Der nachfolgende Bericht versteht sich erklärtermaßen als ein Bericht von der „Bildungsfront". Als ein solcher erscheint er geeignet, die an dieser Stelle veröffentlichten theoretischen Erörterungen aktueller Schul-und Bildungsprobleme zu ergänzen. Das vorgelegte Resümee persönliche! Erfahrungen wird sich freilich gelegentlich den Vorwurf unstatthafter Verallgemeinerungen gefallen lassen müssen. Derartige Passagen auszuklammern, erschien der Redaktion gleichwohl nicht zulässig — und auch, um der wohlgemeinten Provokation willen, nicht empfehlenswert.
Einleitung
Wer die Diskussionen um die Reform unseres Bildungswesens nicht so intensiv verfolgt und als Außenstehender mit der Materie nicht sehr vertraut ist, mag sich manchmal fragen, ob nicht wohldosierte Zweckpropaganda ein übertriebenes und verzerrtes Bild der tatsächlichen Verhältnisse zeichne, während die Wirklichkeit eben doch nicht so schlimm sei. Sich derart zu beruhigen, hieße aber, sich gründlich täuschen. Die folgende Studie entstand im Anschluß an ein Schulpraktikum und will , aus erster Hand'informieren. Sie ist als Bericht direkt von der Bildungs-„front" gedacht, so wie diese sich einem Lehramtskandidaten heute darbietet.
Vier Wochen, ca. 70 Unterrichtsstunden, habe ich an einer Grundschule hospitiert, deren Auswahl praktisch dem Zufall überlassen war. Ich besuchte alle Klassen von
Eine an streng wissenschaftlichen Maßstäben orientierte Unterrichts-oder Schulanalyse ist mit dieser Fallstudie nicht beabsichtigt, vermutlich auch nicht möglich. Ich will mit ihr vor allem dokumentieren, wie mir der verlangte „Einblick gewährt" und eine „Orientierung ermöglicht" 1) worden ist. Im übrigen bin ich der Meinung, daß auch eine verfeinerte wissenschaftliche Untersuchung an dieser Schule meine Ergebnisse sicher bestätigen würde.
Aus gegebenem Anlaß möchte ich schließlich in aller Form darauf hinweisen, daß es mir nicht darum geht, eine einzelne Schule oder ein einzelnes Lehrerkollegium zu diskreditieren — dazu habe ich keine Veranlassung —, vielmehr geht es um die Aufdeckung systemimmanenter Zustände, Zwänge und Automatismen, denen sich Lehrer und Schüler offensichtlich nicht entziehen können.
Meine Beobachtungen habe ich in den nachstehend näher ausgeführten sieben Sachgebieten zusammengefaßt. Es handelt sich dabei nicht um vorformulierte Punkte, denen ich von vornherein besondere Aufmerksamkeit widmen wollte, sondern um das Ergebnis der Auswertung meiner Notizen. Denn nahezu jede Unterrichtsstunde , eckte'irgendwo an den engen Grenzen an, die ihr gesteckt waren. Es versteht sich, daß enge Wechselbeziehungen zwischen all diesen Themenkreisen bestehen; die getrennte Abhandlung soll daher Akzente setzen und den Überblick ermöglichen.
Vorkommende Namen sind verändert, nur Ort und Zeit sind authentisch: Berlin im Jahre 1970.
I. Technische Ausstattung der Schule zur Rationalisierung des Unterrichts
Äußerlichkeiten fallen zuerst auf, daher der bewußt hochstapelnde Titel dieses Kapitels. Die . technische'Ausstattung der Unterrichtsräume beschränkt sich im allgemeinen auf Tafel, Kreide, Schwamm, Kartenständer und Papierkorb. Ein Schrank ist noch vorhanden, evtl, ein Zeigestock
In diesem Zusammenhang auch ein kurzer Blick auf den Informationsfluß von Behörde und Rektor zum Lehrer. Er beschränkt sich, neben Umlaufmappen und Aushängen, anscheinend auf die mündliche Bekanntgabe neuer Verfügungen und Bestimmungen bei Lehrerkonferenzen. Dabei kommen dann zum Beispiel auch zur Sprache: neue Anordnungen über die Angabe von Geschäftszeichen bei Schreiben an die Behörde einschließlich der zu verwendenden Farbe für einzelne Vermerke. Angesichts solcher antediluvialen Zustände fragt man sich, wozu es Vervielfältiger, Foto-kopierer, Tonband, Schallplatte, Dias und Filme gibt, ebenso Rundfunk und Fernsehen, von Lehrprogrammen und Lernmaschinen gar nicht zu reden. Nicht einmal solche selbstverständlichen Organisations-und Informationsmethoden, wie sie sich durch Post-und Telefon ergeben, scheinen voll ausgenutzt zu werden. Auf den Stand der innerbehördlichen Rationalisierung läßt sich danach leicht schließen.
II. Aufbau und Schematisierung des Unterrichts
Von den beobachteten Stunden ausgehend, läßt sich folgendes idealtypische Aufbauschema einer Unterrichtsstunde abstrahieren:
a) Begrüßungszeremonie, b) kurzer Organisationsvorspann, unter allgemeinem Volksgemurmel (Klassenbuch, Bekanntmachungen usw.), c) Kontrolle der Hausarbeiten und kurze Hinweise oder Diskussion, evtl. Exkurs: mehr oder minder detaillierte Repetition, auch mit arbeitstechnischen Tips, d) Einführung neuen Stoffes, gemeinsame Arbeit, selten Gruppenarbeit mit anschließender Auswertung in Diskussionen; selten besonderes Eingehen auf die Bedürfnisse leistungsschwacher Schüler, entweder während die übrige Klasse arbeitet, oder unter allgemeiner Pause, e) Vorstellung der Hausaufgabe, f) Verabschiedungszeremonie.
Je nach Stoff, Klasse und Lehrer wird dieses Schema leicht abgewandelt; zum Beispiel kommt man nach einem Klassenausflug nicht gleich zum Stoff oder das gemeinsame Erlebnis wird in den Unterricht mit einbezogen, was etwa im Unterrichtsfach Deutsch sehr leicht zu bewerkstelligen ist. Die Klasse wird schriftlich beschäftigt, wenn der Lehrer längere Zeit beansprucht wird oder wichtige Organisationsarbeiten zu erledigen hat, zum Beispiel am Bestellung der Ende des Schuljahres die Klassenfotos, Bücherrückgabe etc. — Schon hier sei angemerkt, daß . gemeinsame Arbeit’ im Regelfall heißt: überwiegend Vortrag durch den Lehrer.
Dieser Aufbau läßt sich natürlich verteidigen. Zu wenig wird aber auf jeden Fall in Gruppen gearbeitet, in manchen Klassen offenbar überhaupt nicht. Auch kommen die leistungsschwacheren Schüler eindeutig zu kurz, was sie ja nur noch weiter zurückwirft. Hier sind aber die Möglichkeiten des Lehrers bereits vom Schulsystem her beschränkt: hohe Klassenfrequenzen, primitiver technischer Standard, vorgegebener Lehrplan, starre Klassensysteme nach Jahrgängen usw. Die konsequente Organisation des Unterrichts nach den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Schüler würde ohne Zweifel zur Auflösung dieser Form von Unterricht führen (siehe auch Kap. V und VII).
