Die Berufsposition eines Gesellschaftsmitglieds, dessen Selbstbewertung immer die Bewertung durch andere widerspiegelt, gilt heute als eines der Hauptkriterien seiner sozialen Einschätzung durch die Mitmenschen. An die jeweiligen innerhalb einer Prestigehierarchie unterschiedlich plazierten Berufspositionen sind unterschiedliche soziale Normen geheftet, die sich als Erwartungen an das Verhalten des Betreffenden geltend machen — und zwar nicht nur als Erwartungen an sein Verhalten im eigentlichen Berufsbereich. Diesen Rollen-erwartungen, die keine totalen Verhaltens-fixierungen vornehmen, sondern den Verhaltensspielraum mehr oder weniger scharf abgrenzen, kann sich kaum einer entziehen. Sie sind mit negativen Sanktionen (Strafen bei Nichterfüllung), aber auch positiven Sanktionen (Belohnungen bei Erfüllung) verbunden. Dabei ist der Grad der Fremdbestimmung der unterschiedlichen Rollen in unserer Gesellschaft höchst verschieden: Die gesellschaftliche Macht eines „Rollenspielers" drückt sich in dem Maße aus, in dem er anderen gegenüber die eigene Rolle als verbindlich festsetzen und den anderen ihr Drama vorschreiben kann
Wie steht es mit der Bewertung und dem Inhalt der Rolle des Schriftstellers in der bundes-republikanischen Gesellschaft? Unter Schriftsteller soll hier verstanden werden der „qualifizierte", sich hauptsächlich belletristisch (keineswegs im Sinne eines unpolitischen Schön-geistes) betätigende Autor im Unterschied zum Verfasser von Trivialliteratur oder von Sachbüchern. Akzeptiert man ihn in seinem Beruf und trägt man Erwartungen an ihn heran — eine Bedingung seiner gesellschaftlichen Integration? Kann er die soziale Rolle, die ihm vorschwebt, durchsetzen? Die soziale Verortung eines Gesellschaftsmitglieds, die Rolle, die ihm zugemutet wird oder die es sich selbst geben kann, prägt seine Vorstellung von und seine Einstellung zur gegebenen Gesellschaft—wie umgekehrt seine Vor-und Einstellungen seine gesellschaftliche Verortung beeinflussen. Die folgende kurze Rollenanalyse des Schriftstellers soll einen Beitrag liefern zur Beschreibung seiner prekären sozialen Situation in der bundesrepublikanischen Gesellschaft.
I. Rollenerwartungen an den Schriftsteller
Allen einschlägigen empirischen Untersuchungen zufolge ist die Ausbildung eines Menschen die zentrale Variable für sein Leseverhalten
Befragungen dieser Leser ergeben heute, daß sie im Durchschnitt nicht wissen, wen sie lesen, dafür aber, wovon sie lesen. An den Namen des Autors ihres Lesestoffes bzw. an sein Pseudonym erinnern sie sich in der Regel nicht, eher noch an den Titel, ganz bestimmt aber an den Helden ihrer Traumwelt und seine Konstellationen, die sie mit ihm und in ihm durchlebten. Das läßt die Vermutung zu, daß es heute für sie den Schriftsteller als einen in der und für die Gesellschaft Produzierenden so gut wie gar nicht gibt, daß sie Erwartungen nicht an den Schreiber, sondern nur an Geschriebenes richten, welches ja, wie die Ankündigung gewöhnlich suggeriert, „das Leben selber schrieb". Für einen Leser von Trivial-literatur, der vergißt, daß er liest, der eins wird mit dem Helden, der mit dem Lesen Realität unmittelbar vollzieht anstatt sie als falsch oder richtig, gut oder schlecht gestaltet und vermittelt erkennt
Von einem beträchtlichen Teil der Gesellschaftsmitglieder erfahren die Schriftsteller offensichtlich keine Rollenerwartungen. Was die qualifizierten Autoren anbelangt, so werden sie nicht etwa gering eingeschätzt als Folge der Nichterfüllung eines Rollenansinnens, etwa im Sinne der Traumfabrikation, sondern ihnen wird gar kein Status, gar keine Funktion zugeteilt. Man kennt sie nicht und weiß höchstens von ihnen, die Arbeitszeit und Freizeit nicht trennen können, daß sie nicht „richtig" arbeiten und demnach so etwas wie Parasiten sein müssen.
