I. Objektivität und Erbe der Geschichte
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Geschichtswissenschaft sehr viel von ihrem Selbstverständnis eingebüßt und sah sich deshalb in die Verteidigung gedrängt. Zahlreiche Vorwürfe galten denjenigen, die das Geschichtsbild des Nationalsozialismus geschaffen hatten, aber auch die sogenannte neutrale und objektive Historiographie geriet in das Kreuzfeuer der Kritik. Die Überwucherung politischer Theorien in Deutschland durch ein historisierendes Denken ohne politische Konsequenz, ohne spürbares politisches Engagement, brachte die deutsche Geschichtswissenschaft in die Gefahr, steril zu werden und damit ihren vom 19. Jahrhundert her ererbten guten Ruf zu verspielen.
Hans Rothfels charakterisierte nach dem Ersten Weltkrieg die zwei politischen Hauptgruppen unter den Historikern folgendermaßen: „Während die einen heute hoffnungslos beiseite stehen, fehlt es den anderen nicht an Organen, um das in sich aufzunehmen und begrifflich zu klären, was als dumpfe Sehnsucht durch die Massen geht. Weitklaffende Kontraste also in der praktischen Haltung und doch wesentlich gemeinsame geistige Quellen: eine Konstellation, die man gern als verheißungsvolles Symptom ansprechen möchte."
Nichts ist wiederholbar in der Geschichte, aber dennoch ähnelte die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg der von Rothfels beschriebenen in mancher Hinsicht. Nach 1945 konnten nur einige Unverbesserliche mit Blick auf den 20. Juli 1944 eine neue Dolchstoßlegende ins Gespräch bringen. Andererseits standen die Historiker vor der Situation des geteilten Deutschland. Dies führte die Revisionsbestrebungen in verschiedene Richtungen. Während die einen sich bemühten, die Bundesrepublik als neues Vaterland aufzuwerten, indem sie für ein gesundes Nationalbewußtsein, für ein neues Nationalgefühl plädierten (z. B. Eugen Gerstenmaier und Eugen Lemberg)
Die Revision unseres Geschichtsbildes scheint keineswegs abgeschlossen zu sein. Lange genug haben viele Historiker geglaubt, mit der Bewältigung der mitärischen, imperialistischen und nationalistischen Vergangenheit sei es getan. Auch die Absage an alle Systeme der „Unfreiheit", an alle totalitären und autoritären Staaten wurde mit neuem Eifer betrieben, nachdem man sich zur westlichen freien Welt bekennen konnte. Fast beklemmend mutet es an, daß es wiederum Historiker sind, die hier mit fliegenden Fahnen sich dem Westen zuwenden und nicht vor neuen Schwarz-Weiß-Malereien im Geschichtsbild zurückschrecken. Ist das wirklich die Anpassung an die rationale Geschichtsund Staatsauffassung des Westens oder steckt in dem Terminus Meineckes vom „Grundgesetz abendländischer Kulturgemeinschaft"
Was haben wir bei so unklaren Verhältnissen überhaupt noch von der Geschichtsschreibung zu erwarten? Was gibt sie uns in unserer Gegenwart? Hans Freyer versucht eine Antwort auf diese Fragen zu geben, wenn er sagt: „Die große Geschichtsschreibung hat die Geschichte nicht, jedenfalls nicht in erster Linie als Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, als geschichtliche Struktur der gegenwärtigen Welt oder als fortwirkendes Erbe angesehen, obwohl sie mittelbar zu allen diesen Themen Unerschöpfliches beigetragen hat. Das . antiquarische Interesse', mit Nietzsche zu sprechen, war nur selten ihr Antrieb ... Die große Geschichte aber, die Geschichte der Völker, Staaten und Reiche, wurde als Kette der Taten und Schicksale gesehen, die sich durch die Zeiten spannt, als der Weg der Menschheit aus verlorener Urzeit in die Gegenwart und durch sie in die Zukunft, jedenfalls als Abfolge der Epochen im Nacheinander ..."
Aber auch in der „Kette der Taten und Schicksale" wirkt unauslöschlich das Erbe mit. Freyer lenkt den Blick auf die „große Geschichte", denn vom Erbe der Geschichte zu sprechen, klingt fast banal, beinahe so, als wolle man von der Gegenwart an die Vergangenheit appellieren und sie vielleicht gegen die Zukunft ausspielen. Doch der geistige Begriff des Er-bes darf auch keine Emotionen gegen diese Art von Eigentum auslösen, denn hier handelt es sich ja in erster Linie um ein gemeinsames Gut, an dem man natürlich auch individuellen Anteil hat. Es soll nicht widersprochen werden, wenn Freyer feststellt, daß es geschichtliche Werke gibt, die „auf eigene Rechnung und Gefahr großenteils gegen das Erbe begonnen werden, mit dem Willen, es nicht nur zu überwinden, sondern sich von ihm abzulösen