III. Einige überstoffliche, nicht formale Lerninhalte
1. Selbständigkeit im Denken Es zeigte sich im Mathematik-und Deutschunterricht, wie schwierig es ist, die Schüler vom schematischen Rechnen oder Denken abzubringen hin zu selbständigen Denkoperationen — jene werden von der Mehrzahl gut bewältigt, diese nur von einer kleinen Minderheit. Diese Feststellung wird natürlich relativiert durch den Entwicklungsstand der Schüler (maximal 12, Ausnahmen bis 15 Jahre), doch zeigt das Beispiel einer 3. Klasse (siehe Kap. VII, 5), daß die systematische Förderung der Selbständigkeit der Kinder auch zu verblüffend selbständigen Denkprozessen Anstoß geben kann, überhaupt scheint —-wie noch zu zeigen sein wird — allgemein die Denk-und Urteilsfähigkeit von Kindern unterschätzt zu werden. 2. Sprachvermögen und soziale Schicht-zugehörigkeit Besonders schwer fällt es den Schülern, abstraktere Sachverhalte zu formulieren, was neben dem Alter zum guten Teil einfach mit dem sozialen Hintergrund der Schüler zusammenhängt. Ansätze zur Kompensation dieser Schwäche wirken äußerst bescheiden angesichts des Ausmaßes an Unbeholfenheit. Ich habe dabei besonders ein Beispiel kompensatorischen Sprachunterrichts zu nennen: anhand selbst zusammengestellter Begriffsgruppen (offenbar steht ein entsprechendes Ausgleichs-programm für Zwölfjährige nicht zur Verfügung) übt eine Lehrerin in ihrer Klasse die möglichen Bezeichnungen für Gefäße. Dies geschieht ganz zweifellos in der besten Absicht — ob solche improvisierten Einlagen aber zum Kern des Übels, eben dem , Milieu'vorstoßen, ist doch sehr zweifelhaft. Im Grunde sind hier umfassende Maßnahmen notwendig, die schon im Kindergarten einsetzen und die betreffenden Kinder jahrelang begleiten müßten.
Konsequenterweise ist die Beteiligung am Mathematikunterricht im allgemeinen reger als im Deutschen — hier gibt es weniger Sprach-Schwierigkeiten. Vor allem arbeitet hier auch das letzte Drittel der Klasse noch relativ gut mit. Dementsprechend wirkt der Deutschunterricht vielfach langweilig, erscheint als reine Formalausbildung, weil vernünftige Begründungen oft nicht zu geben sind (zum Beispiel für Rechtschreibregeln).
Die Kernfrage aber, die hinter diesen Problemen steckt, ob nämlich die traditionell hohe Bewertung des Ausdrucks-und Sprachvermögens richtig und gerechtfertigt sei, wird an der Schule überhaupt nicht gestellt. Dies betrifft nämlich auch und gerade alle nichtsprachlichen Fächer. Dazu einige Bemerkungen:
Gerade in den letzten Jahren ist für England und die Bundesrepublik nachgewiesen worden, daß Kinder der Unterschicht bei gleicher Intelligenz im Vergleich zu Kindern des sozialen Mittelstands auf der Schule besonders benachteiligt werden, und zwar zum großen Teil wegen ihres unterentwickelten Sprach-und Ausdrucksvermögens. Dem (meist aus dem Mittelstand stammenden) Lehrer fällt bei diesem Prozeß als bevollmächtigtem Agenten der traditionellen Gesellschaftsordnung eine Schlüsselrolle zu: bewußt oder unbewußt zieht er sprachgewandte, also meistens wieder aus der sozialen Mittelschicht stammende Kinder vor. Die Diskriminierung der Kinder niederer Gesellschaftsschichten äußert sich zunächst in schlechteren Zensuren, in der Summe und auf die Dauer bei den Versetzungen und endlich beim Übergang auf eine weiterführende Schule. Auf diese Weise wird gewährleistet, daß ein Arbeiterkind in der Regel seiner Sozialschicht nicht entrinnt, denn die Grundschule mit ihrem bisher noch unkorrigierten sehr frühen Auslesemechanismus macht eine solche einmal getroffene Entscheidung für die meisten Betroffenen praktisch irreversibel. Chancen-gleichheit muß unter solchen Bedingungen Utopie bleiben. Zusammenfassend kann also gesagt werden, daß ein Schüler im Lauf der Zeit auch seine Schichtzugehörigkeit . lernt'.
Durch die Kombination der beiden zuletzt aufgeführten . Tugenden’ werden diese natürlich in ihrer Wirkung potenziert — im . Idealfall’ entsteht ein Radfahrertyp in Reinkultur, normalerweise wird ein mehr oder weniger austauschbarer, gehorsamer . Arbeitnehmer'und Filzpantoffelbürger erzogen werden, dessen . kritische Masse'nicht zu fürchten ist und dessen Aktivität und Selbstbewußtsein sich in Grenzen halten.
IV. Zur sozialen Stellung der Schüler
1. Allgemeines Wenn hier von . sozialem Hintergrund’, . Milieu’ und ähnlichem gesprochen wird, so soll das im konkreten Fall den Lebensbereich andeuten, dem die Kinder dieser Schule zum großen Teil entstammen: großstädtische Arbeiterwohngegend, teilweise in unmittelbarer Nachbarschaft von Industriebetrieben, Altbau-blocks, oft Hinterhofatmosphäre mit unzureichender Unterbringung großer Familien, mit vielfach schlechten sanitären Verhältnissen, mit zu wenigen Spielplätzen*), relativ wenigen Neubauwohnungen, vielen Autos und mit allen Nebenerscheinungen, die solche Verhältnisse zur Folge haben. Im ganzen also eine eher kinderfeindliche Umgebung. Dazu kommt noch die Wirkung der Schulverhältnisse.
Zu wenig oder überhaupt nicht berücksichtigt bleibt in der täglichen Unterrichtspraxis dieser, soziale Hintergrund des einzelnen Schülers. Dafür hat der Lehrer offenbar auch gar keine Zeit. Wenn man allerdings sieht, daß schon Neunjährige gewisse soziale Mechanismen und Konsequenzen klar durchschauen 4), muß man sich doch fragen, warum zum Beispiel immer noch nach dem alten Sechserschema benotet wird, das ja soziale Einflüsse nicht berücksichtigt (abgesehen davon, daß Benotung überhaupt äußerst fragwürdig ist, weil sie in den allermeisten Fällen nicht objektiv sein kann). Man fragt sich, warum es auf den Zeugnissen noch immer diese unsinnige, kurzgefaßte Gesamtbeurteilung gibt, warum schließlich der Unterricht so undifferenziert in starren Klassenverbänden ablaufen muß. Theoretisch sind diese Probleme alle längst bekannt, daß jedoch daraus praktische Konsequenzen gezogen worden wären, habe ich nirgendwo gesehen. 2. Ausländische Kinder In einigen Klassen sitzen ausländische Kinder. Sie können natürlich nur unter großen Schwierigkeiten dem Unterricht folgen. Um sie besonders zu betreuen (vorausgesetzt, er wäre sprachlich dazu in der Lage), müßte der Lehrer die Klasse vernachlässigen. Landsleute dieser Kinder stehen an dieser Schule als Lehrer nicht zur Daß auch Differenzierung hier nötig wäre, ist klar. Man könnte sich etwa eine überbezirkliche Zusammenfassung oder auch innerbezirkliche gesonderte Betreuung dieser Kinder vorstellen. Auf jeden Fall ist ihnen mit der derzeitigen Lösung nicht gedient. Ihre Eltern, die als „Gast" -arbeiter bei uns leben und tätig sind, sind nicht in der Lage, die Ausbildung ihrer Kinder zu steuern, dazu sind die Schwierigkeiten im fremden Land einfach zu groß. So stehen diese Kinder isoliert auf der Seite und gewinnen für ihre Ausbildung absolut nichts. 3. „Sitzenbleiber"
Etwas ausführlicher zur Behandlung der „Sitzenbleiber“: Daß ihre mangelhaften Leistungen zum Teil auf das Konto ihres . Milieus'gehen, ist offensichtlich. Pauschal kann man wohl sagen, daß ein sitzengebliebener Schüler auch ein tendenziell (oder ganz handfest) . Milieugeschädigter" ist, wie der amtliche Euphemismus lautet. Eine 6. Klasse dieser Schule mag als besonders übles Beispiel dienen: Von 23 Schülern sind zehn überaltert. Von diesen zehn sind drei im siebten, sieben sogar im achten Schuljahr! Darunter sind auch wirkliche Extremfälle, die dann irgendwann aus „gesamtpädagogischen Gründen“ mitversetzt werden. Unter psychologischem Aspekt gehe ich auf diese Problematik in Kap. VI näher ein.
