Mit freundlicher Genehmigung des Senders Freies Berlin wird im folgenden eine Diskussion wiedergegeben, die am 11. Dezember 1970 vom Dritten Fernsehprogramm des SFB ausgestrahlt worden war.
Matthias Walden:
Bevor mein Kollege Hans Dieter Jaene und ich die Klingen kreuzen, von denen ich hoffe, daß es keine Rasierklingen und möglichst auch nicht altertümlich schwere Säbel sein werden, möchte ich gern ein Mißverständnis ausschließen, das gegenüber jedem Kritiker der Bonner Ostpolitik am Wege lauert: Nämlich die häufige Unterstellung, wer gegen diese Politik Einwände erhebe, sei gegen den Versuch eines Ausgleichs mit dem politischen Osten oder gar gegen diesen Ausgleich selbst. Dazu eine persönliche Bemerkung: Ich habe das Ende des Krieges in meiner Heimatstadt Dresden erlebt und dort vier Jahre lang — die meiste Zeit unter sowjetischer Zensur — für eine Zeitung geschrieben. Ich habe — teils durch Erziehung im Elternhaus, teils durch eigene Einsicht — die Nazis verabscheut, habe die deutsche Schuld am Kriege und die Verbrechen besonders gegenüber Polen und der Sowjetunion erkannt, lange bevor die Russen kamen. Den Sieg der Alliierten empfand ich wirklich als Befreiung. An Aufgeschlossenheit gegenüber den sowjetischen Siegern hat es mir damals gewiß nicht gefehlt; was sie uns damals dort an kontingentierter Demokratie brachten, erschien mir als unverdientes Geschenk — bis dann die Enttäuschungen kamen und ich verstand, daß wir alle in eine Auseinandersetzung zwischen kommunistischer Diktatur, die sich als sowjetischer Imperialismus zu erkennen gab, auf der einen und freiheitlicher, parlamentarischer Demokratie auf der anderen, auf meiner Seite gestellt wurden.
Nicht trotzdem, sondern gerade deshalb blieb mir das Ziel eines Ausgleichs mit den Völkern im Osten immer bewußt.
Wenn ich heute daran zweifle, daß ein solcher Ausgleich mit den Regierungen von Moskau, Warschau, Prag, Budapest und Ost-Berlin gegenwärtig und in erkennbarer Zukunft mög-
ich sein wird, dann sind auch, aber nicht nur diese ersten Erfahrungen bitterer Nachkriegsjahre dafür bestimmend. Hierzu kommt die Erfahrung zweier Jahrzehnte. Es sind durchaus nicht allein moralische Vorbehalte, die es mir unmöglich erscheinen lassen, gegenüber kommunistischen Regierungen vor einem gründlichen Wandel des sowjetischen Systems „von der Konfrontation zur Kooperation" zu kommen, — um eine Parole des Bundeskanzlers zu zitieren, mit der er vor über einem Jahr seine Ostpolitik deklarierte. Meine Zweifel ergeben sich auch aus der Einsicht, daß wir zuviel vom politischen Osten verlangen, wenn wir erwarten, daß er zu einer solchen Kooperation, die mehr wäre als technische und wirtschaftliche Kommunikation, überhaupt willens oder fähig sein könnte. Wenn es während der Dubcek-Zeit bereits als lebensgefährliche Bedrohung des tschechoslowakischen Sozialismus galt, daß der Bundesbankpräsident Prag einen Besuch abgestattet hatte, muß es über die Kraft Moskaus und aller in der Klammer der Breschnew-Doktrin festgehaltenen Regierungen gehen, den Westen — also auch die Bundesregierung — als Partner politischer, Übereinstimmungen zu akzeptieren. Ich meine deshalb, daß ich für die Schwierigkeiten und Unmöglichkeiten unseres östlichen Gegenübers — auch wenn ich ihre Ursachen als Schuld verstehe — mehr Verständnis habe als die Optimisten der nun schon nicht mehr ganz neuen Ostpolitik.
Das Interesse des Westens — also auch unser Interesse — erstrebt Auflockerung in den Ländern des Ostens. Moskau ist am Gegenteil, an Konsolidierung interessiert. Das bedeutet eine konträre Interessenlage. Soll die deutsche Ostpolitik, so wie sie vom Kabinett Brandt/Scheel betrieben wird, erfolgreich sein, dann setzt das voraus, daß Moskau sich verrechnet. Oder Bonn verrechnet sich — dann erreicht es das Gegenteil dessen, was es will, nämlich Konsolidierung des sowjetischen Imperiums, Befestigung der Breschnew-Doktrin, also eine Kräftigung dessen, was fast 25 Jahre lang auf unserer Seite allgemein als politisches Unglück erkannt wurde. Trotzdem halte ich den Versuch einer kooperativen Ostpolitik für unentbehrlich, um die-‘ ses politische Terrain aus dem Rätselraten herauszubringen, die quälenden Debatten um verpaßte Gelegenheiten zu beenden, unseren guten Willen sichtbar zu machen und zu beweisen. Wenn die Politik die Kunst des Möglichen ist, dann gehört dazu die Erkenntnis dessen, was unmöglich ist. Die Probe aufs Exempel mußte gemacht werden. Nur bestreite ich, daß sie so gemacht werden mußte, wie sie nun gemacht wird.
Aber darüber wird im weiteren Verlauf unseres Meinungsstreites noch gesprochen werden. Ich nehme an, Ihnen, Herr Jaene, schon mit dieser Einleitung genug Stoff zum Widerspruch geboten zu haben.
Hans Dieter Jaene:
Nicht nur zum Widerspruch, sondern auch zu Betrachtungen über das Mißverständnis in der Politik: Wenn das, was Sie, Herr Wal-den, für das Ziel der Ostpolitik des Kabinetts Brandt/Scheel halten, wirklich das Ziel wäre, dann könnte man es in der Tat nicht erreichen. Ich halte es — mit Ihnen — nicht für möglich, von Bonn aus eine Auflockerung in den Ländern des Ostens zu erreichen, an deren Ende der Abbau der Breschnew-Doktrin und das Ende des sowjetischen Imperiums steht. Da braucht man gar nicht erst die Probe aufs Exempel zu machen, von der Sie, Herr Wal-den, meinen, sie werde zeigen, daß dergleichen unmöglich sei. Ich konzediere hier sofort: Das ist unmöglich.