Um nicht falsch verstanden zu werden, auch der Marxismus ist aus dieser Erbschaft nicht mehr wegzudenken. Er läßt sich als geistig-historisches Erbe nicht mehr auslöschen und manifestiert sich als lebende Idee in unserer Gegenwart. Als Ideologie beansprucht er den ganzen Menschen in einer noch nie dagewesenen Art und Weise. Aber auch das, worauf Marx unsere Aufmerksamkeit lenkte, die Motive der Menschen, die Ursachen der Zusammenstöße widerstreitender Ideen, die objektiven Produktionsbedingungen des materiellen Lebens, alle diese Aspekte gehören ebenfalls zum historischen Erbe. Dieses Faktum versucht man zu verdrängen, indem vom historischen Erbe neuerdings nicht mehr so gerne gesprochen wird. Nun gibt es aber auch Historiker, die keineswegs nur verdrängen, sondert scharf gegen alles polemisieren, was mit dem historischen Materialismus in Zusammenhang gebracht werden kann. Es wird argumentiert der wissenschaftliche Sozialismus könne nicht objektiv sein, deshalb sei z. B. auch die Geschichtswissenschaft der Sowjetunion suspekt. Nach Walther Hofer besteht sogar „zwischen dem sowjetischen Begriff der Geschichtswissenschaft und dem abendländisch-westlichen" ein „unaufhebbarer Gegensatz"
Wie steht es nun mit Hofers scharfen Angriffen auf den historischen Materialismus im allgemeinen und seinen Vorwürfen hinsichtlich der Geschichtsfälschung durch die Sowjethistoriker
Um Hofer gerecht zu werden, muß man allerdings zugeben, daß die von ihm angeführten Beispiele
Es wäre vielleicht konstruktiv, ganz ernsthaft darüber nachzudenken, ob wir es uns ausgerechnet in unserer komplizierten, technisierten und bürokratisierten Welt leisten können, die Geschichtswissenschaft im positivistischen Sinne ein Dornröschendasein fristen zu lassen. Man darf doch wohl politische Akzente unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Zustände und gesellschaftlicher Entwicklung setzen, wenn man es ernst meint mit der vielgenannten Zielsetzung der Geschichtswissenschaft, den Menschen in seiner Gegenwart zu erkennen? Warum sollte ausgerechnet unser demokratisches System, das von der permanenten Kritik lebt und auf sie angewiesen ist, dem Historiker heute verwehren, das zu tun, was in der Epoche der Nationalstaaten als selbstverständlich galt? Dabei sollen die Fakten keineswegs unterschlagen oder mißbraucht werden. Das ist in demokratischen Systemen auch gar nicht zu befürchten, weil die Korrekturen sehr bald von irgendeiner Seite erfolgen würden. Aber Geschichte aus reiner Freude am Antiquitätensammeln zu betreiben, wer kann das ernsthaft wollen? Es besteht gar kein Zweifel, daß uns hier im Westen vieles auffassungsmäßig von der russischen Einstellung zur Geschichte trennt. Der Mensch als Werkzeug, als Rädchen im Uhrwerk, das behagt uns nicht. Und dennoch sollte man überlegen, ob Geschichte Selbstzweck sein kann. Wer Geschichte und Politik in einem sich ergänzenden oder gar sich durchdringenden Verhältnis akzeptiert, müßte auch ein gewisses Verständnis für die Geschichtsauffassung der Sowjetunion aufbringen. Es ist unerläßlich, die grundlegenden Einstellungen zur Geschichte bei den führenden russischen Historikern mit ins Kalkül zu ziehen. Vielleicht lohnt es sich, unter Berücksichtigung dieser Faktoren auch die russische Geschichte in das „europäische Geschichtsdenken" einzubeziehen.
II. Die innere Verwandtschaft von Politik und Geschichte
Wie steht es nun aber mit dem Verhältnis von Geschichte und Politik? Sicher hat Walther Hofer recht, wenn er feststellt, daß es der Geschichte in den meisten Fällen nicht gelungen sei, die Politik zu verbessern. Aber ist denn politische Historie ohne politisches Interesse überhaupt denkbar? Politische Geschichte, so folgert Walther Hofer, und politische Wissenschaft bewegen sich zwischen dem politischen Impuls, der sie erst möglich macht, und dem politischen Befehl, der sie als Wissenschaft unmöglich macht
Die Trennung von Geschichte und Politik als Wissenschaften scheint angesichts der historischen Dimension politischer Prozesse und Strukturen kaum gerechtfertigt zu sein. Die nahe Verwandtschaft der beiden Disziplinen wird auch nirgends geleugnet, obwohl z. B. Carlo Schmid u. a. zu folgender Aussage kommt: „Politische Wissenschaft ist keine Geschichtswissenschaft, sondern Strukturwissenschaft. Sie kann sich also nicht damit begnügen, festzustellen: so ist es gewesen und so ist es geworden, sondern sie muß Aussagen darüber machen, welches das Verhältnis der geschichtlich gewordenen und geschichtlich wirkenden Faktoren zueinander ist, welche Funktionsgesetze im gegenständlichen Wirken dieses Verhältnisses zu erkennen sind."
So gesehen, wird natürlich die Aufgabe des Historikers in unzulässiger Weise vereinfacht. Aber das war gewiß von Carlo Schmid nicht beabsichtigt, sondern er wollte vielmehr damit deutlich machen, daß über die Interdependenz der geschichtlichen Fakten hinaus von der Politikwissenschaft Funktionsgesetze im gegenwärtigen Ablauf der Dinge erkannt werden müssen. Es wird damit auch gesagt, daß die Politikwissenschaft auf die Geschichtswissenschaft angewiesen ist, auch wenn es dieser weniger um Gewesenes, sondern mehr um Gewordenes geht. Politik ist eben nicht verstehbar ohne das Wissen um ihr Gewordensein Neue Zielsetzungen der Politik entstehen immer auf einer geschichtlichen Basis. Gerade dieser so deutlich erkennbare Zusammenhang zwischen Politik und Geschichte bedingt normalerweise eine intensive Beschäftigung mit den Fakten und Theorien der Geschichtswissenschaft, wenn man politisch handeln will.
