„Endlich sind wir unwiderstehlich dahin getrieben, diejenigen in der Vergangenheit und Gegenwart für groß zu halten, durch deren Tun unser spezielles Dasein beherrscht ist, und ohne deren Dazwischenkunft wir uns überhaupt nicht als existierend vorstellen können ... Aber auch im Gegenteil halten wir diejenigen für groß, die uns großen Schaden zugefügt haben. Kurz, wir riskieren, Macht für Größe und unsere eigene Person für viel zu wichtig zu nehmen.“
Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen Die nachfolgende Abhandlung zum Bismarck-Bild erstrebt nicht Vollständigkeit im bibliographischen Sinne, sondern eher Geschlossenheit der Darstellung. Es geht nicht um eine bibliographie raisonnee, sondern es sollen unter ideologiekritisch-historiographischenGesichtspunkten Wandel und Kontinuität der Bismarck-Deutung als eines Gegenstands der Hi-storie wie eines Faktors der Politik behandelt werden. Beides, die fachhistorische Deutung des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten und die politische Nutzung des Mythos Bismarck, haben über Generationen eine Art osmotischen Zusammenhang bewahrt und die politische Kultur Deutschlands mitgeprägt
I. Das Bismarck-Problem
Als im Juli 1944 der Diplomat Ulrich von Hassell, einer der Köpfe des konservativen Widerstands gegen Hitler, in Friedrichsruh zu Gast war, dem einstigen Landsitz Bismarcks im Sachsenwald, war keinem Sehenden mehr verborgen, daß Bismarcks Deutschland in der Agonie lag. Hassells Tagebuchnotizen über diesen Besuch sind es wert, ausführlich zitiert zu werden, weil in der Erschütterung angesichts des nahen Zusammenbruchs der preußisch-deutschen Großmacht auch der Wendepunkt der national-konservativen Bismarck-Deutung lag: „Kaum zu ertragen, ich war dauernd nahe an Tränen beim Gedanken an das zerstörte Werk. Deutschland, in Europas Mitte gelegen, ist das Herz Europas. Europa kann nicht , leben'ohne ein gesundes, kräftiges Herz. Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit Bismarck beschäftigt, und er wächst als Außenpolitiker dauernd bei mir. Es ist bedauerlich, welch falsches Bild wir selbst in der Welt von ihm erzeugt haben, als dem Gewaltspolitiker mit Kürassierstiefeln, in der kindlichen Freude darüber, daß jemand Deutschland endlich wieder zur Geltung brachte. Er hat es verstanden, in einziger Weise in der Welt Vertrauen zu erwecken, genau umgekehrt wie heute. In Wahrheit waren die höchste Diplomatie und das Maßhalten seine große Gabe."
Die Kürassierstiefel, ohne die die Wilhelminische Ära und ihre deutschnationalen Erben sich den zum monumentalen Mythos erstarrten „eisernen Kanzler“ schwerlich vorzustellen vermochten, landeten damals auf jenem „hohen Scherbenberge eigener Erfahrungen" den das Deutsche Reich seinen Historikern hinterlassen hatte. Der nationale Machtstaat, der im Reich von 1871 für einen historischen Moment seine Vollendung gefunden zu haben schien, um schon in den 1880er Jahren im Zeichen des Imperialismus über sich selbst hinausgetrieben zu werden, lag ein halbes Jahrhundert nach Bismarcks Tod in Trümmern. Die Vision seines Gründers, es blättere ein Stück um das andere wie faule Flecken von der Landkarte Deutschlands ab, wurde Wirklichkeit
Die Deutung Bismarcks und seiner historischen Hinterlassenschaft bildet seit einem Jahrhundert einen der Orientierungspunkte nicht nur für das Geschichtsbewußtsein, sondern auch für die historische Legitimation von Politik in Deutschland. Das hat dazu beigeträgen, daß die zum nationalen Klischee gewordene politische Bismarck-Deutung einerseits einen hohen Grad an Kontinuität aufwies, daß andererseits aber das historische „Zurück-zu-Bismarck" durch die jeweils besonderen Erfahrungen jeder Generation mehr oder weniger stark umgeprägt worden ist. So war das Bismarck-Bild, auch das der Historiker, immer zuerst ein Faktor oder eine Spiegelung der Politik und erst in zweiter Linie ein historisches Problem, weniger Erhellung der Vergangenheit als der Versuch, die Gegenwart zu bewältigen Der Historisierung der Politik entsprach die Politisierung der Historie. Insofern entbehrte es nicht der Konsequenz, wenn das Ende des deutschen Nationalstaats in der Form, die er 1866/71 gewonnen hatte, auch einen tiefen, kaum überbrückbaren Einschnitt im Bismarck-Bild der Fachhistorie bedeutete.
Aber reichte es aus, im Bewußtsein der vermeintlichen Nullpunkt-Situation von 1945 den „mißverstandenen Bismarck" auf das Schuld-konto des hypostasierten Nationalstaats zu buchen und den Wilheiminismus mit seinen Folgen als Fehlentwicklung achselzuckend abzuschreiben? Mochte das Ausweichen vor dem Kontinuitätsproblem in der Geschichte der preußisch-deutschen Großmacht auch naheliegen — Friedrich Meinecke, der Nestor der deutschen Geschichtswissenschaft, hat in seinem engagiertesten Buch unmittelbar nach dem Kriegsende davor gewarnt: „Es war auch schon in der unmittelbaren Leistung Bismarcks selbst etwas, das auf der Grenze zwischen Heilvollem und Unheilvollem lag und in seiner weiteren Entwicklung mehr zum Unheilvollen hinüberwachsen sollte... . Der erschütternde Verlauf des Ersten und noch mehr des Zweiten Weltkriegs läßt die Frage nicht mehr verstummen, ob nicht Keime des späteren Unheils in ihm von vornherein wesenhaft steckten." Auf die damals aufgeworfene Frage gab fast gleichzeitig Hans Rothfels, einer der feinsinnigsten Kenner Bismarcks und seiner Zeit, eine Antwort, die Bismarck der fatalen Gegenüberstellung mit der NS-Diktatur aussetzte und zugleich entzog: „Wir mögen Bismarck mit guten Gründen kritisieren dafür, daß er manchen fatalen Entwicklungen der Gegenwart den Weg bereitet hat, aber wir dürfen dabei unter keinen Umständen die fundamentale Tatsache übersehen, daß Hitler, in fast jeder Beziehung, das ausgeführt hat, was zu tun der Gründer des Reichs sich weigerte." Diese beiden Positionen bezeichnen im Grunde noch heute den Stand der Diskussion um das Kontinuitätsproblem „von Bismarck zu Hitler" Der ereignisgeschichtliche Fragehorizont deckt sich nicht mit dem der Strukturgeschichte. So findet man vielleicht gleiche Antworten, aber stellt nicht die gleichen Fragen.
Hitler — ein deutsches Trauma Das gilt auch und gerade für die deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, für die der „Fall Hitler" noch alles andere als abgeschlossen ist. Er ist für die Historie, und nicht nur für sie, was man im Englischen the skeleton in the cupboard nennt. Der Versuch, die Stellung und Bedeutung Bismarcks im Ablauf der deutschen und der europäischen Geschichte seit der Industrialisierung neu zu bestimmen, sein Bild zu entmythologisieren und es der wohlfeilen Verteufelung wie der militanten Apotheose zu entziehen, hat seitdem das Verhältnis der Historiker-„Zunft“ zu dem ersten Reichskanzler geprägt. Eine vom Standpunkt des iustitia fundamentum regnorum leidenschaftlich parteiergreifende Kritik der res gestae Otto von Bismarcks hat noch während des Zweiten Weltkriegs in Erich Eycks in der Schweiz veröffentlicher dreibändiger Biographie ihren Ausdruck gefunden. In der Wiederaufnahme und Steigerung der älteren liberalen Bismarck-Kritik erschien in dieser bis heute unübertroffenen Biographie Bismarck als die Personifizierung von „Eisen und Blut", als der genial gewalttätige Bösewicht Als Antwort auf diese spätliberale Generalabrechnung wie in der Abwehr des völkisch und großdeutsch übertünchten Bismarck des NS-Geschichtsbilds hat sich seitdem eine Bismarck-Deutung neo-konservativer Prägung herausgebildet, eingeleitet von dem oben zitierten Besprechungsaufsatz Hans Rothfels'über „Probleme einer Bismarck-Biographie"
Die neo-konservative Grundposition gegenüber Bismarcks System der auswärtigen Politik war zum Teil schon in der Weimarer Republik angelegt; deutlich umrissen wird sie in dem Hassell-Tagebuch. Für sie steht die Distanziertheit des großen Staatsmanns gegenüber den irrationalen Gewalten seines Zeitalters im Vordergrund der Betrachtung. Bismarcks Handeln sei frei gewesen von Hybris und Arroganz. Unausgesprochen schwingt der Primat der auswärtigen Politik mit: in der europäischen Politik nach 1871 habe der große Kanzler elastisch-maßvoll und realitätsnah gehandelt, fern allen Hitlerschen Macht-und Gewaltträumen — stets ein Meister der Balance.
In der communis opinio, wie sie die Fachhistorie in den letzten 20 Jahren entwickelt hat, halten sich kritische Distanz von den Maßstäben der Bismarckschen Innenpolitik und ihren Auswirkungen und die rückhaltlose Anerkennung seiner auswärtigen Politik und ihrer Leitgedanken die Waage. Hans Rothfels hat im Jahre 1965 in seiner Gedenkrede zum 150. Geburtstag Bismarcks vor dem Deutschen Bundestag darüber Bilanz gezogen: Im Wesen von Bismarcks Diplomatie und Staatsauffassung habe die „Absage wie an nationalistischalldeutsche so an wirtschaftlich-imperialistische Züge" gelegen Die entscheidende Leistung der Bismarckschen Außenpolitik sieht Rothfels in der Tatsache, daß sie gegen alles anfängliche Mißtrauen die Saturiertheit des neuen Reiches als europäischen Aktivposten zur Anerkennung gebracht habe. Zu dem „Verlustsaldo" gehören dagegen die „Wunden, die Bismarcks Kampfwille aufriß", die Denaturierung der Parteien, die im Vorhof der Macht festgehalten wurden, nicht zuletzt auch die Erhöhung des „Anscheins monarchischer Voll-gewalt" und das „Beugen von Charakteren und der Verschleiß von Talenten"
Aber dieses Bild wird durch neue Problemstellungen der historischen Forschung in einzelnen Akzenten verändert wie auch im Ganzen in Frage gestellt. Denn machte nicht schon die strukturelle Dauerkrisis des deutschen Kaiserreichs eine defensive Außenpolitik zum obersten Gebot Mehr und mehr stellt sich die Frage, inwieweit nicht Bismarcks Gleichgewichtspolitik im europäischen Rahmen unlösbar mit dem Kampfkurs im Innern verkoppelt war. Man wird endlich die langfristige und aufgrund der sozialen und politischen Machtverhältnisse schwerlich auflösbare Verknüpfung einer auf Gedeih und Verderb an den protektionistischen Wirtschaftsnationalismus gebundenen Politik mit der zunehmenden Isolierung Deutschlands nicht übersehen können, die zwar erst unter den Nachfolgern sichtbar wurde, aber in ihren Grundzügen auf den ersten Reichskanzler und jene Politik zurückführte, mit der er die seit dem Ausgang des preußischen Verfassungskonflikts gegebene Machtlage in Gesellschaft und Staat stabilisierte Auch der Aufbruch zu den neuen Horizonten des Imperialismus ist nicht erst eine Zielsetzung der Wilhelminischen Epoche und ihrer volltönenden „Weltpolitik", sondern bildete schon für Bismarck einen wenn auch im Grunde nur widerwillig und tastend gebahnten Ausweg aus den Gefahren der wirtschaftlichen Stagnation und der sozialen Revolution
Weithin findet man Übereinstimmung hinsichtlich der Tatsache, daß Bismarck das Ziel einer „standfesten Sozialordnung" verfolgte Umstritten ist hingegen der Rang, den diese Zielsetzung im Rahmen seiner Gesamtpolitik besaß. Erschöpfte sie sich in dem 1879 erzwungenen Übergang zum Schutzzoll und in der Doppelpolitik von Sozialistengesetz und staat-lieber Sozialpolitik? Oder lag hier der Ausgangspunkt für die Wendung zum bonapartistischen Herrschaftsstil und der unter dem Signum der Sicherung im Innern vorangetriebenen überseeischen Expansion? Bismarck, so läßt sich die von der Wachstumsproblematik der Jahrzehnte nach 1848 ausgehende These zusammenfassen, habe zur Herstellung einer gesellschaftlichen Ruhelage, um die Gefahr der sozialen Revolution zu bannen und der Industrie sichere Absatzmärkte zu schaffen, seit den 1880er Jahren einer industriellen Expansionspolitik seinen Segen und staatliche Förderung gegeben, deren unkalkulierbare Risiken und Gefahren für die deutsche Außenpolitik er ahnte und voraussah, die er aber in der Kontinuität der „Revolution von oben" als Ablenkungspolitik schließlich selbst übernahm
In der inneren Politik wies das Bismarck-Bild von jeher unübersehbare Risse und Sprünge auf. Je mehr die historische Analyse aber in den Zusammenhang zwischen dem industrie-wirtschaftlichen Wachstumsprozeß und der preußisch-deutschen Staatspolitik eindringt und die überindividuellen Strömungen und sozialen Bewegungen zeigt, die Bismarck nutzte, deren Richtung er aber auch beeinflußte, desto dringender stellt sich für die moderne Bismarck-Deutung die Frage nach den Auswirkungen jenes eigentümlich zukunftslosen und unfruchtbaren Konservatismus, der das Gesicht der inneren Politik in der späten Bismarckzeit prägte und auch der auswärtigen Politik Ziel und Grenze setzte. Mußte dieser Konservatismus, als Damm gegen die von der Industriellen Revolution in Gang gesetzte Erosion der sozialen und politischen Werte-und Machtpyramide errichtet, nicht letztlich die Belastungen noch verstärken, die durch Deutschlands Mittellage von Anfang an vorgegeben waren Bismarck versuchte, die aufsteigen-den Gefahren nach innen wie nach außen zu beschwören mit der suggestiven, aber durch den Schutzzoll und die Kolonialpolitik ausgehöhlten Saturiertheitsformel: „Wir gehören zu den, was der alte Fürst Metternich nannte: saturierten Staaten, wir haben keine Bedürfnisse, die wir durch das Schwert erkämpfen könnten." Deutschland war territorial saturiert, aber Industrie und Landwirtschaft kämpften um Märkte; man wollte sich Rohstoffe und Kohlenstationen sichern. Deutschlands herrschende Schichten standen weithin unter der Furcht vor der sozialen Katastrophe und schlossen aus der Einsicht, daß die deutsche Stellung in Europa stets in der Gefahrenzone blieb, auf die Unausweichlichkeit des kommenden großen Krieges. Dieser Gedanke erwies sich 1914 als eine jener fatalen Prophezeiungen, die sich selbst erfüllen.