Festzuhalten bleibt, daß unser Schulsystem zu wenig Möglichkeiten bietet, diesen Kindern eine besondere Ausbildung zukommen zu lassen. Sie sind auf die Gutwilligkeit und Einsicht ihrer Lehrer angewiesen. Wenn sich der Lehrer streng an seine Bestimmungen hält, können sie verloren sein. Wie bei der Post trifft man auch an der Schule auf das Paradoxon, daß Dienst nach Vorschrift den Betrieb lähmt und dem Kunden schadet. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Unter diesen Schülern sind viele, die die erwarteten Leistungen erbringen könnten, wenn man ihnen eine echte Chance gäbe!
Besondere Komplikationen stellen sich ein durch die Zusammenfassung von „Sitzenbleibern" mit normalaltrigen Schülern in einer Klasse. In der von mir besonders beobachteten Klasse stehen sie deutlich außerhalb des Verbandes der . Normalen'. Sie bekommen das auch im Unterricht mehr oder weniger deutlich zu spüren je nachdem, ob der Lehrer Diskriminierungen abschneidet, zuläßt oder gar selbst betreibt — was durchaus nicht so selten ist. Ein deutliches Beispiel für diese Trennung lieferte ein 13jähriger Wiederholer in einem Erlebnisbericht: zweimal gebrauchte er auf drei Seiten die ungewöhnliche Formulierung „die Klasse und ich", wo es bei den andern einfach „wir" hieß. Und am letzten Tag (Zeugnisausgabe, die Klasse ging auseinander in die verschiedenen Oberschulen) hatten sich viele Schüler feiner angezogen als sonst — aber keiner der „Sitzenbleiber“! Sie gehörten nicht dazu, für sie war es gleichgültig, es war kein . Erfolg'in dem Sinn wie für die andern. Sicher ist da ein Stück Resignation mit im Spiel.
Angesichts solcher Zustände und Verhaltensweisen erscheint es absurd und überheblich, wenn der Lehrer einem der „Sitzenbleiber" , mit auf den Weg gibt': „ ... aber ein anständiger Kerl ist er im Grunde doch, das ist sehr wichtig!" Die Versicherung, ein . guter Mensch'zu sein, ist wohl auch heute noch der Trost für den kleinen Mann.
V. Mangelhafte Ausbildung der Lehrer
1. Einige bezeichnende Beispiele Abgesehen davon, daß manchmal wirklich hätte meinen können, einige der Lehrer hätten überhaupt keine Ausbildung für ihre Tätigkeit genossen (ich konnte mich oft des Eindrucks nicht erwehren, als wären da biedere Handwerker und Hausfrauen improvisierend am Werk, abgesehen von dieser unsympathischen Atmosphäre, habe ich mir einige eklatante Schnitzer als Beispiel dafür notiert, daß die Qualität der Ausbildung und damit die Qualität des Unterrichts sehr zu wünschen übrigläßt:
„Jana, wann du nun Jugoslawien?" fragt ein Deutschlehrer eine der Ausländerinnen. Er meint offenbar, diese imitierte Babysprache sei leichter zu verstehen.
„Das ist einer unserer Experten — er gibt hier ja nur Gastrollen, was Otto?!" So wird ein „Sitzenbleiber" vom Lehrer vor der ganzen Klasse vorgestellt. Das ist nicht nur psychologisch falsch, das ist in hohem Maße diskriminierend. Eine Fachlehrerin kommt mit dem Ton in der Klasse — Abbild des heimatlichen Milieus — nicht zurecht und will die Sitten verfeinern. Sie besteht darauf, daß sich ein Neunjähriger bei seinem Mitschüler dafür entschuldigt, daß er ihn „Arschloch" genannt hat. Als sie es endlich unter Anwendung von Druck erreicht hat, ist es dem . Beleidigten’ bereits völlig egal, was vor drei Minuten geschehen war. — Die Maßstäbe von Schülern (und deren Eltern) und Lehrern sind also völlig verschieden voneinander, was die Lehrerin aber nicht in ihr Handeln einbezieht. „Für dich eine ausgezeichnete Leistung!" — Zu einem „Sitzenbleiber" gesprochen, wohl als Lob gemeint.
Eine Lehrerin macht sich im Englischunterricht über einen Schüler lustig, der „tale" (Märchen) mit „tail" (Schwanz) verwechselt und verspottet ihn unter dem Gelächter der ganzen Klasse. Dabei weist sie aber im Unterricht selbst Mängel in Wortwahl und Aussprache auf und überhört etliche Fehler der Klasse. Auch hier wird also allein aufgrund vorhandener Machtposition diskriminiert.
Vulgärpsychologie in der Lehrerkonferenz: „Wissen Sie, wenn einer keinen Besserungswillen zeigt. ..!" oder: „Ja, bei dem habe ich auch gemerkt, daß er will!" — Dies aus dem Beitrag eines Lehrers zur Frage, ob bestimmte Schüler versetzt werden sollen. — Karl Valentin und Liesl Karlstadt bringen in ihrer Szene „In der Apotheke" einen Parallelfall: Valentin will eine Arznei holen, weiß aber nicht genau welche:
V: Das Kind sagt nicht, wo es ihm wehtut! Idi hab’ zu ihm gesagt: Wenn du schön sagst, wo es dir wehtut, kriegst du später ein wunderschönes Motorrad! Aber das Kind sagt nichts — es ist verstockt!
K: Wie alt ist denn das Kind?
V: Sechs Monate alt.
K: Aber mit sechs Monaten kann es doch noch nicht sprechen!
V: Das nicht — aber deuten könnt'es doch, wo es ihm wehtut! 2. Kommentar Die Einstellung, die hinter diesen Handlungsweisen steht, hat ohne Zweifel eine starke Affinität zum genetischen Begabungsbegriff: die Einsicht in die soziale Bedingtheit auch der Intelligenz und der „Begabung" ist kaum vorhanden. Auch die Tatsache, daß die Leistungserwartung die tatsächlich folgende Leistung wesentlich mitbestimmt, scheint weithin unbekannt zu sein. Starres Sich-über-alle-Zweifel-Hinwegsetzen kennzeichnet das Verhalten der meisten Lehrer gerade dort, wo ein wenig Aufmerksamkeit und Einfühlung in die Probleme des Schülers nötig wären. Der Blick durch einen derart groben Raster findet dann nur die vorhandenen Ansichten bestätigt, wo in Wirklichkeit der eine Schüler längst diskriminiert und entmutigt, der andere unbewußt vorgezogen und gefördert worden ist.