Während die Geschichtswissenschaft noch immer mit der Überwindung des Historismus beschäftigt ist, etabliert sich die Politikwissenschaft in ständiger und vitaler Auseinandersetzung mit ihren Nachbardisziplinen. Noch Leopold von Ranke bezeichnete Politik als eine Wissenschaft, die er im wesentlichen als Staatsverwaltungslehre verstand und differenzierte. Immerhin nannte er sie eine Wissenschaft, die reich sei an Scharfsinn, Wahrheit und Nützlichkeit. Sie sei für den Staat ebenso notwendig wie die Medizin für den mensch-liehen Körper. Die innere Verwandtschaft von Geschichte und Politik ergab sich für Ranke aus der gleichen Basis beider Wissenschaften. „Denn da es keine Politik gibt als die, welche sich auf vollkommene und genaue Kenntnis des zu verwaltenden Staates stützt — eine Kenntnis, die ohne ein Wissen des in früheren Zeiten Geschehenen nicht denkbar ist und da Historie eben dieses Wissen entweder in sich enthält oder doch zu umfassen strebt, so leuchtet ein, daß auf diesem Punkte beide auf das innigste verbunden sind."
Hier ergibt sich die zentrale Frage nach den Werten oder Normen in der Politik, ein schwerwiegendes Problem für den Politikwissenschaftler, aber auch für jeden, der es mit politischer Bildung zu tun hat. Objektivität in der Geschichtsschreibung und Wertfreiheit in der Politikwissenschaft, das sind im Grunde die gleichen Forderungen positivistischen Wissenschaftsverständnisses. Auch Max Weber kämpfte leidenschaftlich für das „Wertfreiheitsprinzip". Er postulierte die Wertfreiheit, um empirische Forschung von normativen Entscheidungen zu trennen. Die Forschung sollte dadurch vor nicht verifizierbaren Behauptungen und Hypothesen gesichert werden. Nach Max Weber, so stellt es Hans-Günther Assel in einer kritischen Betrachtung zum Wertfreiheitsbegriff Max Webers dar, bewirkte erst der Ausschluß der Werturteile, daß die Wissenschaft frei von allen Suggestionen sei. „Webers empirische Faktenkenntnis verband sich mit der Fähigkeit, sein Wissen in der Form von . Idealtypen'zu systematisieren, denn so ließ sich die Vielfalt aller historischen, politischen und sozialen Phänomene in entsprechende Kategorien einordnen. Als beobachtender Empiriker gliederte er seine histori-sehen Analysen in sein typologisches System, in dem auch die erlebte Gegenwart ihren Platz erhielt. So war seine Wissenschaft im besten Sinne des Wortes „wertneutral", und selbst der politische Publizist, der doch so leidenschaftlich Anteil am konkreten Geschehen nahm, wurde von dem Wissenschaftler und Systematiker letztlich überschattet."
Hans-Günther Assel distanziert sich bereits eindeutig von den Auffassungen Max Webers, wenn er fordert, „daß allen politisch verantwortlich Handelnden die Verpflichtung auferlegt ist, sich an Normen wie: Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde und Gemeinwohl zu orientieren, wenn menschenwürdige Ordnung realisiert werden soll"
Politikwissenschaft kann im Gegensatz zur Auffassung Max Webers nicht wertneutral betrieben werden, aber auch die Ansätze von Assel zeigen deutlich die Gefahren einer einseitigen Normenorientierung. Es steht dabei außer Frage, daß sich Politikwissenschaft als „kritische Wissenschaft" nicht „zur Magd der praktischen Politik" herabwürdigen lassen darf
Es muß also festgestellt werden, daß die Politikwissenschaft genausowenig wie die Geschichtswissenschaft, vielleicht sogar noch weniger, es sich leisten kann, Normen abzulehnen. Die Maßstäbe werden dabei sowohl in der gesellschaftlichen Entwicklung selbst, als auch in dem politischen Ziel der Herstellung menschenwürdiger Ordnung zu finden sein.
Das Grundproblem der Werte in der Geschichtswissenschaft und in der Politikwissenschaft wurde jeweils bewußt vorangestellt, weil alle anderen Fragen sich daran ausrichten und nur von hier aus verstehbar erscheinen. So wie die Geschichtswissenschaft hat selbstverständlich auch die Politikwissenschaft eigene fachspezifische Probleme, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen zu werden braucht.
III. Geschichtsunterricht und politische Bildung
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Praxis der politischen Bildung, die, darüber gibt es wohl kaum Meinungsverschiedenheiten, von der Sozialkunde allein nicht bewältigt werden kann. Das Verhältnis von Geschichte und Politik läßt sich bis zu einem gewissen Grad auch auf die tradierten Unterrichtsfächer Geschichte und Sozialkunde übertragen. Vielleicht läßt sich in einem Fach Gesellschaftslehre künftig manches von den hier anzusprechenden Problemen ohne besondere Schwierigkeiten lösen. Zur Zeit erscheint es jedenfalls durchaus geboten, mit Nachdruck auf die zum Teil noch ungenutzten Möglichkeiten des Verhältnisses von Zeitgeschichte und Politik im Bereich der Unterrichtsfächer Geschichte und Sozialkunde hinzuweisen. Es wird aufzuzeigen sein, wie beide „Fächer" letztlich weder geschichtliche noch politische Erkenntnisse, Einsichten, Optionen, Qualifikationen oder was auch immer zu erbringen haben, sondern wie auf ihrer gemeinsamen Basis der gesellschaftspolitische Aspekt der politischen Bildungsarbeit als Ergebnis der sinnvollen Verflechtung beider Fächer im Vordergrund stehen könnte und sollte.
Nach Klärung der inneren Beziehungen und gegenseitigen Abhängigkeiten von Geschichte und Politik steht der Geschichtslehrer vor dem Problem, welchen Beitrag der Geschichtsunterricht zur politischen Bildung leisten kann. Die
Hilfe, die ihm hierbei von den Didaktikern seines Faches zuteil wird, ist sehr differenziert zu sehen und schafft nicht in jedem Fall die notwendige Klarheit.