Wenn Sie sich einen Ausgleich mit den Völkern des Ostens nur vorstellen können, nachdem sich die Regierungen in Moskau, Warschau, Prag, Budapest und Ost-Berlin völlig gewandelt haben, dann ist Ihr Schluß zwingend, daß es zu keinem Ausgleich kommen kann. Die Frage ist nur, um Willy Brandt zu zitieren, ob wir mit Politik in Richtung Osten warten wollen, bis in Sankt Petersburg wieder das angestammte Herrscherhaus in seine Rechte eingesetzt ist. Aber im Ernst: Selbst wenn man zum Beispiel mit der Regelung der Oder-Neisse-Frage solange warten wollte, bis es in Polen eine freiheitliche par-
lamentarische Demokratie gibt, die es dort nie gegeben hat und die es wohl auch nie geben wird, eine Demokratie, die unseren strengsten Normen entspricht: sie könnte sich in der Grenzfrage keinen Deut anders verhalten als Polens kommunistische Regierung heute. Aber über den deutsch-polnischen Vertrag werden wir später wohl noch im Detail sprechen. Ich erwähne ihn hier nur, um die Meinung zu widerlegen, mit einer anderen polnischen Regierung könne man leichter ins reine kommen, was die Grenzfrage angeht. Aber ich möchte nun von der Theorie zu dem kommen, was wirklich ist — wenn der Ausdruck erlaubt ist: zu den Realitäten, wie sie sich heute darstellen. Die Sowjetunion ist fest entschlossen, und sie hat das in den letzten 25 Jahren wiederholt bewiesen, ihren im Krieg gewonnenen Machtbereich militärisch und ideologisch mit aller Härte abzusichern. Der Westen mit der Führungsmacht Amerika hat sie dabei immer gewähren lassen, ohne einzugreifen: 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei. Wenn also die Führungsmacht Amerika es nicht als ihre Aufgabe ansah, den Völkern Osteuropas irgendwie zu helfen, die sowjetische Vorherrschaft abzuschütteln, auch nicht in den Zeiten, in denen Amerika der Sowjetunion atomar überlegen war und Mittel zur Pression gehabt hätte, dann kann das heute gewiß nicht Zielvorstellung der Bundesrepublik Deutschland sein. Andererseits: Es kann auch nicht Aufgabe irgendeiner Bundesregierung sein, alle Gegebenheiten im sowjetischen Machtbereich völkerrechtlich anzuerkennen und damit von sich aus zu legalisieren. Denn das widerspräche ja dem politischen Ziel der Bundesrepublik, wie es etwa in dem Brief der Regierung Brandt/Scheel an den sowjetischen Außenminister gelegentlich der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages formuliert ist, nämlich „auf einen Zustand des Friedens hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Dieser Zustand soll ohne Gewalt oder Gewaltandrohung erreicht werden. Das Angebot eines Gewaltverzichts setzt ja begrifflich voraus, daß es Probleme gibt, die zur Zeit nicht zu lösen sind. Wenn die Bundesregierung völlig auf den Standpunkt der Sowjet-Regierung einschwenken wollte — oder umgekehrt —, brauchte man keinen Gewalt-verzicht. Wenn zwei Partner keinerlei Probleme miteinander haben, wäre es ja unsinnig, wenn sie erklärten, sie wollten zur Lösung nicht vorhandener Probleme keine Gewalt anwenden. Der Moskauer Gewaltverzichtsvertrag beschreibt also den Status quo, einschließlich der Tatsache, daß die Oder-Neisse-Grenze die Westgrenze Polens bildet und daß sie genauso unverletzlich ist wie die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Der Vertrag beschreibt das und sagt natürlich nichts darüber, ob das schön ist oder nicht, und ob es gerecht ist oder nicht. Die Beziehun-gen werden versachlicht. Und nun, nachdem beide Seiten sich verpflichtet haben, den territorialen Status quo nicht zu verletzen, wird die Suche nach Gebieten möglich, auf denen unter Respektierung des territorialen und politischen Status quo Verbesserungen für die Menschen zu finden sind. Das ist das wahre Ziel der Ostpolitik von Brandt und Scheel. Aber ehe ich aufzähle, was da alles möglich wird und schon möglich geworden ist, sollten Sie, Herr Walden, erst sagen, was Sie von dieser Beschreibung halten.
Matthias Walden:
Herr Jaene, ich halte diese Beschreibung für widersprüchlich. Wenn Sie es für ausgeschlossen halten, daß es in Polen jemals eine parlamentarische Demokratie geben wird, in Polen, für dessen Freiheit England und Frankreich in den Krieg zogen, wenn Sie außerdem die Entschlossenheit und die Möglichkeit der UdSSR, ihren Machtbereich ideologisch und militärisch abzusichern, für eine unbefristete Realität halten und deshalb einen Ausgleich mit den Ländern des Ostens ausschließen, der durch deren Auflockerung zustande kommt, dann sind Sie viel pessimistischer als ich und auch viel pessimistischer, als ich dachte.
Es ist für den Kreml seit Stalins Tagen bis heute immer schwieriger geworden, das Imperium mit Gewalt zusammenzuhalten. Obwohl die amerikanische, die französische und nun auch die deutsche Ostpolitik nahezu alles taten, um den Kreml wissen zu lassen, daß der Westen sich mit dieser Gewalt abgefunden habe, läuft die imperiale Maschinerie unrund und gestört. Die Stimmen der Kommandeure sind heiser geworden, die Garotten, mit denen Aufbegehrende gewürgt werden, rosten, die Taue, mit denen das Imperium zusammengehalten wird, sind morsch. Rumänien ging eigene Wege, die Beute der okkupierten Tschechoslowakei ist kein Gewinn, sondern eine Last, russische Schriftsteller geben, trotz Sibirien, nicht auf, die Gärungen in den kom-
munistischen Parteien der westlichen Länder zerstören die sowjetische Präzeptorenrolle.
Die einzige Chance der anachronistischen Gewalt scheint mir auf längere Sicht die Freiheitsmüdigkeit des Westens zu sein. Wer heute noch etwas Vitales über Freiheit hören Will, muß sich nach Osten wenden: Djilas, sinjawski, Solschenyzin, Sacharow, Togliatti ® seinem Testament, die Prager Studenten, die nur akustisch zum Schweigen gebracht wurden — signalisieren sie alle nicht auch Ihnen, Herr Jaene, daß die Unabänderlichkeit des tyrannischen Imperiums ein kleinmütiger Irrtum westlicher Leisetreter ist?.
Während Sie, Herr Jaene, einen freiheitlichen Wandel für die Länder des Moskauer Ringes ausschließen, sagte der sowjetische Ideologe Suslow nach der Unterzeichnung und vor der Ratifizierung des Moskauer Vertrages, der Westen „versuche vergeblich, die notwendige revolutionäre Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft von der Tagesordnung abzusetzen". Die wollen uns also revolutionär umgestalten. Sie, Herr Jaene, halten es aber für aussichtslos, Demokratie für jene Völker geltend zu machen, die mit Gewalt daran gehindert werden, für die Freiheit zu optieren.
Sie zitieren Willy Brandt. Ich kannte dieses Zitat nicht, in dem er fragt, ob wir warten sollen, bis in Sankt Petersburg wieder das angestammte Herrscherhaus in seine Rechte eingesetzt ist. Ich meine, das ist ein sehr mißratener Ausspruch des Kanzlers, denn zum Scherzen ist hier wohl kein Raum. Die Phantasie eines Demokraten sollte ausreichen, sich als Alternative zum Kommunismus etwas anderes vorzustellen als den Zarismus.
Aber zurück zur Wirklichkeit. Wenn ich auch Ihren Pessimismus nicht teile, Herr Jaene, und für die Zukunft mehr erwarte als einige technische Kontakte, kulturelle Kommunikation und menschliche Erleichterungen, um diesen recht unpräzisen, aber gängigen Begriff zu verwenden, so bin ich doch bereit, mit Ihnen unter den Vorzeichen Ihrer — wie ich meine — zu bescheidenen Erwartungen über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu diskutieren.
Wir sollten hier versuchen, Bilanz zu ziehen. Es kann natürlich nur eine Zwischenbilanz sein. Ich will das zunächst stichwort-artig tun: Die diplomatischen Beziehungen zu Rumänien, die Willy Brandt noch als Außenminister der Großen Koalition aufnahm, haben außer Komplikationen mit Moskau nichts eingebracht. Die Treffen von Erfurt und Kassel gingen aus wie das Hornberger Schießen. Junge Leute, die in Erfurt Willy Brandt hoch-leben ließen, wurden verhaftet und mißhandelt. Willy Stoph ging auf die Vorschläge des Bundeskanzlers überhaupt nicht ein. Als er in Kassel mit erheblichem protokollarischen Aufwand empfangen wurde, benützte er die ersten Minuten auf dem Boden der Bundesrepublik, den gastgebenden Staat zu beschimpfen. Er lehnte es ab, auf die zwanzig Punkte Willy Brandts einzugehen. Die Bereitschaft Ost-Berlins, nunmehr auf der sogenannten Experten-Ebene zu verhandeln, ist ein rein formaler Fortschritt. In der Sache gibt es keinen Erfolg, sondern das Gegenteil. Ost-Berlin beharrt auf seiner Forderung nach völkerrechtlicher Anerkennung, bezeichnet West-Berlin als inmitten und auf dem Territorium der „DDR" gelegen, bestreitet der Bundesregierung jedes Mitspracherecht für West-Berlin und mischt sich massiv in dessen innere Angelegenheiten ein. Soweit die Haltung des SED-Staates.
Der Moskauer Vertrag hat bisher keine Konzession Moskaus bewirkt und die Viermächtegespräche über Berlin lassen keinen Fortschritt in der Sache erkennen.