VI. Zur psychologischen Situation von Schüler und Lehrer
Deutlich fällt auf, daß sich Schüler der Anfängerklassen (1 bis 4) spontaner und eifriger am Unterricht beteiligen, als die Älteren der Klassen 5 und 6. Sie leisten eher spiel-artige Mitarbeit und sind leicht zu begeistern. Anordnungen oder Anregungen des Lehrers werden mit „auja!“ und „juhu!" aufgenommen; allerdings hatte ich den Eindruck, als würde die dabei freigesetzte Energie zu oft in vorgeformte Bahnen gelenkt und durch penetrante und permanente (Dienst-) Anweisungen gesteuert bis reglementiert. Inwieweit das Ende dieser ursprünglichen Vitalität entwicklungspsychologische Ursachen hat (Beginn oder erste Anzeichen der Vorpubertät?), wäre im einzelnen zu klären. Möglicherweise kommen aber die ständige Reglementierung und Ausrichtung als Gründe ebenso in Betracht. Idi neige dazu, die Wirkung dieser tagtäglich sich wiederholenden Maßnahmen nicht gering einzuschätzen.
Auf die besondere Problematik der „Sitzenbleiber" ist auch unter psychologischemAspekt einzugehen. 15jährige in einer Klasse von sonst 12jährigen sind Realität. Das bedeutet, daß sich Schüler auf völlig verschiedenen Entwicklungsstufen in einer Klasse befinden. Sind schon in einer normalen Jahrgangsklasse oftmals deutliche Unterschiede zu sehen (Schüler, die noch wie Kinder wirken neben jungen Mädchen und sichtlich gereifteren Halbwüchsigen), so wird dieser Gegensatz durch die Wiederholer noch verstärkt und es kommt zu zwergschulartigen Verhältnissen in einer voll-ausgebauten Schule.
Wenn man bedenkt, daß im ungünstigsten Fall eine Zensur in einem einzigen Fach die Wiederholung eines ganzen Schuljahrs bewirken kann, so ist zu bezweifeln, daß das die optimale Lösung ist. Die Einrichtung von Fach-Förderungskursen für potentielle Wiederholer wäre sicher eine angemessenere Maßnahme. Es scheint mir jedenfalls sicher, daß die „Sitzenbleiber" durch das bisherige System in ihrer Entwicklung eher gehemmt werden, als daß ihnen die Wiederholung eines Klassenpensums nützte. Wenn man beobachtet, wie apathisch sie teilweise die Stunden absitzen — am Unterricht beteiligen sie sich meistens nur nach besonderer Aufforderung —, ist ein Eindruck zwingend: hier wird Resignation erzeugt und anerzogen und lediglich dem Gesetz Genüge getan. Das Gefühl ständigen und unausweichlichen Manipuliertwerdens muß für diese
Schüler der beherrschende Eindruck sein. Äußerung eines Lehrers bei der Zeugnis-und Versetzungsdebatte: „... dann bin ich auch bereit, meine Englischzensur ein bißchen anders zu gestalten . . ." Was sind die Kriterien für solche Entscheidungen?
Einige Bemerkungen noch zur Lage der Lehrer: Ziemlich verbreitet ist die Kenntnis der Grundregel, daß gute Ergebnisse sofort gelobt und bestätigt werden müssen, wenn der Lernprozeß begünstigt werden soll — fast alle Lehrer praktizieren sie auch entsprechend. Diese elementare Einsicht wird aber durchaus vernachlässigt, wenn es um die Arbeit der Lehrer selbst geht. Viele Lehrer sind von Bitterkeit erfüllt, wenn sie nicht bereits deutlich Minderwertigkeitsgefühle, Haßreaktionen oder Resignation zeigen gegenüber der Schulverwaltung oder ihren Schülern. „Ein Drittel der Lehrer unterrichtet zwei Drittel der Schüler Berlins", lautet die Faustformel. Das heißt vor allem: zu große Klassen, und das schon jahrelang. Dazu noch miserable finanzielle und räumlich-technische Ausstattung.
Beispiele für diese fatale Einstellung der Lehrer gab es auf der Lehrerkonferenz, wo dann aber lächerlich anmutende Diskussionen um die Regelung der Pausenaufsicht, die Schüler-bücherei oder andere organisatorische Details geführt wurden, statt daß man sich intensiv um die Änderung der vorhandenen Mißstände kümmerte. Auf diese Weise vermag nach meiner Überzeugung der Grundschullehrer seine isolierte Position nicht zu durchbrechen: allein gelassen mit Problemen, die dem Schulsystem anzulasten sind, ausgestattet mit seinem individuellen Pflichtbewußtsein, einer ungenügenden Ausbildung für einen harten Beruf und praktischer Kompetenzlosigkeit, wenn es um die Entscheidung wirklich relevanter Fragen dieses Berufs geht.
Ein älterer Lehrer ließ per Nebensatz deutlich erkennen, wie klar er trennt zwischen Grundschul-und Gymnasiallehrern: Zwei Hospitanten der Freien Universität (also künftige Studienräte) verabschieden sich: „. . . aber Sie haben ja sicher bald wieder Studenten hier". Darauf die Antwort: „Ja, aber von der Pädagogischen Hochschule, das macht mehr Arbeit, aber die werden ja auch Lehrer!“ — Es gibt also kein Zusammengehörigkeitsgefühl, kein Bewußtsein , Wir sind Lehrer', sondern statt dessen eine Hierarchie von verschieden privilegierten, ungleich bezahlten und getrennt ausgebildeten Lehrern. Daß es bei dieser hierarchischen Mentalität keine Zusammenarbeit gibt, leuchtet ein. Und die Grund-schullehrer leisten, ihrem Selbstverständnis nach, die Dreckarbeit.
Ansätze von Aufbegehren zeigten sich bei der Diskussion der Bedingungen für Fortbildungskurse, doch das Pflichtbewußtsein oder das, -was dafür gehalten wird, ist ein stark hemmender Faktor schon bei der Artikulation der eigenen Wünsche, von Resolutionen oder praktischen Schritten ganz zu schweigen. So weit geht das Demokratieverständnis nicht. Bis zum Senator wird von diesem Kollegium kaum ein Ton vordringen. Das diese äußerst unbefriedigende Situation den Lehrer auch im Unterricht negativ beeinflußt, ist allzu verständlich. Bis zum Sadismus ist es oft nur noch ein Schritt, wie im Folgenden zu sehen ist.
VII. Autoritäre Strukturen in Klasse und Schule und ihre Konsequenzen für die Unterrichtspraxis
1. Allgemeine Einführung In der Fachliteratur wird im wesentlichen zwischen drei Unterrichts-oder Führungsstilen unterschieden: dem autoritären, dem demokratischen oder sozial-integrativen und dem laissez-faire-Stil. Letzteren lasse ich hier unbeachtet, weil er in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung ist, und beschränke mich im übrigen auf den Versuch, einige wesentliche Unterscheidungsmerkmale kurz darzustellen:
Das Verhalten des demokratischen Lehrers ist bestimmt von einer grundsätzlich partnerschaftlichen Beziehung zum Schüler, was sich in verschiedener Weise typisch äußert:
— Seine Interaktionsform ist reversibel, das heißt, der Schüler kann dem Lehrer auf dieselbe Art gegenübertreten, wie dieser ihm begegnet.
