I. Zur Genesis des Problems
Auf dem VII. Parteitag der SED im April 1967 kündigte Walter Ulbricht die „Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus" (ESS) als Programm für die Zukunft an. Die Absichtserklärung war ziemlich allgemein gehalten, wie sich aus der Aufzählung der Elemente ergibt, die das künftige System bestimmen sollen:
1. ein hohes Niveau und ein rasches Wachstum der gesellschaftlichen Produktivkräfte, 2. stabile, sich entwickelnde Produktionsverhältnisse, 3. eine starke sozialistische Staatsmacht, 4. allseitige Entwicklung der sozialistischen Demokratie, 5. hoher Bildungsstand der Werktätigen, 6. Verbesserung ihrer Arbeits-und Lebensbedingungen, 7. Durchdringung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durch die sozialistische Ideologie und Kultur.
So neu klang das nicht. Der externe Beobachter konnte darin eine Wunschliste erblicken, wie sie, mit verbalen Nuancierungen, schon manchmal formuliert worden war. Stellt man diese Absichtserklärung jedoch in den Zusammenhang der ökonomischen, sozialen und politischen Strategie der SED-Führung seit 1963, so läßt sich zumindest der Impuls für eine Innovation feststellen.
Die DDR setzte sich 1963 an die Spitze der Modernisierungsmaßnahmen und Reformen innerhalb des sozialistischen Lagers. Mit dem neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft sollte die Wirtschaft vom System des bürokratischen Zentralismus auf Effektivität, ökonomische Ratio und Gewinn als Hauptkennziffern umgestellt werden. Nicht nur in den sozialistischen Bruderländern, die Delegationen zum Studium des neuen Systems in die DDR entsandten, sondern auch bei westlichen Experten war das Interesse erheblich. Die Anhänger der Theorie von der Konvergenz der beiden großen gesellschaftlichen Systeme konnten darin einen wichtigen Schritt in dem seit langem erwarteten Prozeß der Evolution kommunistischer Regime erblicken.
Man konnte sogar als überzeugter Anhänger der bundesdeutschen sozialen Marktwirtschaft eine gewisse, vielleicht paradoxe Genugtuung darüber empfinden, daß es deutsche Kommu-nisten waren, die so interessante Experimente begannen. Die Bundesrepublik hatte mit ihrem Modell eine erhebliche Ausstrahlungskraft in die westliche und zum Teil auch in die Dritte Welt hinein entwickelt. Die DDR schien sich anzuschicken, ein brauchbares Modell für den Osten zu schaffen. Konnte es nicht eine aussichtsreiche Perspektive sein, daß diese beiden Modelleure industrieller Gesellschaften durch den Dialog über ihre Modelle vom Konflikt wenigstens zu einer fairen Konkurrenz kommen würden: des Deutschen Vaterland heute — ein Schauplatz für den Wettbewerb der beiden gesellschaftlichen Systeme? Wie die Experimentierfreude das Selbstbewußtsein mancher Funktionärsschichten der SED hob, so schienen auch die intellektuellen Qualitäten für eine solche Systemauseinandersetzung zu wachsen. Neben den Parteiwissenschaftlern in anderen Ländern entwickelten vor allem Ostberliner Politökonomen zum Teil originelle Gedanken, um den modernen westlichen Industriestaat besser erfassen zu können, wobei sie das Verhältnis von Staat und Ökonomie in den Mittelpunkt stellten. Die wesentlich von ihnen mitgestaltete Theorie vom sogenannten „staatsmonopolistischen Kapitalismus" sollte erklären, wie und warum das kapitalistische Wirtschaftsund Gesellschaftssystem funktioniere. Das Ergebnis lautete im Kern: Der Staat sei zu einer unmittelbaren ökonomischen Potenz geworden, er habe einen Regulierungsapparat entwickelt, mit dem er erfolgreich die Konjunktur beeinflusse, Forschung und Entwicklung steuere. Er nehme damit bereits ein Stück sozialistischer Planung vorweg, bleibe insofern aber in den Schranken des kapitalistischen Systems, als er seine neue Qualität einseitig und provokativ zur Maximierung der Profite der Monopole einsetze.
Damit war das ideologische Bindeglied zur Lehre von der Revolution gesichert, die allerdings erheblich modifiziert wurde. Nun hieß es: Der noch diffuse, nicht organisierte Widerstand der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung gegen das staatsmonopolistische System könne — mit kommunistischer Hilfe — zu einem organisierten Kampf um „demokratische Alternativen" werden, eine Kettenreaktion entschiedener Reformen auslösen und dadurch die „Reform zu einer Form der Revolution" machen. Von der so erreichten neuen Stufe der „antimonopolistischen Demokratie" würde dann die Entwicklung zum Sozialismus eingeleitet.