Von allen Fachleuten unbestritten hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß der Geschichtsunterricht allein nicht mehr in der tradierten Weise die politische Bildung einfach „mitbesorgen" kann. F. J. Lukas hat in diesem Zusammenhang zwei Thesen aufgestellt:
1. Geschichtliche Bildung ohne integrierende politische Bildungsgehalte ist undenkbar. 2. Eine politische Bildung ohne die Integration (nicht bloße Hinzufügung) historischer Bildungsgehalte ist wesentlich unvollständig
Dennoch bleibt Lukas nicht konsequent, wenn er ein „Mißverständnis geschichtlicher Bildung" und die „Überbetonung des als . Aktualität'gefaßten unmittelbar Gegenwärtigen" befürchtet. Warum sollte der fachhistorisch ausgebildete Lehrer nicht auch in einem sogenannten „Integrationsfach" dem „Präsentismus’ begegnen und so dem Verkümmern der Beziehungen zur Vergangenheit entgegenwirken können
Rohlfes, dem die Ausgewogenheit des Verhältnisses von geschichtlicher und politischer Bildung offensichtlich ein besonderes Anliegen ist
die Möglichkeit zur Abstraktion begrenzt.
In acht Einzelthesen versucht Rohlfes nach diesen Einschränkungen der politischen Wirksamkeit geschichtlicher Bildung, die eigentlich politischen Funktionen des geschichtlichen Unterrichts aufzuzeigen. Obwohl man ihm dabei in vielen Punkten beipflichten kann, klingt es etwas euphemistisch, wenn Rohlfes in der historischen Betrachtung, weil sie an Tatsachen mißt, ein Gegengewicht zur Ideologie sehen will. Es ist zuzugeben, daß der ständige Umgang „mit den historischen Tatsachen" das pragmatische Denken bei den Historikern fördert. Dennoch scheint Rohlfes mit seinen Folgerungen zu weit zu gehen, wenn er die These vertritt: „Die historische Betrachtungsweise führt mit Unausweichlichkeit zur Anerkennung eines pluralistischen Weltverständnisses".
Wenn Rohlfes andererseits für einen „Minimalkanon" von Überzeugungen und Wertvorstellungen plädiert, befindet er sich in Übereinstimmung mit einigen Vertretern der Didaktik der politischen Bildung, auf die hier noch näher eingegangen wird. Er nennt in diesem Zusammenhang Wertbegriffe wie „Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, soziale Chancengleichheit, politische Mitwirkungsrechte (und) Machtkontrolle"
Unter völlig anders gearteten Aspekten äußert sich Wolfgang Schlegel zum gleichen The-ma
Die geringe Wirksamkeit des Geschichtsunterrichts für die politische Bildung trotz der zeitgeschichtlichen Akzente muß doch vielmehr in der feststellbaren Vernachlässigung des Aufzeigens struktureller gesellschaftspolitischer Zusammenhänge und in der übertriebenen Distanziertheit gegenüber dem Politischen gese-hen werden. Hinzu kommt, gewissermaßen al; Folge dieser Einstellung, das übersteigert Fachbewußtsein des Geschichtslehrers, di mangelnde Kooperationsbereitschaft mit de Vertretern der Gemeinschaftsbzw. Sozialkut de und die Scheu, vielleicht auch das Unvei mögen auf Grund der spezifischen Fachausbil düng an der Universität, vor integrierende: fächerübergreifender Zusammenarbeit it „Team-Teaching"
Dies sind einige der Gründe, weshalb sich de Geschichtsunterricht zur Zeit in einer unbefrie digenden Phase befindet. Sicher hat Schlege recht, wenn er auf das Dilemma einer fehlet den Gesamtkonzeption der politischen Bildun hinweist, aber mit seinem Ergebnis, daß G schichtsunterricht nicht von sich aus zu polit sehen Bildung führen könne, stimmt er z. B. m Hans Döhn nicht überein. Döhn vertritt näi lieh eindeutig den Standpunkt, daß Geschieht: unterricht „Verständnis für die politischen, st zialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und kl turellen Gegebenheiten der Gegenwart"
Schlegel beklagt, daß Hans Ebeling sei mehrbändige „Deutsche Geschichte" für S* ler mit dem unverbindlichen Titel „Reise die Vergangenheit" versehen habe
Ebeling, dessen didaktische Ansätze noch stark vom Kampf um die Überwindung des nationalsozialistischen Geschichtsbildes geprägt sind, hat vor allem eine klare ethische Neubesinnung gefordert. Mit fast unbekümmertem Idealismus stellt er auch den Geschichtsunterricht in den Dienst der von ihm als richtig und gültig erkannten Werte: „der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Freiheit und Würde, der Liebe"
Das Setzen von neuen Akzenten, eine Änderung der Stoffauswahl, der Versuch einer Revision des Geschichtsbildes, die Hinwendung zur Universalgeschichte, das alles genügt Ebeling jedoch nicht. Er erkennt einen strukturellen Zusammenhang zwischen seinen fachlichen Bemühungen und einer Änderung des bestehenden Schulwesens. Die Revision des Geschichtsunterrichts kann demnach nur gelingen, wenn sich gleichzeitig die innere Struktur der Schule wandelt, indem sie sich abwendet von den „rationalistischen und autoritativen Formen früheren Schullebens"