Dieser Negativbilanz stehen die Vorleistungen der Bonner Ostpolitik gegenüber: Die Bundesregierung erkannte mittlerweile die Zwei-staatlichkeit Deutschlands an, Willy Brandt sprach von der Ausübung von Hoheitsrechten durch die Regierung der SED, wo er selbst zuvor nur das Unrecht einer Diktatur gesehen hatte. Die DDR ist von ihren Anführungsstrichen und von sonst nichts befreit, obwohl der Kanzler noch vor drei Jahren gesagt hatte, diese DDR sei weder deutsch noch demokratisch und auch keine Republik. Für West-Berlin wurde die Preisgabe sogenannter demonstrativer Bundespräsenzen in Aussicht gestellt, die Demarkationslinien, die Deutschland teilen, wurden als europäische unverletzliche Grenzen anerkannt — ebenso die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze —, dem SED-Staat wurde die völkerrechtliche Anerkennung in Kassel als denkbar konzediert und Bonn winkt mit einer Fürsprache zugunsten einer Aufnahme jener DDR in die UNO, obwohl die Organisation der Vereinten Nationen doch zur Verteidigung der Menschenrechte gedacht ist und das SED-Regime den Menschen seines Machtbereichs die Selbstbestimmung vorenthält und weiter auf Flüchtlinge schießen läßt. Bleibt nur noch der Gewaltverzicht. Er wurde längst vor dem Moskauer Vertrag von der Bundesrepublik feierlich und verbindlich erklärt. Nun steht er also auch noch auf dem Papier. Von der Sowjetunion gegenüber der Bundesrepublik bedeutet er das Versprechen eines Bären gegenüber einem Goldhamster.
Ich wäre Ihnen deshalb dankbar, Herr Jaene, wenn Sie mir Erfolge im Sinne dieser Zwischenbilanz nennen könnten.
Hans Dieter Jaene:
Ja, gerne. Aber vorher bitte ich in einem wichtigen Punkt um Aufklärung. Sie sagten ganz am Anfang unseres Gesprächs, Sie zweifelten daran, daß ein Ausgleich mit den Völkern des Ostens in erkennbarer Zukunft mög. lieh sei, weil solch ein Ausgleich einen gründlichen Wandel des sowjetischen Systems voraussetze, und den hielten Sie für die erkennbare Zukunft nicht für möglich. Nun sagen Sie aber eben, sie seien nicht so pessimistisch, daß Sie die Entschlossenheit und die Möglichkeit der UdSSR, ihren Machtbereich ideologisch und militärisch abzusichern, für eine befristete Realität hielten. Sie sagten, die Unabänderlichkeit des sowjetischen Imperiums sei ein kleinmütiger Irrtum westlicher Leisetreter. Meine Frage ist nun: Glauben Sie, Herr Wal-den, für die erkennbare Zukunft an einen gründlichen Wandel des sowjetischen Systems, wie Sie eben sagten, oder glauben Sie nicht daran, wie Sie am Anfang unseres Gesprächs sagten?
Matthias Walden:
Herr Jaene, das ist keine Frage des Glaubens, sondern eine Frage der Meinung und der Überzeugung. Ich bin überzeugt davon, daß ein solcher gründlicher Wandel kommen wird, und ich meine, daß wir dabei mit langen Fristen rechnen müssen. In der erkennbaren, überschaubaren Zukunft wird dieser Wandel nicht vollzogen sein, eben weil wir die Fristen nicht kennen.
Aber daß er schon begonnen hat, ist für mich keine Frage. Denken Sie an Stalin, an die Entstalinisierung, an Chruschtschows Gulasch-kommunismus, an die These vom „Einholen und Überholen kapitalistischer Modelle", ja, man könnte sagen „Vorbilder", ohne diese Linie zu verfälschen. Auch der Prager Frühling gehört zu diesen Anzeichen, obwohl er unter Verhinderung eines politischen Sommers vom Winter der Besetzung abgelöst wurde. Hoffnungsvoll ist das trotzdem, was da mit so viel Vitalität aufgebrochen war. Das Moskauer Establishment wird sich natürlich — wie das auch bisher stets geschehen ist — gegen die einzelnen Phasen dieses Wandels wehren. Es wird immer wieder Rückschläge geben. Aber meine Überzeugung ist eben, daß am Ende reformerische oder auch revolutionäre Kräfte Freiheit, also den gemeinten Wandel, erzwingen, der bereits begonnen hat. Es ist kein Widerspruch dazu, wenn ich meine, daß die gegenwärtig herrschenden Vertreter des Regimes diesem Wandel entgegenstehen. Unsere Politik, die sich an sie wendet, stößt auf ungewandelte Gewalt. Eine Politik, die den gegenwärtigen Moskauer Status für die ultima ratio sowjetischer Möglichkeiten hält, ignoriert die bereits erkennbaren Alternativen. Sie bestä-tigt und stärkt das Bestehende und verzögert damit nach meiner Überzeugung den Wandel, statt ihn beschleunigen zu helfen.
Hans Dieter Jaene:
Zunächst halte ich die Annahme für falsch, daß Liberalisierungsprozesse in Diktaturen durch Druck von außen auf den Diktator oder die herrschende Gruppe gefördert oder beschleunigt werden. Ich sehe nicht, auf welche Erfahrungen Sie sich da stützen oder wie Sie sonst zu Ihrer Meinung kommen. Eine solche Politik hätte zur Voraussetzung, daß sich das westliche Lager einig ist. Die Amerikaner, auf die es da in erster Linie ankommt, sind zur Zeit dabei, auf den verschiedensten Ebenen mit den heute führenden Kräften der Sowjetunion zu verhandeln; die Franzosen bekräftigen immer wieder ihre Bereitschaft, mit der Sowjetunion, so wie sie heute ist, besser zusammenarbeiten zu wollen; auch die Engländer, die Italiener — nehmen Sie, wen Sie wollen: Ich sehe nicht, wie die Bundesrepublik Deutschland angesichts dieses Trends allein in der Konfrontation mit dem politischen Osten verharren sollte — und das auf nicht überschaubare Zeit, die ja nach Ihrer Theorie immer länger wird, weil sich das westliche Lager dazu herbeiläßt, mit den Leuten Abmachungen zu treffen, die heute im Kreml sitzen.
Man kann sich nicht nur durch Vorpreschen von seinen Bündnispartnern isolieren, sondern ebensogut durch Stehenbleiben, und das kann höchst gefährlich werden: Wir würden den Schutz des westlichen Bündnisses nur noch so beschränkt genießen, wie die Interessen der anderen es erforderlich machen, um einen Satz des Bundesaußenministers zu zitieren. Denn darin sind wir uns ja wohl einig: Die Sicherheit der Bundesrepublik steht und fällt mit ihrer Einbettung in die Politik des westlichen Bündnissystems. Es ist ein glücklicher Umstand, daß die Ostpolitik der Bundesregierung zugleich den deutschen Interessen und den Interessen des westlichen Bündnisses entspricht.
Und nun zu Ihrer Zwischenbilanz. Tatsäch-lich haben die diplomatischen Beziehungen zu Rumänien, aufgenommen vom Kabinett Kie-singer, Komplikationen mit Moskau gebracht. Man kann eben bei seiner Politik Moskaus wichtigsten Verbündeten, die DDR, nicht als hänomen aussparen, wie Kiesinger das wollte.
Die Treffen von Erfurt und Kassel sind keineswegs wie das Hornberger Schießen ausgegangen. Die SED steht jetzt unter dem Zwang, ihre Interessenlage in ihrem Bereich völlig neu überdenken zu müssen. Natürlich beharrt die SED-Propaganda auf alten Parolen, wenn der Ton auch schon etwas vorsichtiger geworden ist. Die Willy-Willy-Rufe von Erfurt sind ein Zeichen, das alle Welt, auch die östliche, gesehen hat, und auch die anschließenden Festnahmen hat alle Welt vermerkt. Jetzt will die SED verhandeln, ohne vorher zu vollziehende völkerrechtliche Anerkennung. Sie, Herr Wal-den, nennen das einen rein formalen Fortschritt. Für mich ist das nicht nur formal. Wie können Sie sagen, in der Sache gebe es keinen Erfolg? Die Verhandlungen haben ja noch gar nicht angefangen.
