„The difiiculty lies, not in the new ideas, but in escaping from the old ones ..
John Maynard Keynes
Der Zuwachs des Sozialprodukts ist kein ausreichender Indikator
Hauptziel der den Zeitraum von 1971 bis 1980 umfassenden Zweiten Entwicklungsdekade der UN
Ausgehend von der Erkenntnis, daß man „von Wachstumsraten nicht leben kann", werden sich immer mehr Entwicklungspolitiker der Tatsache bewußt, daß das Wachstum weitgehend nur einer kleinen Oberschicht zugute kommt und kaum zu einer wesentlichen Veränderung der sozialen Struktur und einer gerechteren Einkommensverteilung beiträgt. Robert S. McNamara, der Präsident der Weltbank, erklärte in seiner Ansprache auf der Konferenz für Internationale Wirtschaftliche Entwicklung der Columbia Universität im Februar 1970, daß die Wachstumsrate des Sozialprodukts allein kein befriedigender Indikator für ein Entwicklungsprogramm dar-stellt. Professor Gunnar Myrdal bezeichnete im Herbst 1970 in der Paulskirche in Frankfurt die Wachstumsindikatoren als „statistisch außerordentlich zweifelhaft, und zwar sowohl in bezug auf die Definition der benutzten Begriffe als auch bezüglich des Primärmaterials". Ähnliche Thesen werden auch von anderen namhaften Wissenschaftlern vertreten
Der von dem Nobelpreisträger Professor Jan Tinbergen geleitete Ausschuß für Entwicklungsplanung der UN („Committee for Development Planning") hat in seiner Sitzung vom Januar 1970 die Bedeutung des Problems der Arbeitsbeschaflung unterstrichen. Die „Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze trägt zur Erzeugung und zum Wachstum bei. Ferner fördert sie eine gerechtere Einkommensverteilung und entspricht dem menschlichen Bedürfnis nach einer nützlichen und schöpferischen Tätigkeit und zur Teilnahme an den Aufgaben und den Vorteilen der wirtschaftlichen Entwicklung... Aus allen diesen Gründen hilft sie, die politischen und sozialen Spannungen zu vermindern."
Ebene von Prioritäten wie Erziehung und Ausbildung, Gesundheitswesen, Landwirtschaft und Wohnungsbau gestellt
Es ist nicht zu leugnen, daß die Entwicklung des Sozialprodukts trotz aller Problematik hinsichtlich der Definition und der Ermittlung der zugrunde liegenden Werte ein immer noch notwendiger Indikator für den Fortschritt ist. Länder mit hochentwickelten und effizienten Steuersystemen werden die Größenordnung des Sozialprodukts statistisch einigermaßen verläßlich erfassen können. In Entwicklungsländern jedoch fehlt es meist an einem wirksamen Steuersystem und damit an der wichtigsten statistischen Grundlage für die Ermittlung des Sozialprodukts. In jedem Fall steht fest, daß selbt ein wesentlicher Zuwachs des Sozialprodukts als solcher in einem Entwicklungsland nicht gleichbedeutend ist mit einer entsprechenden Verbesserung der allgemeinen Beschäftigungslage oder gar des Lebensstandards der breiten Massen. Wenn „das Unvermögen, geeignete Arbeitsplätze zu schaffen, die größte Tragik der Entwicklungshilfe ist" (so — übrigens in gewissem Widerspruch zu seiner sonst die Bedeutung des Wachstums eher zu einseitig unterstreichenden Tendenz — der Pearson-Repor „Partners in Development"
Die Arbeitsbeschaffung als eine der größten Herausforderungen
1: Gesamtbevölkerung Gesamtbevölkerung (in Mio.) Welt davon in Industrieländern Entwicklungsländern Südasien Ostasien Afrika Lateinamerika Ozeanien Welt davon in Industrieländern Entwicklungsländern Südasien Ostasien Afrika Lateinamerika Ozeanien Bevölkerung in arbeitsfähigem Alter (in Mio.) 1 Arbeitsfähige 2516 872 1 644 697 601 222 162 2 1 138 394 744 302 303 98 57 0, 8 2 997 994 2 003 865 704 273 212 2, 2 1 296 447 849 349 334 112 71 0, 9 3 597 1 110 2 487 1 107 810 346 283 2, 6 1 509 497 1ጐْ
1: Gesamtbevölkerung Gesamtbevölkerung (in Mio.) Welt davon in Industrieländern Entwicklungsländern Südasien Ostasien Afrika Lateinamerika Ozeanien Welt davon in Industrieländern Entwicklungsländern Südasien Ostasien Afrika Lateinamerika Ozeanien Bevölkerung in arbeitsfähigem Alter (in Mio.) 1 Arbeitsfähige 2516 872 1 644 697 601 222 162 2 1 138 394 744 302 303 98 57 0, 8 2 997 994 2 003 865 704 273 212 2, 2 1 296 447 849 349 334 112 71 0, 9 3 597 1 110 2 487 1 107 810 346 283 2, 6 1 509 497 1ጐْ
Auch wenn bei der Formulierung des Dokuments über die Zweite Entwicklungsdekade eine Gelegenheit verpaßt wurde, die Bedeutung der Arbeitsbeschaffung viel deutlicher herauszustellen, so kann es heute doch wohl als herrschende Ansicht angesehen werden, daß die Schaffung produktiver Arbeitsplätze angesichts der „Bevölkerungsexplosion" besondere Bedeutung hat und daß dieses Problem wohl eine der größten Herausforderungen an die Menschheit darstellt. Ohne Lösung des Arbeitsbeschaffungsproblems kann es keine gesamtwirtschaftliche Entwicklung geben, da Arbeitslosigkeit immer Armut und deshalb Stagnation bedeutet. Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und damit der Armut würde darüber hinaus fast automatisch auch weitgehend zu einer Lösung des Welternährungsproblems beitragen, das nicht nur ein technisches (Agrartechnik im weitesten Sinn sowie Ernährungserziehung), sondern mindestens ebensosehr ein Kaufkraftproblem darstellt
Viele Anzeichen sprechen dafür, daß das Problem der Arbeitslosigkeit spätestens ab Ende der siebziger Jahre ein Ausmaß erreichen wird, das sich heute nur wenige vorzustellen vermögen. Von den achtziger Jahren an könnte es einen katastrophalen Umfang annehmen.
Die unter Fortentwicklung der Theorie von John Maynard Keynes entwickelten Vollbeschäftigungskonzepte aus den dreißiger Jahren, welche auf dem Gedanken einer antizyklischen Wirtschafts-und Finanzpolitik beruhen, sind auf die meisten Entwicklungsländer gar nicht oder nur sehr beschränkt anwendbar, da ihre Arbeitsbeschaffungsprobleme nicht durch konjukturelle Schwankungen der wirtschaftlichen Aktivität verursacht werden, sondern durch strukturelle und technische Gegebenheiten, die noch durch die Bevölkerungsexplosion verschärft werden.
