: • I. Die Revolutionskomitees
1. Historische Aspekte „Ein Tiger geduckt, ein Drache sich windend. Heute zerbricht das Gestern.
Der Himmel stürzt, die Erde taumelt ..."
Als Mao Tse-tung im April 1949 die Eroberung Nankings mit diesen Versen feierte, hat er sich wohl nicht träumen lassen, daß dieselbe Stadt 19 Jahre später unter der gleichen Hymne ein zweites Mal erobert werden müßte. Diesmal ging es freilich nicht gegen die Kuomintang, sondern gegen Kampfgefährten von damals, und die Waffen, mit denen man sich nun die widerspenstige Stadt gefügig machte, waren nicht Haubitzen und Karabiner, sondern ideologische Wunderwaffen: die Revolutionskomitees.
Diese nur auf den ersten Blick neuartigen revolutionären Organe, die sich bei näherem Hinsehen als späte Nachkommen der Sowjets und Räte entpuppen, waren notwendig geworden, nachdem die Parteiorganisation in den Wirren der Kulturrevolution sich weitgehend aufgelöst hatte.
Wie in anderen kommunistischen Staaten hatte auch in China die Partei jahrzehntelang eine maßgebende Rolle gespielt. Sie galt als „Vorhut" und höchste Organisation der chinesischen Arbeiterklasse, deren Ziel es war, China in den Sozialismus und Kommunismus hin-überzuführen. Im Parteiapparat liefen alle Fäden zusammen, auch die der staatlichen Verwaltung; denn die Regierungsmaschinerie war wie ein Leib ohne Seele, dem erst über die Parteibüros Leben eingehaucht wurde. Dies galt nicht nur für die Zentrale, sondern auch im lokalen Bereich, wo Parteileitung, Wirtschafts-und Kommunalverwaltung im allgemeinen identisch waren. Enge personelle Verflechtungen zwischen Partei und Verwaltungsapparat sowie zwischen Partei und Massenorganisationen sorgten dafür, daß der Partei-wille schnell und effektiv „transmissioniert“ wurde. Die KPCh war mit ihren 18 Millionen Mitgliedern überdies die stärkste kommunistische Partei der Welt; sie besaß einen Führungskern, der in einem fast 30jährigen Kampf um die Macht zusammengewachsen war und dessen Stabilität so gesichert schien, daß bis zum Jahre 1966 kein Kenner Chinas es gewagt hätte, die Kontinuität dieses Gremiums zu bezweifeln. Auch im chinesischen Volk besaß die Partei unbestrittenes Charisma.
So sah die Lage bis Mitte 1966 aus.
Zwei Jahre später, im Sommer 1968, war dort, wo einst der riesige Bau der KPCh gestanden hatte, nur noch ein Trümmerfeld. 28 v. H.der Politbüro-und 34 v. H.der ZK-Mitglieder sowie 20 v. H.der Provinzsekretäre waren der unscheinbare Rest von Parteikadern, die noch in ihren alten Funktionen verblieben waren. Noch stärkere Wunden schlug die Kulturrevolution den regionalen Parteiorganisationen (angefangen von den sechs Regionalbüros über die 29 Ausschüsse auf Provinzebene bis hinunter zu den Kreis-und Kommune-Komitees, die entweder aufgelöst oder lahmgelegt wurden). Audi Massenorganisationen, die aufs engste mit der Partei verkoppelt waren, wie etwa die Kommunistische Jugendliga und die Dachvereinigung der chinesischen Gewerkschaften samt ihren Verbänden, teilten das Schicksal der Parteiausschüsse.
Das so entstandene Vakuum hatten die Revolutionskomitees (RKs) auszufüllen. Dabei sollte es sich zeigen, wieviel leichter es ist, bestehende Organisationsstrukturen zu zerstören, als sie durch neue zu ersetzen. Außer einigen Hinweisen im „ 16-Punkte-Beschluß" vom August 1966, der Magna Charta der Kultur-revolution, existierte keine Vorlage, die beim Tasten nach organisatorischen Neuansätzen hätte als Leitlinie dienen können. Es kam also zunächst ganz auf spontane Massenaktionen an, die — in größerem Stile durchgeführt — zum erstenmal in Shanghai und später in der Provinz Shansi neue Ansätze mit sich brachten. Däs Shanghaier Experiment mit einer gesamtstädtischen Kommune endete in einem Chaos, während das Beispiel von Shansi Schule machen sollte. Dort hatten sich am 12. Januar 1967 fünf führende Funktionäre, Vertreter der Armee und Repräsentanten so-genannter revolutionärer „Rebellenorganisationen“ zu einer „Dreier-Allianz" zusammengeschlossen, den provinziellen Parteiausschuß entmachtet und selbst die Herrschaft an sich gerissen. Das Modell von Shansi war so erfolgreich, daß die Pekinger Führung bereits am 23. Januar 1967 den Soldaten der Volksbefreiungsarmee befahl, ihre bisher passive Haltung aufzugeben und nunmehr die „Linke" zu unterstützen.