Der Moskauer Vertrag ist einstweilen eine Absichtserklärung. Ehe er ein Vertrag wird, der gültig ist, muß eine Regelung für Berlin gefunden werden. Mit Sicherheit hätten die Sowjets die Vertragsverhandlungen nicht aufgenom-men, wenn sie sich auf diesen Zusammenhang nicht eingerichtet hätten. Der Umkehrschluß gilt nämlich auch hier: Gibt es keine befriedigende Berlin-Regelung, tritt der Moskauer Vertrag nicht in Kraft. Wenn er in Kraft tritt, dann wird die Bundesrepublik, als Ausdruck des Gewaltverzichts, für den Sie, Herr Walden, ja auch sind, die Unverletzlichkeit von Oder-Neiße-Linie und DDR-Grenze feststellen. Verletzen kann man nur mit Gewalt. Ich weiß nicht, wie Sie da von Vorleistungen sprechen können. Ich sehe keinen Widerspruch darin, daß Willy Brandt in der DDR das Unrecht einer Diktatur sieht und zugleich sagt, die DDR sei ein Staat und übe Hoheitsrechte aus. Und warum soll die DDR, die auf Flüchtlinge schießen läßt, am Ende des Ausgleichs in Deutschland nicht auf die Menschenrechts-Charta der UNO festgelegt werden, indem sie UNO-Mitglied wird? Vielleicht wird am Ende dieses Prozesses nicht mehr auf Flüchtlinge geschossen? Ich weiß es nicht. Aber wenn man nach Ihrem Rezept, Herr Walden, bei der Konfrontation bleibt, wird mit Sicherheit weitergeschossen, und zwar auf unabsehbare Zeit.
Matthias Walden:
Verletzen kann man auch mit Worten, mit Haltungen. Es ist ein Unterschied, ob man darauf verzichtet, jemals physische, das hieße in diesem Falle militärische Gewalt gegen eine Grenze anzuwenden — wovon eben ohnehin nie die Rede sein konnte — und gleichzeitig solche Grenzen in Frage stellt, ja mehr noch, sie als Unrecht bezeichnet und am Ziel ihrer — friedlichen — Revision festhält oder ob man sie anerkennt. Das gilt besonders für die Zonen-und Sektorengrenzen.
Ich bezweifle, daß die Sowjetunion sich — als die Vertfagsverhandlungen begannen — darüber im klaren war, daß die Bundesregierung die Ratifizierung an eine Berlin-Regelung binden würde. So klar wurde das erst später gesagt. Aber auf die Berlin-Regelung kommen wir sicher noch.
Ich nehme zunächst einmal zur Kenntnis, daß auch Sie Erfolge der neuen Ostpolitik dieser Regierung in der Sache noch nicht geltend machen. Wir werden uns also im weiteren Verlauf unseres Dialogs auf die Aussichten, die Chancen und die Risiken beschränken können und müssen.
Es stimmt übrigens nicht, daß Kiesinger Beziehungen zu Ländern des kommunistischen Ostens aufnehmen und die sogenannte „DDR" dabei übergehen wollte. Er schrieb bekanntlich den ersten Brief an Willi Stoph.
Wie Sie darauf kommen, Herr Jaene, daß ich an eine Wandlung des Sowjetblockes unter westlichem Drude glaubte, ist mir rätselhaft. Ich habe das nicht gesagt, und ich meine das auch nicht. Daß wir uns der Konfrontation nicht entziehen können, meine ich allerdings. Diese Notwendigkeit ergibt sich — wenn wir uns nicht selber aufgeben wollen — allein schon aus der Existenz und aus der Beschaffenheit dieses Blockes. Freiheit und Zwang bestehen eben nun einmal nie nur nebeneinander, sondern auch immer — naturgemäß — gegeneinander. Die sogenannte „andere Seite" hat das jedenfalls begriffen. Ich bin auch nicht, wie Sie sagen, gegen den Versuch von Verhandlungen mit den Ländern des europäischen Ostens. Ich meine, wir müssen dazu immer bereit sein und damit beginnen, wenn eine Aussicht auf Erfolg erkennbar ist, und wir müssen vermeiden, diese Verhandlungen zu führen, indem wir die Forderungen der Gegenseite erfüllen, während wir darauf hoffen, daß sie uns das honoriert. Ihr Argument, daß ja unsere Verbündeten diese Linie verfolgen und wir uns deshalb nicht ausschließen könnten, überzeugt mich nicht. Deutschland ist in einer besonderen Lage. Es ist sehr viel mehr und direkter vom Ost-West-Konflikt betroffen als alle anderen. Jeder Fehlschlag würde uns Substanz kosten, unsere Verbündeten in den meisten Fällen nur Zeit. Das Motiv der Anpassung ist mir für die forcierte Ostpolitik der Bundesregierung einfach zu schwach.
Sie sagen, daß unsere Partner alle normale Beziehungen zur Sowjetunion und den Ländern ihres Machtbereiches anstreben. Normale Beziehungen zwischen Demokratien und kommunistischen Diktaturen wird es aber nie geben, weil es sie nicht geben kann. Die Anomalie der Gewaltherrschaft der Gegenseite verhindert das automatisch. Es könnte — im günstigsten Falle — weniger schlechte Beziehungen geben als jetzt. Aber darüber sprechen wir noch.
Nun zu Ihrem letzten Punkt. Ich bedaure, daß Sie es mir darin so sehr leicht machen, Ihnen zu widersprechen. Sie reden von einem Ende des Ausgleiches in Deutschland, obwohl Sie doch zu Anfang unseres Meinungsstreites davon ausgingen, daß es einen Ausgleich gar nicht geben kann. Gibt es ihn nun oder nicht? Aber unabhängig von diesem Widerspruch: Meinen Sie wirklich, der SED-Staat ließe sich auf die Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen festlegen? Formal gewiß. Ost-Berlin sehnt sich nach einem Sitz am East-river. Aber was hätten wir, was hätten unsere Landsleute drüben davon? Obwohl die Sowjetunion seit 25 Jahren auf die Menschenrechts-Charta der UNO festgelegt ist, hindert sie das nicht, die Menschenrechte zu ignorieren, zu provozieren, zu verletzten und sogar auszulöschen. Mitte November schlug der sowjetische Physiker Sacharow mit einigen seiner Kollegen die Gründung eines Komitees zum Schutze der Menschenrechte in der Sowjetunion vor. Welchen Anlaß hatte er, das zu tun? Sein Anlaß sind die physischen und geistigen Verbannungen der opponierenden Schriftsteller, die zur gleichen Zeit in den Straflagern saßen oder eintrafen oder auf ihren Prozeß warteten, als Willy Brandt und Walter Scheel in Moskau Kooperation anboten. Moskau war auch schon auf die Menschenrechts-Charta festgelegt, als es den Aufstand in Ungarn niederschlug und als es in die Tschechoslowakei einmarschierte. Und Sie glauben, daß sich Ost-Berlin auf die Menschenrechte festlegen ließe — und sie dann auch praktizierte, sonst hätte es ja keinen Sinn —, wenn wir ihm zum UNO-Entree verhelfen würden? Das ist mir unbegreiflich.