Hinsichtlich der Selbstfindung und Selbstbewertung eines Gesellschaftsmitglieds wiegt ge-sellschaftliche Isolierung im Sinne einer sozialen Standortlosigkeit sicher schwerer als eine nur niedrig bewertete Position, die einem zumindest das meist erwiderte Gefühl der gesellschaftlichen Zugehörigkeit gestattet. Sind demgegenüber die bücherlesenden Schichten den Schriftstellern bei ihrer Statussuche behilflich? 2. Erwartungen der Bildungsoberschichten Bis heute scheint die sogenannte Allgemeinbildung, die in beträchtlichem Ausmaß literarische Bildung beinhaltet, als Integrationsfaktor und gemeinsames Statussignum der Gesellschaftsmitglieder zu fungieren, die sich einerseits durch die Qualifikation ihrer Berufe vom gesellschaftlichen Durchschnitt abgehoben wissen, andererseits aber durch die zunehmende Spezialisierung ihrer Berufe von ihren rang-gleichen Statusgenossen entfremdet fühlen. In dieser Allgemeinbildung erkennt und honoriert man sich als Seinesgleichen und grenzt sich gleichzeitig nach unten ab.
Für einen täglich feiertäglichen Gebrauch einer literarischen Bildung, die statussymbolisierend als „Schleppsäbel akademisch ausgebildeter Experten"
Hier ist es nötig, einen Blick auf die Kulturvermittlungs-(und Statusverteilungs-) Instanz Gymnasium zu werfen, insbesondere den Deutschunterricht, der, seit der Weimarer Zeit nicht wesentlich verändert und erst seit kurzer Zeit ein Begleitthema der Schulreform, für viele die erste und letzte Beschäftigung mit belletristischer Literatur bringt — Erwachsene, die aus der Literatur zitieren, zitieren damit meist auch ihre Schul-und Jugendzeit — und das Bild des Dichters meist für ein Leben lang prägt. Zwei unterschiedliche, aber aufeinander angewiesene Aspekte bestimmen offensichtlich das teilweise bis heute vom Deutschunterricht vermittelte Bild des Dichters, Aspekte, die in ihrer eigentümlichen Verbindung auch in die heutige bildungsbürgerliche Rollenzumutung an den lebenden Schriftsteller eingehen. Schlagwortartig ausgedrückt bestimmt das Bild des Dichters einerseits die Vorstellung einer vom Fluidum der Irrationalität umgebenen Individualität, einer gesellschaftlich exterritorialen Einzelpersönlichkeit, die Frei-heit und gleichzeitig, beinahe beängstigend, Einsamkeit und existentielle Problematik signalisiert, andererseits die Vorstellung einer abgeklärten, zeitenthobenen Monumentalität, die, von der Kulturgeschichte selig gesprochen, in einer Art von „ divinatorische(m) Verhältnis . . . zur Wahrheit"
Es würde hier zu weit führen, zu diskutieren, inwieweit in der Schule, auf dem Wege über Dichterautoritäten, Folgsamkeit und andere, evtl, lebenslängliche Tugendmuster eingeübt werden, inwieweit die Schulklassik einschüchtert anstatt emanzipiert
Es macht die prekäre Situation dieser Narren aus, daß man einerseits von ihnen, aufgrund ihrer sozialen Außenseiterposition, die Wahrheit der „Unabhängigen" erwartet und daß man sie andererseits gerade als „Außenseiter" im Sinne von Inkompetenzen abqualifiziert, wenn sie, wie es bei den profilierten Schriftstellern heute meistens der Fall ist, mit ihren Wahrheiten die Grenze des Unverbindlichen überschreiten wollen. Indem die „kulturtragenden Schichten" ihre Hände schützend über die Schriftsteller halten und sie in einem gesellschaftlichen Naturschutzgebiet, im gesellschaftlichen Niemandsland ansiedeln, schützen