Man kann den Entwurf des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft und die Analysen zum staats-monopolistischen Kapitalismus als Zwillinge verstehen, hervorgegangen aus dem Bestreben der Kommunisten, sich in der industriellen Zivilisation neu zu orientieren, natürlich unter Wahrung der ideologischen Grundposition. Nach dem Zeugnis Ulbrichts bildeten übrigens diese Analysen den theoretischen Hintergrund für den versuchten Redneraustausch SED — SPD in der ersten Jahreshälfte 1966. Im Lichte der neuen Theorie erkannte man die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften wieder als „Abteilungen der Arbeiterbewegung" an, setzte allerdings — wie das kommunistische Parteien schon manchmal in alten Zeiten getan hatten — auf eine Polarisierung, auf eine Spaltung, welche die „rechten" sozialdemokratischen und Gewerkschaftsführer von der Masse ihrer Mitglieder und Anhänger isolieren würde. Auf den europäischen Hintergrund und analoge Problemlagen in Frankreich und Italien, sowie die Neufassung der sowjetischen Regionaltaktik für Westeuropa, soll hier nicht eingegangen werden.
Die Operation Redneraustausch’ leitete jedoch mit ihrem Scheitern gleichzeitig den Umschwung der 1963 in der DDR begonnenen Entwicklung ein. Waren im Verlauf des Jahres 1965 bereits einige Unsicherheiten im Hinblick auf die Durchführung der ökonomischen Reformen und ihre möglichen politischen Konsequenzen aufgetaucht, so dokumentierte der Abbruch der Operation, daß die SED sich übernommen hatte, daß sie sich nicht zutraute, die durch die Aussicht auf einen Dialog wieder-geweckten gesamtdeutschen Emotionen unter Kontrolle halten zu können. Die SED-Führung schaltete wieder ganz auf Divergenz.
An den Thesen vom staatsmonopolistischen Kapitalismus wurde zwar weiterhin festgehalten. Doch verschoben sich die Akzente: Man relativierte die Funktionen und Möglichkeiten des Staates, hob die Labilität und Krisenanfälligkeit des „staatsmonopolistischen Systems" hervor. Die Sozialdemokratie bezeichnete man, vor allem in der Zeit der Großen Koalition, als in dieses System fest integriert. Eher setzte man, wenigstens verbal, auf die Gewerkschaften. Dies ist u. a. auch an der Forschung über den DGB abzulesen, die an Ostberliner Parteiinstituten, besonders an der Hochschule des FDGB in Bernau bei Berlin, betrieben wurde. Insgesamt trat die geistig offensive Funktion der Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus hinter ihre apologetische Rolle zurück.
In diesem Zusammenhang nahmen die Kampagnen gegen die These von der allmählichen Annäherung der beiden gesellschaftlichen Systeme an aufgeregter Lautstärke zu. Die von westlichen Sowjetologen und Nationalökonomen entworfenen Konvergenztheorien erschienen als gefährliche Anschläge des Imperialismus, als ideologische Diversion, dazu bestimmt, die sozialistischen Systeme aufzuweichen. Die Bemühungen um einen Brücken-schlag von West nach Ost wurden als „lautloser Antikommunismus" angeprangert. Diese sich aggressiv gebende Defensivhaltung war jedoch nur die Außenseite der Veränderungen. Wichtiger ist ein innerer Vorgang.
Die Parteiführung zeigt sich nunmehr bemüht, das Streben nach ökonomischer Effizienz in einem Modell unterzubringen, das die Effektivierung des Systems mit einer von der Partei gesteuerten Politisierung der DDR-Gesellschaft verbindet. Indiz hierfür ist die Losung, daß „die Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution" — hierunter verstehen Kommunisten seit einiger Zeit die in allen entwickelten Industriestaaten feststellbare Explosion des Wissens und die rasche Umsetzung in technologische und ökonomische Verwertung — und das Vorantreiben der sozialistischen Revolution zwei Seiten des gleichen Vorgangs seien. In anderer Sprache und mit Geltung für den derzeitigen Stand ausgedrückt: Die Parteiführung und ihre Parteiwissenschaftler suchen den Charakter des eigenen Systems neu zu durchdenken, um solche Wege der Modernisierung zu finden, die Effizienz versprechen, ohne das politische Monopol der Partei zu tangieren, und die gleichzeitig gegenüber westlichen Einflüssen eine Art ideologischer Störfreimachung garantieren. Hierin ist der Impuls für die Deklaration des zu entwickelnden gesellschaftlichen Systems des Sozialismus zu sehen. Zum 20. Jahrestag der DDR machte Ulbricht dazu folgende Aussage: „Es gilt zu begreifen: ein moderner sozialistischer Staat wird nur dann höchste Effektivität erreichen, wenn er als gesellschaftliches Gesamtsystem funktioniert, wenn seine Teilsysteme ein aufeinander abgestimmtes Ganzes bilden."
Dieses Gesamtsystem soll auf den unverrückbaren Grundlagen des sowjetischen Grundmodells des Sozialismus beruhen. Dies wurde 1968 vor allem in der Auseinandersetzung mit dem tschechoslowakischen Reformversuch in aller Schärfe betont. Das entwikkelte gesellschaftliche System des Sozialismus war sozusagen in einer doppelten Frontstellung zu modellieren: Gegen die Konvergenz-versuchung aus dem Westen und gegen das tschechische Modell einer „sozialistischen Marktwirtschaft", die gesamtgesellschaftlich in das System eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" eingebettet sein sollte. Die Vernachlässigung der „führenden Rolle der Partei" hatte Ulbricht den tschechischen Reformern als das eigentliche Sakrileg vorgeworfen.