Mit den Begriffen originärer Machtpolitik allein läßt sich diese Problematik nicht erfassen, ebensowenig wie mit der Denkfigur des Primats der auswärtigen Politik. Die Verteidigung der bestehenden Verhältnisse in Gesellschaft und Politik war Angelpunkt der Entwicklung nach 1871: Wie Bismarcks System der auswärtigen Politik belastet wurde vom „cauchemar des coalitions" so wurde seine Innenpolitik von dem Bestreben beherrscht, die herausgehobene Stellung der vorindustriell-agrarischen Führungsschicht zu bewahren und das agrarisch-konservative Werte-system zu konservieren Die Abwehr der „novarum rerum cupidi" im Innern aber hat in mehreren Schüben die gefährdete Lage des Deutschen Reiches weiter belastet. Zur Haltung des ausweglosen „oderint dum metuant" gegenüber Frankreich trat seit 1876/79 der anhaltende Wirtschaftskrieg mit dem auf Agrarexporte angewiesenen Zarenstaat. Dann erhöhte das koloniale Engagement noch einmal den Einsatz der deutschen Politik, da es die Beziehungen zu England auf lange Sicht belastete. Innere und äußere Politik standen in einem untrennbaren Zusammenhang. Unzweifelhaft hat die auf dem „Solidarprotektionismus" (H. Rosenberg) von Landwirtschaft und Schwerindustrie ruhende Politik Bismarcks die Klassenspannungen im Innern verschärft.
Im Kampf gegen den bürgerlichen Parlamentarismus und gegen die Gespenster der Roten Revolution hat sie den preußisch-deutschen Staat tiefer in die Sackgasse des monarchischen Konstitutionalismus hineingetrieben. Hinter der Fassade militärischen Glanzes und wirtschaftlichen Aufstiegs gewöhnte man sich daran, mit der abgründigen Furcht vor der Revolution von unten und unter der Drohung des Staatsstreichs von oben zu leben
II. Der Triumph der Realpolitik
Das Problem der Bismarck-Deutung hat Hans Herzfeld umrissen, als er es in Parallele setzte zu den Bemühungen um das Bild Friedrichs des Großen und Napoleons: die unmittelbare Nachwirkung seiner Leistung habe die historische Betrachtung zugleich befeuert und erschwert. Daher sei die Erinnerung an Bismarck „noch heute ebenso politisch umkämpftes Symbol, umstrittener weltanschaulicher Wert wie geschichtliche Erscheinung"
Schon im zeitgenössischen Bismarck-Verständnis herrschten die kritischen, ja betroffenen Stimmen vor. So bedeutende Männer wie der Basler Historiker Jacob Burckhardt, der badische Minister und Bismarck-Gegner Freiherr von Roggenbach, wohl der bedeutendste süddeutsche Staatsmann der Reichsgründungszeit, und der Erzföderalist Constantin Frantz haben nach 1866 vor kommendem Unheil gewarnt. Sie sahen die Politik des preußischen Konfliktministers im schroffen Widerspruch stehen zu den Grundlagen der abendländischen Staatengemeinschaft und Kultur. Für sie eröffnete der Sieg der preußischen Waffen bei der böhmischen Stadt Königgrätz den Ausblick auf ein Eisernes Zeitalter der Kriege und Revolutionen und das rücksichtslose Streben nach Macht. In den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" sagte damals Burckhardt: „Dro-hend aber steht die Verflechtung der gegenwärtigen Krisis mit gewaltigen Völkerkriegen in Aussicht." Er hat damals bereits die These vertreten — und sie ist über Arthur Rosenberg, Eckart Kehr, Alfred Vagts, Wolfgang Sauer und Hans Rosenberg ein Leitmotiv der kritischen Bismarck-Deutung geblieben —, daß die Kriege von 1864 gegen Dänemark, von 1866 gegen Österreich und von 1870 gegen Frankreich dem Bedürfnis entsprangen, inneren Schwierigkeiten durch äußere Erfolge zu begegnen: „Man wird überhaupt mit der Zeit darüber klar werden, bis zu welchem Grade die 3 Kriege aus Gründen der inneren Politik sind unternommen worden. Man genoß und benützte 7 Jahre lang die große Avantage, daß alle Welt glaubte, nur Louis Napoleon führe Kriege aus innern Gründen. Rein vom Gesichtspunkt der Selbsterhaltung aus war es die höchste Zeit, daß man die 3 Kriege führte. Aber freilich über die weitern innern Entwicklungen, die das alles noch mit sich führen wird, dürften uns noch öfter die Augen übergehen.“
Seit dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts, als die „raison militaire" mit Bismarck ihre* letzte Trumpfkarte in das Spiel geworfen hatte, war auch der junkerliche Reichspessimismus der altpreußischen Konservativen von solchen Ahnungen bestimmt. Sie wußten, daß Bismarck für das konservativ-agrarische Machtgefüge Preußens unentbehrlich war, aber verurteilten seine Politik als eine Auflehnung gegen „Gottes heilige Gebote" (E. L. von Gerlach) und sahen in ihr fast von Anfang an das „demokratische Programm" am Werk, „die Schwierigkeiten im Innern durch eine kühne Politik nach außen zu überwinden" Aber auch auf der Seite des national engagierten Liberalismus wurden doch von aller Begeisterung für das Programm des deutschen Macht-staats und des nationalen Großwirtschaftsraums unter preußischer Führung nicht jene Stimmen übertönt, denen „Eisen und Blut" als ein schlechtes Omen für die erstrebte Einigung der Deutschen galten. Heinrich von Treitschke, nachmals einer der moralisch-politischen Bannerträger des Bismarckschen Deutschland, schrieb zu jener Zeit an seinen Bruder: „Du weißt, wie leidenschaftlich ich Preußen liebe, höre ich aber einen so flachen Junker, wie diesen Bismarck, von dem . Eisen und Blut'prahlen, womit er Deutschland unterjochen will, so scheint mir die Gemeinheit nur noch durch die Lächerlichkeit Überboten." Zwischen der königstreuen Staatsstreichgruppe und der liberalen Opposition verwirklichte
Bismarck eine Politik, die beiden Herren diente, dem agrarischen Konservatismus, dessen bedrohte Machtstellung als geborener Herrschaftsstand er stabilisierte, wie auf der anderen Seite dem in industriellen Unternehmungen, Banken und Eisenbahnen engagierten Bürgertum. Auf dieser Grundlage bestätigte er den aus den Stürmen des Jahres 1848 hervorgegangenen Kompromiß, auf dem die konstitutionelle Monarchie ruhte. Wie er seitdem im Brennpunkt der preußisch-deutschen Verfassungswirklichkeit stand, rückte er auch in das Zentrum des zeitgenössischen Geschichtsverständnisses in Deutschland, wurde er die „Inkarnation des nationalen Staats" Mythos der Gegenrevolution und Symbol der Realpolitik. Vergangenheit und Gegenwartsbewußtsein haben seitdem das Bild Bismarcks in der deutschen Geschichte in enger Wechselwirkung geformt. Die Betroffenheit von Zeitgenossen und Nachlebenden hat dazu beigetragen, daß sein Bild lange Zeit „mythisch überhöht oder kritisch verzerrt worden, zu groß oder zu klein geraten [ist]" Bismarck hat in der Tat bis heute Politiker und Historiker wie kein zweiter angezogen, abgestoßen und wieder fasziniert, und es dokumentiert die Vielschichtigkeit des „Problems Bismarck", wenn die bloße Aufzählung von Büchern, Aufsätzen und Pamphleten über, für und gegen ihn einen respektablen Band füllt
Bismarck muß indessen insofern als eine „Grenzerscheinung" in seiner Zeit gelten, als die Politik, die ihn 1866 zum Triumphator machte, auch eine eigentümlich „katalytische Funktion" im Verlauf des 19. Jahrhunderts besaß Die Ereignisse des Jahres 1866 bestä-tigten einen Denkstil, dessen Wertmaßstäbe durch den Umbruch vom Idealismus zum Realismus geprägt waren. Die geistigen Gehalte des deutschen Idealismus wurden schal. Sie hatten sich mit der Paulskirche und in ihrem Scheitern erschöpft Das Gedankengut des Idealismus beherrschte noch in verflachter Form das populäre Vokabular, aber es denaturierte zum „Vulgäridealismus“, um eine Formulierung Fritz Sterns aufzugreifen 1866 wurden verborgene, noch mehr oder weniger in der Formung begriffene Tendenzen der Zeit ins Bewußtsein gehoben — man braucht nur an den Triumphzug des Begriffs Realpolitik zu denken Der Liberalismus schien machtpolitisch durch Königgrätz widerlegt, und die Bitte des Triumphators um Indemnität korrigierte nicht die Ergebnisse des preußischen Verfassungskonflikts, sondern ebnete dem Gros der Liberalen den Weg in das Bismarcksche Deutschland. Wenige Tage nach dem Friedensschluß schrieb Friedrich Kapp, ehedem radikaler 1848er und Emigrant, der in der Neuen Welt zu Wohlstand und Ansehen gekommen war: „Der Krieg eröffnet die Ära der Wiedergeburt Deutschlands. . . Was ist daran gelegen, wer die zur Reorganisation unseres Vaterlandes unerläßliche Revolution macht, wer den Boden für die spätere Aktion rein und frei macht, wenn es nur überhaupt geschieht. Im Gegenteil, mir ist in dieser Beziehung Bismarck und der Hohenzoller noch lieber als die bewaffnete Demokratie. . . So sehr ich weiß, daß ich in allen übrigen Lebensfragen mit der in Preußen herrschenden Clique auseinandergehe, ja daß, wenn ich da wäre, ich sofort mit ihr in die Haare geriete, so stehe ich doch in der auswärtigen Politik unbedingt zu Bismark. . . Was jetzt geschehen ist, ist die unerläßliche Bedingung für eine gedeihliche nationale Zukunft, ohne Bismarck hätten wir nie diesen Krieg gehabt, jetzt liegt das Ziel klar und fest abgesteckt vor uns, und die späteren Schritte sind verhältnismäßig leicht."