sie sich und ihre Kultur selbst. Dabei halten sie heute die Schriftsteller und ihre Produkte weniger von sich selbst fern, als zumindest indirekt von den weniger privilegierten Schichten, denen gegenüber sie bis heute die Macht haben, über die verschiedenen Sozialisationsund Enkulturationsinstanzen ihren entpolitisierten Kulturbegriff durchzusetzen. Die Freiheit, die sie den Schriftstellern freiwillig zugestehen, ist die der Ohnmächtigen, derer, die nur dann anerkannt werden, wenn sie sich abschieben lassen. 3. Erwartungen der kontrakulturellen Eigen-gruppe Gesamtgesellschaftlich isoliert und frustriert, stillen viele Schriftsteller heute ihr Bedürfnis nach sozialen Kontakten, Resonanz, Anerkennung und Solidarität in „Schutz-Cliquen", in die sie sich mit ihren kontrakulturellen literarischen Konzeptionen zurückziehen
In seiner Rolle als Literaturproduzent ist also der Schriftsteller auch in seiner Eigengruppe, die bisher inmitten der großen Gesellschaft von Ignoranten oder Abweisenden die Hauptstütze seiner sozialen Identität war, verunsichert. Die soziale Isolierung der Schriftsteller im Sinne des Fehlens einer gesellschaftlichen Status-und Funktionszuschreibung, im Sinne eines „überflüssig-" oder „Entbehrlichseins" ist fast total, ein Zustand, der u. a. wohl auch für ihre verbreiteten seelischen „Berufskrankheiten" verantwortlich ist, Wie steht es nun mit den Chancen der Schriftsteller, nicht wegen ihrer Tätigkeit sozial ausgesperrt, sondern mit dieser gesamtgesellschaftlich integriert zu werden?
II. Rollenangebote der Schriftsteller und die Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Integration
Schriftsteller, die nicht als Lieferanten von Dekorationen, sondern, wie die meisten heutigen, insbesondere jüngeren Autoren, bewußtseins-und gesellschaftsverändernd wirken wollen
Wie können Schriftsteller aus ihrer gesellschaftlichen Isolierung herausgelangen? Hauptsächlich dadurch, daß sie „ein Erfolg" sind. In diesem seltenen Fall steigen sie aus einer statuslosen Anonymität zu dem hohen, aber instabilen Individualstatus der Prominenz auf, der im Unterschied zum üblichen Positionsstatus nicht an Ausbildung und Herkunft, sondern an den einzelnen Namen gebunden ist. „Ruhm" ist die einzige soziale Belohnung, die der Schriftsteller heute erhalten kann. Nun bedeutet aber Erfolg zu einigen Teilen ein Zeichen der „Bewährung", des erwartungsgemäßen, „richtigen" Verhaltens. Wenn man davon ausgeht, daß der Großteil der Bücherleser seine Lesebereitschaft davon abhängig macht, ob er in seinem „guten Geschmack", seinem Recht auf festliche, mit einem Schuß von Schlüpfrigkeit versehene Unterhaltung und in seinem Bedürfnis nach Lebenshilfe und nach „konstruktiver" Kritik bestätigt wird, so wird erklärlich, daß kaum eines der „destruktiven", aggressiven Bücher der Literaturavantgarde, die selten ihre Leser ungeschoren lassen, auf den Bestsellerlisten erscheint. Ebenso erklärlich ist es, daß die Großverlage, die an der Ware Buch verdienen müssen, nur solche Autoren aufwendig „aufbauen" und mit ihnen den Markt monopolisieren, die dem größeren Leserpublikum die Illusion vermitteln, kulturell auf der Höhe ihrer modernen Zeit zu sein, und den Erfolg der meistgekauften Autoren mit deren „Qualität" erklären. Wer nicht annähernd so schreiben will, wie der Markt und seine Lücken es verlangen, bleibt entbehrlich.