Man muß sich fragen, wie es ohne echte Kooperationsbereitschaft und ohne einen Verzicht auf fachliche Eigenständigkeit mit der politischen Bildung weitergehen soll. Wird es der Gesellschaltslehre in der Gesamtschule Vorbehalten bleiben, das fachspezifische Denken zu überwinden? Die Lernziele allein geben zunächst nur einen schwachen Anhaltspunkt über die Intentionen dieses neuen Kombinationsfaches, soweit sie sich in ihrer Aussage, wenn auch nicht expressis verbis, auf das Schulfach Geschichte beziehen. Immerhin klingt es sehr progressiv, wenn u. a. gefordert wird, „aktuelle Vorgänge, Einstellungen, Institutionen historisch begreifen“ zu lernen. Außerdem soll „aus der Kenntnis der erkannten sozialökonomischen und historischen Zusammenhänge" der Schüler befähigt werden, politisch zu handeln
Auch Hans Döhn hat sich in seiner Didaktik mit der gesellschaftlichen und politischen Wirksamkeit des Geschichtsunterrichts in den Volks-und Realschulen beschäftigt. Neben verschiedenen anderen Zielsetzungen betont er die Notwendigkeit, durch den Geschichtsunterricht „Verständnis für die politischen, sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Gegebenheiten der Gegenwart (zu) wekken"
Sicher wird man dagegen einwenden können, daß auch diese Wertbegriffe trotz ihrer scheinbaren Klarheit erst einer interpretierenden Definition bedürften, bevor man sich zu einem Konsensus darüber bereit erklärt. Dennoch läßt sich kaum bestreiten, daß der Auftrag des Geschichtsunterrichts, so gesehen, wieder sinnvoll erscheint. Selbstverständlich gehören dazu auch Geschichtslehrer, die bereit sind, ihr fachliches Wissen in diesem Sinne einzusetzen. Döhn spricht auch dieses Problem an und stellt darüber hinaus folgende Forderung an den Geschichtslehrer auf: „Er hat im weiten Feld der Weltanschauungen und Ideologien einen Standort zu beziehen, da die Interpretation historischer Prozesse vor Schülern seine ganze Existenz fordert, sei es als Christ, Bildungsidealist, Moralist oder was man immer aud sonst will. Ohne einen solchen Gesamteinsat der Existenz ist aber Geschichtsunterricht nicht denkbar."
Diese Beispiele machen deutlich, wie differenziert der Beitrag des Geschichtsunterrichts zu: politischen Bildung von namhaften Vertreten der Didaktik der Geschichte gesehen wird Schon die hier angeführten verschiedenarti-gen Wertvorstellungen bei Rohlfes, Schlegel Ebeling und Döhn lassen erkennen, welche Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumet wären, bis man sich auf den erwähnten Mini malkanon einigen könnte.
Immerhin muß man zusammenfassend festste len, daß die hier genannten Didaktiker, jede auf seine Weise, Geschichte im Zusammenhan mit der politischen Bildung sehen. Doch bleit ein gewisses Unbehagen bei dem Gedanken daß der Eigenwert des Unterrichtsfaches Ge schichte noch immer sehr stark im Vorder grund steht. Letztlich ist auch der Geschichts unterricht Dienst an der Gesellschaft und da mit verliert er das Recht, sich rein neutral stisch zu gebärden. Das heißt durchaus nicht daß auf sachliche Objektivität verzichtet wer den soll, wenn Fakten dargestellt werden, abe es muß das hinzutreten, was Döhn so treffend ausgedrückt hat: der „Gesamteinsatz der Es stenz" des Lehrenden. Das alles kann nure fektiv werden, wenn es gelingt, eine Ak Stimmung und Präzisierung der Wertvorste lungen durch einen „Minimalkonsensus“ u ter allen an der politischen Bildungsarbeit Beteiligten zu erreichen. Das bedeutet abe gleichzeitig die Bereitschaft zu permanente Diskussionen der Erziehungsziele und, sowe es noch nicht geschehen ist, auch die Abket von jeder Anpassungsideologie.
Unter solchen Voraussetzungen wird es umge kehrt nötig sein, die Fachvertreter der Soziakunde, der Gemeinschaftskunde und der poli sehen Bildung daran zu erinnern, daß poli sehe Bildung nach Lukas „ohne die Integt tion historischer Bildungsgehalte" wesentld unvollständig ist
IV. Das Problem der Werte in der Didaktik der politischen Bildung
Die Situation für die Didaktik der politischen Bildung, der Sozialkunde, der Gemeinschaftskünde oder wie immer die landesüblichen Bezeichnungen lauten, zeigt sich ungleich schwieriger als die der Geschichtsdidaktik. Das liegt zum einen in der Komplexität dieses relativ neuen „Unterrichtsfaches" begründet, zum anderen sind bisher die in diesem Bereich des Unterrichts von verschiedener Seite gesetzten Erwartungen und Hoffnungen nur sehr unvollkommen erfüllt worden. Die Kritik hat sich vor allem an der mit dieser Fachrichtung verbundenen Anpassungsideologie entzündet, die „insbesondere die Erziehung zu staatsbürgerlicher Gesinnung, zur Gemeinschaft"
Die Abkehr von solchen Vorstellungen hat inzwischen mit einigem Erfolg eine Gruppe von Didaktikern betrieben, die Rohlfes als Vertreter „einer politischen Didaktik des Konflikts"
Hilligen dagegen sieht das didaktische Anliegen als existentielles Problem an, wenn er fragt: „Worauf kommt es an, wenn Menschen ihr Zusammenleben und ihre Umwelt bewältigen, wenn sie den Gefahren der Zeit begegnen, die Chancen der Zeit wahrnehmen wollen?"