Die schneidende „Selbstkritik" des Liberalismus aus der Feder des Karlsruher Historikers Hermann Baumgarten wurde zum Symptom der Krise, in die das bürgerliche Denken durch die Ereignisse von 1866 geworfen wurde Der politische Liberalismus unterlag dem preußischen Machtstaat und seiner alten Herrschaftselite, während gleichzeitig die hauptsächlich wirtschaftlichen Interessen des Bürgertums durchgesetzt wurden. Diese Erfahrung rechtfertigte die Wendung zum politischen Empirismus und verstärkte die Bereitschaft zum Kult der Tatsachen Jetzt wurde die preußische Geschichte in den Begriffen der Realpolitik umgeschrieben: „von Adam an siegesdeutsch', spottete Burckhardt im fernen Basel Wenn Sedan und Versailles auch im allgemeinen Bewußtsein schon bald Königgrätz und den Prager Frieden verdrängten, so liegen doch die nachhaltigen Folgen der Ereignisse von 1866 nicht allein in der Entscheidung zwischen Preußen und Österreich um die künftige Führung; 1866 bedeutete vor allem einen gei-stigen Wendepunkt zwischen den Zeiten, die geschichtliche Wasserscheide zwischen dem Status-quo-System Metternichs und dem Bismarckschen Deuschland.
In Bismarck sah das bürgerliche wie das konservative Deutschland den „Weltgeist zu Pferde" — um ein auf Napoleon I. gemünztes Wort des Jahrhundertanfangs aufzunehmen. Die daran anknüpfende Zuspitzung einer vielschichtigen Entwicklung, wie sie die preußisch-deutsche Reichsgründung darstellte, auf das Maß persönlicher Schuld und Verantwortung hat dazu beigetragen, daß das Bild Bismarcks bis heute umstritten geblieben ist, wenn auch an die Stelle des zum Klischee gewordenen Realisten staatlicher Macht und des stilisierten Recken die zunehmende Entfernung auch eine wesentlich differenziertere Gestalt von großer gedanklicher Tiefe hat treten lassen — um noch einmal Hans Rothfels zu zitieren: „nicht nur der letzte in der Reihe der großen Kabinettspolitiker", sondern in der politischen Sicht hinausgreifend „über seine Zeit, über jede bloße nationale oder klassenmäßige Befangenheit"
Die Zeitgenossen hat vor allem der Umstand beschäftigt, daß Bismarcks Politik bei aller Zeitgebundenheit der Mittel doch in einer als unheimlich empfundenen Distanz von den Wertmaßstäben der nationalstaatlichen Epoche stand. Wo die Nation zum Maß aller Dinge wurde, stand für ihn noch der Staat im Mittelpunkt. Er war der letzte Vertreter des Gedankens der Staatsräson; einer Staatsräson freilich, die bei der Erhaltung der junkerlichen Welt Osteibiens begann und bei der bonapartistischen Autokratie des immer mächtiger werdenden Kanzlers endete der einem Besucher in Friedrichsruh 1885 gelassen erklärte, er sei „in allem, nur nicht dem Namen nach .. . Herr von Deutschland" Bei aller Bereitschaft, den bürgerlichen Nationalismus vor den Wagen seiner Politik zu spannen, war für ihn der Nationalstaat doch nach innen so wenig wie nach außen ein letzter und ausschließlicher Wert. Diese Auffassung ist heute nahezu Gemeingut geworden Für die baltische Irredenta hatte er weder Verständnis noch Interesse; die Annexion Elsaß-Lothrin-gens entsprang, das hat die neuere Diskussion gezeigt überwiegend einigungspolitischem Kalkül, militärischem Sicherheitsbedürfnis und staatlichen Gleichgewichtsdenken und nicht nationalem Chauvinismus; und es war ein durchaus taktischer Zug, wenn der Kanzler in dem Ringen mit Wilhelm I. um das Bündnis mit dem Habsburgerstaat im Spätsommer 1879 den Gedanken anklingen ließ, „daß das deutsche Vaterland nach tausendjähriger Tradition sich auch an der Donau, in der Steiermark und in Tirol noch wiederfindet, in Moskau und Petersburg aber nicht"
Aber auch das trügerische Selbstgefühl seiner Epoche lag Bismarcks konservativer Geschichtsauffassung denkbar fern, die wie das Denken Metternichs oder Burckhardts überschattet wurde von dem Zyklus der Revolutionen und der Ahnung, daß das monarchische Deutschland diesem „circulus vitiosus" nur noch für ein, zwei Generationen standzuhalten vermöchte Der optimistische Glaube an „herrliche Zeiten" oder die Hoffnung auf Großmachtpolitik ohne tödliches Risiko blieben ihm fremd. Eine eigentümliche, am lutherischen Obrigkeitsbegriff geformte Religiosität ließ ihn den Staat als Werkzeug Gottes begreifen. Im Ablauf der Geschichte sah er die göttliche Vorsehung am Werk, eine Art histori11 sehe Oberrechnungskammer, deren Präsident in seinen Revisionen unerbittliche Strenge walten ließ. Dabei war sein Glaube nicht frei von Elementen der Selbstgerechtigkeit und heidnischen Gewaltsamkeit: „Gefochten soll sein, das ist mir so klar, als ob Gott es mir deutsch direkt befohlen hätte", schrieb er in dem großen Abschiedsbrief an den Kriegsminister v. Roon, seinen Förderer und Mentor.
Wie das preußische Königtum, so begriff er auch seine Politik als Werkzeug der göttlichen Weltordnung: „Wir werden mündlich doch noch manchen Rückblick auf die elf Geschichtsjahre tun können, die uns Gott zusammen hat durchkämpfen lassen, und in denen wir mehr von seiner Gnade erlebt haben, als wenigstens mein Verstehn und Erwarten faßte."
III. Kanzlerherrschaft und Cäsarismus
Seit 1871 wurde die Reichsgründung zum Angelpunkt des deutschen Geschichtsbilds, zum Zentralereignis für Vergangenheit und Gegenwart. Das entsprach weitgehend dem Geschichtsverständnis, das in Form von Bildungszielen und Richtlinien für die Gestaltung des: Geschichtsunterrichts von oben verordnet wurde Das Bismarck-Bild ragte für einen ins übermenschliche, für die anderen Dämonische. Die liberalen Historiker, die im preußischen Verfassungskonflikt den Ministerpräsidenten zum Verderber des Staates erklärt hatten, wurden nach 1866, als die preußische Opposition im Bußgewand der Real-politik daherging, seine leidenschaftlichen Fürsprecher und Bewunderer. Sybel stellte die Frage: „Wodurch hat man die Gnade verdient, so große und mächtige Dinge erleben zu dürfen? Und wie wird man nachher leben? Was zwanzig Jahre der Inhalt alles Wünschens und Strebens gewesen, das ist nun in so unendlich herrlicher Weise erfüllt! Woher soll man in meinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das weitere Leben nehmen?"
Wie sehr sich diese Emphase im Einklang befand mit allem, was das nationalliberale Bürgertum bewegte, zeigt ein Brief des Bankiers Friedrich Kapp, der nach seiner Rückkehr aus denVereinigten Staaten für den Reichstag kan-didierte: „Welche gewaltigen Dinge haben sich ereignet, seit wir uns zuletzt gesehen hadie! Es ist ein Glück, jetzt zu leben und die edins; Eigenschaften im Volk hervortreten zu sehen. Wir haben so viel Niederlagen mitmachen müssen, daß uns diese Gunst des Sieges schon zu gönnen ist." Daneben standen im liberalen Lager jene deutschen „Whigs", die bei aller Gegnerschaft zu dem, was sie als Anfang der Kanzlerdiktatur und rüde Realpolitik empfanden, sich doch von dem Banne Bis-Gottes: nicht freizumachen vermochten
Doch auch die Gegenstimmen verstummten nicht. Im politischen Katholizismus, der bereits das Wetterleuchten der heraufziehenden Auseinandersetzung mit dem preußischen Staat erkannte, herrschte die Besorgnis vor, das Bismarcksche Werk werde fortan das „Gottesreich der Wahrheit, nach dem Ausdrucke Friedrich Schlegels, völlig aus der Welt hinauszukomplimentieren" bestrebt sein Andere, wie der Freiherr von Roggenbach, warnten vor dem „herrschsüchtigen Charakter des Kanzlers", dessen „wechselnde Machtinstinkte" auch vor dem Gebrauch „demagogischer Mittel“ nicht zurückschreckten und damit — was dann erst wieder Max Weber mit gleicher Schärfe konstatierte — auch den „eigensten Bestand" der Krone in Gefahr brachten Der Vorwurf des Cäsarismus kehrt in solchen Äußerungen immer wieder. Der Historiker Heinrich Geizer, lange Jahre der geheime Berater des badischen Großherzogs, schrieb 1872: „ 1. Ich fürchte, es ist viel mehr napoleonischer Geist und cavoursche Nachahmung in seiner deutschen und europäischen Politik als eine wahrhaft deutsche, sittliche und konservativ-nationale Fortsetzung des Werkes Steins! 2. Ich fürchte, der preußisch-militärische und bürokratisch-zentralistische Unitarismus, verbunden mit dem kalten frivolen, egoistischen Berlinismus, werde mit fatalistischer Konsequenz den deutschen Idealismus ... zu verschlingen suchen. 3. Ich sehe nach dem dereinstigen Aufhören der Bismarckschen Diktatur und nach dem vielleicht nahen Hinscheiden des greisen Kaisers keine leitenden Persönlichkeiten, von denen ein organisatorisches Vorangehen und Eingreifen zu erwarten wäre: Für den Ausbau der deutschen Verfassung, für Anbahnung einer europäischen Rechtsordnung. ..“
Der Ruf nach wirksamen Institutionen als Sicherung für die Zukunft und als Gegengewicht zur Machtstellung des Kanzlers wurde laut im Reichstag und von den Kathedern Aber Bismarck hatte die Macht, ihn zu überhören. Friedrich Kapp beklagte das Unstete und Verwirrende an Bismarcks Politik: „Er ist wie Friedrich der Große unentbehrlich und ein Glück für das ganze deutsche Volk, allein man muß eine gehörige Dosis schlechter Bestandteile mit in den Kauf nehmen ... Ich fürchte, wir gehen zunächst schlimmen Kämpfen entgegen. Bismarcks Hauptfehler scheint mir darin zu liegen, daß er zu viele Eisen im Feuer hat, und daß er stets mit neuen Plänen und Maßregeln herausrückt, ehe die alten erledigt und befestigt sind." Selbst ein über den Verdacht der Bismarck-Feindschaft'erhabener Nationalliberaler wie der Literarhistoriker und Gründer der Preußischen Jahrbücher, Rudolf Haym, schrieb ernüchtert'„Sie viel ist freilich gewiß: mit persönlicher Ehre und Würde verträgt sich der Ministerdienst unter dem großen Junker schwerlich." Nachdenklichen Geistern drängte sich endlich die Betrachtung auf — so der Liberale Georg von Bunsen —, Bismarck mache „Deutschland groß und die Deutschen klein"
Sowohl das Befremdliche und Erschreckende an Bismarcks Persönlichkeit als auch das Mißtrauen gegen die permanente Mobilmachung nach innen, die Bismarcks Herrschaftstechnik zugrundelag haben dazu geführt, daß selbst im Bismarck-Bild jener liberal-konservativen Schichten, für die das Reich von 1871 eine feste Burg bedeutete, die negativen Züge überwogen. „Unentbehrlich für den Staat, unerträglich für die Dynastien" — so soll Leopold von Ranke 1877 sein Urteil über den mächtigen Kanzler zusammengefaßt haben
„Großregierer" nannte ihn Treitschke, sein „cäsarisches Schalten“ beklagte Rudolf Haym
Der nationale Flügel der Liberalen hat zwar unter dem Druck der Großen Depression und der von den ökonomischen Tiefstands) ahren 1873— 1879 ausgelösten radikalen Aschermittwochstimmung und der Diskreditierung des liberalen Wertesystems vor Bismarck und den Maßstäben seiner Politik weitgehend kapituliert. Aber neben denjenigen, die jetzt nach dem „Mann von Eisen" riefen gab es doch gerade unter den führenden Köpfen des liberalen Lagers auch solche, die die Brüchigkeit des Werkes ahnten, das Bismarck einmal hinterlassen würde. So wurde die in der großen Krise von 1878/79 eingeleitete konservative Neugründung des Reiches für das liberale Bismarck-Bild zu einer Zäsur. Damals wurde mit dem Sozialistengesetz, der Wendung zum Schutzzoll als Basis der Allianz von Roggen und Eisen und der permanenten Staatsstreichdrohung die „schöpferische Antirevolution" verwirklicht Den badischen Widerspruch gegen die den Umschwung einleitende Auflösung des Reichstags schob Bismarck Anfang Juni 1878 durch die Drohung beiseite, den Belagerungszustand zu verhängen und die Revision der Reichsverfassung durch Preußen durchzusetzen Der Großherzog, einst der liberale Paladin der Reichsgründung, schrieb damals voller Erbitterung: „Wir wollen nicht geknechtet werden, weil Berlin eine Pestbeule geworden ist; wir wollen als freie Männer regiert werden, die das Bewußtsein haben, dieser Freiheit würdig zu sein. In solchem Bewußtsein muß auch der Bundesrat handeln und ohne Menschenfurcht dem Usurpator entgegentreten, damit er erkenne, daß es Grenzen gibt, welche zu überschreiten auch für ihn unmöglich ist. Dieser Erkenntnis wird sich Fürst Bismarck nicht verschließen können, wenn er erfährt, daß Recht vor Macht geht." Ein Jahr später ließ sich Friedrich Kapp übet die Folgen aus, die die antiliberale Politik des Kanzlers haben werde: „Natürlich wird er mit seinen Plänen scheitern, so gut als sich in unserm Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität die Welt nicht mehr in mittelalterliche spanische Stiefel zurückschrauben läßt, allein das ist das Schlimmste nicht. Viel verderblicher sind die Folgen für das Volk. Es entzündet sich jetzt schon ein engherziger Interessenkampf in dem Volk, in welchem der eine auf Kosten des anderen zu gewinnen sucht. Eine allgemeine Demoralisation. . . Während man hier noch im vorigen Jahr einem Gefühl unbedingter Sicherheit, einem unbegrenzten Vertrauen in die Stabilität unserer Verhältnisse sich hingab, fragt man sich jetzt, was daraus werden soll, wohin wir steuern und wo wir enden." “ Diese Vorwürfe mit ihrer Mischung aus Ohnmacht, Enttäuschung und Verbitterung prägten weitgehend die 1880er Jahre. „Für Bismarck gibt es überhaupt nur eine Regierungsform: das ist er allein" — so ironisierte Kapp 1879 die Selbstherrlichkeit des mächtigen Mannes Der Vorwurf, Bismarck habe eine Diktatur napoleonischen Zuschnitts errichtet, tauchte immer wieder auf Die rüden Gewaltmethoden in der inneren Politik stießet ab: Bismarck habe die eine Partei gegen die andere ausgespielt und sie alle zersetzt, schrieb Kapp zwei Jahre später. „Er hat sie ... eine nach der anderen mit Füßen getreten, weil er eine Eunuchenmehrheit wollte, die das Maul nicht auftun darf."