Sie sagen, wenn es bei der Konfrontation bliebe, an der Mauer mit Sicherheit weitergeschossen würde, anderenfalls aber vielleicht nicht. Herr Jaene, dort wird nicht geschossen, weil wir bisher die Kooperation versäumt haben, sondern weil die Menschen trotz der Mauer immer noch versuchen, wegzulaufen. Sie versuchen das nicht, weil es an Abkommen zwischen Bonn und Ost-Berlin fehlt, sondern weil sie es dort, wo sie sind, schrecklich finden und weil sie meinen, daß es hier besser ist. So einfach ist das leider. Und ich wünschte, Sie und ich könnten uns wenigstens auf dieses kleine Einmaleins der Probleme einigen. Hans Dieter Jaene:
Schön wäre es, wenn alles so einfach wäre, wie Sie, Herr Walden, das sagen: Da ist die östliche Welt, ein System des Terrors, mit deren Repräsentanten zu sprechen ohne jeden Sinn ist, und da ist auf der anderen Seite unsere Welt, freiheitlich-demokratisch, die gefälligst in der Konfrontation mit dem Ostblock zu verharren hat, bis drüben eines Tages, von dem man nicht sagen kann, wann er kommt, ein völlig neues System herrscht, mit dem man dann den großen Ausgleich macht. Und für diesen Ausgleich sind Sie. Auf dieses Grund-schema läßt sich doch reduzieren, was Sie in unserem Streitgespräch bisher gesagt haben, und von dieser Ihrer Einstellung ergibt sich natürlich, daß Sie alles ablehnen müssen, was jetzt schon, hier und heute, einen Modus vivendi zwischen Ost und West sucht.
Ihre Argumentation ist in sich vollkommen logisch. Sie ist nur im ganzen total unrealistisch. Was an Tatsachen nicht in Ihr Schema paßt, das leugnen Sie. Es ist zum Beispiel aktenkundig, daß Gromyko vom allerersten Augenblick an gewußt hat, daß der Bonn-Moskauer Vertrag nur in Kraft treten kann, wenn vorher eine befriedigende Berlin-Lösung gefunden ist. Sie, Herr Walden, sagen einfach, Sie bezweifelten das.
Idi empfehle Ihnen Gespräche mit Walter Scheel. Aber ich bin sicher, daß Sie nach den Gesprächen mit dem Verhandlungsführer, der Ihnen sagt, wie es wirklich ist, immer noch zweifeln werden, weil es einfach nicht in Ihr Schema paßt, nach dem die Bundesregierung nur Vorleistungen erbringt und dann, wie Sie sagten, auf die Honorierung ihrer Vorleistungen gläubig wartet.
Wenn ich Sie darauf verweise, daß unsere Verbündeten jetzt den Ausgleich suchen, und daß wir uns isolieren, wenn wir in der Konfrontation verharren, dann sagen Sie, das Motiv der Anpassung sei Ihnen für die forcierte Ostpolitik der Bundesregierung einfach zu schwach. Mein Argument, daß man mit seinen Verbündeten im Gleichschritt bleiben müsse, überzeugt Sie nicht. Ich bekenne, daß mir zu dieser Ihrer Antwort nichts mehr einfällt. Wie sollte die Bundesrepublik dann sicher leben, wenn sie sich von der Politik ihrer Verbündeten entfernt?
Und zu Ihrem kleinen Einmaleins der Mauer-Probleme: Sie haben recht, wenn Sie sagen, an der Mauer werde geschossen, weil Leute von st nach West wollen. Sie haben unrecht, wenn Sie sagen, Abmachungen zwischen Bonn nnd Ost-Berlin könnten daran nichts ändern, iel der Abmachungen ist es ja doch, Zustände zu schaffen, die eine Flucht vielleicht überflüssig machen, weil man normal reisen kann oder weil es drüben nicht mehr ganz so schrecklich ist. Das geht nicht von heute auf morgen, aber anfangen muß man doch einmal mit dem Versuch, Fluchtmotive und damit den Anlaß zur Flucht und zur Schießerei abzubauen.
Als Konrad Adenauer 1955 in Moskau war, da gab es ja ein paar Leute in seiner Delegation, die sagten, man dürfe keine diplomatischen Beziehungen mit Moskau aufnehmen, die deutschen Kriegsgefangenen müßten dann eben noch ein bißchen in der Sowjetunion bleiben. Adenauer hat die diplomatischen Beziehungen aufgenommen und die Kriegsgefangenen — Leute, von denen die Sowjets anfangs gesagt hatten, es gebe sie gar nicht, sondern es gebe nur Kriegsverbrecher — nach Hause geholt. Und nun erreicht Willy Brandt, daß die Deutschen aus Polen herauskommen können, indem er vertraglich feststellt, daß die Oder-Neiße-Linie die polnische Westgrenze bildet. Und mit Moskau macht man alles davon abhängig, daß vorher die Zukunft der Westberliner gesichert wird.
Wenn man Ihrem Konfrontations-Rezept folgt, Herr Walden, gehen sehr viele Menschen vor die Hunde oder bleiben doch dort, wo sie nicht leben wollen. Ich denke immer, und ich hoffe, daß Ihnen das nicht zu simpel klingt: Politik hat sich um die Menschen zu kümmern, die hier und heute leben. In der Konfrontation zu verharren und Rechtsstandpunkte hochzuhalten, um sie Leuten zu zeigen, von denen man weiß, daß sie sich darum überhaupt nicht kümmern — das, Herr Walden, ist eine inhumane Politik, falls es überhaupt Politik ist. Ich frage mich, weshalb Sie das nicht sehen können und warum Sie annehmen, daß eine Politik der Konfrontation auf nicht absehbare Zeit im Interesse der Deutschen liegt, die in West-Berlin leben, die in der DDR zu leben gezwungen sind und hinter der Oder und Neiße.
Sie halten am Ziel der friedlichen Revision von Grenzen fest, sagen Sie. Aber das tut die Bundesregierung doch auch, indem sie an ihrem Ziel festhält, die deutsche Einheit zu erreichen. Solange die Bundesrepublik besteht, sieht sie die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze an. Können Sie mir sagen, Herr Walden, welchen Sinn es hätte, wenn die Bundesregierung sich für eine friedliche Revision etwa zugunsten der DDR einsetzte, die das gar nicht will? Die Frage der friedlichen Revision kann sich doch erst nach Wiederherstellung der deutschen Einheit stellen. Und daß eine gesamtdeutsche Regierung an Verträge der Bundesrepublik nicht gebunden ist, hat das Kabinett eindeutig klargestellt. Matthias Walden:
Idi will ganz kurz antworten, damit wir zu konkreteren Einzelheiten kommen:
Ich meine allerdings nicht, daß wir mit unseren Verbündeten immer im „Gleichschritt" bleiben müßten, wie Sie sagen. Erstens ist mir das Bild zu militärisch und zweitens bestehen die Qualitäten eines demokratischen Bündnisses nicht in gegenseitiger Anpassung allein. Im übrigen ist es ja keineswegs so, daß alles, was in der Ostpolitik der Koalition geschah und geschieht, durch die Linie unserer Alliierten vorgezeichnet gewesen wäre.
Sie sagen, es sei Ziel der angestrebten Abmachungen mit Ost-Berlin, eine Flucht von Ost nach West durch normale Reisemöglichkeiten überflüssig zu machen oder durch den Versuch dazu beizutragen, daß es drüben nicht mehr ganz so schrecklich ist. Ihr an Gläubigkeit grenzender Optimismus macht es mir schwer zu antworten. Sobald normal, gereist werden könnte, würden die Leute zwar nicht mehr fliehen, aber es würden viele hier bleiben. Für den SED-Staat käme das auf eins heraus. Auch wenn es „drüben nicht mehr ganz so schrecklich" sein sollte, bliebe es dabei, daß noch viele es vorziehen würden, in Westdeutschland statt in der noch immer sowjetisch besetzten Zone Deutschlands zu leben. Eben weil es auch dann hier besser wäre. Solange das so ist, wird es keine Normalisierung geben. Die Normalisierung in Ihrem Sinne gäbe es nur dann, wenn beide Seiten gleichwertige Lebensbedingungen böten, und das wiederum scheint mir erst dann gegeben zu sein, wenn beide Seiten politische Freiheiten und ebenbürtige materielle Lebensbedingungen anbieten. Sie werden antworten, das sei eine unrealistische Erwartung. Damit haben Sie recht. Aber eben darum ist es ausgeschlossen, Abmachungen zu treffen, die das Prädikat der Normalisierung verdienen.