— Er fördert Gruppenarbeit, weil sie den Schülern vielseitige Kontakte ermöglicht und sozial positive Verhaltensweisen begünstigt (Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, Anerkennung fremder Leistung, Kooperation, Selbständigkeit). — Auch gegenüber traditionellen „Autoritäten“ (Vorgesetze, Behörde, Kirche, Moral, Sitte und Brauch) bewahrt er seine selbständige und kritische Einstellung, so wie er auch sich selbst gegenüber Kritik zuläßt.
Der autoritäre Lehrer praktiziert nun nicht nur einfach entgegengesetzt, sondern vermittelt implizit weitere nicht unwesentliche Inhalte:
— Sein irreversibles Verhalten bedeutet zugleich das „Klassifizieren von Menschen in Personen unterschiedlicher Achtung"
Unten-Denken und erzieht damit zur Anpassung an ein nicht-demokratisches Gesellschaftsmodell. — Er neigt dazu, die Schüler zu bevormunden, sie für unselbständig und unreif zu halten und betont dementsprechend Unterordnung und , Disziplin'. Er versucht, , Störer'zu isolieren und drängt die Schüler, sich geistig so an ihn gebunden und sich so von ihm abhängig zu wissen, daß kooperatives Handeln weitgehend ausgeschlossen bleibt und die Schüler zu Konkurrenz untereinander aufgefordert sind. Diese unbefriedigende Situation führt bei den Schülern zu Spannungen und Aggressionen, die sich in den Pausen oder bei anderer Abwesenheit des Lehrers in Streit und gesteigerter Motorik entladen. Es kann keine Atmosphäre entstehen, die befriedigende Sozial-beziehungen innerhalb der Klasse zuläßt. — Seine unreflektierte Fügsamkeit gegenüber wie immer gearteter Autorität zementiert traditionelle, weithin unproduktive und unnötige Abhängigkeitsverhältnisse und führt in letzter Konsequenz zu totaler Unmündigkeit.
Nun wäre es einfach, wenn ein Lehrer sich bloß vorzunehmen brauchte, sozial-integrativ zu wirken; wenn es also genügte, die Lehrer ernsthaft und mit Argumenten zu ermahnen, doch demokratisch-emanzipatorischen Unterricht zu machen. Tatsächlich liegen die Dinge aber nicht so einfach; vielmehr besteht bei einem autoritär praktizierenden Lehrer in der Regel auch eine autoritäre Persönlichkeitsund Charakterstruktur, die im Lauf der jeweiligen Lebensgeschichte vielfach bestätigt und stabilisiert worden ist, so daß für eine autoritäre Persönlichkeit schließlich jeder Angriff auf autoritäre Strukturen in ihrem Lebensbereich zwangsläufig einen Angriff auf sie selbst darstellt. Diese Identifikation verbindet also personale mit Sachproblemen und hat zur Folge, daß Diskussionen — als Form des Unterrichts — gehemmt und Änderungen jeglicher Art außerordentlich erschwert werden.
Solche Verquickungen sind symptomatisch für den Zusammenhang zwischen autoritärhierarchischen Strukturen im Schulsystem einerseits und autoritärem Unterrichtsstil den Schülern gegenüber auf der anderen Seite. Denn als Untergebener von Rektor, Schulrat, Oberschulrat und Senator gibt der Lehrer, offenbar notwendigerweise, den Druck weiter, dem er selbst ausgesetzt ist, oder er versucht es jedenfalls. Und dieser Druck formt die Kinder zu dem, was als richtig galt, als dieses System aufgebaut wurde und das nicht zufällig im Militärbereich verwurzelt ist: zu gehorsamen Befehlsempfängern. 2. Grüßen Der Unterricht beginnt mit einem regelrechten Begrüßungszeremoniell: Die Klasse erhebt sich beim Eintritt des Lehrers, meistens durch einen Aufpasser an der Tür rechtzeitig auf dessen Erscheinen hingewiesen, erwidert seinen Gruß im Chor, eventuell mit Verbeugung, wartet die Anweisung zum Setzen ab, setzt sich und tut auf Anweisung die ersten Handgriffe in die Mappe oder ans Schreibzeug. Sehr viele der Schüler gehorchen aufs Wort.
Diese Begrüßungsform wird ergänzt durch etliche Feinheiten, zum Beispiel Verbeugung und Knicks vor einem Lehrer während (!) des Vorbeigehens oder Vorbeilaufens (!) auf den Fluren und auf dem Schulhof. Ein Lehrer berichtet, auf eine bestimmte Art seines Blickes werde er garantiert von jedem Schüler gegrüßt. Das Grüßen des Lehrers, ich habe das am Schluß einer Stunde erlebt, wird auf Anweisung, häufig auch mehrmals, wiederholt, wenn es nicht befriedigend war, etwa, wenn die Klasse „zu laut" aufgestanden ist.
Zu dieser . Formalausbildung'gehört auch, daß die Schüler „gerade" zu sitzen haben, die Hände auf dem Tisch liegen sollen. Bei einigen Lehrern müssen die Schüler beim Sprechen aufstehen.
Feierlich und oft mit rührendem Ernst auf Seiten der Schüler schütteln sich Lehrer und Schüler bei der Übergabe des Zeugnisses die Hände. 3. Autoritärer Unterricht Der Lehrer hält die Zügel der Disziplin und der Unterrichtsmethode jederzeit straff in der Hand und lenkt seine Klasse sicher durch die Fährnisse des Denkens und Zweifelns. Unterstützende Zurufe wie „Zack-zack!" — „Jetzt aber dalli!" — „Los, los!" oder „Schneller, Herrschaften!" schaffen die geeignete leistungsorientierte, denkfördernde Stimmung. Wer die strenge Weisungsorientierung ablehnt oder zu kritisieren wagt, wird gemaßregelt: „Karl, ob du willst oder nicht, das macht gar nichts!" Diskussionsbeiträge und Initiativen, die abzuschweifen scheinen, werden unterbrochen, abgeschnitten, unterbunden, ironisiert, lächerlich gemacht. Der spannungsgeladenen Atmosphäre entsprechen die kurzen, bruchstückhaften Beiträge der Schüler. Da aber der Vortrag des Lehrers, seine Fragen und Anweisungen das Unterrichtsgeschehen bestimmen, ist diese Aufforderung natürlich sinnlos, denn eine freie Diskussion, die dann notwendig längere Beiträge erforderte, kann ja nicht entstehen. Beispielsweise wird ein zu schreibender Aufsatz besprochen, der Lehrer läßt Themen Vorschlägen, anschließend bestimmt er selber eines. Gegebene Versprechen werden nicht eingehalten, eine besimmte, fest zugesagte, wohl angenehme Stunde wird nicht abgehalten. Einmaleins-Abfragen wird angedroht — nicht zur Strafe, nur für eine Zensur. Einige Lehrer rufen Schüler mit deren Spitznamen auf oder diskriminieren sie durch Arroganz, Ironie und gönnerhaften Ton: „Na, du komischer Vogel!" — „Das ist einer unserer Experten . . ." (gemeint war ein „Sitzenbleiber") und dergleichen mehr.