Roth findet die konkrete Aufgabe der Didaktik der politischen Bildung darin, „hier und jetzt dem jungen Menschen zu dieser Welt die Brücken zu bauen, damit er sich in ihr zurechtfindet, als Mensch besteht und vielleicht bereit und fähig ist, das, was in dieser Welt nicht in Ordnung ist, verbessern zu helfen"
Erwin Schaaf hat in seinem Beitrag „Ordnung und Konflikt als Grundprobleme der politischen Bildung"
Richtiger sei aber, so Erwin Schaaf, eine sich ergänzende Polarität, Freiheit und Bindung, wobei er Freiheit als Bindung personaler Entfaltung und Bindung als Voraussetzung gesellschaftlich-politischer Gestaltung verstanden wissen will. Die Ordnung, so meint er im Gegensatz zu Billigen, liege in der Mitte. Sie komme zustande, indem sich der Mensch zwischen Freiheit und Bindung, Eigeninteresse und Gemeinwohl, Selbstbehauptung und Anpassung immer wieder von neuem „in Ordnung" bringe. Billigen stelle aber trotz dieser Kritik seines auf der Dialektik „Ordnung-Freiheit" begründeten Denkansatzes letztlich doch den Ordnungsbegriff, wie sein Kategoriensystem zeige, in den Mittelpunkt seiner didaktischen Konzeption.
Besondere Anerkennung findet bei Erwin Schaaf die Konzeption von Friedrich Roth, der seinen didaktischen Entwurf bewußt auf dem demokratischen Ordnungsbegriff aufbaue. Roth stelle fest, nur der könne sich gebildet nennen, der gewillt und fähig sei, „sowohl sich selbst als auch seine Beziehungen zur Welt in Ordnung zu bringen". Das aber setze voraus, daß der in seinem Selbst und seinen Weltbezügen wesensmäßig erschlossene Mensch das Leitbild aller Ordnung, die ebenso Zielbegriff der Politik wie der politischen Bildung sei, konstituiere. In Artikel 1 des Grundgesetzes sehe Roth nun jene verbindliche Ordnungsvorstellung gegeben, die im Bekenntnis zur Würde des Menschen und den sich daraus ableitenden Rechten und Pflichten das Fundament wahrer Ordnungsverwirklichung darstelle. Ordnung sei dabei allerdings nur als dauernder Ordnungsprozeß zu verstehen, der größtmögliche Vervollkommnung des Menschen in seinem individuellen und gesellschaftlich-politischen Dasein anstrebe. Die Didaktik Roths zeichne sich dadurch aus, daß sie in ihrer Grundlegung das Verhältnis zwischen Ordnung und Konflikt unmißverständlich darstelle.
Wenn Schaaf sich auf den Ordnungsbegriff stützt, wie er von Roth gemeint ist, kann man vielleicht seinen Vorstellungen noch folgen. Sehr viel skeptischer müssen aber Leerformeln wie: „Besinnung auf die wahren Werte demokratischer Ordnung"
Diese grundsätzliche Frage „Ordnung und Konflikt" spielt naturgemäß eine entscheidende Rolle für jeden, der sich mit Didaktik der politischen Bildung beschäftigt, denn immerhin erscheint es problematisch, ob es gestattet ist, politische Bildung didaktisch so zu konzipieren, daß der Konfliktbegriff unter Vernach lässigung des Ordnungsbegriffs überbewertet wird. Zweifellos kommt Erwin Schaaf, bei allen Vorbehalten, das Verdienst zu, sich um Klarheit in den Wertsystemen der Didaktik der politischen Bildung bemüht zu haben. Aus anderer Sicht hat Rohlfes neuerlich das Gemeinsame der „Konfliktvertreter" herausgearbeitet, obwohl er an anderer Stelle auch mit scharfer Kritik nicht zurückhält. Er stellte u. a fest: „Es ist nicht zu bestreiten, daß diese neue pädagogische Richtung es fertiggebracht hat eine ganze Anzahl liebgewordener, aber illusionärer oder gar heuchlerischer Tabus der deutschen Politik zu zerstören und mit dem Geist der beflissenen Regierungsloyalität aufzuräumen. Sie hat damit der Demokratisierung wertvolle Dienste geleistet, auch wenn sie manchem törichten Radikalismus das Stichwort gegeben hat."
V. Didaktiker der politischen Bildung und ihr Verhältnis zur Geschichte
Der vorangegangene Exkurs erschien notwendig, um auch der Problemlage einer Fachdidaktik der politischen Bildung und der Sozialkunde gerecht zu werden. Im besonderen erfordert es das Thema, nun auch das Verhältnis der beiden Fachbereiche Geschichte und politische Bildung aus der Sicht der erwähnten „Konfliktdidaktiker" zu analysieren, um dabei herauszufinden, welches Gewicht sie dem Beitrag der Geschichte zum politischen Gegenwartsverständnis beimessen.
Von Giesecke z. B. wird der enge Zusammenhang zwischen politischer Bildung und historischer Bildung klar gesehen und entsprechend nachdrücklich herausgestellt. Seine Position wird deutlich, wenn er dazu ausführt: „Eine politische Kontroverse der Gegenwart ist ohne Kenntnis ihrer historischen Dimension nicht zu verstehen."