Sie fragen, ob ich es verantworten könnte. Deutsche, die in Polen leben, dort festhalten zu lassen, nur weil ich von der Fortdauer der Konfrontation ausgehe. Sie wissen, daß es in den sogenannten humanitären Fragen der deutsch-polnischen Beziehungen keine volle Übereinstimmung zwischen Warschau und Bonn gab. Die Zahlen beider Seiten differieren erheblich. Polen hat geltend gemacht, daß Hunderttausende bereits ausreisen durften. Das war also noch vor dem Vertrag möglich. Polen sagt jetzt, daß es nur noch Zehntausende seien, die auszureisen wünschten und auch Aussicht darauf hätten. Ich frage mich — und frage Sie —, was wäre dieses Warschau eigentlich für ein Partner, wenn es diese Menschen nur für das Lösegeld der Grenzanerkennung ausreisen ließe?
Im übrigen sind die Kompensationsobjekte, wenn man sie mal so nennen will, völlig un-gleichwertig. Das kann man auch sagen, wenn man die Schicksale einzelner nicht gering wiegt. Sie selbst würden, wie ich weiß, die Ratifizierung des Moskauer Vertrages auch nicht gutheißen, wenn es dafür nicht mehr als Passierscheine für Westberliner zum Besuch Ost-Berlins gäbe. Also ist es nicht angemessen, mein Verantwortungsbewußtsein anzuzweifeln, wenn ich den deutsch-polnischen Vertrag trotz der sogenannten „Information" Warschaus nicht für gut halte. Aber auch wer ihn für gut hält, könnte Schwierigkeiten haben, Walter Scheel zu verstehen, der, als alles unter Dach und Fach war, sagte, er sei „sehr glücklich". Mit Glück hat das, was er da paraphierte, ganz gewiß nichts zu tun, selbst dann nicht, wenn man es für unvermeidbar halten sollte. Ich möchte Sie nun gern fragen, welche ganz konkreten Ergebnisse der Ost-und Deutschlandpolitik der Bundesregierung Sie für möglich halten, wo Sie die Interessen-Übereinstimmung zwischen Moskau und Ost-Berlin auf der einen und der Bundesrepublik auf der anderen Seite sehen. Was wir gegeben haben, wissen wir. Ich wüßte nun endlich gern, was wir bekommen.
Hans Dieter Jaene:
Zunächst: Wir haben nichts gegeben. Idi will versuchen, Ihnen zu erklären, was bei der neuen Ostpolitik von Brandt und Scheel zu gewinnen ist, und ich will vorausschicken, was nicht zu gewinnen ist: Nicht zu gewinnen ist der von Hitler verlorene Krieg. Deshalb ist — leider — auch nicht zu gewinnen, was im Krieg aufs Spiel gesetzt und verloren wurde: die Ostprovinzen des Reiches und die staatliche Einheit der Nation. Das Neue an der Politik von Brandt und Scheel scheint mir nun zu sein, daß die Bundesrepublik nur noch für sich selbst spricht und handelt. Sie gibt also nicht vor, für die ganze deutsche Nation zu handeln, kann also auch nicht für die ganze deutsche Nation auf etwas verzichten. Sie könnte nur auf etwas verzichten, was sie, die Bundesrepublik, die 1949 entstand, tatsächlich hat: die Ostgebiete gehören nicht dazu. Die Bundesrepublik hat keinerlei Zuständigkeiten für Fragen, die Deutschland als Ganzes betreffen — so hat es Konrad Adenauer im Deutschlandvertrag unterschrieben. Diese Zuständigkeiten haben immer noch die Siegermächte. Die Bundesrepublik erkennt sich jetzt sozusagen selbst an in den Grenzen, die sie hat, und mit der beschränkten Souveränität, über die sie verfügt. Es zeigt sich nun, daß mit dieser Politik den Interessen aller Deutschen, gleich wo sie leben, viel besser gedient wird als mit der früher praktizierten Politik des verbalen Alleinvertretungsanspruchs für alle Deutschen. Im Warschauer Vertrag hat also nicht die ganze deutsche Nation auf ihre Ost-gebiete verzichtet, sondern die Bundesrepublik konstatiert, daß die Oder-Neiße-Linie die Westgrenze Polens bildet. Wer es nicht glaubt, der sollte einmal hinfahren — das wird nun sicher bald für viele möglich werden. Im Moskauer Vertrag hat die Bundesregierung gesagt, sie betrachte heute und künftig auch die Grenze zur DDR als unverletzlich. Will das jemand bestreiten?
Sie fragten, Herr Walden, was wir als Ergebnis der Ost-und Deutschlandpolitik der Bundesregierung bekommen werden:
Erstens: Die politische Integration West-Europas. Frühere Bundesregierungen proklamierten als Ziel bundesrepublikanischer Politik die friedliche Liquidation der DDR und die fried-liche Revision der Oder-Neiße-Linie. Können Sie mir sagen, Herr Walden, wie man daraus eine gemeinsame westeuropäische Außenpolitik in Richtung Osten entwickeln wollte? Sollten Frankreich, Italien, die Benelux-Länder und demnächst vielleicht noch andere Staaten das übernehmen? Es ist ganz gewiß kein Zufall, daß eine erste Einigung über eine gemeinsame Außenpolitik der EWG-Staaten erst nach Unterzeichnung des Moskauer Vertrages zustande kam.
Zweitens: Die Politik von Brandt und Scheel hält uns im Einklang mit der Ostpolitik unserer wichtigsten Schutzmacht, der Vereinigten Staaten von Amerika, und nur das garantiert uns den militärischen Schutz, auf den wir angewiesen sind.
Drittens: Die östliche Propaganda von der revanchelüsternen Bundesrepublik, die eine wichtige Funktion in der Außen-und besonders der Innenpolitik kommunistischer Staaten hatte, und das besonders in der DDR, ist nun nach dem Moskauer Vertrag nicht mehr möglich.
Man kann nur ahnen, was das an Umstellungen, Fragen und Problemen innerhalb kommunistischer Staaten mit sich bringt. Am Ende dieses Prozesses, der nun nach 20 Jahren Verkrustung langsam beginnt, wird vieles drüben anders sein. fettens: Nach der Unterzeichnung des Mosauer Vertrages hat sich die Sowjetunion erstmals bereit erklärt, mit den drei Westmächten über eine Viermächteregelung für Berlin und den Zugang zu West-Berlin ernsthaft zu verhandeln; denn sie weiß, daß ohne eine befriedigende Berlin-Regelung der Moskauer Vertrag nicht ratifiziert werden kann.
Fünftens: Die Maßnahmen unter dem Stichwort Familienzusammenführung werden nicht nur auf Deutsche in Polen beschränkt bleiben, sondern auch für den Bereich der DDR eingeleitet werden.
Ich wüßte überhaupt keine Alternative zu der Politik von Brandt und Scheel, wenn wir die politische Integration Westeuropas, die Sicherheit der Bundesrepublik und West-Berlins sowie die Zusammenführung von Deutschen nicht ernsthaft gefährden wollen.
Sie fragten, Herr Walden, weshalb denn Moskau und Ost-Berlin Interesse an solchen Regelungen hätten. Ob Ost-Berlin das hat, weiß ich nicht, aber Moskau hat es, und das genügt. Es will in diesen schwierigen Zeiten Ruhe an der Westgrenze seines Imperiums, und das läßt es sich etwas kosten: eine Berlin-Regelung, Familienzusammenführung, Abbau der Haßpropaganda, Zusammenarbeit mit Westeuropa über die Deutschen, um die Leistungen der Sowjet-wissenschaft endlich in Massenproduktion umsetzen zu können, womit ich aus dem Bereich der Wirtschaft nur einen Kernpunkt nennen will.
Matthias Walden:
Ich bin in der glücklichen Lage, Herr Jaene, Ihnen widersprechen zu können, indem ich Willy Brandt zitiere. Er hat nämlich immer gesagt, wenn man von der Eigenstaatlichkeit der „DDR" ausgehe, dann sei die Forderung nach einer Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik sinnlos, weil wir ja dann gar keine gemeinsame Grenze mit Polen hätten. Wenn Sie also jede Zuständigkeit der Bundesrepublik für ganz Deutschland bestreiten, dann plädieren Sie für die Anerkennung einer Grenze zwischen zwei kommunistischen Staaten. Das ist nicht logisch.