Von Regionalplänen zum Weltbeschäftigungsprogramm der ILO Die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization — ILO) hat das Beschäftigungsproblem in den vergangenen zehn Jahren immer zielbewußter in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gestellt, wobei von der Grunderkenntnis ausgegangen wird, daß die ernsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme der Entwicklungsländer zu einem großen Teil eine Folge ihres Unvermögens sind, den am reichlichsten vorhandenen Produktionsfaktor, nämlich das menschliche Arbeitspotential, voll auszunutzen. Von Jahr zu Jahr wird klarer erkannt, daß ein allgemeines Wachsen des Sozialprodukts als solches kaum zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen gerade der bedürftigsten Teile der Bevölkerung geführt hat, wie z. B.der landlosen und unterbeschäftigten Landarbeiter, der Landflüchtigen, die in die Außenbezirke der großen Städte abgewandert sind, und der arbeitslosen Jugendlichen.
Auf der
Der Kolumbien-Plan Im Rahmen desWeltbeschäftigungs-Programms beabsichtigt die ILO, detailliertere Studien in einer Anzahl von Entwicklungsländern durchzuführen mit dem Ziel, die Ursachen der Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung festzustellen und geeignete Maßnahmen zur Abhilfe vorzuschlagen. Eine erste, umfangreiche Studie dieser Art, die sich mit einem Arbeitsbeschaffungsprogramm für Kolumbien befaßt, wurde im Spätsommer 1970 veröffentlicht
Die ILO-Strategie Das Weltbeschäftigungsprogramm — ebenso wie der Kolumbien-Bericht der ILO — geht davon aus, daß man sich bei einer auf Schaffung neuer Arbeitsplätze ausgerichteten Poli-tik nicht darauf verlassen kann, daß die notwendige Zahl von Arbeitsplätzen als Nebenprodukt einer allgemeinen, auf Steigerung des Sozialprodukts ausgerichteten Entwicklungspolitik anfallen wird. Das Motto für die Planung in sämtlichen Entwicklungsländern könnte lauten: „Man plane für Arbeitsbeschalfang, und die nationale Entwicklung wird von selbst folgen.“
Die Schaffung von produktiven Arbeitsplätzen ist nicht nur als „Derivat“ des Zuwachses des Sozialprodukts anzusehen, sondern vielmehr Voraussetzung für dessen Wachstum und damit ein Entwicklungsziel „an sich".
Ging die bisher herrschende Meinung — auf einen stark vereinfachten Nenner gebracht — von dem Motto: Arbeitsbeschaffung durch Entwicklung aus, so setzt sich heute mehr und mehr die auch in dem ILO-Programm vertretene umgekehrte These durch: Entwicklung durch Arbeitsbeschaffung. In Wirklichkeit sind beide Thesen natürlich überpointiert, und es wäre — wie der Kolumbien-Bericht richtig sagt — eine „etwas falsche Alternative", etwa annehmen zu wollen, daß es sich im Grunde um „eine Wahl zwischen schnell wachsenden Einkommen und einem schnellen Beschäftigungsanstieg" handele
Auch wenn man das Beschäftigungsproblem in den Mittelpunkt der wirtschaftlichen Planung stellt, so darf das nicht im Sinne einer Rechtfertigung unwirtschaftlicher Produktionsmethoden verstanden werden. Nicht Beschäftigung als solche (krasses Beispiel frei nach Keynes: das Graben und Zuschütten von Erdlöchern), sondern produktive Beschäftigung muß das Ziel sein; das heißt, es muß versucht werden, Arbeitsplätze zu schaffen und gleichzeitig das Sozialprodukt durch erhöhte Produktion von Gütern und Dienstleistungen zu vergrößern.
Das Grundproblem der Verteilung
Tabelle 2: Beschäftigungsstruktur nach Sektoren Welt Industrieländer Entwicklungsländer Lateinamerika Süd-und Ostasien Nordafrika Andere Landwirt- schaft 67, 1 33, 3 77, 7 63, 4 76, 8 76, 0 80, 1 Industrie 14, 7 30, 5 8, 9 16, 1 10, 2 8, 3 7, 2 Dienstleistun-
gen 18, 2 36, 2 13, 5 20, 5 13, 1 15, 6 12, 8 Landwirt- schaft 61, 5 30, 7 75, 0 54, 1 75, 3 72, 9 78, 3 Industrie 16, 9 32, 9 9, 3 18, 6 8, 8 9, 7 8, 1 Dienstleistun-
gen 21, 7 36, 5 15, 7 27, 3 16, 0 17, 2 13, 6 Landwirt- schaft 58, 1 ጐْ
Tabelle 2: Beschäftigungsstruktur nach Sektoren Welt Industrieländer Entwicklungsländer Lateinamerika Süd-und Ostasien Nordafrika Andere Landwirt- schaft 67, 1 33, 3 77, 7 63, 4 76, 8 76, 0 80, 1 Industrie 14, 7 30, 5 8, 9 16, 1 10, 2 8, 3 7, 2 Dienstleistun-
gen 18, 2 36, 2 13, 5 20, 5 13, 1 15, 6 12, 8 Landwirt- schaft 61, 5 30, 7 75, 0 54, 1 75, 3 72, 9 78, 3 Industrie 16, 9 32, 9 9, 3 18, 6 8, 8 9, 7 8, 1 Dienstleistun-
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Klar formuliert ist der theoretische Kernpunkt im Kolumbien-Bericht: „Die Frage ist letztlich ein Problem der Verteilung ... Die eigentliche Bedeutung der chronischen Arbeitslosigkeit liegt darin, daß sie die Ursache für chronische Armut darstellt. Falls eine Wahl zwischen . Einkommen'und . Beschäftigung'zu treffen ist, wägt man in Wirklichkeit die Vorteile derjenigen ab, die sonst arbeitslos wären, gegen den potentiellen Fortschritt der übrigen Gemeinschaft. Die entscheidende Frage lautet, ob es vorzuziehen ist, das Einkommen und den Verbrauch der niedrigsten Einkommens-gruppen anzuheben, statt das Einkommen und den Verbrauch des übrigen Teils der Gemeinschaft. Wenn man . Einkommen'als eine Gesamtgröße ansieht, ohne zu fragen, wer gewinnt und wer verliert, und dann diese Gesamtgröße der . Beschäftigung'gegenüberstellt, so verfehlt man den Kernpunkt."