Besonders betroffen sind von solcher Art Pädagogik übrigens gerade die leistungsschwachen Schüler, namentlich aber die, die als „Sitzenbleiber" abgestempelt sind. Sie sind ständig Ziel und Opfer diskriminierender Aggressionen durch Klasse und Lehrer. Offenbar fungiert die Gruppe der Leistungsschwachen in der Gesamtheit der Leistungsorientierten tatsächlich als . notwendiger'Blitzableiter für angestauten Unmut. Sie können außerdem schadlos verachtet, verspottet und lächerlich gemacht werden, denn sie leisten nichts, haben also auch keine Autorität. Daß die Erwartung die Leistung wesentlich mitbestimmt, haben diese Lehrer wohl noch nicht gehört. Analog zu diesem Verhalten versucht ein Lehrer auch, die zufällig anwesenden Schüler einer 5. gegen die der 4. Klasse auszuspielen und so eine künstliche Wettbewerbssituation zu schaffen. Soweit ein Konzentrat autoritärer Praktiken im Unterricht, wie es sich in der Gesamtschau nachträglich darbietet. Natürlich unterrichtet nicht jeder Lehrer mit derartigen Methoden, aber das Bild ist doch recht einheitlich. Einige Lehrer lassen neue Englisch-Vokabeln, kurze Rechenaufgaben u. ä. innerhalb der Klasse als Reihum-Aufgaben zirkulieren, die Schüler fragen einander ab. Dagegen ist selbstverständlich nichts einzuwenden. Bemerkenswert aber, wie auch dann — und besonders, wenn ein Schüler vor die Klasse treten „darf" — die „Sitzenbleiber" und Leistungsschwacheren ohne Diskriminierung nicht über die Runden kommen. Hier tritt also der Lehrer für einen Augenblick Machtbefugnisse ab oder delegiert sie, und der Schüler nutzt diese Rechte sofort, indem er Druck weitergibt und seinerseits Macht ausübt.
Es entspricht dieser Art von Unterrichtsstil, Leistungs-und Konkurrenzdenken, daß sich die Spitzengruppe einer Klasse dann auch bei Gruppenarbeit deutlich von den andern abzusetzen bemüht
Bei der Beobachtung verschiedener Klassen fällt auf, daß der autoritäre Lehrer seine Selbst-bestätigung offenbar darin findet, daß er seine Klasse gut disziplinieren kann. Die Befähigung des Lehrers ist also um so größer, je besser er Ruhe halten, die Klasse „diszipliniert" arbeiten lassen kann. Geringe Phon-stärke gilt als Garant für gute Leistungen. Die Arbeit, die dann geleistet wird, wird a priori positiv bewertet. Sachdiskussionen zwischen den Schülern sind damit meistens auch ausgeschlossen, denn Gespräche („Schwätzen") sind ja verboten. Daß die Schüler die Bedeutung ihres Verhaltens für den Lehrer intuitiv begriffen haben, zeigen einige Aufsätze, in denen die Rolle des Lehrers gebührend herausgehoben wurde.
Ein Lehrer, der seine Klasse „in der Hand“ hat, kann es sich auch erlauben, die Zügel gelegentlich etwas lockerer zu lassen, sich liberal, aufgeschlossen und verständnisvoll zu geben. Das verfeinert den Disziplinierungsmechanismus, weil die Schüler emotional positiv an ihn gebunden werden. Vor allem den guten Schülern gegenüber genügt eine liberalere Haltung meistens durchaus. Und im übrigen ist der Lehrer soweit beweglich, daß er immer noch rechtzeitig . umschalten'kann. Noch zwei weitere Streiflichter auf den Schulalltag: Pünktlich um acht Uhr nach Unterrichts-beginn wird die Eingangstür der Schule geschlossen, damit eventuelle Nachzügler (die sich der Glocke und einer Wechselsprechanlage bedienen müssen) namentlich festgehalten werden können. Sehr bemerkenswert, daß sich gerade dieses moderne elektronische Gerät in der Schule vorfand: und welch feine Vorwegnahme späterer betrieblicher Disziplinierungs-und Kontrollmechanismen!
Und schließlich ließ der Rektor der Schule es sich nicht nehmen, einen vielleicht zehnjährigen Jungen am Ärmel seiner Plastik-Lederjacke festzuhalten und anzufahren, er solle gefälligst seinen Kragen ordentlich runter-klappen — wie denn das aussehe! 4. Lehrerkonferenz In jeder Beziehung ein eindrucksvolles Erlebnis war die Hospitation bei der Lehrerkonferenz vor der Zeugnisvergabe. Die Hospitanten wurden auf ihre Schweigepflicht aufmerksam gemacht. Zu Recht, wie mir nachträglich scheinen wollte! Diese Konferenz bot einen vierstündigen Intensivkursus zum Thema „Deutsches Schulwesen", überraschend tatsächlich, wie sich das Spiel vom Vormittag — Lehrer und Klasse — hier wiederholte: Rektor und Kollegium. Zu Kontroversen kam es auch hier nicht; wer eben noch eine eigene Meinung gehabt hatte, gab sie angesichts des rektoralen Machtwortes auf — erst recht freilich, wenn der „Herr" Schulrat zitiert wurde.
Mit welcher Gutgläubigkeit und zugleich Hilflosigkeit von deutschen Beamten die Existenz der Personalakte bei der Verwaltung akzeptiert wird — mit der Aussicht, daß Beschwerden der Eltern künftig darin aufgenommen werden sollten —, das zu sehen, war erschrekkend. Sehr lehrreich auch, daß und wie in allen Fragen, die mit der Behörde zu tun hatten, stets eine Absicherung angestrebt wurde. Die gegenseitige Absicherung ist offenbar ein Schlüsselbegriff, ohne den man sich das Schulsystem nicht vorstellen kann. Wer aber sichert den Schüler gegen den Lehrer ab?
In einem Teil der Konferenz kamen auch Probleme zur Sprache, die die Schüler betrafen. Die Versetzungsbeschlüsse und einzelne Fach-noten wurden . ausgehandelt', einige Schüler aus „gesamtpädagogischen Gründen" versetzt, andere nicht. Man stritt sich, ob „Schwimmen" ein Teil des Faches „Leibeserziehung" sei oder extra benotet werden sollte.
Einige Lehrer bemühten sich nicht einmal verbal darum, zu verleugnen, daß sie im Schüler in erster Linie einen Gegner sehen, nicht einen jugendlichen Partner. Da wurde davon gesprochen, daß man den Schülern immer das Gefühl vermitteln müsse, beobachtet zu werden. Gemeint war die Aufsicht in den großen Pausen, wo sich Lehrer und Schüler im Verhältnis 1 : 500 gegenüberstehen. Da wurde kritisiert, die Schüler wollten in den kleinen Pausen ja nur zur Toilette, um sich der Kontrolle zu entziehen. Zu welchem Zweck eigentlich ständig kontrolliert werden muß, blieb undiskutiert. — Eine Lehrerin prahlte mit ihrem Mut, sie habe es fertiggebracht, einen dieser rauchenden Lümmel von der OPZ
Mit dieser gedrängten und zwangsläufig besonders akzentuierten Darstellung der negativen Züge, die von dieser Schule zu berichten wären, soll es genug sein. 5. Demokratischer, sozial-integrativer Unterricht Nur ein Lehrer an dieser Schule versuchte konsequent, einen demokratischen, nichtautoritären Unterricht zu praktizieren. Es handelt sich bei diesem Beispiel um eine 3. Klasse, also etwa neunjährige Jungen und Mädchen, Klassenstärke etwa 30.
