909.