Die überragende Bedeutung der Anhebung des allgemeinen Beschäftigungsniveaus für die Förderung der allgemeinen Wohlfahrt ist offensichtlich. Das Dilemma besteht darin, ob und inwieweit eine Nation bereit ist, für dieses Ziel den Preis eines möglicherweise etwas verlangsamten allgemeinen Einkommensanstiegs zu zahlen
Der frühere Generaldirektor der ILO, David A. Morse, weicht allenfalls in Nuancen von diesen Thesen ab, wenn er es für den Fall eines* Konflikts zwischen einer auf Arbeitsbeschaffung ausgerichteten Entwicklungspolitik und dem Wachstumsziel als opportun bezeichnet, „sich mit etwas geringerem Wachstum zu begnügen, um das Beschäftigungsvolumen zu steigern. Damit würde man eine Methode des Wachstums wählen, die schnell neue Arbeitsplätze schafft und damit den Armen sofort greifbare Vorteile bringt, selbst wenn diese Methode nicht unmittelbar zum schnellstmöglichen Wachstum des Sozialprodukts führt. Zusätzliche Beschäftigung erstrebt nicht nur eine Produktions-und Einkommenssteigerung, sondern trägt auch zu einer gleichmäßigen Einkommensverteilung im Sinne des eigentlichen Ziels der wirtschaftlichen Entwicklung bei."
Kein Patentrezept Das Weltbeschäftigungsprogramm erhebt nicht den Anspruch, ein Patentrezept zu bieten. Die ILO geht in ihren Vorschlägen von der Kapitalknappheit in den Entwicklungsländern aus, der ein explosionsartig anwachsendes, ungenütztes Potential von Arbeitskräften gegenübersteht. Der Schwerpunkt für die Planung und Durchführung jedes Arbeitsbeschaffungsprogramms muß auf nationaler Ebene liegen. Entscheidende Voraussetzung ist, daß die einzelnen Regierungen den ernsthaften Willen haben, die Schaffung neuer Arbeitsplätze als ein Hauptziel bei ihren Bemühungen zur Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung anzustreben. Eine systematisch darauf ausgerichtete Politik setzt eine entsprechende Investitionsplanung und -förderung voraus, die bei jeder einzelnen Investitionsentscheidung die Prüfung der Arbeitsintensität zu einem wesentlichen Kriterium macht.
Das bereits zitierte Dokument über die Zweite Entwicklungsdekade
Von Fall zu Fall muß abgewogen werden, ob es nicht zweckmäßig ist, die reichlich vorhandenen Arbeitskräfte zu verwenden, statt knappes Kapital für den Ankauf (meist den Import) arbeitsparender, aber teurer Maschinen auszugeben. Es gibt natürlich Industriezweige (z. B. Stahl, Zement, Düngemittel, Erdöl-verarbeitung), die auch in einem Entwicklungsland überwiegend nur kapitalintensiv rationell arbeiten können. Andererseits bestehen aber — vor allem bei den Verarbeitungsindustrien — viel mehr echte Alternativen, als üblicherweise angenommen wird, und sie verdienen eine nüchterne Prüfung, bevor man sich, schematisch dem westlichen Beispiel folgend, für kapitalintensive Produktionsmethoden entscheidet. Dabei sollte von den volkswirtschaftlichen Kosten ausgegangen werden, die in vielen Entwicklungsländern nicht immer mit den betriebswirtschaftlichen identisch sind. Im Grunde müßten bei volkswirtschaftlicher Betrachtungsweise in jedem Kostenvergleich zwischen arbeits-oder kapitalintensiven Verfahren auch diejenigen „fixen Kosten" in Betracht gezogen werden, die in jedem Falle für Ernährung und Unterbringung der Arbeitslosen oder Unterbeschäftigten aufzubringen sind: Diese Kosten wären von den Kosten abzuziehen, die bei Anwendung arbeitsintensiver Produktionsverfahren, rein betriebswirtschaftlich gesehen, anzusetzen sind.
Bei einem Kostenvergleich zwischen hoch-mechanisierten und arbeitsintensiven Methoden wird häufig übersehen, daß die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung—vor allem bei Verwendung importierter Maschinen und Anlagen — durch verschiedene Faktoren zugunsten der kapitalintensiven und damit zu Lasten der arbeitsintensiven Methoden verzerrt sein kann, wie etwa durch besonders niedrig angesetzte Verzinsungsbedingungen oder auch die in vielen Entwicklungsländern übliche Festsetzung der Wechselkurse für Auslands-währungen auf einem zu tiefen Niveau. Solche Bedingungen verschleiern die „realen" Kosten und stellen einen künstlichen Anreiz zur Mechanisierung durch Verwendung eingeführter Maschinen dar. Kapitalintensive Erzeugungsmethoden werden vielfach auch durch Krediterleichterungen, Zulassung besonders günstiger Abschreibungssätze und durch sonstige steuerliche Befreiungen gefördert
Manche Länder verfolgen mit oder ohne gewerkschaftlichen Druck eine Politik der Festsetzung von Mindestlöhnen, die vielleicht den Maßstäben mancher Industrieländer entsprechen, aber in keiner Weise dem Über-angebot von Arbeitskräften Rechnung tragen, und sie scheinen überzeugt zu sein, schon damit gute Sozialpolitik zu betreiben. Zu hohe Mindestlöhne vergrößern nicht nur die Anziehungskraft der Stadt gegenüber dem Land, sondern verstärken auch die Tendenz, mehr Maschinen statt Arbeiter zu verwenden. Die Verwaltungsbürokratie mancher Entwicklungsländer setzt auch durch großzügige Bemessung ihrer eigenen Besoldung ein schlechtes Beispiel für das allgemeine Lohnniveau ihres Landes. Ein zu stark ausgebauter Kündigungsschutz begünstigt zwar die bereits Beschäftigten, kann aber einen Arbeitgeber veranlassen, die Zahl der Beschäftigten möglichst klein zu halten und verstärkter Mechanisierung und Überstunden den Vorzug zu geben. Wie der obenerwähnte Kolumbien-Bericht
Bevorzugung arbeitsintensiver Produktionsmethoden
Bei jeder Entscheidung über die zu wählende Produktionstechnik kommt es darauf an, ob sie in einer vollbeschäftigten oder in einer durch chronische (vor allem strukturelle) Arbeitslosigkeit belasteten Wirtschaft zu treffen ist. Im ersten Fall kann die Produktion nur durch Mechanisierung erhöht werden. In einem Land mit weitverbreiteter Arbeitslosigkeit dagegen kann — rein theoretisch gesehen — die Erzeugung entweder durch Steigerung der Produktivität des einzelnen Arbeiters (d. h. durch verstärkte Mechanisierung) oder durch Einsatz einer größeren Zahl von Arbeitern gesteigert werden. Das für entwickelte Länder selbstverständliche Produktivitätskonzept ist für Entwicklungsländer nicht ohne weiteres anwendbar, und insbesondere darf der Begriff „Entwicklung" nicht — wie es naiverweise oft geschieht — mit „Modernisierung" verwechselt werden. Der Kolumbien-Bericht erwähnt als Beispiele für eine volkswirtschaftlich gesehen problematische Mechanisierung die Verwendung von Komputern in manchen Banken in Bogta oder die Einrichtung von Supermärkten.