Hat nun die Vorstellung von dem gewünschten System inzwischen deutlichere Umrisse angenommen? Wir sagen: Vorstellung, denn das ist an dem nun initiierten Systemdenken wirklich neu: eine Festlegung auf kurzfristige Konkretisierungen ist vermieden worden. Ulbricht bezeichnet jetzt den Sozialismus als eine relativ selbständige, langfristige Formation. Damit hat der SED-Chef, der den Anbruch schon so mancher neuen Etappe hat ausrufen hören und auch selbst verkündet hatte, sich für seinen Lebensabend von dem Periodi-sierungszwang befreit. Damit sind auch ähnliche Verlegenheiten außer Sichtweite, wie sie der Sowjetführung erwuchsen, seitdem Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag 1961 die materiell-technische Grundlegung des Kommunismus verkündete: Die Frage nach dem Verschwinden der Klassen, nach dem langsamen Absterben des Staates, nach der Legitimierung der Partei der Arbeiterklasse in einer klassenlosen Gesellschaft. Die Definition des Sozialismus als einer relativ selbständigen, langfristigen Formation legimitiert und perpetuiert zugleich die Parteimacht schon von ihrer Konzeption her. Die in der Definition zum Ausdruck kommende Bescheidenheit gegenüber der Sowjetunion sichert den eigenen Spielraum für pragmatisches Vorgehen; man kann zu sowjetischen Experimenten Distanz halten und doch gleichzeitig unter der Beteuerung striktester Loyalität die deutsche Variante des sowjetischen Grundmodells des Sozialismus ausgestalten.
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II. Fünf Problemkomplexe des ESS
Nun kann auch die Frage nach den inzwischen sichtbar gewordenen Umrissen der Konzeption des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus (ESS) beantwortet werden. Sie ist so angelegt, daß schon bisherige Denkvorgänge und auch praktisch verfolgte Ziele in eingehen; zugleich aber werden neue Im-pulse gefordert. Beides soll sich zu einer langfristig berechneten Wirkungseinheit verbinden, die in sich logisch und schlüssig erscheint. Wie hart im Raume sich die Sachen stoßen, dürfte ein anderes Problem sein.
Fünf wesentliche Komplexe sollen, soweit man bisher feststellen kann, das ESS ausmachen. 1. Gesamtgesellschaftlicher Aspekt und Systemdenken Hierbei hat die Beschäftigung mit der Kybernetik Pate gestanden. Das kybernetische Systemdenken, das alle Teilsysteme und deren Subsysteme untereinander und mit dem Gesamtsystem durch Rückkoppelung verbunden sieht, legt eine neue Verhaltensweise nahe. Gefordert wird eine veränderte Einstellung, ein neues Herangehen an alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgaben. Grundsätzlich soll erkannt werden, daß in einem modernen industriellen System alle Vorgänge in Interdependenz zueinander stehen. Anders ausgedrückt, das Ressortdenken soll auf allen Ebenen verschwinden.
Ein Beispiel: Die Planung eines strukturbestimmenden Objekts, etwa eines Schwerpunkt-betriebes, erfordert die Berücksichtigung der bereits vorhandenen Produktions-und Siedlungsstruktur, den Bestand an Arbeitskräften sowie die Vorausschau der sich dann ergebenden Folgeprobleme, wie Versorgung, Verkehr, Bildungswesen, Gesundheitswesen, kulturelle und sportliche Angebote für die Freizeitgestaltung, Bereitstellung von Wohnraum-und Erholungsgebiet. Dieses Beispiel ist multipliziert im Republikmaßstab zu denken.
Gute Planung ist, unabhängig vom gesellschaftlichen System, immer schon so verfahren, hat die Umweltstruktur und die voraussichtlichen Folgeprobleme mit bedacht. Häufig genug hat sie aber in der Vergangenheit gefehlt. Beim Entstehen der industriellen Ballungszentren z. B. hat es im Rausch des technischen Fortschritts viel Unbekümmertheit gegeben, gegen den Widerstand derjenigen, welche die gewohnten und vertrauten Lebensumstände möglichst erhalten wollten. Die negativen Beispiele isolierter Einzelplanung und mangelnder Voraussicht haben zahlreiche Umweltprobleme geschaffen, deren Bewältigung gerade in den am höchsten entwickelten Industriestaaten als dringende Zukunftsaufgabe erkannt worden ist und unter großen Schwierigkeiten in Angriff genommen wird, da technischer Fortschritt, Sozialstruktur und Umweltfragen immer unlösbarer Zusammenhängen.
Die SED zeigt heute, daß auch sie diese Interdependenz erkannt hat und sie auf ihre Weise angehen will. Um einen gesamtgesellschaftlichen Lernprozeß im Hinblick auf die Interdependenz aller Teilbereiche vorzubereiten, erscheinen heute in der DDR philosophische Abhandlungen und soziologische Analysen. Sie werden politisch-pädagogisch nützlich sein, wenn sie den Blick für Zusammenhänge schärfen. Der Weg zur gesellschaftlichen Allround. Planung im Republikmaßstab wird jedoch beschwerlich sein. Ein umfassendes Informationssystem, intensive Problemanalysen und auch eine durchgängige Verflechtung von Detailplanungen an vielen Stellen werden nötig sein. Vor allem wird es einer Schicht talentierter Planer mit wissenschaftlich fundierter Weitsicht, mit Einfallsreichtum und Kompetenz bedürfen.