Aber die liberalen Anti-Bismarckianer von 1878/79 unterzogen nicht nur die Verbindung von Obrigkeitsstaat und Cäsarismus einer ätzenden und durch die Folgezeit in ihren Voraussagen vielfach bestätigten Kritik, sie erkannten auch die ideologische Prägekraft der Bismarckschen Politik. Wenn Gustav Freytag, damals ein gefeierter Autor vielgelesener historischer Romane und politischer Schriften, den Sieg der Oppositionsparteien bei den Reichstagswahlen von 1881 willkommen hieß, so deshalb, weil er darin den Beweis sah, daß derBismarcksche Mythos sich abnutzte: „Unterdes gratuliere ich in Gedanken uns zu dem Ausfall der Wahlen ... Da der Kanzler uns alle zu Mitschuldigen seiner Taten gemacht hat, denen ihr Anteil an Segen und Fluch seines Erdenlebens voll zugemessen werden wird, so ist ein Glück, daß die Wahlen so ausgefallen sind. Sie sind für ihn, unser Volk und für das Ausland ein Symptom, daß die Herrschaft des einen, welcher der Nation sein Bild und Gepräge aufgezwungen hat, nicht unbedingt ist und ihrem Ende naht." Was Freytag, der zum liberalen Kreis um den Kronprinzen gehörte, besorgt machte, war die hemmungslose Erhebung von Realpolitik zum Maßstab des Handelns, die Anziehungskraft des Bismarckschen Systems für das Bürgertum und das Potential an charismatischer Führungsautorität neben und vielleicht einmal gegen die Krone:
„Seele und Leben einer Nation dürfen nicht lange von dem Gemüt und Gewissen eines einzelnen abhängen und in ihrem wichtigsten Inhalt durch die Selbstherrlichkeit eines Mannes geleitet werden." Am schärfsten aber kam die Ambivalenz der zeitgenössischen Bismarck-Deutung zum Ausdruck bei Theodor Fontane, dem Repräsentanten einer humanen Gesellschafts-und Zeitkritik: „Wo ich Bismarck als Werkzeug der göttlichen Vorsehung empfinde, beuge ich mich vor ihm; wo er einfach er selbst ist, Junker und Deichhauptmann und Vorteilsjäger, ist er mir gänzlich unsympathisch."
Es war nicht verwunderlich, daß auf konservativer Seite die Zustimmung zu einer Politik überwog, die auf der Allianz von Roggen und Eisen gründete. Bis auf die Fronde der verbissenen Bismarck-Gegner hinter der Kreuzzeitung fühlten die Konservativen sich als Prätorianer des Systems Bismarck. Sie profitierten von dem Mythos politischer Unfehlbarkeit und kanonisierten demgemäß die Maximen des „eisernen Kanzlers" für die innere Politik. Zustimmung oder Ablehnung gegenüber Bismarck machten sie zum Kriterium nationalen Wohlverhaltens. Es gebe in den „s. g.con-servativen Kreisen leider nicht wenig Männer", so stellte der Zentrumsführer Ludwig Windthorst 1880 den Hauptgegensatz zwischen dem agrarisch-konservativen Flügel des politischen Katholizismus und der Konservativen dar, „welche glauben, daß man nur dann reichsfreundlich handelt, wenn man absolut nur so denkt und handelt, wie es dem Fürsten Bismarck angenehm ist. Diesen Männern kann die Centrums-Fraction nicht folgen, weil sie weder auf ihre Selbständigkeit noch auf ihr eigenes Urteil verzichten kann."
In der konservativen Haltung gegenüber Bismarck, soweit sie überhaupt kritisch gefärbt war, herrschte die Ablehnung des persönlichen Stils vor. Bismarcks Eigenart sei es, den „Egoismus mit dem Patriotismus vollständig zu verschmelzen", monierte 1884 der erzkonservative General von Schweinitz, Botschafter am Zarenhof. In Berlin schrieb er: „Es pfeift hier alles auf demselben Loch: alles hängt ganz allein von Bismarck ab; nie gab es eine so vollständige Alleinherrschaft", ergänzt durch eine — wie er an anderer Stelle hinzufügte — „so allgemeine Unterwürfigkeit". „Wenn der große Kanzler einmal abtreten wird, dann werden sich viele Leute schämen und sich gegenseitig die Niedrigkeit vorwerfen, mit welcher sie sich seinem gewaltigen Willen gebeugt haben", prophezeite der Botschafter. Aber er sprach auch von der „Größe und Rücksichtslosigkeit" und der „dämonischen Überlegenheit" Bismarcks Friedrich von Holstein, ein Mann des inneren Kreises, konstatierte 1889, Bismarck habe „ 10 Jahre lang als Kaiser regiert"; einige Jahre zuvor hatte er, der sich bereits vom Regime Bismarcks zu distanzieren begann, geschrieben: „Ja, der Mann hat große Charakterfehler, aber doch — was fangen wir an, wenn er mal weg ist? Es wird eine ganz gräßliche Wirtschaft."
Was die Kritiker des Kanzlers verband, war vor allem die Abneigung gegen den Stil der bonapartistischen Herrschaft. Dieser wurde durch peinliche Beachtung monarchischer Formen zwar äußerlich gemildert und verschleiert. Aber er drückte doch seit der großen konservativen Wendung der deutschen Innenpolitik seinen Stempel auf. In der Politik des Risikos nach innen wie nach außen, dem Ausspielen der plebiszitären Gewalten gegen Parlament und Parteien, in der agitatorischen Gewandtheit im Gebrauch von Presse und Reichstagstribüne, endlich in der Geringschätzung der Legitimität, der Drohung mit dem Säbel-regiment und der Wahlverwandtschaft von Konservatismus und Revolution waren die Elemente dieses Systems seit 1862 vorge-prägt
Am schärfsten kam das bonapartistische Wesenselement wohl in dem immer wiederholten Versuch des Kanzlers und seiner Umgebung zum Ausdruck, den Bismarck-Mythos für die innere Politik zu nutzen, mit ihm den Wahlen einen cäsaristischen Einschlag zu geben und Parlamente und Parteien unter Druck zu setzen. Bismarck wurde in den 1880er Jahren, und dies nicht ohne eigenes Zutun, zum charismatischen Führer stilisiert, die Fortdauer der Kanzlerherrschaft mit dem Staatswohl in eins gesetzt. Die Rücktrittsdrohungen, durch die Bismarck seit 1870, scheinbar vor dem Reichstag und seiner Mehrheit zurückweichend, „seine Unentbehrlichkeit wie auch seine Macht fühlbar werden" ließ — so der Kronprinz 1874 — gehörten ebenso wie die Ausnutzung der Attentate von 1874 (auf Bismarck) und 1878 (auf den Kaiser) oder die Beschwörung des inneren und des äußeren Feindes zur Technik bonapartistischer Herrschaft. Das Spielerische und das Theatralische in solchen Wendungen erneuerten den „außeralltäglichen" Charakter des Bismarckschen Cäsaris-mus
Seit der großen Zäsur von 1878/79 wurden die Wahlen zusehends zu einem Personalplebiszit. Der Mythos des Reichsgründers und „eisernen Kanzlers" wurde zur Waffe, zum Ersatzargument gegen die parlamentarische Linke, gegen Parlamentarismus und Sozialrevolution Und diese Zuspitzung von „Furcht und Hoffnung“ der Wähler auf die Rettung durch den Heros, von Hermann Wagener am Anfang des Verfassungskonflikts als politisches Kampfmittel konzipiert, sollte auch in der Geschichtsschreibung lange Zeit nachwirken Aus Kissin-gen gab Herbert v. Bismarck 1879 dem Chor der Bismarckianer das Zeichen zum Einsatz, als er für die bevorstehenden Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus die Weisung nach Berlin schickte: „Mein Vater findet, daß die Taktik der Regierung und der ihr befreundeten resp. von ihr abhängigen Presse angesichts der bevorstehenden Wahlkampagne keine geschickte ist ... Zunächst müßte alle paar Tage, immer von neuem, dem Leser und Wähler der von der Fortschrittspartei ausgespielte Trumpf , Fort mit Bismarck'vorgehalten und ihm klar gemacht werden, wohin das führen müßte und wohin wir gekommen wären, wenn es eher geschehen oder Bismarck nicht Minister gewesen sein würde. Dann müßte daraus der praktische Schluß gezogen und der Opposition in immer wiederkehrender Frage hingehalten werden: , Wen wollt ihr an seine Stelle?'Die eventuellen Namensnennungen würden dann wieder unendlichen Stoff zum Angriff geben, der ja viel leichter, sobald er gegen eine bestimmte Persönlichkeit gerichtet werden kann."
IV. Die Legende als politischer Faktor
Als im März 1890 Bismarck stürzte, geschah das Unerwartete — nämlich nichts. In den europäischen Hauptstädten wurde zwar das, was sich in Berlin ereignete, zuerst mit Kopfschütteln und bald mit steigender Besorgnis registriert. Die konservative Gesellschaft in St. Petersburg sah die „Aussichten auf einen Krieg“ sich drohend vermehren Ganz anders aber die Reaktion in Deuschland. „Es ist ein Glück, daß wir ihn los sind", meinte Fontane Die Abschiedsszene auf dem Lehrter Bahnhof, mit Hüteschwenken, Rufen: „Wiederkommen!" und der „Wacht am Rhein" täuschte über die wahre Stimmung Sie wurde beschrieben in einem Bericht des k. u. k.