Trotz der erwähnten grundsätzlichen Gesichtspunkte wird in Diskussionen über das Thema der in den Entwicklungsländern zu verwendenden Technologie häufig als selbstverständlich unterstellt, daß für die Entwicklungsländer bei allen Neuinvestitionen im Prinzip nur die höchstentwickelte Technologie in Betracht komme. So vertrat z. B.der Vizepräsident der EWG, Mansholt, in einer Ansprache anläßlich des Zweiten Welternährungskongresses der FAO in Den Haag im Juni 1970 die Auffassung, daß seines Erachtens die Errichtung von kleineren Industriebetrieben in ländlichen Gebieten keine Lösung für das sich stellende Problem sei und daß auch in den Entwicklungsländern der Errichtung modernster Industrieunternehmen der Vorzug zu geben sei. Mansholt steht damit im Widerspruch zu der heute zunehmend in Fachkreisen vertretenen These, daß die Frage, welche Technologie für die Entwicklungsländer die geeignetste sei, nur von Fall zu Fall entschieden werden kann.
Die von Mansholt nicht näher erläuterte Auffassung kommt der von der UNCTAD (United Nations Conference for Trade and Development) vertretenen These nahe, daß das langsame Wachstum in den Entwicklungsländern in erster Linie auf äußere Faktoren zurückzuführen sei, die nicht von den Entwicklungsländern selbst zu verantworten wären
Der Drang der Entwicklungsländer zur Errichtung moderner, hochautomatisierter Anlagen ist psychologisch verständlich. Die modernen Kommunikationsmittel wie Film und Fernsehen haben dazu beigetragen, in vielen Ländern einen Nimbus der modernen Technologie zu schaffen. Dieser „DemonstrationsEffekt" pflegt in den reicheren Ländern angesichts der Kaufkraft der breiten Massen zu einer Veränderung der Konsumgewohnheiten zu führen. In den Ländern, wo es an ausreichender Kaufkraft fehlt, wirkt er jedoch frustrierend und verschärft die sozialen Gegensätze. Der „Demonstrations-Effekt" äußert sich nicht nur in der Veränderung von Konsum-wünschen, sondern beeinflußt auch die Vorstellungen und Wünsche hinsichtlich der für die Produktion anzuwendenden Technologie. Man möchte so schnell wie möglich die Sense durch den Mädrescher oder den Maulesel durch das Düsenflugzeug ersetzen und sich die z. T. mühevollen Phasen der industriellen Revolution der vergangenen zwei Jahrhunderte ersparen, bei der sich technische Verbesserungen mehr oder minder schrittweise durchsetzten. Ein allzu übereiltes Tempo könnte jedoch statt der erhofften Vorteile 'eicht ein soziales und damit politisches Chaos bringen und die moderne Technik zum Fluch latt zu einem Segen werden lassen
Die ILO hat im Rahmen des Weltbeschäftigungsprogramms die Forschung auf dem Gebiet der arbeitsintensiven Produktionstechnik zu einem ihrer Hauptarbeitsgebiete gemacht. Sie beabsichtigt, Versuchsprojekte in verschiedenen Ländern durchzuführen, wobei man auf die Unterstützung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UN Development Programme — UNDP) hofft. Man kann sich für den Einsatz der nicht allzu knappen Mittel von UNDP kaum eine bessere Verwendung vorstellen, insbesondere wenn man daran denkt, daß in der Vergangenheit viele der vom UNDP finanzierten Projekte in ihrer entwicklungspolitischen Effizienz doch sehr zweifelhaft waren. Auch Nahrungsmittel-hilfe des Typs, wie sie vor allem vom UN/FAO-World Food Programme seit Jahren für arbeitsintensive Projekte gewährt wird, könnte eine zusätzliche Finanzierungsquelle für solche Versuchsprojekte sein (Abgeltung von bis zu 50 0/0 des Lohnes in Form von Lebensmitteln)
Die bewußte Ausrichtung der Planung in den Entwicklungsländern auf Tausende kleiner und mittlerer arbeitsintensiver Investitionsobjekte ist bisher nicht die Regel. Sie ist eine außerordentlich schwierige Aufgabe, da sie die geduldige Bewältigung unzähliger Details voraussetzt. Bekanntlich geben viele Regierungen in ihrer Investitionsplanung und -forderung nicht selten aus Prestige-und anderen Gründen spektakulären — „photogenen" — Groß-projekten den Vorzug. All das macht es auf Empfänger-und Geberseite nicht einfach, einen wesentlichen, wenn nicht den Hauptteil der bilateral und multilateral gewährten Kapitalhilfe auf bescheidenere, dafür aber in ihren Auswirkungen auf die Dauer sicher mehr Erfolg versprechende mittlere, kleine und kleinste Investitionsobjekte zu lenken.
Vorrang der ländlichen Bezirke
Da in den Entwicklungsländern insgesamt noch über 70 °/o aller Arbeitenden in der Landwirtschaft tätig sind, kommt der Schaffung neuer Arbeitsplätze dort und überhaupt in den ländlichen Bezirken mindestens für die nächsten Jahrzehnte besondere Bedeutung zu. In einem dem FAO-Rat im November 1970 vorgelegten Dokument über die mittelfristige Planung der FAO
Technischer Fortschritt braucht in der Landwirtschaft nicht unbedingt gleichbedeutend mit einer Verminderung der Zahl der Arbeitsplätze zu sein. Die Verwendung von mehr Düngemitteln und mehr Schädlingsbekämpfungsmitteln stellt eine Form der Anwendung moderner Technik dar, bei der mehr (und nicht weniger) Arbeitskräfte benötigt werden. Ob die Verwendung besseren Saatguts, insbesondere der „hochertragreichen Sorten" (die zur sogenannten „Grünen Revolution" führte), positive oder negative Auswirkungen auf die Beschäftigungslage haben wird, kann heute noch nicht abschließend beantwortet werden. Die „Grüne Revolution" stellt trotz vieler noch offener technischer und wirtschaftlicher Fragen zwar einen entscheidenden Durchbruch für die Lösung des Problems einer schnellen Ertragssteigerung auf dem Getreidegebiet dar, man sollte aber vor übertriebenen Erwartungen warnen, soweit es sich um ihre Auswirkungen auf die Beschäftigungslage auf dem Lande handelt. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß angesichts der starken Ertragssteigerung der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft je produzierter Getreideeinheit zurückgeht und wohl kaum durch einen Mehrbedarf an Arbeitskräften für den größeren Aufwand und für die Bergung der größeren Ernten voll aufgewogen wird. Solange die „Grüne Revolution" dazu dient, bisherige Importe zu vermindern, kann der rückläufige Bedarf an menschlicher Arbeitskraft wahrscheinlich durch Steigerung der Gesamtproduktion kompensiert werden. Mit dem Erreichen der Selbstversorgung ist jedoch zu erwarten, daß der Gesamtbedarf an menschlicher Arbeitskraft für die Getreideproduktion rückläufig wird, außer wenn sich Exportmöglichkeiten bieten. Länder wie Indien und Pakistan sind sich dieser Probleme, die sich in den kommenden Jahren immer deutlicher stellen werden, bereits bewußt. Die Lage in den ländlichen Gebieten vieler Entwicklungsländer wird nicht so sehr durch Arbeitslosigkeit gekennzeichnet als durch Unterbeschäftigung, die freilich oft saisonbedingt und für die Lebensweise auf dem Land charakteristisch ist. Besondere Förderung verdienen daher arbeitsintensive Zweige wie Tierzucht, Forstwirtschaft, Fischerei, ferner Beund Entwässerungsarbeiten, die Verbesserung des gesamten Verarbeitungs-und Vermarktungssytems und die Errichtung von Genossenschaften. Unerläßlich sind auch strukturelle und institutionelle Veränderungen. Land-reform, verbunden mit einer Neuverteilung des Bodens, kann möglicherweise zusätzliche Arbeitsplätze schaffen.