Im Hinblick auf solche Zukunftsprobleme wäre es aufschlußreich, Planentwürfe und Planverwirklichungen in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR miteinander zu vergleichen. Wie geht man z. B. heute bei der Planung eines neuen industriellen Standorts vor, der erhebliche Veränderungen der gesellschaftlichen Struktur nach sich ziehen wird? Man müßte Vergleiche zu einer Serie verschiedener Schwerpunkte haben. Dann würden sich in etwa vergleichbare Bilder der Reform-probleme ergeben, vor denen beide gesellschaftliche Systeme stehen. Man würde dann auch brauchbare Aussagen darüber erhalten, welche Unterschiede oder auch welche Ähnlichkeiten zwischen den Methoden bestehen, wie sie in einem offenen bzw. einem geschlossenen gesellschaftlichen System im Hinblick auf solche Zukunftsaufgaben angewandt oder erstrebt werden.
Gesamtgesellschaftliche Aspekte werden hier wie dort diskutiert. Diskussionsmäßig schneidet die DDR nicht schlecht ab. Ob bei der Konkretisierung gesamtgesellschaftlicher Planentwürfe im Republikmaßstab die bereits aus den bisherigen ökonomischen Planungsprozessen bekannten Schwierigkeiten vermieden werden können oder ob sie vermehrt werden, wird man zu beobachten haben. Das eine ist schon heute sichtbar: Die Parteispitze versteht sich — unter systemkybernetischen Aspekten — als außerhalb des Regelkreises stehend. Sie ist der Sollwertgeber, sie behält sich vor, durch direkt eingreifende Steuerung die Sy-stemregelung zu durchbrechen, wann immer sie es für angebracht hält. 2. Wissenschaft als Produktivkraft Es ergibt sich nicht zuletzt aus dem gesamtgesellschaftlichen Aspekt, daß die Wissenschaften für Prognose, Planung, Leitung und Kontrolle der gesellschaftlichen Entwicklung verstärkt in Anspruch genommen werden sollen. Die Parteiführung will modernste Methoden für Leitung und Management geliefert erhalten. Deshalb ihr großes Interesse für Informatik, Organisationswissenschaft, Operationsforschung, Modelltheorie, elektronische Datenverarbeitung.
Dabei taucht jedoch für die SED eine Schwierigkeit auf: Man hat zwar die Wissenschaften zur „unmittelbaren Produktivkraft" der gesellschaftlichen Entwicklung erklärt. Man erwartet von ihnen Initiativen und kühne Vor-ausschau. Wie kann man aber gleichzeitig verhindern, daß die Wissenschaften zu unerwünschten Ergebnissen kommen, die das politische Monopol der Partei in Frage stellen?
Fürs erste: Man hat wissenschaftliche Partei-institute zum Teil mit wissenschaftlichen Spitzenkräften zu Leiteinrichtungen für den gesamten Wissenschaftsbetrieb bestimmt; von ihnen wird die Initialzündung erwartet. Gleichzeitig sollen sie den ganzen übrigen Apparat anleiten und kontrollieren. Daraus kann sich für die einzelnen Wissenschaftler ein Pflichtenkonflikt zwischen erwarteter individueller Leistung und ideologischer Korrektheit ergeben. Begabte junge Wissenschaftler werden vor dem Problem stehen, wie sie sich für ihre Forschungsergebnisse jeweils den ideologischen Regenschirm verschaffen. Zum zweiten: Wie sollen bei straffer Anleitung und Kontrolle schöpferisches Arbeiten für die Zukunft, brauchbare Prognosen für das Jahr 2000 zustande kommen? Die Parteiführung muß sich überlegen, wie sie, ohne Lähmung zu verbreiten, kontrollieren kann und ohne Risiken einzugehen, Anregungen zu geben vermag.
Dazu muß sie wünschen, daß das wissenschaftliche Arbeiten der einzelnen sowie die Wissenschaftsprozesse im ganzen durchsichtiger werden. Man ist deshalb dabei, die Wissenschaft selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen und setzt auf Ergebnisse der neu etablierten „Wissenschaft von der Wissenschaft". Man will voraussehen, was Wissenschaftler voraussehen können, um jeweils rechtzeitig korrigierend eingreifen zu können. Gegenüber der angelsächsischen „Science of Science", aber auch der sowjetischen „nauka o nauke" wiegt deshalb bei der Etablierung der „Wissenschaftswissenschaft" in der DDR der politische Zweck vor.