Der deutlichste Unterschied zu anderen Klassen ist die entspannte, freie Atmosphäre, die hier herrscht, verbunden allerdings mit einem relativ hohen Geräuschpegel (der von autoritären Lehrern zumeist als der wichtigste Maßstab der Klassendisziplin erachtet wird). Die Begrüßung ist ziemlich kurz und formlos, die Schüler suchen ihre-Plätze auf und erwidern den Gruß des Lehrers teils gemeinsam, teils einzeln, mehr oder weniger laut und deutlich. Die Gegenwart von Hospitanten ist hier — im Gegensatz zu anderen Klassen — sehr schnell Gegenstand von Interesse und Neugier. In den Unterrichtsstunden entwickeln sich Diskussionen von überraschend hohem Niveau, auch in sprachlicher Hinsicht
„Wir haben keine Angst bei Herrn Anders!" — das ist wohl der wichtigste Satz, den ich in dieser Klasse gehört habe. Das klingt vielleicht idyllisch, ist es aber keineswegs. Zwischen Lehrer und Schülern herrscht ein sehr . bewegtes'Vertrauensverhältnis, einerseits daran zu erkennen, wie spontan und offen sie miteinander reden (hier suchen übrigens die Schüler von sich aus den Kontakt, fassen den Lehrer am Ärmel, am Arm oder an der Hand und bringen ihre Fragen vor), andererseits daran, daß der Lehrer vor Angriffen keineswegs sicher ist. Er würgt diese dann allerdings auch nicht ab. So war sein Verhalten während einer Turnstunde Gegenstand teilweise scharfer Kritik. Es war zwischen Jungen und Mädchen zu Streit gekommen. Der Lehrer versuchte, seine Stellung und seine Eingriffsmöglichkeiten zu erläutern, stieß damit auf heftigen Widerstand wie auf Zustimmung; es gelang ihm auch nach zwei Stunden ausführlicher Debatte nicht, die Sache zu bereinigen und die Parteien zu versöhnen. Zum großen Teil lag das wohl einfach an der mangelnden Einsicht bei den Kindern. Ein autoritärer Lehrer hätte die Debatte, diesen Versuch, den Vorfall mit den Schülern zu besprechen und so rational zu klären, vermutlich gar nicht gemacht. Mit einer Niederschrift (Diktat) zu dem strittigen Fall versuchte dieser Lehrer abschließend zu schlichten.
Interessant ist dann das Verhalten dieser Klasse — die kaum Strafen oder anderen negativen Sanktionen ausgesetzt ist -— bei einer Fachlehrerin. Diese setzt sich nur mit größtem Stimmaufwand durch, befiehlt, beordert und droht — und plötzlich wird , gepetzt’; eine Erscheinung, die ich vorher so gut wie gar nicht beobachtet habe. Die Schüler reagieren also auf autoritären Druck sofort durch Weitergabe dieses Druckes an Schwächere oder momentan Aufgefallene oder Benachteiligte und versuchen sich auf diese Weise in eine bessere Position zu bringen. Diese Lehrerin hat dann in ihren beiden Stunden laufend nachzufassen, um den Geräuschpegel niedrig und die Schüler auf den Plätzen zu halten.
Sehr nachteilig wirkt sich für einen emanzipatorischen Stil die große Schülerzahl aus. Ohne Zweifel ist die nervliche Belastung für den nicht-autoritären Lehrer sehr viel größer als für den weniger fortschrittlichen, denn nach fünf Stunden Unterricht ist er völlig erschöpft — bei Klassenstärken von 30 und mehr Kindern kein Wunder. So ist die Kardinalfrage diese: Wie ist es möglich, in einer so großen Klasse, die nicht autoritär behandelt werden soll, soweit Disziplin zu halten, daß Unterricht möglich bleibt?
Vom bestehenden Schulsystem aus gesehen, hat die hohe Klassenfrequenz also durchaus ihre integrative Funktion — in negativer Wirkung freilich, denn die Lehrer werden zu autoritärem Verhalten gedrängt, um überhaupt unterrichten zu können. In diesem Sinn kann autoritäres Verhalten also auch eine Art Notwehrreaktion sein. Nichtsdestoweniger ist aber dessen gesellschaftliche Konsequenz fatal, weil der Demokratie entgegengesetzt, wie das vorhandene Schulsystem auch. 6. Reaktion des Kollegiums Eine kurze Darstellung auch des Verhältnisses zwischen autoritären Lehrern und nicht-autoritärem Lehrer ist angebracht. Soweit ich Einblick gewinnen konnte, kann ich sagen, daß diese Beziehung so schlecht ist, wie sie zu erwarten war. Der einzige sozial-integrativ praktizierende Lehrer in diesem Kollegium wird nach außen hin geduldet — es gibt schließlich „Methodenfreiheit" —, doch diese Toleranz ist nur Kulisse. Dahinter steht auf selten der autoritären Lehrer Mißtrauen, Ablehnung und Feindseligkeit, auf Seiten des demokratischen Lehrers eine Art Resignation den Kollegen gegenüber, vermischt mit genügend Stehvermögen, den als richtig erkannten Weg fortzusetzen. Eine Einstellung, die ich als skeptisch-freundliche Neutralität bezeichnen möchte, ist das weitestgehende an . Zusammenarbeit', was von Kollegen angeboten wird. Bei Gelegenheit einer offenen Auseinandersetzung zeigte sich, wie zu erfahren war, daß fast alle Lehrer gegen den einen demokratischen Stil praktizierenden Kollegen Stellung bezogen und ihn teilweise sogar mit falschen Aussagen belasteten. Der Rektor der Schule genierte sich nicht, den Unterricht dieses Lehrers persönlich zu inspizieren. Wiederum bilden so die „lieben Kolleginnen und Kollegen", diesmal zusammen mit ihrem Vorgesetzten, ein getreues Abbild der Klassensituation, der sie jeden Tag gegenüberstehen, die sie aber jeden Tag neu schaffen und bestätigen: den Eigen-Fremdgruppen-Mechanismus. Die Eigengruppe Lehrerkollegium beäugt mißtrauisch den Fremdling, den . Linken“, diskriminiert ihn und —-allen ist es unerklärlich und wie ein Wunder — von den Schülern der benachbarten Schule (die in ihrer Klasse höchstwahrscheinlich eben keine befriedigenden Sozialbeziehungen aufbauen können) wird der so . Gezeichnete'mehrere Wochen lang auf offener Straße lauthals als „APO-Sau" tituliert und sogar mit Tomaten beworfen.
Wie weit das zu Beginn des Kapitels kritisierte Oben-Unten-Denkschema bei den älteren Schülern bereits internalisiert ist und wie gründlich und vor allem automatisch entsprechend geführte Schüler die „Klassifizierung von Menschen in Personen unterschiedlicher Achtung" (Tausch) lernen und ausführen, zeigt der Fortgang einer solchen Szene: Ein Schüler wird von dem so unmittelbar angegriffenen Lehrer angesprochen und seinem Klassenlehrer vorgestellt, der gerade dazukommt. Es ergibt sich sinngemäß der folgende Dialog: Lehrer: „Weißt du nicht, daß du Lehrern gegenüber höflich zu sein hast?"
Schüler: „Aber zu dem?"
Leider gibt es für Lehrer noch kein Fortbildungswerk o. ä., auch sonst keine Instanz, die nun eingreifen könnte und bisher negativ gepolte Gruppendynamik innerhalb der Lehrer-kollegien korrigieren könnte; die Erzieher erweisen sich als in ihren eigenen Netzen hilflos verfangen.
Man muß also bei Betrachtung autoritär-konservativ (um nicht zu sagen reaktionär) ausgerichteter Erziehungspraxis zu dem deprimierenden Schluß kommen, daß von daher gerade kein Schritt in Richtung auf eine demokratische, den Schüler als Bürger emanzipierende Erziehung zu erwarten ist. 7. Reaktion der Eltern Die kritische Beurteilung der Arbeitsmöglichkeiten eines demokratisch engagierten Lehrers zeigt, daß er innerhalb des bestehenden, hierarchisch-autoritär gegliederten Schulsystems auf Widerstände sachlicher und persönlicher Art stößt, die sich bei genauerer Betrachtung als eigentlich systemimmanent erweisen. Und es scheint in sich logisch zu sein, daß eine etablierte Bürokratie für ihre Erhaltung sorgt Der demokratische, sozial-integrativ wirkende Lehrer steht also auf sehr schwachem Posten, wenn es ihm nicht gelingt, Hilfe von außen zu erhalten.