Botschafters in Berlin, der am 19. März 1890 meldete: „Es ist unglaublich, wie glatt hier dies weltgeschichtliche Moment abläuft. Der Eindruck allenthalben im Auslande ist weit gewaltiger als hier." Ein späterer Bericht war der Reaktion der Mitglieder des Bundes-rats gewidmet: Einige konnten „ihre Befriedigung kaum verbergen. Es ist wie ein freies Aufatmen nach Aufhören eines schweren Druk-kes." Ähnliches galt von der überwiegenden Mehrheit der Konservativen, des Zentrums und der Nationalliberalen. Das preußische Abgeordnetenhaus verharrte, als es amtlich von Bismarcks Abschied in Kenntnis gesetzt wurde, in eisigem Schweigen.
Bismarcks Entlassung wurde zunächst offenbar von breiten Schichten mit Gleichgültigkeit, ja vielfach nicht ohne ein Gefühl der Erleichterung hingenommen Wilhelm II. befand sich wohl selten mehr in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung als mit seinem „der Kurs bleibt der alte, Volldampf voraus!" — und das offenbar sehr zum Erstaunen seiner engeren Umgebung. So schrieb Hinzpeter, der frühere Erzieher des Kaisers, der bei dem im Mittelpunkt des Konflikts stehenden Arbeiter-schutzprogramm seine Hand im Spiel gehabt hatte, voller Sorge: Es zeige sich doch als „unmöglich, die Notwendigkeit des Abgangs des Kanzlers genügend nachzuweisen; und es bleibt immer ein Rest von Tadel gegen den Monarchen neben dem Bedauern für den Minister und der Sorge für die Zukunft. Solche Stimmung zu entwickeln und auszubeuten, wird nicht schwer sein, wenn man von irgendeiner Seite Lust dazu hat. Und das scheint mir nach mehreren Seiten der Fall zu sein."
Diese Ahnung trog nicht; denn der gestürzte Kanzler sah sich zwar in Politik und öffentlicher Meinung isoliert, und es konnte ihn niemand von dem Vorwurf freisprechen, daß er selbst am meisten dazu beigetragen hatte, aber noch im Lauf des Jahres 1890 kam es zu einem Umschwung, der Bismarck wenn auch nicht mehr als Kanzler, so doch als Mythos ante portas erneut zu einem Machtfaktor in der deutschen Politik machte. Es gelang ihm, sich gegen den Kaiser und Caprivis Kurs der inneren Entspannung, der Senkung der Agrarzölle und der Steigerung der Exporte an die Spitze der Ressentimentbewegung der unzufriedenen Mittelschichten zu setzen und aus dem Hintergrund die Führung der Großagrarier und Schwerindustriellen zu übernehmen, die das Kartell gebildet hatten. Die politische Legende schuf jetzt ein Bild des „Alten im Sachsenwald", das politischen Sprengstoff barg. Abordnungen von Bürgern, Heimatvereinen und Studenten pilgerten nach Friedrichsruh, um sich über die Fehler und Versäumnisse des Nachfolgers im Kanzleramt und seines kaiserlichen Herrn belehren zu lassen.
Entscheidend war, daß sich der als Protestbewegung gegen die Caprivischen Handelsverträge — nach Wilhelm II. die „rettende Tat" — und den damit verbundenen Macht-und Einkommensverlust 1893 gegründete „Bund der Landwirte" des Bismarck-Mythos bemäch-tigte. Der Bund gab sich „bismärckisch" in einem sehr dogmatischen Sinne. Er berief sich auf den alten Kanzler und seine autonome Tarifpolitik und zitierte ihn mit Ausdauer als „deutschen Bauern". „Der alte Bismarck, der schwieg, wurde zum Heros und Idol der Agrarier, an dessen Gestalt sich alle folgenden Politiker messen lassen mußten . . . Ebenso wie die monarchische Grundlage und das militärische Argument diente auch Bismarcks Image den Agrariern zur Stärkung und zur plastischen Vermittlung einer personalisierten patriarchalischen Autorität."
Die Bismarck-Legende wurde in diesen Jahren ein ideologischer Stützpfeiler jener agrarisch-nationalistischen Abwehrfront, mit der das konservative Deutschland die Lösung der durch die industrielle Revolution verschärften gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Probleme blockierte. Die konservativ-agrarische Interessenpolitik der Jahrhundertwende aktivierte überdies das romantischvölkische, antiliberale und plebiszitär-autoritäre Reservoir an Ideologie und radikalem Ak-tivismus, das sich im Sog der Depression gebildet hatte und dessen sich später der Nationalsozialismus bediente” In dem auf Bismarcks Sturz folgenden Jahrzehnt eroberte sich der „Bund der Landwirte" durch seine unbekümmerte Interessenpolitik ebenso wie durch den Appell an ein verbreitetes soziales und politisches Krisenbewußtsein und die Propagierung der Leitbilder des Imperialismus einen politischen Massenmarkt und nahm die Konservative Partei in sein Schlepptau. Die Tendenzen plebiszitärer Akklamation, die im Zeichen der Versöhnung des selbstregierenden Monarchen mit dem agrarischen Konservatismus von oben wachgerufen wurden, fanden hier ein Echo.
Der Bismarck-Kult nährte sich aus vielerlei Strömungen und Rinnsalen. Neben dem „Bund der Landwirte", dem mächtigsten und mitglie derstärksten Interessenverband der deutschen Rechten, muß hier auch der Alldeutsche Verband genannt werden. Er stellte zwar kaum mehr dar als eine radikal-nationalistische Sekte mit elitärem Anspruch, bildete aber doch ungeachtet seines geringen zahlenmäßigen Gewichts eine Art „holding.“ (E. Kehr) des deutschen Vorkriegs-Nationalismus. Auf Presse und Politik der Nationalliberalen und Konservativen übte er einen treibenden und zum Teil steuernden Einfluß aus. Audi er gehörte zu den Wegbereitern des „Dritten Reiches". Entstanden aus dem Protest gegen den Helgoland-Sansibar-Vertrag von 1890, war der Verband ein spätes Resultat jenes „ideologischen Konsensus" der Bismarckzeit den die Furcht vor der Revolution zum Motor der Übersee-Expansion gemacht hatte.
Die Alldeutschen forderten „Weltpolitik": Die Reichsgründung galt ihnen nur als Basis für das kommende Großdeutschland und die zu erringende Weltmachtstellung Vulgärdarwinismus, die Faszination imperialer Macht, die Abwehrideologie des Sozialimperialismus und, als Kontrastmittel zur rühmlosen Gegenwart, der Kult des „eisernen Kanzlers" verbanden sich zur militanten Bewegung, die den Aufbruch zu neuen Ufern propagierte. War Bismarck der „Zwingherr zur Deutschheit" gewesen, so war es Ziel des Verbandes, dem kommenden „Zwingherrn zur Alldeutschheit" zu dienen Wallfahrten nach Friedrichsruh und ein blühender Handel mit Bismarck-Devotionalien verliehen dem Bismarck-Fanatismus tragikomische Züge quasi-religiöser Art. Wenn auch „je nach den augenblicklich im Vordergrund stehenden Zielen und Forderungen des Verbandes Bismarck die verschiedensten Aspekte abgewonnen wurden" so stand der Bismarck-Kult seitdem doch unveränderlich im Dienst eines plebiszitären Führerbilds, der „völkischen" Staatsauffassung, einer harmonistischen Wirtschaftsdoktrin und des Traums von deutscher Weltmachtgeltung. Unter den Gaben zum 80. Geburtstag des Kanzlers fand sich auch die bereitwillig angenommene Ehrenmitgliedschaft des Verbandes Der alternde Bismarck ließ sich als „kolonialer Bahnbrecher" feiern, ungeachtet der Tatsache, daß er noch am Vorabend seines Sturzes versucht hatte, die Geister zu bannen, die er gerufen hatte Der „eiserne Kanzler" triumphierte über den historischen Bismarck. Ja, man kann feststellen, daß der „mißverstandene Bismarck" unter weitgehender Duldung, wenn nicht Förderung des frondierenden Alten in Friedrichsruh ins Leben trat. In dem ideologischen Dunstkreis des Wilhelminismus, der dem Glauben an die Nation die Bedeutung einer „Ersatzreligion" verlieh hatte der Bismarck-Kult seinen Ort gefunden. Je mehr er Ausdruck und Mittel eines sich ins Uferlose verlierenden Nationalismus wurde, desto mehr trat die geschichtliche Rolle Bismarcks in den Schatten einer Epoche zurück, die, wiewohl sich in ihr die Wendung bereits ankündigte, doch in dem Aktwechsel von 1890 einen Abschluß gefunden hatte.
Als Bismarck 1898 starb, wurde die Bismarck-Verehrung so allgemein, daß, wie Günter Zmarzlik bemerkt, „die skeptischen und kritischen Töne daneben kaum noch ins Gewicht" fielen Zwar waren die Sozialdemokra-ten aus eigener böser Erfahrung gegen den Bismarck-Kult gefeit, mehr als gegen den Glanz des Imperialismus. Ohnehin galten sie und fühlten sie sich als Außenseiter der bestehenden Gesellschaft. Aufschlußreicher für den Gestaltwandel der Bismarck-Wertung war das Verstummen auch der letzten konservativen Kritik an dem Zerstörer historisch-legitimer Rechte: im politischen Katholizismus das Zurücktreten der Verbitterung gegenüber dem Kulturkämpfer Bismarck und das Verschwinden des großdeutsch-katholischen Föderalismus. Die ambivalente Haltung der Liberalen, am ehesten in den Begriffen der Haß-Liebe, der interessebedingten Anziehung und Abstoßung zu beschreiben, führte dazu, daß auch im Linksliberalismus die Leistung Bismarcks jetzt überwiegend positiv angesehen wurde, daß aber die ihr zugrunde liegenden Werte weiterhin auf entschiedene Ablehnung stießen. In einem Epilog des alten Bismarck-Vertrauten und Bismarck-Gegners Ludwig Bamberger auf den Verfasser der „Gedanken und Erinnerungen" findet sich beides eng benachbart: „Wie der lebende Bismarck für die staatliche Erhebung seiner Nation Größtes getan, aber in ihre Geistesrichtung durch die Voranstellung der engsten Interessenpolitik schädigend eingegriffen hat, so wird auch sein politisches Testament die Herrschaft seines Ingeniums nach einer Richtung hin fortsetzen, der es an Bedenklichkeit nicht fehlt. Wenn ein Buch, wie dieses, von der Jugend verschlungen zu werden bestimmt ist, in welchem auf vielen Blättern die Worte . Humanität’ und , Civilisation‘ nie anders erwähnt werden als im Sinne der unbedingten Verspottung und der hohlen Phraseologie, so scheint die Befürchtung nicht unbegründet, daß das fragwürdige Ideal der soldatischen , Schneidigkeit’ mit allen seinen Auswüdisen zum höchsten des National-Cha-rakters ausgebildet werde."