Ich meine allerdings, daß die Bundesrepublik sogar durch ihre Verfassung auf ganz Deutschland verpflichtet ist. Aber das sollten wir jetzt nicht ausführlicher behandeln. Bleiben wir bei den fünf Erfolgspunkten, die Sie der neuen Ostpolitik kreditieren:
Erstens: Sie meinen, es sei kein Zufall, daß eine erste Einigung über gemeinsame europäische Außenpolitik nach dem Moskauer Ver35 trag zustande gekommen sei. Zunächst: Es gibt noch keine Einigung über eine gemeinsame europäische Außenpolitik. Sie wird erst angestrebt. Außerdem ist der Gewaltverzicht nichts neues. Ihn gab es als Basis europäischer Übereinstimmung schon seit langem. Ich kann auch nicht erkennen, warum es die westeuropäische Integration behindern sollte, wenn die Bundesrepublik die Entscheidung über die Oder-Neiße-Linie aufgeschoben hätte, wie es die Siegermächte in Potsdam beschlossen hatten, und wenn sie die Teilung Deutschlands inklusive der Grenzen dieser Teilung weiter angefochten haben würde. Gerade darin waren wir uns ja bisher mit unseren Verbündeten — bis in die Vertragstexte hinein — einig.
Zweitens: Daß die Ostpolitik von Willy Brandt und Walter Scheel uns im Einklang mit Amerika hält und damit den militärischen Schutz der USA allein bewahrt, ist eine kühne Behauptung. Aber sie ist eben nur kühn. Denn der amerikanische Schutz war zu keiner Zeit weniger in Frage gestellt als zur Zeit Adenauers. Wer die Gewaltverzichtsverträge ernst nimmt, muß ja doch eigentlich fragen, ob dann die Stationierung amerikanischer Truppen in Deutschland und in Europa überhaupt noch nötig ist. Wer diese Notwendigkeit bejaht, zieht den Wert der Ostverträge in Zweifel. Und gerade das wollen Sie doch gewiß nicht.
Drittens: Die östliche Propaganda von der Gefährlichkeit der revanchelüsternen Bundesrepublik ist selbstverständlich trotz der neuen Ostpolitik Bonns möglich. Das war bisher eine Lüge und es wird auch eine bleiben. Die SED hat es bereits vorgeführt, wie sie trotz Erfurt und Kassel, trotz Moskau und Warschau daran festhalten kann. Es sind ihr und den anderen einige Vorwände entzogen worden. Sie wird neue erfinden und sie hat es schon getan.
Viertens: Die Sowjetunion hat sich zum ersten-mal seit zwanzig Jahren bereit erklärt, mit den Westmächten über eine Berlin-Regelung zu verhandeln, sagen Sie. Das ist nicht richtig. Chruschtschow hat das schon angeboten, als er sein Freistadt-Konzept feilhielt. Das Traurige an dem, was Sie für ein neuartiges Entgegenkommen halten, ist nun leider, daß Botschafter Abrassimow in der gleichen Richtung verhandelt. Alles, was da bisher geschah, läuft auf den Versuch Moskaus hinaus, den Status West-Berlins — vor allem, was seine Bindungen an den Bund betrifft — zu verschlechtern. Man muß schon ein Verhandlungsfetischist sein, um auch dann noch von einem Vorteil zu sprechen, wenn der Verhandungspartner hart gegen die Interessen operiert, die man selber in diesen Verhandlungen hat.
Fünitens: Zur Familienzusammenführung. Polen sagt, es habe 400 000 Deutsche vor den Warschauer Vertragsverhandlungen ausreisen lassen und es seien überhaupt nur noch einige Zehntausend dort. Ost-Berlin hat bisher nicht zu erkennen gegeben, daß es den Moskauer Vertrag im humanitären Bereich honorieren wird. Das ist Ihre Hoffnung, Herr Jaene, aber keineswegs ein meßbarer Erfolg der Bonner Ostpolitik.
Nichts von dem, was Sie am Schluß aufzählten, ist bisher durch die neue Ostpolitik gewonnen worden: eine Berlin-Regelung, Abbau der Haßpropaganda und Familienzusammenführung. Nur in einem Punkte sind Sie der Wirklichkeit nahegekommen: Moskau wünscht wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Es möchte an der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik profitieren. Wären wir daran interessiert, der UdSSR von ihren immensen Rüstungslasten etwas abzunehmen und die ökonomischen Schwächen des Systems durch die Überlegenheit des unsrigen zu kompensieren, dann sollten wir da zugreifen — oder richtiger gesagt: dann sollten wir die Sowjetunion zugreifen lassen. Da aber alles an der Berlin-Frage zu hängen scheint, möchte ich Sie, Herr Jaene, gern fragen: Wäre denn für Sie eine Berlin-Regelung akzeptabel, bei der Ost-Berlin die souveräne Kompetenz für die Kontrolle des zivilen Verkehrs auf den Verbindungswegen bekäme, West-Berlin zur selbständigen politischen Einheit erklärt würde und die Bundesrepublik jede politische Bindung an West-Berlin zu lösen hätte? Denn das ist es ja, was uns vom Osten offeriert wird.
Hans Dieter Jaene:
Natürlich ist das, was Sie da als Elemente einer Berlin-Regelung aufzählen, keinesfalls akzeptabel.
Zu einer akzeptablen Berlin-Regelung gehört erstens, daß in einer Viermächte-Vereinbarung die Anwesenheit der Westmächte in ihren Berliner Sektoren von der Sowjetunion akzeptiert und die Rechtsgrundlage dieser Anwesenheit nicht mehr in Zweifel gezogen wird. Zweitens gehört zu einer Berlin-Regelung, daß die vier Mächte eine Ordnung für den Zugang nach West-Berlin festlegen, die keine Schikanen mehr zuläßt, sondern die sich beim Personenverkehr auf Identitätskontrolle beschränkt und die beim Warenverkehr von verplombten Fahrzeugen ausgeht — dieses, wie gesagt, als Viermächte-Abmadiung. über technische Ein-zelheiten könnten dann die Deutschen sprechen. Aber was sie abmachen, muß von den vier Mächten garantiert werden.
Zu einer akzeptablen Berlin-Regelung gehört drittens, daß die Sowjetunion aufhört, den Westmächten vorschreiben zu wollen, welche Aktivitäten der Bundesrepublik sie in ihren Berliner Sektoren zulässen dürfen. Umgekehrt wird man der Sowjetunion dann zugestehen müssen, daß sie auch diejenigen DDR-Aktivitäten in ihrem Berliner Sektor zulassen kann, die sie für richtig hält. Trotzdem bleibt Berlin eine Stadt unter Viermächte-Verantwortung, allerdings mit weitgehenden Rechten der vier Mächte in ihren Sektoren.
Viertens gehört zu einer Berlin-Regelung, daß die Einwohner West-Berlins beim Besuch Ost-Berlins und der DDR nicht anders behandelt werden dürfen als etwa die Westdeutschen. Wenn eine solche Viermächte-Regelung zustande kommt, und Sie wissen, Herr Walden, daß davon die Ratifikation des Moskauer und des Warschauer Vertrages abhängt, dann könnte ich mir freilich vorstellen, daß die Westmächte den Katalog der Bundesaktivitäten, die sie in West-Berlin zuzulassen wünschen, neu überdenken werden. Das werden wir abzuwarten haben. Es ist Sache der drei Westmächte, und wir Deutschen werden uns dann danach zu richten haben. Ich halte es für wenig sinnvoll, daß wir Deutschen unseren Verbündeten in diesem Punkt öffentlich Änderungsvorschläge machen.