Im übrigen hebt gerade Giesecke die Geschichtlichkeit als eine der Kategorien hervor, „die allen politischen Auseinandersetzungen immanent"
Es sind die im Grunde bekannten Bedenken gegen einen Mißbrauch der Historie, die sich Giesecke zu eigen macht, um Mißverständnissen vorzubeugen. Sein engagiertes Eintreten für die Beachtung der geschichtlichen Zusammenhänge im Bereich politischer Bildung deckt sich durchaus mit Äußerungen von Ebeling, Döhn, Rohlfes u. a., die mit Sicherheit darauf schließen lassen, daß die Öffnung zur politiB sehen Bildung hin zu den Selbstverständlichkeiten moderner Geschichtsdidaktik zählen sollte
Die Kooperationsbereitschaft bei den Didaktikern der politischen Bildung hinsichtlich des Geschichtsunterrichts ist sehr uneinheitlich, während historische Bildung als notwendige Voraussetzung für politisches Urteilen und Handeln meistens akzeptiert wird. Bedenken gegen einen Rückfall in den Historismus meldet beispielsweise F. Roth an, wenn er sich dagegen wendet, „Staat und Gesellschaft zum Gegenstand oder Mittel historisierender Bildung“ zu machen
Hilligen erkennt im Gegensatz zu Giesecke nicht ausdrücklich „die fundierte historische Bildung"
Hilligens konkrete Hinweise auf die Möglich-keiten, historische Elemente sinnvoll in den Sozialkundeunterricht einzubauen, bedeuten für die Schulpraxis zweifellos eine echte Hilfe Dennoch wird hier die historische Basis für den Bereich der Sozialkunde in unnötiger und unzulässiger Weise eingeengt und elementari siert. Kein Wort wird über den unbestreitbaren Wert historischer Bildung verloren, nichts über die vielfältigen Möglichkeiten und Notwendigkeiten, politische Konflikte und Sadh verhalte durch zeitgeschichtliche Quellen und historische Längsschnitte in ihrem gesellschaftspolitischen Gegenwartsbezug transparent zu machen. Wieder sieht dieser Ansat wie „eine Flucht in die Kulturgeschichte" und damit nach einem Ausweichen vor dem Polit sehen aus. So praktikabel Hilligens erwähntet Vorschlag auch erscheint, so muß doch jedem historisch versierten Lehrer klar sein, daß es in der Praxis ungemein schwer sein dürfte, geeignete Quellen zu finden, die den Forderungen Hilligens auch nur einigermaßen gerecht werden. Selbstverständlich gehört zur Sozialkunde eine Darstellung des Fortschritts durch kulturgeschichtliche Längsschnitte. Politische Bildung muß sich aber auch mit den Fakten auseinandersetzen, die dahinterstehen: Sie muß die Kämpfe, die Konflikte um eine bessere soziale Ordnung deutlich aufzeigen, damit die Gegenwart besser verstanden wird. Die Fortschrittslinie darf eben nicht zu satter Selbstgefälligkeit führen, die als Fazit schließlich die Welt so völlig in Ordnung findet im Vergleich zu damals: keine Hungersnot mehr, keine Hexenprozesse, Arbeitsplätze für alle, rechtsstaatliche Ordnung gesichert, nicht mehr Untertan, dafür freier Bürger in einer heilen Welt — das alles wären, von Hilligen selbstverständlich nicht dergestalt intendiert, mögliche Ergebnisse dieser historisch verengten Betrachtungsweise.
Wenn wir etwas weiter zurückgehen, finden wir bei Theodor Wilhelm, der den Partnerschaftsgedanken nach 1945 zum zentralen Anliegen der „Gemeinschaftskunde" erhoben hat, sehr schwerwiegende Vorwürfe gegenüber einer „Historisierung unserer Bildung". Er vertritt die Ansicht, man müsse auch das marxistische Geschichtsbild „denjenigen geistigen Überlieferungen zurechnen, die durch Historisierung des Lebensgefühls dazu beigetragen haben, die Verantwortung zu unterhöhlen"
Hier wird also der Marxismus als Nutznießer des Historismus bemüht, damit die ganze Gefährlichkeit eines dogmatisch totalitären Geschichtsbildes sich säuberlich vom demokratischen Weltverständnis abhebt, geradeso, als könne Demokratie ohne Bindung an historische Entwicklungen, ohne Geschichtsbild, existieren. Auch das ist eine Möglichkeit der Schwarzweißmalerei. Den deutschen Politikern wirft Theodor Wilhelm vor, sie hätten sich mit Vorliebe geschichtlicher Ideologien bedient. Das führt ihn zu dem einseitigen Schluß: „Heute erscheint uns die Freundschaft des Politikers mit dem Historiker als ein gefährlicher Bund."
Möglicherweise standen Hilligen, Roth und andere auch unter dem Eindruck der Berichte des deutschamerikanischen Politikwissenschaftlers Henry Ehrmann
Ehrmann selbst weist jedoch darauf hin, daß seine Kritik an dieser Situation nur zeitbedingt zu verstehen ist. Er hält nämlich, wie bei den amerikanischen „social studies“, die Mitwirkung der Historiker an der politischen Bildungsarbeit dann für möglich, wenn die Geschichtslehrer es gelernt haben, „in politisch-gesellschaftlichen Strukturzusammenhängen"
Man darf hier aber auch das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und die Chancen für die politische Bildung ungewollt dadurch schmälern, daß man fast doktrinär die historischen Bezüge aus der Gemeinschaftsund Sozialkunde zu eliminieren versucht und gleichzeitig die positiven Ansätze der Geschichtsdidaktik (s. o.) ignoriert. Geschichtsunterricht kann schließlich nur effektiv werden, wenn er mit der Gemeinschaftsund Sozialkunde eng kooperiert! Warum sollte ausgerechnet im Bereich der politischen Bildung engem Fachspezialistentum das Wort geredet werden?
Schmiederer erklärt mit Recht zu diesem Problem, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, völlig eindeutig: „Politische Bildung als gesellschaftliche Bildung läßt sich keiner Einzelwissenschaft zuordnen."
geschichte zurechnen.