Eine Diversifizierung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten auf dem Lande ist anzustreben, z B. die Förderung von Handwerk, Kleinindustrie, Erziehung, Gesundheitswesen, Haus-bau und Infrastrukturen.
Das Problem der Städte Das Arbeitsbeschaffungsproblem in den Städten ist von dem auf dem Lande nicht zu trennen, außer wenn sich eine Regierung (z. B. nach chinesischem Beispiel) zu einem Verbot des Zuzugs in die Städte entschließt und auch gewillt und in der Lage ist, ein solches Verbot durchzusetzen, also die Menschen mit Zwang dorthin zu treiben, „wo China Dich braucht"
Bei allen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in städtischen Gebieten sollte man aber die Erfahrungen nicht übersehen, die z. B. in Kenya und anderen Ländern Ostafrikas gemacht wurden. Eine Arbeitsheschaffungspolitik in städtischen Gebieten kann nur dann erfolgreich sein, wenn gleichzeitig durch Maßnahmen in den ländlichen Gebieten sichergestellt wird, daß nicht durch die Verbesserung der Lage in der Stadt eine noch über die schon bestehende Größenordnung hinausgehende Abwanderung vom Land ausgelöst wird
Größenordnung des Problems
Wenn es sich darum handeln würde, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten für einige Millionen oder selbst einige Dutzend Millionen Menschen neue Arbeitsplätze zu schaffen, könnte man vielleicht fragen, ob tatsächlich so durchgreifende Maßnahmen, ja eine völlig neue Ausrichtung der gesamten Entwicklungspolitik notwendig seien. Aber es handelt sich tatsächlich um ein Problem von einer so gewaltigen Größenordnung, daß man es nicht einfach als eines der vielen Probleme der Entwicklungshilfe betrachten und dementsprechend einordnen kann. Von seiner Lösung hängt das Schicksal von Hunderten von Millionen Menschen ab.
Nach den gegenwärtig bei der ILO und bei den UN verfügbaren Schätzungen über die vergangene und gegenwärtige Lage und die im nächsten Jahrzehnt zu erwartende Entwicklung ergibt sich hinsichtlich der Gesamtbevölkerung und der Zahl der Arbeitsfähigen („labour force") vorstehendes Bild (= Tabelle 1)
Auch wenn diese mit vielen Vorbehalten gegebenen Daten nicht auf die einzelne Million genau sein können und wollen, so machen sie immerhin den Ernst der Lage deutlich. Freilich sollte man sich bei der Würdigung der Angaben über die Zahl der Arbeitsfähigen nicht nur der bestehenden großen Definitionsschwierigkeiten und der besonderen Problematik einschlägiger statistischer Erhebungen in den Entwicklungsländern bewußt sein, sondern auch den Irrtum vermeiden, etwa die „Arbeitsfähigen" automatisch mit „Arbeitswilligen'gleichzusetzen. Angesichts der Sozialstruktur vieler Entwicklungsländer, ihrer klimatischen Verhältnisse und der von der westlichen häufig völlig verschiedenen Mentalität wäre das kaum realistisch.
Geht man von den in der obigen Tabelle (1) angedeuteten Größenordnungen aus, so wären zur Erreichung des Ziels der Vollbeschäftigung in der jetzt beginnenden Dekade in der Welt insgesamt nicht nur für die heute vorhandenen Arbeitslosen, sondern zusätzlich für die neu hinzukommenden etwa 280 Millionen Arbeitskräfte Arbeitsplätze zu schaffen. Davon entfallen nur rund 55 Millionen auf die Industrieländer, während die heute schon unter Arbeitslosigkeit leidenden Entwicklungsländer für etwa 226 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte sorgen müßten. Von diesen entfallen allein auf Asien rund 116, während sich Afrika und Lateinamerika in die verbleibenden reichlich 60 Millionen ziemlich gleichmäßig teilen.
Gegenwärtige Beschäftigungsstruktur Die für die Beurteilung der Lage wesentliche Beschäftigungsstruktur wird dadurch gekennzeichnet, daß der größte Teil der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig war und noch ist Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten geht in den Entwicklungsländern nur sehr langsam zurück. Die folgende, auf ILO-Material beruhende Tabelle zeigt die Entwicklung im Zeitraum von 1930 bis 1960
Umfang der Arbeitslosigkeit Es ist nicht einfach, den gegenwärtigen Umfang der Arbeitslosigkeit in den Entwicklungsländern aufzuzeigen. Die OECD schätzt die „offene" (im Gegensatz zur „versteckten") Arbeitslosigkeit in den Entwicklungsländern gegenwärtig auf durchschnittlich 10 °/o. Bei Einbeziehung auch der „versteckten" Arbeitslosigkeit („Unterbeschäftigung") neigen die meisten Untersuchungen zu der Annahme, daß gegenwärtig im Gesamtdurchschnitt mindestens 20 °/o des Arbeitskräftepotentials der Entwicklungsländer keiner produktiven Tätigkeit im westlichen Sinne nachgeht. Düster ist die Schätzung einer von Gunnar Myrdal geleiteten Gruppe von UN-Sachverständigen für Sozialplanung und -politik, die im September 1969 voraussagte, daß „Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung am Ende der kommenden Dekade leicht die Hälfte des Arbeitskräftepotentials der Entwicklungsländer treffen könnten, wenn dieses Problem nicht als solches angepackt wird" 33).