Es ist noch nicht ersichtlich, wie die SED-Führung es vermeiden will, daß sich das Dilemma zwischen schöpferischer Leistung und politischer Kontrolle auf einer anderen Ebene wiederholt. Erkundungsforschung künftiger Möglichkeiten — um einmal Prognose so zu umschreiben — mag ein Imperativ sein, der von der rasanten industriegesellschaftlichen Entwicklung gestellt wird. Die Parteiführung behält es sich jedoch vor, die politischen Vorgaben zu machen, in deren Rahmen die Erkundungsforschung ausgeübt werden soll. 3. Das ökonomische System des Sozialismus (OSS) als Kernstück des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus
Wenn die SED gesellschaftliche Allround-Pla-nungen im Republikmaßstab angehen will, muß sie mehr denn je die Tatsache berücksichtigen, daß wirtschaftliche Mittel immer knapp sind. Mehr Mittel zu erwirtschaften und sie optimal einzusetzen, bleibt das Problem. Beim Reformansatz von 1963 wollte man die ökonomische Ergiebigkeit durch höhere Eigenverantwortung der Betriebe (VEB) und der Konzerne (Vereinigungen Volkseigener Betriebe) steigern. Heute dagegen will man das Ziel durch eine zentral gesteuerte Wirtschaftspolitik erreichen, die von oben her und gezielt die ökonomische Struktur an der Basis verändert.
Die gängigen Formeln lauten „strukturkonkrete Planung", das heißt Planung für bestimmte entscheidende Industriezweige, wie Chemie, Elektrotechnik, Elektronik, und „Objektplanung", also Planung für bestimmte Schwerpunktbetriebe. Es ist nicht uninteressant, daß diese Rezentralisierung schon vor dem Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 einsetzte. Eigenverantwortung heute meint lediglich das „Wie" der Erfüllung, nicht das „Was" der Planung. Dazu will man das Ko-sten-Nutzen-Denken durchsetzen; übrigens nicht nur in der Ökonomie, sondern in der ganzen Gesellschaft. „Ökonomisierung der Gesellschaft" könnte dieser Aspekt der beabsichtigten Gesellschaftsentwicklung genannt werden. 4. Leistungssteigerung der staatlichen Verwaltung Je ehrgeiziger die Ziele, desto qualifizierter müßte der Staatsapparat sein. Wenn aber der Parteiapparat stets in alle Ebenen des Staatsapparates hineinregiert und ihn überspielt, dann werden die befähigten Kräfte nicht gerade mit Begeisterung Staatsbedienstete werden wollen, sondern sich lieber in Bereichen der Wirtschaft und Wissenschaft ansiedeln. Auch hier schien sich ab 1963 eine Änderung des Klimas anzubahnen. Sichtbares Zeichen dafür war die Entwicklung in der Staats-und Rechtswissenschaft. Die Anforderungen der Wirtschaftsreform öffneten den Weg für eine wirklichkeitsnahe Forschung. Reformfreudige Rechtswissenschaftler suchten die ideologische Spekulation durch eine konkrete, wirklichkeitsnahe Rechtswissenschaft zu ersetzen. Von daher schien sich eine höhere Bewertung der Rolle des Staates anzubahnen. Seit 1966 meldeten die Parteiwissenschaftler der Babelsberger Akademie für Staats-und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht" Bedenken an; alsbald verstärkten sich die Warnungen, und es begann ein Kampf gegen den . Revisionismus'. Beim 20. Jahrestag der Gründung der Akademie, am 12. Oktober 1968, wies Ulbricht erneut auf den Staat als Machtorgan der Diktatur des Proletariats hin.
Seit diesem Revisionismusstreit um den Charakter des Staates heißt es, daß im ESS die Bedeutung des Staates und der Partei wachse. Auf der einen Seite erklärt man, daß ein modernes „Gesamtsystem sozialistischer staatlicher Führung", das heißt, eine moderne staatliche Verwaltung, ein Schlüssel für die Gestaltung des ESS sei; daß es deshalb gelte, neue Maßstäbe und Techniken des Regierens zu entwickeln, die staatliche Verwaltung zu vereinfachen, den überflüssigen Verwaltungsaufwand abzubauen und den staatlichen Organen bei der Lösung ihrer Aufgaben eine größere Eigenverantwortung zu übertragen. Die Partei werde sich deshalb aus der operativen, direkt eingreifenden Leitung der staatlichen Institutionen zurückziehen und der ZK-Apparat seine Interventionen in der Ministerial-bürokratie reduzieren. Auf der anderen Seite müsse jedoch die Anleitung und die Kontrolle der staatlichen Organe durch die Partei effektiver werden, zumal ja auch der ZK-Ap-parat für die Leitung der Gesellschaft besser ausgestattet sei als der Staatsapparat. Doch werde sich die Parteiführung in ihrer Arbeit künftig auf die „Kernfragen" der gesellschaftlichen Entwicklung konzentrieren. Was aber solche Kernfragen sein sollen, ist nicht festgelegt. Es könnte im Sinne einer Arbeitsteilung verstanden werden, daß z. B. ein strategischer Arbeitskreis des Politbüros die prognostischen Grundfragen der Außen-, Innen-und Wirtschaftspolitik behandeln, der Ministerrat mit seinen Expertengremien (Arbeitsgruppen) die laufende Planungstätigkeit, spezifiziert auf einzelne Bereiche, leisten soll.