VI. Kooperation der an der politischen Bildung beteiligten Unterrichtsfächer
Forderungen nach einem engen Zusammenwirken der an der politischen Bildung beteiligten Unterrichtsfächer sind durchaus nichts Neues, nur wird man feststellen können, daß es mit der Realisierung dieser Gedanken in der Praxis noch weithin schlecht bestellt ist. In einigen Bundesländern verordneten Lehrpläne und Rahmenrichtlinien
Zugegeben, die Schwierigkeiten einer Kooperation der Fächer liegen nicht ausschließlich im personalen Bereich, es geht ebenso um die Ausgewogenheit der fachwissenschaftlichen Bezüge. Heinz W. Friese z. B. hat daran erinnert, „daß eine einseitig-geographische Behandlung leicht in Gefahr gerät, die nicht raumrelevanten Sachverhalte und Probleme zu übersehen"; die „bloße historische Sicht", so fährt Friese fort, „verliert allzugern im eigentlichen Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen und verharrt im Retrospektiven. Die politologische Schau hingegen ist der Versuchung einer Ideologisierung ausgesetzt; auch wird sie vielfach eine schematisch-typisierende, generalisierende Darlegung der Gegebenheiten nicht ganz vermeiden können"
Skeptisch verhält sich auch Rohlfes im Hinblick auf eine mögliche enge Kooperation der an der politischen Bildung beteiligten Fächer und schlägt vor, sich mit ihrer „Öffnung zueinander" zu begnügen. Er kommt dabei zu dem sehr unbefriedigenden Schluß: „Die Qualität des politischen Unterrichts hängt ohnehin nicht vom Grad der Kooperation zwischen den Fächern ab, sondern immer und ausschließlich von der Fähigkeit der Lehrenden und Lernenden, die politischen Probleme zu sehen und rational zu diskutieren."
Es muß bezweifelt werden, ob dem Lehrer mit Resignation weitergeholfen wird. Es müssen im Gegenteil ernsthafte Anstrengungen gemacht werden, dem richtigen Ansatz der fächerübergreifenden Gehalte endlich zum Durchbruch zu verhelfen. Es muß in diesem Zusammenhang nochmals auf die Chance hingewiesen werden, durch Team-Teaching zu einer neuen Form der Kooperation zwischen den Fächern zu gelangen und gleichzeitig damit eine der politischen Bildung adäquate Änderung der Schüler-und Lehrerrolle herbeizuführen. Praktische Vorstellungen hierzu gibt es bereits in dem erwähnten beachtenswerten Reformvorschlag von W. Christian und E. Schneider. Dort heißt es unter anderem: „So kann es gelingen, das bekannte Dilemma der Entscheidung zwischen einem z. B. mehr politischen oder schlicht historischen Geschichtsunterricht dergestalt zu lösen, daß in der einen Gruppe die mehr phänomenologisch ansprechbaren Schüler zusammenkommen, während in einer anderen Gruppe die politisch interessierten Schüler mit der gesellschaftlichen Auslegung historischer Fakten befaßt wären."
VII. Feststellungen und Folgerungen für die Praxis der unterrichtlichen Bemühungen um die politische Bildung
Mit der sich entwickelnden Demokratisierung unseres Schulwesens werden erneut die Zielvorstellungen der politischen Bildung überdacht werden müssen. Es gibt dabei kaum einen Zweifel, daß gerade in ihrem Bereich ein Verzicht auf liebgewordene Vorstellungen vom Fachspezialistentum abgebaut werden sollten. Das Fehlen „eines wissenschaftlichen Integrationsfaches" (so nennt es Giesecke) könnte zu einer Verunsicherung der Lehrenden führen, wenn die beteiligten Wissenschaften nicht bereit wären, ihre didaktischen Theorien ebenfalls kooperativ zu entwickeln. Eine rein additive Zusammenfassung von Unterrichtsfächern wird dem Problem der Integration unter gesellschaftspolitischem Aspekt nicht gerecht. Wir können in bezug auf das Zusammenwirken der Unterrichtsfächer Geschichte und Gemeinschafts-bzw. Sozialkunde zusammenfassend folgendes feststellen bzw. fordern: 1. Die enge Verflochtenheit, die innere Verwandtschaft von Politik und Geschichte, wird wissenschaftlich kaum in Frage gestellt. 2. Beide Wissenschaften können nicht mehr im positivistischen Sinne ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Situation ein isoliertes Dasein fristen. 3. Es gibt Geschichtsdidaktiker, die die politischen Funktionen des Geschichtsunterrichts anerkennen und die gewillt sind, mit ihrem Fach (!) zur politischen Bildung beizutragen. 4. Unter den Didaktikern der Gemeinschaftsoder Sozialkunde, denen ohnehin die Komplexität ihres „Faches" zu schaffen macht, befinden sich nicht wenige, die vor einer „historischen Überfrachtung", vor einem Rückfall in den Historismus warnen. Ihr kaum gewonnenes fachwissenschaftlidles Selbstverständnis, so befürchten sie wohl, könnte zudem bei einer weiterführenden Kooperation Schaden erleiden.
5. Fächerübergreifende Kooperation der an der politischen Bildung beteiligten Fächer zu fordern, hieße alten Wein in neue Schläuche gießen wollen, wenn man nicht auf die veränderte Situation der Schule und der politischen Bildung hinweisen könnte, die neben einer veränderten Lehrer-und Schülerrolle auch die Zielvorstellungen der politischen Bildung auf die Gesellschaft hin umorientiert sieht.
6. Die stärkere Berücksichtigung sozialgeschichtlicher Zusammenhänge im Unterricht als praktische Konsequenz nicht außer acht gelassen werden. 7. Auch die Lehrerbildung muß diese Veränderungen berücksichtigen und die didaktischen Vorstellungen der beteiligten Fach-wissenschaften ebenfalls kooperativ zusammenführen. 8. Neue Möglichkeiten der Kooperation durch Teamwork und Teamteaching sollten in stärkerem Maße erprobt werden. 9. Lehr-und Arbeitsbücher sollten künftig diese kooperativen Aspekte stärker berücksichtigen. Es ist erforderlich, das Verhältnis von Geschichte und Politik im didaktischen Bereich ständig zu überprüfen, damit es in seiner ganzen Ergiebigkeit in den Dienst politischer Bildung gestellt werden kann.