Audi wenn die über das Jahr 1980 hinausgehenden Schätzungen zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit spekulativen Charakter tragen, so läßt sich immerhin die mögliche Größenordnung des Problems indirekt einigermaßen andeuten. Den ILO-Schätzungen ist zu entnehmen, daß die Zahl der Arbeitsfähigen in den Entwicklungsländern bis zum Jahre 2000 auf 1, 7 Mrd. anwachsen wird, gegenüber 1 Mrd. heute und 1, 2 Mrd. im Jahre 1980. Unterstellt man, daß gegenwärtig 10 °/o der Arbeitsfähigen in den Entwicklungsländern arbeitslos sind (d. h. etwa 100 Mio.), so müßten von heute bis zum Jahre 2000 in den Entwicklungsländern zusätzliche Arbeitsplätze für etwa 800 Millionen Menschen geschaffen werden, wenn alle Arbeitfähigen in Arbeit und Brot gebracht werden sollen.
Radikales Umdenken nötig Die Erkenntnis, daß „die Arbeitslosigkeit in den Entwicklungsländern nicht nur ein Mißgeschick ist, das einem an sich gesunden Sozialsystem zustößt" (David A. More), setzt sich immer mehr durch, und die volle Bedeutung des Problems der Arbeitsbeschaffung in den Entwicklungsländern wird in zunehmendem Maße erkannt. Insbesondere hat der Entwicklungshilfeausschuß (DAC) der OECD durch seinen Vorsitzenden, E. M. Martin, den Ernst der Lage mehrfach hervorgehoben: „Es gibt keine größere Ursache für Unzufriedenheit und keine größere Verschwendung ... als einen Arbeiter ohne produktive Beschäftigung." Auch der Generaldirektor der FAO, A. H. Boerma, dem selbstverständlich bewußt ist, daß ohne Arbeitsbeschaffung auch das Welternährungsproblem nicht lösbar ist (wegen Fehlens der Kaufkraft
Aber trotz solcher und vieler anderer Stimmen kann noch immer nicht von einem wirklichen Durchbruch dieser Erkenntnis gesprochen werden. Wenn man sich wirklich entschließt, dem Arbeitsbeschaffungsproblem die höchste Priorität innerhalb der gesamten Entwicklungspolitik einzuräumen, dann scheint der Zeitpunkt gekommen zu sein, daß sich alle an der bilateralen und multilateralen Entwicklungshilfe Beteiligten, vor allem aber auch die Regierungen der Entwicklungsländer selber, einem radikalen Umdenkprozeß unterziehen. Im Rahmen einer solchen, einen tiefen Einschnitt darstellenden Überprüfung müssen sich — so bitter und unpopulär es auch sein mag — die Reichen und die Armen endlich von der Illusion freimachen, daß der wirtschaftliche und soziale Fortschritt der armen Länder eine Frage von nur wenigen Jahrzehnten sei und daß man mit Hilfe der modernen Technologie, das heißt, durch massiven Transfer modernster Technik, die lange Zeitspanne sozusagen überspringen könne, die die reichen Länder zu ihrer Entwicklung benötigt haben
Problematische Erziehungs-und Ausbildungsinvestitionen
Ausgehend von der im allgemeinen als gesichert anzusehenden Erkenntnis, daß Erziehung und Ausbildung im Rahmen jener wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung eine wichtige Rolle spielen, ist bei Gebern und Nehmern trotz vieler negativer Erfahrungen noch oft die irrige Annahme anzutreffen, daß Erziehung und Ausbildung schon als solche in jedem Fall und in jedem Ausmaß nützlich seien. In Wirklichkeit bedarf es für eine auf die Entwicklung, also auf die Arbeitsplatz-beschaffung ausgerichtete Strategie, auch eines wohldurchdachten Konzepts für die Erziehung und Ausbildung
Im Zwischenbericht über den „Asian Man-power Plan"
Die Bedeutung der Handelspolitik
Die Verantwortung der Geber ...
Bilaterale und multilaterale Geber von Entwicklungshilfe handeln falsch, wenn sie ohne ausreichende Prüfung der volkswirtschaftlichen Zweckmäßigkeit Hilfe für ausgesprodien kapitalintensive Projekte gewähren, wo im Einzelfalle eine arbeitsintensive Technik gesamtwirtschaftlich vorzuziehen wäre. Jede Entwicklungshilfeleistung — gleichgültig ob in der Form der Kapital-oder technischen Hilfe — sollte künftig in erster Linie davon abhängig gemacht werden, ob sie einen wirksamen Beitrag zur Lösung des Arbeitsbeschaffungsproblems darstellt. Die durch eine geschickte Lobby vertretenen Exportinteressen bestimmter Industriezweige der Geberländer oder die persönlichen Wünsche einer kleinen Führungsschicht der Empfängerländer sind keine ausreichenden Kriterien für eine solche — häufig die Form der Exportförderung annehmende — Entwicklungshilfe, da sie möglicherweise echten Interessen des Empfängerlandes zuwider-läuft
Viele reiche Länder leisten Lippenbekenntnisse, indem sie verkünden, den armen Ländern sogenannte Handelshilfe gewähren zu wollen, um sie in die Lage zu versetzen, Arbeiter zu beschäftigen und sich durch Exporte selbst die dringend benötigten Devisen zu verdienen: Handel ist besser als Hilfe. Leider aber stehen solche guten Erklärungen vielfach in schroffem Gegensatz zu dem bisherigen handelspolitischen Verhalten der gleichen reichen Länder, wenn es darum geht, für die Erzeugnisse der Entwicklungsländer durch Abbau von Zöllen oder anderer Einfuhrabgaben, durch Abschaffung mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen und durch Gewährung von Präferenzen tatsächlich die eigenen Märkte zu öffnen und damit zur Schaffung von Arbeitsplätzen in den Lieferländern beizutragen.
Solange die entwickelten Länder nicht bereit sind, ihrerseits ganz oder teilweise auf bestimmte Produktionszweige zu verzichten (besonders krasse Beispiele aus dem landwirtschaftlichen Gebiet: Zucker und pflanzliche Ole!) und den Entwicklungsländern den vollen Zutritt zu den eigenen Märkten zu gewähren, haben Schlagworte wie „Handelshilfe" einen hypokritischen Beigeschmack
Ein unhaltbares, aber nicht auszurottendes Argument mancher Protektionisten geht dahin, daß man den „Vorsprung“, den die Entwicklungsländer durch ihre niedrigen Löhne („KuliLöhne“) haben, „natürlich" durch Zölle oder andere Abgaben und Einfuhrbeschränkungen „kompensieren“ müsse, um eine „gleiche Wettbewerbslage" herzustellen. Wer so argumentiert, macht den Entwicklungsländern einen ihrer wenigen Vorteile streitig.