Die oft leichtfertig geäußerte Vermutung, daß das soziale Entwurzeltsein des Künstlers, seine Unbehaustheit eine notwendige Voraussetzung seiner schöpferischen Originalität sei, zieht nicht in Betracht, daß es die heute mangelnde gesellschaftliche Nachfrage nach geistiger und handelnder Originalität ist, die diese in die sozialen Randbezirke verweist. Heute kann sich, sozial abgeschieden, Originalität, die immer eine Bedrohung der bestehenden Normen darstellt, trotz einer originalitätsfeindlichen Umgebung in gewissem Maße entwickeln. Es ist aber durchaus ein gesellschaftlicher Zustand denkbar, der, indem er sie nachfragend fördert, der „destruktiven" schriftstellerischen Originalität einen zentralen gesellschaftlichen Platz einräumt, sie also integriert, ohne sie dabei zu zerstören. Der Schriftsteller wäre sozial domestiziert, aber damit nicht zur Ruhe gebracht, sondern zur schöpferischen Unruhe aufgefordert, die durch Anerkennung belohnt wird.
Die Bereinigung der sozialen Situation der Schriftsteller setzt eine Veränderung der Gesellschaft, ihrer Wert-und Machtsysteme voraus. Mit seinem Wunsch aber, zu dieser Veränderung beizutragen, befindet sich der Schriftsteller als einzelgängerischer Literaturproduzent in einer fast ausweglosen Lage — und wenn er, wie Günter Grass auf der ersten Tagung des Verbandes deutscher Schriftsteller im November 1970, die goldenen Zeiten einer Integration, die nicht einfach Verdauung durch die Gesellschaft, sondern Veränderung in der Gesellschaft meint, nur deshalb schon heute für gekommen wähnt, weil Männer wie Heine-mann und Brandt zur Zeit an der Spitze des westdeutschen Staates stehen, so läßt sich diese Art euphorischer Wahnvorstellung eigentlich nur mit dem Frustrationsstau derer erklären, die früher als „Pinscher" (Erhard) tituliert, so schnell nicht aufhören werden, „im Gegensatz zu dem Lebensgefühl der breiten Schichten unseres Volkes" (Kiesinger im März 1969) zu stehen. Mit einem solchen Vorwurf gegenüber den Schriftstellern sprach Kiesinger sicher sehr viel eher im Namen eines Volkes, das unter langjähriger manipulativer Anleitung von oben dazu neigt, sein derzeitiges „Lebensgefühl" für das naturgegebene und damit einzig mögliche zu halten, als Brandt auf dem Schriftstellerkongreß, wo er den Schriftstellern die Funktion eines „kritischen Korrektivs" antrug und sie in seiner Eigenschaft als Politiker um Hilfe bat, „damit nicht abermals die Vernunft an der Ignoranz scheitert".
Walter Benjamin hat es, durchaus im Sinne der zeitgenössischen Autoren, als eine der vrich-tigsten Aufgaben der Kunst bezeichnet, „eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist"
Durch die Gründung des Verbandes deutscher Schriftsteller (Juni 1969) deutet sich längerfristig für die Autoren eine gewisse Möglichkeit an, ihre der Gesellschaft bisher vergeblich unterbreiteten Rollenangebote — im Sinne der Normendestruktion als einer Voraussetzung der sozialen Innovation — durchzusetzen, auch gegen die Statusinteressen derer, die ihre Ordnungsvorstellungen als allgemein gültig ausgeben können, die anstatt der von ihnen zu einigen Teilen verantworteten Gegenwart die gegenwärtige Literatur als anstößig empfinden. Die Gründung des Verbandes signalisiert „das Ende der Bescheidenheit" (Böll) — wobei das Wort Bescheidenheit Freiwilligkeit dort assoziiert, wo es hauptsächlich nur der aus dem Bedürfnis nach Selbstrespekt entspringende Euphemismus für die bisherige objektive Ohnmacht der Schriftsteller ist. Welche Form die notwendige „Einigkeit der Einzelgänger" (Böll) auch annimmt: Es wird für die Schriftsteller darauf ankommen, sich nicht durch die bereits angelaufenen Entschädigungsstrategien der Multi-Media-Konzerne pazifieren zu lassen, sondern die Grundlagen ihrer schriftstellerischen Rollenselbstbestimmung in der Gesellschaft zu legen durch die Erzwingung von Mitbestimmung