Eine historische Wertung dieser Entwicklung muß zunächst beim Werk Bismarcks und seinen vielfachen Nah-und Fernwirkungen ansetzen. Aber sie wird dabei nicht stehenbleiben. Es stellt sich hier auch die Frage nach der historischen Forschung, ihrem ideologischen Bezugsrahmen und damit auch ihren kritisdien Maßstäben. Die deutsche Fachhistorie stand in den beiden Jahrzehnten vor und nach 1890 vor zwei Problemen, die von vornherein die kritische Distanz zu dem Reichs-gründer und seinem Werk erschweren mußten. Die Geschichtswissenschaft in Deutschland, vom Staat her denkend und geprägt von einem idealistischen Weltbild, hatte, wie Gerhard Oestreich kürzlich dargelegt hat, beim Eintritt in die Phase der Hochindustrialisierung ihre volle Gestalt bereits erlangt. So gelang es dem überwiegenden Teil der Fachhistorie nicht, das in der Nachfolge Rankes errichtete Gebäude politisch-staatlicher Geschichte zur Seite der Sozialwissenschaften hin aufzubrechen und damit das kritische Instrumentarium zu gewinnen, um die im Gefolge der Reichs-gründung vertieften gesellschaftlichen Bruch-linien sichtbar zu machen. Man wird die Bedeutung dieser methodischen Festlegung auf die Haupt-und Staatsaktionen nicht unterschätzen dürfen, wenn man ermessen will, mit welchen Vorbelastungen die historisch-kritische Analyse des Bismarckreichs zu ringen hatte, überdies, und damit ist die zweite Gruppe der Schwierigkeiten umrissen, bestand seit 1866 ein Wirkungszusammenhang zwischen der heroisch verklärten Entstehung des neuen Deutschland, der nagenden Selbstkritik des Liberalismus und dem durch die Reichs-gründung von oben scheinbar bestätigten Primat der Außenpolitik im historisch-politischen Denken
Das Wertsystem der deutschen Geschichtswissenschaft war geprägt von dem Schlüsselerlebnis der Reichsgründung. In einer grundlegenden Studie über Geschichtswisssenschaft und Imperialismus hat Ludwig Dehio bald nach dem Zweiten Weltkrieg auf das Weiter-wirken dieser festgefügten Prämissen des deutschen Geschichtsbilds hingewiesen. Die Wilhelminische Epoche sei bestimmt gewesen durch das Emporkomme-ein Generation „die die neue Schöpfung des Reiches bereits als festen Besitz empfand und zu dem Schöpfer selbst und der Staatsführung überhaupt mit ruhigem Zutrauen emporblickte. Indem sie die autoritäre Neuordnung der Dinge im Innern als etwas Gegebenes akzeptierte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit nach außen und blickte von der gefestigten deutschen Basis aus auf das erregende Spiel der großen Mächte, das Bismarcks diplomatische Kunst immer wieder zu meistern verstand.“ Für die Generation der Reichsgründung und ihre Nachfolger ließ die preußisch-deutsche Geschichte sich verstehen als der erfüllte Traum von Glanz und Größe, ein säkularisiertes Heilsgeschehen. Das nationalliberale Welt-und Selbstverständnis sah in dem Weg zum deutschen Nationalstaat die Straße in das Gelobte Land. Doch widmete sich die nationalliberale Schule nicht allein der „laudatio temporis acti", sondern stellte seit den neunziger Jahren auch jene Leitbilder auf, die als vermeintliche bloße Verlängerung der Vergangenheit dem Aufbruch zu einer deutschen „Weltpolitik" voran-schweben sollten. Ahnungsvoll hatte Johann Gustav Droysen 1870 geschrieben: „Was wir jetzt erleben, ist nicht bloß ein großer Abschluß, sondern noch ein größerer Anfang oder Anfang zu Größerem."
Bismarck rückte in das Zentrum modern-historischer Studien. Sein Urteil gewann, mit Gerhard Ritter zu sprechen, für die Historiker-generation der Jahrhundertwende eine „geradezu kanonische Autorität" Das Bis-110) marck-Bild der Fachhistorie war zweifellos differenzierter und getreuer als das der populären Publizistik. Aber in dem Chor der Neu-Rankeaner fehlte jede Stimme, die nicht in dem konservativ-liberalen Sozialmilieu des Bürgertums von Besitz und Bildung wurzelte. Die kritische Bestandsaufnahme der deutschen Entwicklung, die den seit 1848 verschütteten liberal-demokratischen Entwicklungslinien nachging, fand in der Fachhistorie keinen Boden. Zwar entstanden damals gründliche Einzeluntersuchungen und methodisch fundierte Darstellungen, aber die Historiker der Jahrhundertwende haben doch, trotz dieser oder jener Detailkritik, „dem Schöpfer des Reiches freudig Tribut gezollt; sie waren dem Grundsatz vom Primat der Außenpolitik ebenso ergeben wie dem Glauben an die schlechthin-nige Weisheit des Außenpolitikers Bismarck; sie bekannten sich hingebungsvoll bejahend zu ihm und seinem Vermächtnis. So finden sich bei den meisten Historikern auf qualitativ höherer Ebene jene Akzente wieder, die uns in der Trivialliteratur schon begegnet sind."
V. Im Schatten Bismarcks
Der weitere Gang der Bismarck-Deutung, der in enger Wechselbeziehung zu den beherrschenden Zeitfragen stand, ist hier nicht im einzelnen nachzuzeichnen. Wenige Hinweise auf Wege und Irrwege, die im Grunde mehr der politischen als der historischen Bismarck-Orthodoxie zur Last fallen, sollen genügen. Ein Gipfel militanter Bismarck-Verehrung wurde anläßlich des 100. Geburtstags des ersten Reichskanzlers erreicht. Dabei ging es, mitten im Ersten Weltkrieg, nicht um quellenkritische Distanz, sondern, wie ein geachteter Altphilologe beim Festakt der Berliner Universität verkündete, um den „Bismarck in uns, das Deutschtum" Der monumentale Bismarck, wie er von der Maas bis an die Memel in unzähligen Denkmälern aus Stein und Bronze städtische Plätze und ländliche Weihestätten schmückte, war schon in der Vorkriegszeit zum Ersatzsymbol des Reiches geworden Jetzt wurde er Ausdruck des „furor teutonicus". Als die deutschen Rektoren sich am Grab des Kanzlers versammelten, pries ihr Sprecher den Weltkrieg als „eine einzige große Huldigung für Bismarck, nicht mit Worten, sondern mit sieghaften Taten". Ein junger Historiker wie Karl Alexander von Müller fügte dem Bismarck-Bild einige markante Striche hinzu: „Erzgepanzert, den blinkenden Stahlhelm über dem dräuenden Haupt und den scharfen Pallasch in der Faust, allen Deutschen ein froher Trost und den Feinden ein Schrecken." Die Bismarck-Orthodoxie faßte Tritt. Ihr Bismarck-Bild fand sich wieder in Kriegsbroschü-ren und vaterländischen illustrierten Zeitungen: Bismarck in Kürassieruniform, hochauf ragend über anstürmenden Truppen, über dem Haupt ein mächtiger Adler
Zwar fehlte es nicht an warnenden Stimmen von den Hochschulen her, insbesondere aus dem Kreis derjenigen, die sich 1917 im „Volksbund für Freiheit und Vaterland" zusammen-schlossen Besonnene Historiker wie Hans Delbrück oder Friedrich Meinecke wiesen auf den nüchternen Tatsachensinn Bismarcks hin sein Verantwortungsbewußtsein und sein stets waches Gefühl für das Mögliche. Als der Pazifist Friedrich Wilhelm Foerster jedoch in einem in der Schweiz veröffentlichten Aufsatz den unter Bismarcks Führung beschrittenen „Irrweg ins Nationale" beklagte, stieß er auf eine Phalanx der Abwehr Den Ton gaben diejenigen an, die aus Bismarck, dem Vertreter preußischer Staatsräson und defensiver Gleichgewichtspolitik, eine Mischung aus Wotan und Jung-Siegfried machten. Ma: Lenz schrieb in hymnischen Worten: „In Wahi heit, Bismarcks gewaltiger Schatten zieht mi in unseren Heeren. Sein Schwert ist es, dessen Schläge draußen so furchtbar widerha len; und wohin seine Flammenblitze fahren dringt Verderben unter die Feinde des deut sehen Namens: als kämpfe St. Michael selb® in unseren Reihen."
Das Bismarck-Problem des Weltkriegs war in dessen, wie der Geist aus der Flasche, übe die akademische Welt längst hinausgewachsen. Wie Bismarck seit 1890 zum KampfSymbol der deutschen Rechten geworden war, so wurde der Bismarck-Kult im Weltkrieg zu einer Chiffre im Kampf um die deutschen Kriegsziele. Bei aller Schärfe des Gegensatzes zwischen extremen Annexionisten und den gemäßigten Anhängern eines Verständigungsfriedens läßt sich indessen nicht übersehen, daß es im Staatsverständnis, im Begriff des Politischen als Kampf ums Dasein, im Axiom vom Primat der auswärtigen Politik und, damit im Zusammenhang, in der absoluten Geltung der Maximen Bismarckscher Staatskunst ein breites Feld gemeinsamer Überzeugungen zwischen beiden Lagern gab. Ein Artikel Friedrich Meineckes vom August 1914 dokumentiert die anfängliche Breite dieses Konsensus. Meinecke schrieb: „Dem Wesen des großen Staates immanent ist das, was Bismarck seine einzige gesunde Grundlage nannte, der staatliche Egoismus, das Streben nach unbedingter Selbstbestimmung, nach Geltendmachung seiner Interessen durch alle Machtmittel, über die er verfügt." Unterschiedlich waren indessen die Konsequenzen, die beide Seiten daraus zogen. So wurde „Nikolsburg" oder das Prinzip der Mäßigung im Siege zu einem Schlagwort in der Kriegszieldebatte. Es zeigte sich hier die übermächtige Kraft politischer Mythen, denn daß Bismarck in Wahrheit nicht nur als Vertreter grundsätzlicher Selbstbescheidung gesehen werden konnte, legte Erich Marcks zur gleichen Zeit unter Hinweis auf die Annexionen von 1866 und die Angliederung Elsaß-Lothringens dar: Bismarck sei dazu von sich aus bereits wenige Wochen nach Kriegsausbruch 1870 entschlossen gewesen Marcks leitete daraus Grundsätze zeitgemäßer Machtpolitik ab. Die Frage, wie Bismarck im Weltkrieg handeln würde, beantwortete er: „Er würde der furchtbaren Härte dieser Tage furchtlos ins Antlitz schauen; er würde alles tun, was Deutschlands Zukunft retten und was sie gegen künftige Gefahren ... sichern ... könnte, mit ehernem Griffe, besonnen und schonungslos, weit aus-greifend in alles Gefüge des Erdteiles und der Welt."
Aber nicht nur die Anhänger weitreichender Annexionswünsche griffen in das Arsenal historischer Belegstellen — wobei die massen-demagogische Publizitätstechnik unmittelbar an die pseudodemokratischen Mittel anknüpfte, deren sich seit den 1890er Jahren der „Bund der Landwirte" und die Flotten-und Kolonialagitation bedient hatten —, auch die Vertreter eines gemäßigten Kurses glaubten, auf Bismarck als Eidhelfer für die Begründung ihrer Politik nicht verzichten zu können. Bethmann Hollweg schrieb 1915 an den konservativen Fraktionsführer Graf Westarp einen hinhaltenden Brief, in dem er sagte, die Annexionsbestrebungen, „die sich auf Nordfrankreich, auf die Linie Verdun—Beifort und auf die Linie Czenstochau—Peipussee erstrecken", stünden für ihn außerhalb der Diskussion. „Ich könnte mir denken, daß auch im Falle einer gänzlichen Niederwerfung aller unserer Gegner, die ein derartiges Programm überhaupt erst diskutabel machte, ich doch gegen die Anhänger solcher Ideen im Geiste Bismarcks eine Politik relativer Mäßigung durchzukämpfen hätte." Bethmann setzte schließlich die militärische Zensur ein In der offiziösen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung ließ er — und man meint darin die Handschrift Hans Delbrücks zu spüren — den der Gedanken „höchsten Weisheit und Mäßigung" hervorheben, der Bismarck nicht weniger gegeben gewesen sei als „Kraft und unbändiges Wollen" Wie in der gesamten zeitgenössischen Beurteilung des Kanzlers Bethmann Hollweg so stand auch beim Sturz des „Kanzlers ohne Eigenschaften" im Juli 1917 der Schatten Bismarcks im Hintergrund. In der Obersten Heeresleitung, die damals die militärische wie die politische Macht fast uneingeschränkt in Händen hielt, kursierte eine Denkschrift, die Bethmanns Nachgiebigkeit gegenüber den demokratischen Forderungen, das preußische Dreiklassenwahlrecht aufzugeben, seine Bedenken gegen den uneingeschränkten U-Boot-Krieg und seine Vorbehalte gegen die militärischen Annexionsträume zur Ursache allen Übels erklärte. Eine abgründige Zukunftsvision wurde sichtbar, als statt dessen die Forderung erhoben wurde, einen „starken Willen" und den „starken Staat" hervorzukehren. Der Reichskanzler, so sekundierte der nachmals zum Chef der Reichs-wehr in der Weimarer Republik aufsteigende Oberst von Seeckt, sei kein „moderner Bismarck", wie ihn die Gegenwart für die Gründung des deutschen Imperiums „vom Atlantischen Ozean bis Persien" erfordere. Dafür brauche man den „Führer": „Ein Mann von Glauben an sich und sein-Volk und sein Schwert". Niemand anders als ein Soldat könne heute an diese Stelle treten
Das Ende der Hohenzollernmonarchie und der Zusammenbruch der preußisch-deutschen Armee ließen das Werk der Reichsgründung den Charakter der Endgültigkeit verlieren, den schon der Aufbruch in den Imperialismus in ganz anderer Weise in Frage gestellt hatte. „Unfertigkeit und Unsicherheit, die fortwährende Problematik des neuen Reiches, seine Gefährdung im Innern wie nach außen" traten unübersehbar hervor Würde es aber der Historie gelingen, so hat Ludwig Dehio die Frage formuliert, „an Stelle ihrer zusam-mengestürzten Konstruktionen einen solideren Neubau zu errichten?" Von der Antwort auf diese Frage hing es wesentlich ab, so fügte er hinzu, „ob die Historie ihren hohen Rang im Leben der Nation werde behaupten können trotz der Erschütterung ihrer Autorität durch die Niederlage, trotz der Zersetzung der bürgerlichen Welt"
Die Haltung selbst der liberalen Historiker gegenüber Bismarck und seinem Werk blieb gespalten. Man konnte sich der Einsicht in die Brüchigkeit des Bismarckschen Reichsbaus nicht verschließen und nahm ihn gleichwohl zum Maßstab für Gegenwart und Zukunft. So sah unter dem Schock der Niederlage Hermann Oncken die Hauptaufgabe darin, „mitten im Kampf um Leben und Tod des Reiches der Schöpfung Bismarcks ein neues Rückgrat einzufügen" Man wollte ein Höchstmaß an Kontinuität, um die Bruchstelle des November 1918 zu überdecken. Im Grenzbereich von Historie und Politik spielten 1918/19 bei den Verfassungsvorschlägen Max Webers, Meineckes und Erich Brandenburgs — letzterer ursprünglich ein Mitglied des alldeutschen Flügels der Fachhistorie — die bewußte und unbewußte Orientierung am Bismarckschen Obrigkeitsstaat und das dadurch genährte Mißtrauen gegen den Parlamentarismus eine dominierende Rolle. Wurde doch mit dem Versuch, „unabhängig von den Zufälligkeiten der dynastischen Geburt das Gute der konstitutionellen Monarchie Bismarcks" zu retten (Meinecke) der verhängnisvolle Dualismus parlamentarischer und plebiszitärer Elemente — die „vox populi" als Ersatz für das Regiment von Gottes Gnaden — historisch und politisch legitimiert.