Die „Produktivkraft Wissenschaft" soll auch bei der Umgestaltung der staatlichen Führungstätigkeit helfen. Doch liegen noch keine Ergebnisse darüber vor, wie Organisationswissenschaft, Kybernetik, Elektronische Datenverarbeitung, Operationsforschung, Pädagogik und Psychologie in die staatliche Leitung eingebaut werden können. Auch ist noch das Problem zu lösen, wie die vielfältigen Informationen, die auf den Staatsapparat zukommen, aufzuarbeiten und zu kanalisieren sind. Der Informationsfluß wird noch immer durch die eingeschalteten Parteiorgane, wie auch durch das ressortmäßige Verhalten der einzelnen Behörden verzögert.
Ob es der SED-Führung gelingen kann, zwei Apparate mit gleicher Effizienz nebeneinander aufzubauen und das Verhältnis von Partei-und Staatsapparat zu harmonisieren, wird die Zukunft zeigen. Die Voraussetzung für eine solche Harmonisierung fehlt noch: eine neue Parteitheorie, die nicht allein — wie die bisherige — auf Eroberung und Behauptung der Macht, sondern auf die Verwaltung und die Entwicklung eines modernen Industriestaates abgestellt wäre. In einem so verfaßten System, in dem alles Wesentliche auf die Partei zugeschnitten sein soll, ist letztlich die Über-prüfung und Erneuerung der Parteitheorie und -praxis der entscheidende Hebel für die Modernisierung der Gesellschaft.
Dagegen hat man die Notwendigkeit erkannt, das staatliche Management für eine Leitung nach wissenschaftlichen Methoden auszurüsten. Seit Herbst 1970 laufen neben den bisherigen Kursen zweijährige Führungslehrgänge. Das Profil dieser neuen Leiter soll durch wissenschaftliche Befähigung und klassenmäßige Erziehung geprägt sein. Die Wunschliste lautet: die staatlichen Leiter sollen hohe politische, fachliche und moralische Qualitäten haben, den Klassenstandpunkt vertreten, Partei-und Staatsdisziplin halten, die marxistisch-leninistische Theorie schöpferisch anwenden, ressortmäßige Einseitigkeit überwinden, kritische Sachlichkeit vorweisen und im System-denken geschult sein. Da jedoch die bisher tätigen Verwaltungsexperten schon durch die laufenden Arbeiten überlastet sind, wird es nicht leicht fallen, sie auch noch durch umfangreiche Schulungsprogramme hindurchzu-schleusen.
Unverrückbar fest steht der Grundsatz des Klassenkampfes. Im Wettbewerb mit dem Gesellschaftssystem der Bundesrepublik will die SED-Führung den Beweis erbringen, daß der sozialistische Staat sowohl ein funktionsfähiger Steuerung®und Regelungsmechanismus für eine komplizierte Wirtschaftsverwaltung wie auch eine für die DDR-Bevölkerung akzeptable Form sein kann. Ulbricht hat seit 1967 mehrmals darauf hingewiesen, daß die Qualität der leitenden staatlichen Organe sowie die theoretische und praktische Beherrschung der gesellschaftlichen Führungsprobleme von besonderer Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik seien. 5. Sozialisation der Bevölkerung —• Bewußtseinsbildung — „sozialistische Menschen-gemeinschaft“ In diesem Bereich fällt es besonders schwer, etwas Neues zu entdecken. Der neue sozialistische Mensch, oder, wie es jetzt heißt, die „allseitig gebildete Persönlichkeit in der sozialistischen Menschengemeinschaft", das ist ein Problem, das so alt ist wie das Regime selbst.
Wenn man aber die in jüngster Zeit zu diesem Komplex zahlreich erscheinenden Beiträge aus den Bereichen der Philosophie, Psychologie, Soziologie, Historiographie und Pädagogik zusammennimmt, so läßt sich erkennen, daß die Partei den Problemen der Bewußtseinsbildung gegenwärtig eine noch höhere Dringlichkeit zumißt als vordem. Wenn das ESS als anspruchsvolles Gesellschaftsprogramm ernst-genommen werden soll, so kann man die Bemühungen um die Bewußtseinsbildung verstehen als den Versuch, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß sie mit dem Einsatz für einen modernen sozialistischen Industriestaat sich an die Spitze der Entwicklung setzen kann.
Man könnte darin dann auch den Versuch der Partei sehen, das System natürlicher Abschirmung zu durchbrechen, in dem ein großer Teil der Bevölkerung sich einzuigeln verstanden hat: formale Anpassung an das Regime, Stolz auf die eigene Leistung und Ausbau zwischenmenschlicher Solidaritätsbeziehungen unterhalb der Aufsicht der Partei, in den Familien, der Verwandtschaft, in kleinen Gruppen. Es ist eine Solidarität, in der auch die traditionellen Verhaltensmuster stärker sind, die „Nestwärme" spürbarer ist, das Leben „heimeliger" erscheint als in der — aus der Sicht der DDR-Bevölkerung — zu sehr auf Konkurrenz abgestellten Leistungsgesellschaft der Bundesrepublik.
Diese sozial-psychischen Bestände aufzuarbeiten und in ein progressives Zeitbewußtsein zu überführen, dürfte der SED nicht leicht fallen.
III. Perspektiven
Die genannten fünf Komplexe sollen das „entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus" ausmachen. Das Konzept mag noch nicht sehr konkret erscheinen, aber das hat es mit Konzepten gemein, die in den letzten Jahren auch im Westen vorgebracht wurden. So mit der dem Altbundeskanzler Erhard zugeschriebenen „formierten Gesellschaft" oder mit der von dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten Johnson anvisierten „großen Gesellschaft". Doch sind die Chancen, daß gesamtgesell-
schaftliche Konzepte allgemeinere Geltung erlangen, in Ost und West verschieden.