Andre Philip, früherer französischer Finanzminister, eine Autorität auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe und Sozialist, wurde nicht müde, sich in bestechenden Plädoyers für eine grundlegende Änderung der Verhaltensweise der Geberländer einzusetzen. Es war für ihn selbstverständlich, daß die reichen Länder nicht genug tun, wenn sie ihre Zollsätze etwas senken, die Einfuhrkontingente (oder wie immer mengenmäßige Beschränkungen von findigen Protektionisten genannt werden mögen) abbauen und Präferenzen gewähren. Noch we-nige Tage vor seinem Tode setzte er sich auf dem Zweiten Welternährungskongreß der FAO in Den Haag (Juni 1970) für eine Reihe von internationalen Abkommen über einzelne Erzeugnisse ein, in denen sich die reichen Länder verpflichten sollten, Importe aus den armen Ländern zuzulassen, um einen gewissen Prozentsatz ihres wachsenden nationalen Verbrauchs zu decken. Philip war sich dessen bewußt, daß solche Maßnahmen gewisse Strukturveränderungen in den entwickelten Ländern voraussetzen. Die Rübenzuckererzeugung wäre zum Beispiel zu Gunsten des Imports von Rohrzucker einzuschränken. Die europäische Milchwirtschaft würde so modifiziert werden müssen, daß die Einfuhr afrikanischer Fette möglich wird. Entsprechendes würde auf dem Gebiet der Textilwirtschaft und der Schuhindustrie gelten. „Das würde schwierige Probleme schaffen, die nur innerhalb eines Rahmenwerks einer langfristigen landwirtschaftlichen und industriellen Politik in einem Zeitraum von vielleicht 15 Jahren gelöst werden können. Man müßte in Etappen planen und Ausgleichszahlungen an diejenigen leisten, die nachteilig von den Änderungen betroffen werden. In anderen Worten, eine Politik der Entwicklungshilfe darf nicht auf das Rahmenwerk einer liberalen Politik beschränkt werden; wir, die Industrieländer, müssen einen Plan haben oder zum mindesten ein mittelfristiges Programm, welches sich mit all diesen Problemen befaßt."
Ohne die ausdrückliche Erwähnung so heißer Eisen wie der Protektion der Landwirtschaft oder der Textil-und Schuhindustrie betont auch der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Erhard Eppler, immer wieder die Unvermeidbarkeit von Strukturänderungen: „Strukturen in unserer Industriegesellschaft werden sich auch in den nächsten Jahren verändern, ob wir Entwicklungshilfe leisten oder nicht . . . Und ganz sicherlich werden sich Formen der Produktion und des Handels ändern, sobald die Entwicklungsländer als gleichberechtigte Handelspartner mit uns Zusammenarbeiten. In unserem Land werden einige Wirtschaftszweige, die noch sehr arbeitsintensiv produzieren, langsam an Bedeutung verlieren, wenn unser Markt sich den Erzeugnissen der Entwicklungsländer öffnet."
Immer größere Bedeutung könnte in der Zukunft die Verlagerung lohnintensiver Produktionen (zum Beispiel Konfektion, Optik, Zulieferungen für die elektronische Industrie) aus den Hochlohn-in Niedriglohnländer zukommen, einer Tendenz, die sich heute schon innerhalb Europas zunehmend bemerkbar macht. Auch mit der Verlagerung lohnintensiver Dienstleistungen sind gute Erfahrungen gemacht worden. So lassen zum Beispiel einige amerikanische Firmen ihre Datenverarbeitungsanlagen in Indien bei der Firma Tata Consultancy Services programmieren, weil die Löhne der indischen Computer-Experten bei nur etwa einem Drittel des amerikanischen Niveaus liegen
Es ist schwer vorauszusagen, inwieweit sich diese Tendenz neben der „Gastarbeiterlösung'1, das heißt der Migration, durchsetzen wird. Die Probleme der Migration — nicht nur von Arbeitskräften für den industriellen Bedarf, sondern für den breiten Zweig der Dienstleistungen aller Art (man denke nur an Fragen wie die des Haus-und Krankenpflegebedarfs) — sind noch längst nicht so gründlich durchdacht worden, wie es angesichts der Verfügbarkeit des dafür benötigten brachliegenden (und leicht anlernbaren) Menschenpotentials in den Entwicklungsländern einerseits und des immer größeren Bedarfs in den entwickelten Ländern andererseits erforderlich wäre. Ein nicht mit dem allgemeinen Migrationsproblem zu verwechselndes Thema ist der „Brain drain", die Abwanderung hoch-und höchstqualifizierter Arbeitskräfte aus den Entwicklungsländern in die reichen Länder. Für die meisten Entwicklungsländer stellt der Verlust hochqualifizierter Ärzte, Ingenieure und Angehöriger anderer freier Berufe ein ernstes Handicap für ihre gesamte Entwicklung dar, und es ist keine einfache Lösung in Sicht. Aus der zur Zeit zu verzeichnenden Rückwanderung von Spezialisten aus den USA in ihre „entwickelten" Heimatländer sollten keine voreiligen Schlüsse ge-zogen werden, vor allem soweit es sich um Spezialisten aus Entwicklungsländern handelt
Bisher ist es nicht atypisch für die Mentalität vieler Regierungen, die an sie gerichteten Empfehlungen zur grundsätzlichen Bevorzugung von Investitionen in arbeitsintensiven Industriezweigen sozusagen als zynischen Versuch westlicher Imperialisten anzusehen, sich ihren technologischen Vorsprung zu sichern. Die von UNCTAD vertretene Entwicklungsphilosophie
Auch die absolute Notwendigkeit, in der Planung und Investitionsförderung der zwar weniger spektakulären, aber sehr wichtigen Entwicklung der Landwirtschaft und des ländlichen Raumes hohe Priorität zu geben, paßt nicht in das bisherige Entwicklungskonzept vieler Regierungen. Hier kommt den multilateralen Organisationen eine entscheidend wichtige Beratungsrolle zu, zumal man ihre Empfehlungen nicht einfach als „neokolonialistisch" interessierte Einmischung abtun kann. Hinsichtlich der Entwicklung der ländlichen Gebiete wird besonders die FAO eine wichtige Rolle zu spielen haben
Ungewisse Perspektiven
Das Problem der Arbeitsbeschaffung ist überaus komplex, da zu den sachlichen Problemen im engeren Sinne politische, soziologische und psychologische Aspekte hinzutreten, deren Lösung noch schwieriger erscheint. Ohne eine tiefgreifende Änderung der Verhaltensweise bei Gebern und Nehmern ist eine Lösung undenkbar. Zunächst kommt es insbesondere darauf an, den klaren Willen zu wecken, das Ziel der Schaffung von Arbeitsplätzen systematisch anpacken zu wollen. Der Umdenkprozeß hat begonnen, und es besteht vielleicht Anlaß zu einem gewissen Optimismus hinsichtlich des künftigen Verhaltens der Geber von bilateraler, vor allem aber der von multilateraler Entwicklungshilfe, die immer mehr die zentrale Bedeutung des Problems zu erkennen scheinen, auch wenn sie zum Teil noch zögern, nun auch die notwendigen Folgerun-gen aus der relativ neuen Erkenntnis zu ziehen. Kaum Anlaß zu Optimismus gibt die Lage in vielen Entwicklungsländern, in denen es noch heute einfach an der angemessenen Einstellung zu dem Problem und damit an dem entschlossenen Willen fehlt, der Arbeitsbeschaffung die höchste Prioritätsstufe zu geben.