Nun doch noch ein paar Anmerkungen zu Ihrer'Kritik, Herr Walden, an dem, was ich als Gewinn der Ostpolitik von Brandt und Scheel bezeichnete, und zwar als Gewinn für alle Deutschen, wo immer sie leben. Wegen des Polen-Vertrages wiederholten Sie den alten Irrtum, daß eine Erklärung über die Integrität des territorialen Status eines Landes logischer-weise nur von den Anrainern dieses Staates erwartet werden könnte, und Sie meinten, da die Bundesrepublik nicht an Polen grenze, brauche sie auch die polnische Westgrenze nicht in einem Vertrag zu behandeln. Das ist falsch, und ich will versuchen, Ihnen das an einem erdachten Beispiel zu erläutern:
Könnten Sie sich vorstellen, Herr Walden, daß sich freundschaftliche Beziehungen zwischen Italien und der Bundesrepublik entwickeln würden, wenn die Bundesrepublik als politisches Ziel die Wiedervereinigung Südtirols mit Österreich proklamierte und Südtirol amtlich als zur Zeit unter italienischer Verwaltung bezeichnete? Wenn man das, was davon vergleichbar ist, mit dem westdeutsch-polnischen erhältnis vergleicht, werden Sie sehen, daß eine Respektierung der Grenzen Voraussetzung dafür ist, daß zwei Staaten ihre Beziehungen normalisieren, soweit das zwischen unterschiedlichen Gesellschaftssystemen möglich ist, selbst wenn die Staaten nicht aneinander grenzen. Es wäre noch viel zu Ihren Behauptungen zu sagen, aber nur noch eins: Sie meinten, wer Gewaltverzichtsverträge ernst nimmt, müßte sich fragen, ob die amerikanischen Truppen bei uns denn noch nötig seien, und wer die Notwendigkeit bejahe, ziehe den Wert der Ost-Verträge in Zweifel. Sollten Sie wirklich nicht Wissen, Herr Walden, daß völkerrechtliche Verträge von vorhandenen Kräfteverhältnissen ausgehen und die jetzt vorgesehenen Ost-Verträge so nicht möglich wären, wenn es die amerikanische Präsenz nicht gäbe?
Matthias Walden:
Herr Jaene, das weiß ich natürlich. Ich weiß sogar noch etwas mehr: daß unsere Sicherheit auf der Existenz der NATO und auf der Präsenz der amerikanischen Truppen beruht — und nicht auf dem Papier des Moskauer Vertrages. Ich weiß auch, daß es im Westen bei manchem Politiker ein Liebäugeln mit der so-genannten „Auflösung der Blöcke" gibt — und ich bin sicher, daß diese recht gefährlichen Neigungen durch die Ost-Verträge der Bundesregierung genährt werden dürften.
Der Vergleich mit Südtirol hinkt nicht nur, er hat ein Holzbein. Denn erstens wurde uns dort nie ein Rechtsvorbehalt eingeräumt und zweitens verlangt ja eben Italien von der Bundesrepublik keinen Vertrag, der die Grenze, die Tirol umschließt, anerkennt.
Herr Jaene, Sie haben das letzte Wort in diesem Streitgespräch, ich habe das vorletzte. Lassen Sie mich versuchen, meinen Standpunkt so kurz wie möglich zu resümieren:
Der Versuch, mit dem politischen Osten zu begrenzten, praktischen Übereinkünften zu kommen, war nötig und wurde allzu lange versäumt. Er ist bereits vor der Bildung der Großen Koalition begonnen, in der Großen Koalition fortgesetzt und von der gegenwärtigen Bundesregierung euphorisch vorangetrieben worden. Zu weit vorangetrieben worden, sage ich, denn es wurden die Hauptforderungen Moskaus, Ost-Berlins und Warschaus erfüllt oder ihre Erfüllung in Aussicht gestellt. Was wir bekamen, waren vage Andeutungen über ein Undefiniertes eventuelles Entgegenkommen. Es wurde Wandel durch Annäherung angestrebt. Neulich stand im Zentralorgan der SED, „Neues Deutschland": „Für Wandel kann man auch Aufweichung oder Sozialdemokratis-mus sagen." Wer sich in der kommunistischen Terminologie auskennt, dem sagt das genug.
Ende 1970 sind wir an einem Punkt angelangt, der das Gelingen der Ostpolitik der Bundesregierung an eine Berlin-Regelung bindet, die eine Revision der elementaren Grundsätze der östlichen Berlin-Haltung bringen wenn müßte, sie sollte. Eine solche Erwartung halte gelingen ich für unrealistisch. Als rote Ziffer — rot im doppelten Sinne des Wortes — steht für mich unter dieser Zwischenbilanz, daß Meinungen, Überzeugungen und Gesinnungen im deutschen Volk zerrissen wurden, die vor dieser Ostpolitik noch die große Mehrheit der Bevölkerung verbanden.
Wir erleben in der inneren Auseinandersetzung um diese Politik böse gegenseitige Klischierungen, Verdächtigungen, Denunziationen, Mißtrauen und Gegnerschaften, die zu Feindseligkeiten entarten. Für den politischen Osten bedeutet das eine willkommene Verzinsung des politischen Kapitals, das er bereits vereinnahmen konnte. Für uns bedeutet es Verarmung und Schwächung.
Ich halte es für eine trügerische Hoffnung, daß die Bundesregierung mit einer hauchdünnen parlamentarischen Mehrheit, mit einer zerklüfteten Volksmeinung und mit einem zynischen, unaufrichtigen Gegner im Osten, den sie wirklichkeitsfremd bereits für ihren Partner hält, zu etwas kommen sollte, was man mit Flug und Recht Erfolg nennen könnte.
Ich triumphiere darüber nicht, sondern ich beklage es. Denn daß wir alle in einem Boot sitzen, sollte uns spätestens, seitdem es leck geschlagen ist, klargeworden sein.
Hans Dieter Jaene:
Ich möchte zum Schluß ein Kanzlerwort zitieren: „Wir können und dürfen nicht davon ausgehen, daß nun bei den anderen plötzlich ein völliger Stimmungsumschwung gegenüber Deutschland eingetreten ist, daß vielmehr das Vertrauen nur langsam, Stück für Stück, wiedergewonnen werden kann." Und weiter: „Kann man, wenn man eine solche Vergangenheit hat wie wir und wenn die anderen Völker noch von tiefem Mißtrauen gegenüber dem deutschen Volk erfüllt sind, verlangen, daß die anderen einen Beweis für ihre europäische Gesinnung liefern müssen, und erklären: , Erst dann werden wir ratifizieren ? Man wird sich draußen sagen: Ist das nicht wieder diese deutsche Eigentümlichkeit, die immer nur bei den anderen die Schuld sucht, die nur für sich verlangt, aber nicht bereit ist, zu geben? Man muß auch einmal vergessen und einen anderen Weg einschlagen können." Hier enden die Zitate, sie stammen von Bundeskanzler Konrad Adenauer, und er sagte dies, als er gegen eine erbitterte Opposition für die Ratifizierung der Westverträge kämpfte. Man warf dem Kanzler damals vor, er erbringe Vorleistungen, er blockiere die Wiedervereinigung, und sein Tun sei verfassungswidrig. Adenauer sei „der Kanzler der Alliierten", sagte der damalige Oppositionsführer, und wenn die Oppositionsführer von heute sagen, Brandt beuge sich den Kremlwünschen, dann klingt das ja ganz ähnlich. Auch damals, als das Fundament zur Aussöhnung mit den westlichen Kriegsgegnern gelegt wurde, war die Volksmeinung dazu so zerklüftet wie heute, da nun das Fundament zur Aussöhnung mit den östlichen Kriegsgegnern gelegt wird. Mit dem Westen hat es viele Jahre gedauert, bis das Ziel, die Aussöhnung, erreicht war. Mit dem Osten wird es noch viel länger dauern, nicht nur, weil wir jetzt erst anfangen, sondern unter anderem auch deswegen, weil die Barriere unterschiedlicher Gesellschaftssysteme dazwischensteht. Die Geschichte hat dem Bundeskanzler Adenauer gegen seine innenpolitischen Gegner von damals recht gegeben, und sie wird auch dem Bundeskanzler Brandt rechtgeben. Wir müssen den Anfang jetzt machen, wenn wir eines Tages wirklichen Frieden haben wollen. Denn wirklicher Frieden zwischen Ost und West muß sein, sonst wird niemals aus dem Dunkel der Zukunft auftauchen können, was wir erhoffen: Daß die Deutschen in freier Selbstbestimmung ihre Einheit wiedererlangen.