Das „unfruchtbare Heimweh nach dem Obrigkeitsstaat" blieb beherrschend und es ist die Frage, inwieweit nicht schon die Entwicklung der Kriegs-und Vorkriegszeit, die impliziten Werte und das Selbstverständnis der Fachhistorie einer Revision der Prämissen des Geschichtsbilds überhaupt entgegenstanden. Mit zunehmender Entfernung von dem banalen Ende der Monarchie aber vergoldete die krisenhafte innere Entwicklung der Republik den scheinbar so festgefügten Reichsbau Bismarcks nur um so mehr Zwar gab es Versuche von bleibender Bedeutung, zu einer neuen Bismarck-Deutung zu gelangen. Hans Rothfels schrieb über die Aufgaben, die sich ihr damals stellten, sie habe sich abzusetzen gehabt von einer „BismarckOrthodoxie, die in der Erschütterung des deutschen geschichtlichen Bewußtseins um so mehr nach Vorbildhaftem, nach einem Leitstern patriotischer Erbauung suchte, wie auch von der gegensätzlichen, freilich oft auch damit verbundenen . realpolitischen'Interpretation, die nur im grundsatzlosen Opportunismus das Erbe eines großen Staatsmanns sah"
Neben der Kriegsschuldfrage gab es kein Thema von solcher Anziehungskraft für die Historie wie Bismarck, der im Gefolge der Aktenveröffentlichungen zur „Großen Politik“ vor allem als Außenpolitiker noch an Statur gewann und — zumindest für die beiden Jahr-zehnte nach 1871 — zum Idealbild staatsmännischer Besonnenheit und Mäßigung, geriet. Gerhard Ritter hat darin nachträglich einen Kern „politischer Selbstbesinnung des deutschen Nationalismus" sehen wollen Aber dieses Bild wurde kaum ergänzt durch eine kritische Bestandsaufnahme der gesellschaftlich-politischen Strukturprobleme des Bismarckreichs und der Lösungsversuche des Kanzlers; noch weniger fand die sozialgeschichtlich begründete Kritik der deutschen Entwicklung seit 1848 ein Echo. Es war vergebens, wenn ein liberaler Historiker wie Johannes Ziekursch damals die Reichsgründung darstellte als eine stolze Burg, die, weil sie gegen den Geist der Zeit errichtet war, den Keim des Untergangs bereits in sich trug. Die These zu vertreten erschien vielen „fast als Verrat an der deutschen Vergangenheit" Ebensowenig fand ein renommierter Althistoriker und engagierter Sozialist wie Arthur Rosenberg ein Echo, wenn er das Werk Bismarcks als von Anfang an todkrank bezeichnete, als einen Staat, der gegen die Zukunft gegründet war. Die Arbeiten des jungen Eckart Kehr, der mit einer am Marxismus entwickelten Begrifflichkeit die inneren Probleme des Bismarckreichs analysierte, wurden achtungsvoll rezensiert, aber die „communis opinio“ hielt sie doch für „Edelbolschewismus“ „Sehr gut, sehr interessant ... aber schrecklich radikal", schrieb Friedrich Meinecke, Kehrs Förderer und Doktorvater. „Wie soll der junge Mann nur vorwärtskommen, wenn er sich nicht mäßigt?" Im Grunde wurden Kehrs Arbeiten erst zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg neu entdeckt.
Das Bismarck-Bild blieb überwiegend bestimmt von der obrigkeitsstaatlichen Sehnsucht und dem Primat der auswärtigen Politik. Gustav Stresemann, lange Jahre Außenminister der Weimarer Republik und zeitlebens ein nationalliberaler Bismarckianer, warnte jetzt vor dem „mißverstandenen Bismarck" seiner Gegner von rechts. Es war eine Ironie der Geschichte, daß er dies fast mit den gleichen Worten tat wie der einst von ihm bekämpfte Kanzler Bethmann Hollweg: Bismarck sei „in der Fülle der Macht der Vorsichtigste im Gebrauch der Macht gewesen. . . Er wollte Europa den Frieden erhalten. Das wäre ein besseres Bild von ihm als das, das die Legende von ihm sich macht, wenn sie ihn als Mann mit den Kürassierstiefeln darstellt“ Aber diese Worte blieben ohne Wirkung. Und ein Teil der Verantwortung traf jene Nationalkonservativen, die unter dem Banner „Bismarck und die Hohenzollern, Kaiser und Reich!" die Kräfte des alten Bismarckschen Kartells zum Sturm auf die Republik sammelten.
Es wäre ohne Zweifel der Mühe wert, der bemühten Legendenbildung unter der Herrschaft des Nationalsozialismus im einzelnen nachzugehen, zumal anfangs durchaus der offenkundige Mangel „völkischer" und „großdeutscher" Züge das Bild Bismarcks trübte. Doch im großen und ganzen erscheint es fraglich, inwieweit sich dabei neue Züge ergeben würden. Denn die Retoucheure, die sich jetzt teils von Partei und Staats wegen, überwiegend jedoch ans eigenem Antrieb an das Werk machten, hatten ihre Vorgänger in der „Zukunftskoalition der Scharfmacher" vor 1914 in der Kriegszielbewegung des Weltkriegs und in der akademischen Opposition gegen den Staat von Weimar. Die Fachhisto-rie ging zwar auf merkbare Distanz zum Stil der neuen Herren. Aber was jüngst für die Rolle des Mittelalters im NS-Geschichtsbild gesagt worden ist, gilt doch mit bestimmten Einschränkungen auch für die Gesamtproblematik der deutschen Geschichtsschreibung: Auf weite Strecken seien deutsche Historiker den Auffassungen des Nationalsozialismus entgegengekommen oder sogar gefolgt, die einen mehr in völkischer und rassistischer Richtung, die anderen mehr in der Erhebung reiner Machtpolitik zum höchsten Wertmaßstab und im Traum vom „Reich der Deutschen", das über andere Völker zu herrschen berufen sei Für die „völkische" Bismarck-Deutung mag hier als bekanntestes, aber nicht allein-stehendes Beispiel Arnold Oskar Meyers he-roisierend-unkritische Biographie des Kanzlers genannt sein, ein, wie mit Recht gesagt worden ist, „Paradestück nationaler Hagiographie" Aber auch im Pantheon des „großdeutschen Geschichtsbilds" erhielt Bismarck einen. Platz. Als Beispiel dafür sei ein Aufsatz zitiert, der 1943 in der „Historischen Zeitschrift" erschien, dem traditionsreichen Fachorgan der akademischen Historie in Deutschland. Wichtiger als erweiterte Quellenkenntnis, hieß es einleitend, Sei für die Geschichtserkenntnis der „gewaltige Kampf unserer Tage". Dem Verfasser ging es um die Widerlegung des Vorwurfs, daß Bismarck durch die kleindeutsche Lösung „einen verhängnisvollen Um-und Irrweg" eingeschlagen habe. Unter Berufung auf die Rede des „Führers" beim Stapellauf des Schlachtschiffs „Bismarck" kam er zu dem Schluß, daß Bismarcks Weg in seiner Zeit „der einzig mögliche" gewesen sei. Aufschlußreich, weil typisch, war die von einem säkularisierten protestantischen Sendungsbewußtsein getragene Kontinuitätsthese, in der der Aufsatz ausklang: „[Bismarck] ist ein großes Zwischenglied in der Entwicklung, die von den großen Zeiten der deutschen Kaiser des Mittelalters über Luther, Friedrich und ihn, Bismarck selbst, zur Gegenwart führt. Nicht in der Linie des alten übervölkischen und zugleich doch auch kirchlich bestimmten Universalismus, sondern in der Entwicklung, die ihn zerstörte, liegt die Voraussetzung für das große politische Geschehen, das heute dem Großdeutschen Reich von ganz anderer Basis aus und sicher auf dauerhafterer Grundlage möglich macht, die Aufgabe wiederaufzunehmen, die Ordnungsmacht Europas zu sein, die einst den großen deutschen Kaisern des Mittelalters gestellt war.“
Seit 1871 standen die Fragestellungen, das Wertesystem und das Denken der Geschichtswissenschaft überwiegend in dem dominierenden konservativ-nationalliberalen Sozialmilieu des Bismarckreichs. Der unbewältigte Schock der Niederlage 1918, ein überspanntes nationalistisches Engagement wie überhaupt die Ideologieanfälligkeit des Faches Geschichte haben es nach 1933 erschwert, von der nicht nur von oben verordneten, sondern vom all-deutschen Flügel der Fachhistorie bis zu den „liberalen Imperialisten" latent und offen vorhandenen Identifizierung mit dem nationalen Machtstaat abzurücken. Um so bemerkenswerter erscheinen deshalb aus heutiger Sicht jene Arbeiten aus der besten Tradition der „Zunft", in denen unter oftmals erheblichen Belastungen und Erschwernissen die kritische Distanz erreicht worden ist.