In westlichen Gesellschaften, die offen sind für Leistungsimpulse von Individuen und Gruppen, können gesamtgesellschaftliche Entwürfe Orientierungsdaten für anstehende Reformen liefern. Da das wirtschaftliche, soziale und Politische Leben von einer Fülle rechtlicher Regelungen durchzogen ist, können Parla-mente und Regierungen Reformen nicht anders als 1m Wege des rechtsstaatlich vorgeschriebenen Verfahrens realisieren. Das Verfahren arbeitet politisch in der Regel umständlich, der Meinungsbildungsprozeß benötigt Zeit. Aber gerade deshalb kommen die Leistungsimpulse von Individuen und Gruppen, die sich in rechtsstaatlich abgesicherten Freiheitsräumen entfalten können, hinreichend zum Zuge und summieren sich in dem gegebenen ordnungspolitischen Rahmen zu einer hohen Effizienz. Deshalb haben kaum mehr eine Chance weltanschauungsverdächtige Gesamtentwürfe, • die den Anschein erwecken, als wollten sie mehr sein als Orientierungshilfen für Reformen, als sähen sie für Individuen und Gruppen ein umfassendes Regulierungssystem vor, das nur unter Ausschaltung konkurrierender Mei-nungsund Willensbildung durchgesetzt werden könnte. Die Führung einer etablierten Staatspartei hingegen, die sich als den Sollwertgeber betrachtet, der von außen durch direkt eingreifende Steuerungen die Systemregelung jederzeit durchbrechen kann, muß Herr der gesellschaftlichen Veränderungen bleiben. Sie muß unvermeidliche Veränderungen möglichst im voraus erfassen und diese als von ihr selbst gewollte Veränderungen programmieren, ohne sich und ihr Entscheidungsmonopol verändern zu lassen. Dabei muß sie — etwa im Übergang von einer Phase der extensiven zu einer Phase der intensiven Industrialisierung — selbst imstande sein, grobe Führungsmethoden durch differenziertere, besser geeignete zu ersetzen. Alles in allem eine Aufgabe, die so umfassend wie kompliziert und schwierig ist und die deshalb dazu verleitet, um so eifersüchtiger auf dem Entscheidungsmonopol zu beharren.
Gegenwärtig reagiert die Parteispitze auf Störungen von innen, aber auch von außen besonders allergisch, wobei als „Störung von außen" schon das Vorhandensein einer andersartigen Umwelt empfunden wird. Kann der nunmehr gesetzte Sollwert „entwickeltes gesellschaftliches System des Sozialismus" aber insoweit formuliert und konkretisiert werden, daß die Parteispitze durch Erfolgserlebnisse bewogen werden könnte, von ihrer Sicherheitsmanie Abstriche zu machen und dadurch im Inneren erträglicher und in den innerdeutschen Beziehungen verträglicher zu werden? Rasche Lösungen sind sicher nicht zu erwarten. Es gibt aber Entwicklungen, die interessant werden könnten; dazu ein markantes Beispiel: Eine herangewachsene Schicht von wissenschaftlichen Spezialisten und Planern hat der SED-Führung eine Konzeption erarbeitet, die aus dem etwas vagen gesamtgesellschaftlichen Aspekt zu konkreten Aufgaben mit einer großzügigen Perspektive führen könnte. Diese Vorstellungen sind mit dem ESS in Zusammenhang gebracht worden. Man spricht seitdem davon, daß es gelte, „Systembeziehungen" zwischen industrieller Struktur und Territorialplanung herzustellen.
Hierin drückt sich die Einsicht in die — für jeden Industriestaat bestehende — Notwendigkeit von Raumplanung und Raumordnung aus. Damit ist der Anschluß an die Diskussion und den Erkenntnisstand in den entwickelten Industriestaaten vollzogen worden. Für die DDR hat dieser Problemhorizont jedoch noch eine spezifische Bedeutung: geologisch und wirtschaftsgeographisch ist Sie durch das Süd-Nord-Gefälle bestimmt. Vom industriell entwickelten, dicht besiedelten Süden hebt sich der überwiegend agrarische, dünn besiedelte Norden ab. Hier im Sinne einer Steigerung der volkswirtschaftlichen Effizienz und besseren Nutzung regionaler Ressourcen allmählich einen gewissen Ausgleich zu schaffen, kann Ziel einer weitschauenden Strukturpolitik sein. Dabei geht es einmal darum, die Situation in den bereits bestehenden industriellen Ballungszentren zu überprüfen. Noch gewichtiger ist das Problem, den Norden industriell zu erschließen; dafür besteht die Konzeption, die Investitionstätigkeit in ausgewählte „Entwicklungsstädte" zu lenken. Im agrarischen Sektor sollen den bereits bestehenden und noch zu entwickelnden industriellen Zentren jeweils einige leistungsfähige Gemeindeverbände zugeordnet werden — in einer Größenordnung von je 15 000 bis 25 000 Einwohnern.