Diese ist in der Tat möglich. Auf zwei Elternversammlungen der Klasse, die ich außerhalb der eigentlichen Hospitation interessehalber mit besucht habe, weil ich die Reaktionen und das Verhalten der Eltern dieser Klasse kennenlernen wollte, konnte ich beobachten, daß trotz größter Hemmnisse (Orientierung an traditionellen Werten, resignative, autoritär angepaßte Einstellung, Angst vor negativen Folgen, mangelnde Kenntnisse in Erziehungs-, Rechts-und Schulfragen, mangelndes Interessen, Zeitmangel) die Bereitschaft zum . Wagnis'des demokratischen Unterrichts wächst — und als Wagnis wird er ganz eindeutig empfunden, auch wenn die Argumente dafür wissenschaftlich belegt werden können.
Die positiven Ergebnisse dieses Unterrichtsstils überzeugen aber schließlich auch Eltern, denen die Kinder zu Hause „zu lebhaft" oder „zu frech" geworden sind, so daß dieser Lehrer sich heute auf die Mehrheit der Eltern in seiner Klasse stützen kann. Zwei eindrucksvolle Beispiele dieses langsam gewachsenen Selbstvertrauens erlebte ich auf der zweiten Elternversammlung: Gegen das Votum des Rektors beschlossen die Versammelten, mich als fachwissenschaftlich Interessierten zu ihrem Elternabend zuzulassen, nachdem ich zuvor als Schul-und Klassenfremder durch den Rektor hinausexpediert worden war — und gegen Ende der Versammlung getraute sich ein Vater sogar, dem Rektor zu sagen, dessen Verhalten komme ihm vor wie das eines Meisters, der seinen Gesellen nicht leiden kann und der nun Gründe sucht, ihn loszuwerden. (Es ging dabei um den Vorwurf einseitiger politischer Indoktrination durch den Lehrer während des Unterrichts, . linker'Indoktrination, versteht sich.)
Diese ersten Ansätze einer engeren Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Eltern sind sehr positiv zu bewerten, weil sie geeignet sind, die traditionelle Trennung zwischen Erziehung im Elternhaus und Erziehung in der Schule aufzuheben und beide Bemühungen zusammenfassen. Diese Zusammenarbeit ist auch notwendig, denn erfolgreiche Erziehung gegen den Einfluß des Elternhauses ist ohnehin nicht möglich. Und auf die Dauer kann keine Schulbehörde an den Eltern vorbei Politik machen, wenn sie mit Aktionen der Betroffenen als kritischen, aktiven und selbstbewußten Bürgern rechnen muß.
. VIII. Zusammenfassung und Kommentar
Der Unterricht an dieser Schule wirkt weithin wie reine Formalausbildung. Die komplizierten Interdependenzen zwischen Schulbehörde, Lehrerschaft, Schülern und den gegebenen materiellen und sozialen Verhältnissen in Schule und Gesellschaft perpetuieren ein Schulsystem von antiquiertem Zuschnitt und und minimaler Flexibilität. Die Lehrer stoßen zwar ständig an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, sind aber nicht willens oder in der Lage, sich zu wehren. Als unterstes Ende der Kultus-Bürokratie sind sie dieser offenbar wehrlos preisgegeben; die Folge: sie passen sich an. Opfer dieser Anpassung und der daraus resultierenden Verhältnisse sind aber die Schüler. Eine demokratische Erziehung, das heißt, eine partnerschaftliche Erziehung zur Demokratie, kann so lange nicht verwirklicht werden, wie innerhalb der Schulbürokratie demokratische und partnerschaftliche Zusammenarbeit nicht gewährleistet ist.
Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Demokratisch engagierter Unterricht stößt aber auf Ablehnung innerhalb des Lehrerkollegiums und hat keine Aussicht, . Schule zu machen'. Seine Stärke liegt jedoch in der guten, partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Lehrer, Schülern und Eltern (die sich in diesem Fall nach einigem Zögern in der Mehrheit hinter den Lehrer gestellt haben).
In einer Schule jedoch, die an den Begriffen Gehorsam, Disziplin, Ruhe und Ordnung orientiert ist, werden die Kinder den bestehenden antiquierten Gesellschaftsstrukturen angepaßt, und das heißt, zu fungiblen und inhumanen Heuchlern und Jasagern erzogen. „Wer alles richtig macht, hat nichts zu befürchten", äußert der Rektor bei der Verabschiedung einer 6. Klasse und liefert damit eine Zusammenfassung dieser erzieherischen Bemühungen, Abhängigkeitsverhältnisse aufrechtzuerhalten.
All dies ist nicht neu; man hörte oder las dergleichen schon — um so schlimmer! Ich habe versucht darzustellen, daß es nicht darum gehen kann, die Lehrer, einzelne oder das Kollegium, zur Verantwortung zu ziehen, so negativ ihr Verhalten-im Einzelfall auch beurteilt werden muß. In erster Linie geht es aber um die Offenlegung von kausal verbundenen Verhältnissen, die von den Politikern und Schulfunktionären zu verantworten sind und die immer noch auch von einem großen Teil der Gesellschaft sanktioniert werden. Die radikale Änderung dieser Verhältnisse erscheint mir als die einzige Konsequenz, wenn wir unter Demokratie mehr verstehen wollen als ein formales Spiel. Diese Verhältnisse haben beispielsweise gerade für die Grundschule (ich habe versucht, das anzudeuten) eine gewisse negative Auslese auch auf seifen der Lehrer zur Folge. Denn wer es irgend schaffen kann, versucht doch wohl, sich durch ein längeres Studium oder eine Zusatzprüfung nicht nur bessere Arbeitsverhältnisse, sondern auch ein besseres Gehalt zu verschaffen, indem er an eine Realschule oder ein Gymnasium geht. Eine Veränderung dieser Zustände kann nur erreicht werden durch gleiche oder annähernd gleiche Bezahlung aller Lehrer und, logischer-weise, gleichwertige Ausbildungsgänge (beispielsweise durch die Gesamthochschule). Audi diese Forderung ist nicht neu.
Die Aktivität der Gewerkschaften (etwa der GEW) ist bei allem Respekt eher skeptisch zu beurteilen. „Nehmen Sie Einfluß auf den Abbau autoritärer Strukturen im Bereich Erziehung, die Weiterentwicklung der kollegialen Schulleitung..." — usw. Was soll man zu solchen realitätsfremden Appellen sagen? Kein Wunder, daß sich die Aktivitäten aus dieser Richtung in gewissem Sinn neutralisieren, wenn, wie zu hören ist, neben den vielen auf eine gute Berufsorganisation dringend angewiesenen Lehrern auch Vertreter ihres Arbeitgebers dort Sitz und Stimme haben. Was soll ich als „Lehramtskandidat" resümieren? Die Vorstellung, auch nur unter ähnlichen Bedingungen in absehbarer Zeit selbst arbeiten zu sollen, ist erschreckend. Nur ein Träumer springt vom Zehnmeterturm, wenn das Becken leer ist. — Wasser einzulassen versuchen — falls ja, wie? — oder gar nicht springen? Das ist die Frage.