Man kann nicht sagen, daß die Geschichtswissenschaft sich besonders für den NS-Staat engagiert hätte, stärker als andere Wissenschaftsgebiete. Die Wurzeln ihres Dilemmas lagen tiefer. Das Großdeutsche Reich erschien manchem als Erfüllung der deutschen Geschichte; in Lebensraumvorstellungen und politischer Romantik verriet sich eine geheime Affinität. Die Anfänge reichten in die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg zurück und rührten von dem breiten Feld politischer Übereinstimmung zwischen den ideologischen Prämissen des Faches Geschichte und den gesellschaftlich-politischen Wertvorstellungen her, die der NS-Staat für sich mobilisierte. So gab es, wie Rudolf Vierhaus unlängst in der „Historischen Zeitschrift" resümierend festgestellt hat, insgesamt „erstaunlich wenig Kollision zwischen dem, was das NS-Regime vertrat und erwartete, und dem, was von den Historikern gelehrt und geschrieben wurde"
VI. Das Problem der Kontinuität
1945 sind nicht allein die nationalstaatlichen Prämissen des deutschen Geschichtsbilds außer Kurs geraten, auch die klassischen Maßstäbe der Bismarck-Deutung haben ihre Gültigkeit eingebüßt. Der Krieg ist nicht mehr, was er für Clausewitz war und was er auch noch für Bismarck bedeutete, „die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln". Der große Krieg ist ihr Ende und insofern tatsächlich die „ultima ratio". Damit wird das Ende der „Großen Politik" sichtbar, wie sie Bismark verstand und wie sie vor und nach ihm verstanden wurde. Unter diesem Gesichtspunkt sind Schlüssel-begriffe des 19. Jahrhunderts wie Staatsräson und nationales Interesse in ihren Implikationen auch für die Geschichtswissenschaft revisionsbedürftig geworden. DieVoraussetzungen klassischer Machtpolitik stimmen nicht mehr. Bismarck als ein Lehrmeister für die Politik von heute? Die Diskussion des Jahres 1965, die vielfach um diese Frage kreiste, hat darauf, wenn überhaupt, nur eine wohlwollend distanzierte, im ganzen negative Antwort gebracht Im Grunde dominieren bei aller Faszination, die bis heute von dem Weißen Revolutionär aus der Mark Brandenburg ausstrahlt, doch jene Skepsis und innere Distanz, mit der vor einem Jahrhundert Jacob Burckhardt das „Sedanlächeln" auf den Gesichtern betrachtete und die selbst Heinrich von Sybel, alles in allem, am Ende eine negative Bilanz der deutschen Politik unter Bismarck ziehen ließ: „[Sie] scheint keine andere Interpunktion als Fragezeichen zu kennen. ” 150a)
Und welcher Weg sollte in der inneren Politik auch zurückführen zu Bismarck? Sein Werk war die Lösung des deutschen Problems durch die Fortsetzung der Revolution von oben. Sie hat das Verhältnis von gesellschaftlicher Entwicklung und preußisch-deutscher Staatspolitik mit einer schweren Hypothek belastet. Bismarcks auf die Erhaltung des hierarchischen Klassenstaats gerichtete Staatsführung schuf nicht Stabilität, sondern nur den Schein davon: „Denn mit der langfristig enttäuschenden, risikoreich gewordenen Wirtschaftslage war die Unfertigkeit und Labilität der gesellschaftlichen und innerpolitischen Verhältnisse verknüpft, ein schwelender Konflikt, der durch Repressionsmaßnahmen von oben nur noch verschärft wurde." Das Prinzip der Machterhaltung nach innen war das „divide et impera", durch immer neue Präventivschläge gegen isolierte Gegner verwirklicht. Eine traumatische Furcht vor der Revolution, nur erklärbar auf dem Hintergrund der Märzereignisse von 1848 und auf dem Hintergrund eines Zeitalters, dessen ideologische Fronten sich im Für und Wider der Revolution gebildet hatten, ließen Bis-marck und seine Welt in der organisierten Arbeiterschaft allein die Auflehnung gegen den Staat sehen. Deren Forderungen, soweit sie die bestehende Machthierarchie nicht berührten mochte die staatliche Sozialpolitik befriedigen ihre politische Emanzipation aber stellte den Staat und seine gesellschaftlichen Fundamente in Frage.
Einem liberalen Reichstagsabgeordneten gab Bismarck 1878 zu verstehen, „wer mit ihm gehe, sei sein Freund, wer wider ihn gehe, sein Feind — bis zur Vernichtung" Das bekamen nacheinander und mit unterschiedlicher Intensität alle zu spüren: Katholiken und Konservative, bürgerliche Liberale und Sozialdemokraten. Der von Bismarck unternommene Versuch, die innere Politik auf Entscheidung und Extrem, auf ein Freund-Feind-Schema zu stellen, die Parteien zu neo-ständischen Interessengruppen zu machen, sie im Vorhof der Macht zu halten, ohne Verantwortung für die Führung der Politik, hat die deutsche Entwicklung schwer belastet. „Politisch Lied ein garstig Lied" — diese aus den Tagen des fürstlichen Regiments von Gottes Gnaden stammende Überzeugung hat niemand so sehr wie Bismarck im deutschen Bildungsbürgertum bestärkt und damit zugleich das Stichwort geliefert für die Ästhetisierung der eigenen Ohnmacht Die Heroisierung des Kanzlers, die Furcht vor der sozialen und politischen Revolution und die daraus erwachsende Akklainationsbereitschaft gegenüber dem starken Staat haben die Kapitulation der bürgerlichen Bewegung besiegelt.
Die Dauermobilmachung nach innen, der Versuch, durch immer neue Mittel „sekundärer fr tegration" einen Ausweg aus der Struktur krise des Kaiserreichs zu schaffen habe: seitdem die deutsche Politik nicht mehr aus ihrem Griff gelassen. Das Bismarcksche Deutsd land ist untergegangen. Aber sein Erbe wirkt bis in die jüngste Vergangenheit nach. Der Freiburger Neuzeit-Historiker Andreas Hillgru ber hat mit der Frage nach Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Geschichte von Bismarck bis Hitler erst jüngst auf diese Verflechtung hingewiesen: Mit zunehmendem zeitlichen Abstand und wachsender innerer Distanz von der nationalgeschichtlichen und zugleich weltgeschichtlichen Zäsur des Jahres 1954 wirke „die rund achtzigjährige Geschichte der 1866/71 begründeten und 1945 aller menschlichen Voraussicht nach unwiderruflich untergegangenen preußisch-deutschen Großmacht bei aller ihr innewohnenden Vielfalt als eine Einheit" Damit wird hinter dem Problem Bismarck erneut die Frage nach den Verkettungen in der deutschen Geschichte seit der Industriellen Revolution sichtbar. Sie zwingt zu einem Durchdenken jener Konsequenzen, „die sich aus der spezifischen Verschränkung innen-und außenpolitischer Momente am Ausgangspunkt des Weges zur preußisch-deutschen Großmacht für ihre gesamte folgende Geschichte" ergaben
Mit Bismarck trat 1862 ein Machtfaktor „sui generis" an die Spitze der preußischen Politik Die Auseinandersetzung mit der durch ihn maßgeblich geprägten und in eigentümlicher Richtung umgeformten Problematik des deutschen Nationalstaats hat gerade in der modernen Sozial-und Strukturgeschichte nicht nur tiefe Spuren hinterlassen, sondern dazu geführt, daß die Frage nach dem Anteil des mächtigen Kanzlers an der deutschen Entwicklung und damit, in einer sozialökonomischen Tiefenschicht deutscher Politik, auch die Frage nach der Kontinuität von Bismarck zu Hitler heute mit vermehrter Schärfe aufgeworfen wird. Wahrscheinlich wird zwar die besondere zeitgebundene Problematik der Bismarckschen Herrschaftstechnik mit ihrer Mischung aus tra-ditionalen, charismatischen und rationalen Elementen überinterpretiert, wenn sie im Begriff des „aristokratisch-plebiszitären Führerstaats" vorgreifend zusammengefaßt wird Sozial-wie verfassungsgeschichtlich unzureichend bleibt aber demgegenüber die Sicht der neuen Bismarck-Orthodoxie, die das konstitutionelle Deutschland als einen ausgewogenen (und eigenständigen) Staatstypus zwischen Absolutismus und Parlamentarismus ausgibt, damit aber weder die Funktion der permanenten Staatsstreichdrohung noch die plebiszitäre Verbiegung der Verfassung noch die innenpolitischen Antriebskräfte des Imperialismus zu erfassen vermag So spricht vieles für die seit den 1870er Jahren anklingende und neuerdings mit überzeugenden Argumenten vertretene These, daß sich in Bismarcks Herrschaft und vor allem in ihren modernen, im Begriff der konservativen Revolution faßbaren Elementen spezifische Eigenarten der bonapartistischen Lösung finden Während aber das im Zentrum der cäsaristischen Herrschaft stehende Programm der Integration von oben für Bismarck nur eine Motivgruppe neben anderen bedeutete und eingebettet blieb in das wache Bewußtsein der Verantwortung, konnte es später, als „man unter Berufung auf die Anfänge in der Bismarckära politische Entscheidungen zu legitimieren versuchte“, als Vorbild herangezogen werden. Der Erfolg und selbst noch der Scheinerfolg der Bismarckschen Politik hat auch in dieser Weise prägende Kraft, entwickelt. Verfolgt man aber einmal ausschließlich den Entwicklungsstrang des konservativen Widerstands gegen den Emanzipationsprozeß der industriellen Gesellschaft — in dieser radikalen Kontinuitätsthese läßt Hans-Ulrich Wehler seine große Studie über die Bedeutung des deutschen Imperialismus der Bismarckzeit ausmünden — „dann wird man vom historischen Gesichtspunkt aus bis hin zum extremen Sozialimperialismus des Nationalsozialismus, der durch den Ausbruch nach , Ost-land'noch einmal den inneren emanzipatori-sehen Fortschritt aufzuhalten und von der inneren Unfreiheit abzulenken versucht hat, eine Verbindungslinie ziehen können."
Trotz Brüche, die im Grunde als Verschärfung der industriellen Wachstumsprobleme, Perfektionierung der Militär-und Massenbeeinflussungstechnik und als zunehmende Belastung der außenpolitischen Lage zu begreifen sind, überwiegen in der Sicht mancher und vor allem jüngerer Historiker heute die Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten auf dem Weg von 1871 bis 1945. Das Wilhelminische Verbindungsstück wird man weniger in der Ära Bethmann finden als in der ausgreifenden, nach außen gegen England ebenso wie nach innen gegen die Soziale Revolution gerichteten Flottenrüstung des Großadmirals Tir-pitz und in der mit der labilen inneren Lage unlösbar verbundenen Kriegszielpolitik der 3. Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff. Der Mannheimer Historiker Klaus Hildebrand hat diese Sichtweise thesenhaft zusammengefaßt, als er kürzlich schrieb: „Alle drei Repräsentanten deutscher Politik, Bismarck, Tirpitz und Hitler, standen grundsätzlich im Dienste einer Utopie: nämlich innenpolitisch einen Gesellschaftszustand zu zementieren und eine Sozialordnung unter Quarantäne zu stellen, die vom Bazillus der industriewirtschaftlichen Veränderung bereits ergriffen war." Bismarck habe den Ausweg in einer Strategie der Bewahrung des Status quo in Europa gesucht, die sich mit dem beginnenden überseeischen Expansionismus verband. „Tirpitz erstrebte einen offensiv vorgetragenen Imperialismus und einen auf das . Alles oder Nichts'abzielenden Durchbruch zur Weltmacht, um das Kaiserreich vor dem in sozialdarwini-stischer Manier vorgestellten innen-und außenpolitischen Absinken zu bewahren. Hitler endlich stabilisierte — wenn man einmal auf seine objektive Funktion abhebt — durch seine auf das . Programm’ der Eroberungen gestützte Politik die sich vom Umsturz bedroht fühlende Gesellschaft des deutschen Bürgertums."
Je mehr die Geschichtswissenschaft die Industrielle Revolution als Grundströmung und Leitmotiv der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts wertet, desto deutlicher erweist sich auch der Durchbruch der Industrialisierung im Gehäuse des konservativen Obrigkeitsstaats als sozialgeschichtliche Dominante des Bismarckreichs und seiner weiterwirkenden Problematik. Die im Zeichen der „Reform von obenher" durchgeführte Reichsgründung — wenn man einmal die letzte, abschließende Stufe für das Ganze eines vielfältigen Prozesses nimmt — hat der im Verlauf der Industrialisierung in ihren sozialökonomischen Existenzbedingungen wie in ihrem Normen-und Wertesystem gefährdeten Machthierarchie Preußens die Frist verlängert. Die starre Ab-schließung des Systems Bismarck nach unten und die Sammlung der „produktiven Stände'zur Verteidigung der bestehenden Gesellschaftsordnung haben aber im weiteren Verlauf die Kluft zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und politischer Verfassung unüberbrückbar gemacht. Unter dem Primat der inneren Politik blieb in Gestalt von Staatsstreich-drohung und Cäsarismus, im Export der inneren Krise nach Übersee und in dem Griff nach maritimer Macht nur die Flucht nach vom als „ultima ratio" des konservativen Deutsch-land gegenüber der industriellen Massengesellschaft. Am Ende aber wurde das Gesetz, unter dem das Bismarckreich gegründet worden war, ihm in der tödlichen Krisis, die 1914 begann, zum Verhängnis.
Michael Stürmer, Dr. phil., geb. 29. September 1938, wiss. Assistent am Seminar für Neuere Geschichte der Technischen Hochschule Darmstadt. Zur Zeit Gastdozent an der School of European Studies, University of Sussex, Brighton, England. Veröffentlichungen u. a.: Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924— 1928, Düsseldorf 1967; (Hrsg.) Bismarck und die preußisch-deutsche Politik 1871— 1890, München 1970; (Hrsg.) Das kaiserliche Deutschland — Politik und Gesellschaft 1871— 1918, Düsseldorf 1970.
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