Einige Teilfragen, noch keineswegs die Konzeption im Ganzen, hat der durch einen Politbürobeschluß vorbereitete Entwurf des Staats-rates der DDR zur sozialistischen Kommunalpolitik vom 11. Dezember 1969 ausgesprochen, der am 16. April 1970 zum Beschluß erhoben wurde („Die weitere Gestaltung des Systems der Planung und Leitung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, der Versorgung und Betreuung der Bevölkerung in den Bezirken, Kreisen, Städten und Gemeinden"). In ihm heißt es: „Die Gestaltung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus und die Meisterung der wissenschaftlich-tedinisehen Revolution verlangen, die materiellen und finanziellen Mittel konzentriert in den Zentren der Produktion, der Wissenschaft und des gesellschaftlichen Lebens einzusetzen, um die staatlich festgelegten strukturbestimmenden Aufgaben planmäßig und mit höchster Effektivität zu erfüllen. Damit werden zugleich weitere materiell-technische Grundlagen für das Wohnen, für das geistig-kulturelle Leben, für die staatsbürgerliche Erziehung der Jugend, die Bildung, die Versorgung, die gesundheitliche Betreuung und die Ausübung von Körperkultur und Sport geschaffen."
Aus den Kommentaren dazu ist das Referat hervorzuheben, das Fritz Scharfenstein, Minister für die Anleitung und Kontrolle der Bezirks-und Kreisräte der DDR, bei der Eröffnung des ersten Zweijahreskurses zur Ausbildung von Führungskräften für den Staatsapparat in der Babelsberger Akademie hielt (31. August 1970). Er wies auf „das bessere Zusammenwirken der Städte und Gemeinden mit den Betrieben und Kombinaten sowie der Städte und Gemeinden untereinander" hin und zitierte Ulbricht (19. Staatsratssitzung): „Das prinzipiell Neue wird dadurch charakterisiert, daß jetzt auf wissenschaftlicher Grundlage der Weg zum Gesamtsystem der Planung und Leitung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung der Bezirke, Kreise, Städte und Gemeinden und Gemeindeverbände beschritten wird." Die Zahl der vom Ministerrat bestimmten Entwicklungsstädte, „auf die die Mittel und Kräfte besonders konzentriert werden", die „Zentren der Strukturpolitik und des gesellschaftlichen Lebens sind" und in die zentral gesteuerte „Objektplanung" einbezogenwerden, bezifferte Scharfenstein mit 18.
Ulbricht selbst proklammierte die siebziger Jahre als Generalprobe für das Jahr 2000. In ihnen sollen die Fehler in der Territorialplanung, die in der zurückliegenden Zeit gemacht wurden, überwunden werden. Gesucht wird die optimale Synthese zwischen Produktion und Territorium, zwischen Industrie-, Landwirtschafts-, Infra-, Siedlungs-und Verwaltungsstruktur. Seit 1967 gibt es eine Reihe von Einzelmaßnahmen, die aber, wie es heißt, noch nicht zu einem geschlossenen System verbunden sind. Ausgearbeitet, aber noch nicht veröffentlicht, sind eine „Prognose der rationellen Standortverteilung der Produktivkräfte in der DDR", in der die Hauptlinien der Entwicklung der territorialen Struktur der Volkswirtschaft bis 1980 und zum Teil darüber hinaus festgelegt sind, sowie eine strukturpolitische Konzeption der Volkswirtschaft für 1971 bis 1975, welche die Grundlinie der territorialen Entwicklung der Volkswirtschaft enthalten soll.
Das Problem der Raumplanung und Raumordnung in der DDR, mit der Perspektive eines vollentwickelten Industriestaates im Jahre 2000, konnte hier, im Zusammenhang mit dem ESS, nur skizzenhaft angedeutet werden. Ob die mannigfachen Prognosen, die inzwischen in den zentralen Stellen und den Bezirksleitungen ausgearbeitet werden, sich zur gesellschaftlichen Gesamtprognose zusammenfügen, ob überhaupt die damit entstehenden immensen Investitionsprobleme gelöst werden können — das bleiben offene Fragen. Ebenso möglich wäre es z. B., daß der Staatsratsbeschluß zur sozialistischen Kommunalpolitik, der Betriebe und Gemeinden zur Kooperation auffordert, darauf hinausläuft, die bisher erfolgreichste Kampagne in der DDR „Schöner unsere Städte und Gemeinden — mach mit!“ in Permanenz zu erklären.
Man könnte eine Gleichung formulieren: Je geringer die Chancen sind, desto mehr wird die SED-Führung auch weiterhin auf die totale Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik abheben und im Inneren alles Gewicht auf die Bewußtseinsbildung legen. Eine Partei-und Staatsführung hingegen, die sich Erfolgschancen ausrechnet, könnte über ihren Schatten springen und sich überlegen, aus einer gesamteuropäischen — und innerdeutschen — Kooperation Gewinn zu ziehen, um in dem Gebiet, für das sie verantwortlich ist, ein Problem zu lösen, das im Zuge der industriegesellschaftlichen Entwicklung, im Zuge des internationalen Trends der Urbanisierung auh dann zur Lösung anstände, wenn Deutschland nicht geteilt worden wäre.