Eine weitere wichtige Frage ist, ob das Problem auf freiwilliger Basis, also unter Respektierung der Interessen des Individuums, oder nur mit autoritären oder gar totalitären Methoden, kurz gesagt, unter Zwang wie in China und Kuba, lösbar ist. Wahrscheinlich ist diese Frage zumeist mit einem „Sowohl-als-auch" zu beantworten. In jedem Fall verdienen die Erfahrungen Chinas ein ernsthaftes Studium, soweit es sich um Großexperimente mit kapitalsparenden, arbeitsintensiven Produktionsweisen handelt.
Bei jeder systematischen Politik der Arbeitsbeschaffung darf jedoch nicht übersehen werden, daß ihre Problematik — ebenso wie die gesamte Entwicklungsproblematik — nicht ausschließlich aus ökonomischen Sachverhalten besteht. Viele Menschen in den Entwicklungsländern haben heute noch gänzlich andere Wertvorstellungen über den Sinn der Arbeit als ihre Mitmenschen in den Industriestaaten, und es ist für sie auch heute noch nicht selbstverständlich, sich in einen mehr oder minder geordneten Arbeitsprozeß einzufügen. Man kann eine solche Attitüde nicht einfach als „unterentwickeltes" Individualverhalten abtun. Ursächlich für ein solches Verhalten sind u. a. die im Vergleich zu den meisten Industrieländern andersartigen klimatischen, gesellschaftlichen, religiösen und familiären Verhältnisse und eine Lebensphilosophie, in deren Wertskala das Nichtstun anders eingestuft ist als in den Industriestaaten. Verzicht auf Freizeit ist für sie nur interessant, wenn ihnen zusätzliche Arbeit Vorteile bringt, die sie höher schätzen als Freizeit. Es besteht keine Veranlassung, solche Menschen gegen ihren Willen in Programme der Arbeitsbeschaffung einzubeziehen.
Arbeitsbeschaffung und Familienplanung Auch die größten Erfolge auf dem Gebiet der Arbeitsbeschaffung können in den meisten Ländern ohne erfolgreiche Familienplanung nicht die erwünschten Ergebnisse erzielen.
Freilich sollte man bei den Bemühungen zur Schaffung von Arbeitsplätzen vorsorglich unterstellen, daß die Familienplanung zunächst keine großen Erfolge bringen kann, und es ist ebenso ein Gebot der Vorsicht, sich bei allen Maßnahmen der Familienplanung nicht etwa darauf zu verlassen, daß es möglich sein werde, das Arbeitsbeschaffungsproblem rechtzeitig zu lösen.
Auf dem Zweiten Welternährungskongreß der FAO in Den Haag im Juli 1970 forderte der Vize-Präsident der EWG, Mansholt, im Hinblick auf die Priorität der Probleme der Arbeitsbeschaffung und der Familienplanung die Einrichtung einer übernationalen Behörde, einer weltweiten „Organisation für Bevölkerung und Arbeitsbeschaffung“, die die seines Erachtens zur Zeit bestehende Lücke bei den zwischenstaatlichen Organisationen füllen soll und die mit erheblichen Vollmachten auszustatten wäre. Nach Mansholts Auffassung besitzen die Vereinten Nationen nicht die zum entschlossenen Handeln erforderliche politische und wirtschaftliche Macht.
Düsterer Ausblick — gibt es Hilfsstrategien?
Da kaum erwartet werden kann, daß selbst umfassende und schnell eingeleitete Maßnahmen der Familienplanung und der Arbeitsbeschaffung vollen Erfolg haben werden, ist zu befürchten, daß in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die Zahl der Arbeitslosen ganz wesentlich steigen wird. Das Problem der Ernährung, Kleidung und Unterbringung dieser Menschen wird sich mit Sicherheit stellen, und es könnte schon in zehn Jahren eine Größenordnung annehmen, bei der für viele Millionen Menschen die verbleibende Alternative nur elendes Dahinsiechen und frühzeitiger Tod wäre.
Da diese Alternative nicht kaltblütig hingenommen werden kann, so fragt es sich, wie eine Hilfsstrategie aussehen müßte. Massive Wohltätigkeitsaktionen, die man vielleicht mit dem Bestehen eines Dauerkatastrophenzustandes begründen könnte, würden dem Prinzip zuwiderlaufen, daß konstruktive Entwicklungshilfe im Grunde nur Hilfe zur Selbsthilfe sein darf. Dem vor allem durch Armut — nicht aber durch ein unzureichendes Agrarpotential! — drohenden Hunger wäre vielleicht teilweise durch Nahrungsmittelhilfe in heute un-bekanntem Ausmaß und Formen
Sind Maos blaue Ameisenkolonnen oder staatliche Arbeiterheere für den Masseneinsatz zum Bau von Stauseen, Straßen, Bewässerungssystemen, der Kultivierung von Sümpfen oder Buschland wirklich die einizig mögliche Antwort zur Eindämmung der Arbeitslosenflut der nächsten Jahrzehnte, wie es zum Beispiel Claus Jacobi vorschlägt?
Man braucht nicht westlicher Idealist zu sein, um bei solchen Lösungsvorstellungen Alpträume zu bekommen. Wer im Westen, Osten, Norden oder Süden daran glaubt, daß der Mensch sich nicht in einer Ameisenkolonne am wohlsten fühlt, sollte nicht müde werden, mit den Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Entwicklungspolitikern und Futurologen über Konzepte und Methoden nachzudenken, die eine Alternative zu totalitären Lösungsversuchen und deren Negierung jeder persönlichen Freiheit des Individuums bieten. Sollte es eine solche Alternative nicht geben, so wäre immer noch einer „autoritären" Lösung der Vorzug vor der primitiven totalitären „Lösung" mit ihrer massiven Unterdrückung des Individuums zu geben.
Es bestehen bisher keine ausreichend klaren Vorstellungen, geschweige denn Pläne, wie der zu erwartenden düsteren Situation begegnet werden könnte. Es scheint an der Zeit, heute bereits an die Möglichkeit einer Abhilfe zu denken. Das Durchdenken dieser Aspekte würde nicht unwesentlich dazu beitragen, auch die Bedeutung der Probleme der Arbeitsbeschaffung und der Familienplanung in ihrem vollen — vielleicht tödlichen — Ernst ganz klar zu begreifen, und es könnte den Vorsatz stärken, alles zu unternehmen, um die Zahl der heutigen und künftigen Arbeitslosen so klein wie möglich zu halten.