Wie schwierig es war, trotz der Hilfe der Militärs die neuen Organe aufzubauen, beweist die Entwicklungsgeschichte der 29 RKs auf Provinzebene, die sich nicht, wie die offiziöse Presse es gerne wahrhaben wollte, in einer unaufhaltsamen Kettenreaktion entfalteten, sondern bald stockend, bald eruptiv aus dem revolutionären Geschehen entlassen wurden. Alles in allem dauerte es eineinhalb Jahre, ehe am 5. September 1968 auch die letzten Einheiten auf Provinzebene ihr RK gegründet hatten. Erst damit konnte die „Machtergreifung" des Proletariats als einigermaßen abgeschlossen gelten. 2. Strukturelle Aspekte der Revolutionskomitees a) Der strukturelle Aufbau Im allgemeinen ist ein RK in drei Instanzen aufgebaut: — Im Plenum sammeln sich sämtliche RK-Mitglieder zu sogenannten erweiterten Sitzungen, „auf denen Erfahrungen ausgetauscht" und wichtige Entscheidungen diskutiert werden. — Größeres politisches Gewicht als diesem Diskussionsforum kommt dem Ständigen Ausschuß zu, der in eine Reihe von Abteilungen aufgefächert ist. Besonders wichtig sind der Politische Ausschuß, der im wesentlichen Massenbewegungen zu organisieren hat, der Produktionsausschüß und der Sicherheitsausschuß. — Die eigentliche Entscheidungsgewalt liegt jedoch bei der kleinen Spitzengruppe, die sich aus dem Vorsitzenden und aus seinen je nach Ort und Gründungszeit recht verschieden zusammengesetzten Stellvertretern rekrutiert.
Verglichen mit den Zuständen vor der Kultur-revolution ist die Tendenz zur Vereinfachung unverkennbar: Verfügten die alten Verwaltungsorgane (und Parteiausschüsse) meist über mehr als 20 Abteilungen oder Unterausschüsse, so sind es heute durchschnittlich nur vier.
Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich im Personalbestand. So hatte z. B.der frühere Volksausschuß der Provinz Kuangtung nicht weniger als 10 000 Angestellte, während es im jetzigen Provinz-RK nur noch 400 Mann sind.
Im übrigen dürften folgende Durchschnittszahlen für die Personalbesetzung als repräsentativ gelten: Kreis-RKs: 30 bis 70, RKs von Sonderdistrikten: 70 bis 100, Provinz-RKs: 300 bis 500 Personen. Das Verhältnis der Revolutionskomitees untereinander ist folgendermaßen konstituiert: — Im koordinativ-horizontalen Bereich haben die RKs nicht etwa nach dem Grundsatz eines formellen „Amts-und Rechtshilfeverfahrens" zusammenzuarbeiten, sondern im Geiste „brüderlicher Hilfe". Die bisherigen Erfahrungen scheinen weitgehend nach Wunsch zu verlaufen. — Im subordinativ-vertikalen Bereich gilt der Grundsatz des demokratischen Zentralismus, demzufolge sich unter anderem die „niedrigere Ebene" der höheren unterzuordnen hat. Es gilt also folgende systemgerechte Hierarchie: Revolutionskomitees auf Provinzebene, Revolutionskomitees auf Chou-Ebene, Revolutionskomitees auf Kreisebene, Revolutionskomitees auf Volkskommune-Ebene.
b) Der soziologische Aulbau Aufgebaut sind die RKs nach dem Dreier-Allianz-Modell. Dreier-Allianz und RK verhalten sich zu einander wie die klassischen Begriffs-paare Regierungsform und Staatsform. Die Dreier-Allianz setzt sich zusammen aus Vertretern der revolutionären Massenorganisationen, aus Repräsentanten der „Volksbefreiungsarmee" (fortan VBA) und aus revolutionären Kadern, wobei die Armeevertreter bisher als das eigentlich integrierende Element fungiert haben. Die Vertreter von Massenorganisationen kommen aus dem Bereich der Industriearbeiter, der „armen Bauern und unteren Mittel-bauern" sowie der Rotgardisten. Meist stellen sie weit über die Hälfte der RK-Mitglieder, deren Beteiligung allerdings um so spärlicher wird, je höher die Ränge ansteigen. Trotz ihrer Tätigkeit ändert sich am früheren Lebensstil kaum etwas. Sie setzen ihre gewöhnliche Arbeit fort und nehmen nur an Diskussionen über grundlegende Fragen sowie an beschließenden Sitzungen teil. Im übrigen aber
halten sie sich an die Politik des „dreifachen Nichtabweichens": von der körperlichen Arbeit, von der engen Verbindung zu den Massen und von den Realitäten. Nicht zuletzt wegen ihrer Kenntnis der Arbeitsatmosphäre dienen sie als Transmissionsglieder zwischen der Führungsgruppe des RK und den Massen. Sie propagieren die Beschlüsse des RKs in ihrer jeweiligen Einheit und führen gleichzeitig Untersuchungen an Ort und Stelle durch, deren Ergebnis nach oben weiterzumelden ist. Insofern ist ihre Teilnahme der konkrete Ausdrude der maoistischen Maxime, „auf die Massen zu vertrauen, sich auf sie zu stützen, sie zu achten" und ihnen Gelegenheit zu geben, an der Verwaltung teilzunehmen.
Die militärischen Vertreter sind das Rückgrat der Dreier-Allianz. Aufgrund ihrer „drei zivilen und drei militärischen Aufgaben" haben sie der „Linken", den Arbeitern und Bauern unter die Arme zu greifen und darüber hinaus militärische Kontrolle auszuüben sowie militärische Ausbildungsarbeit zu leisten.
Die VBA ist, mit anderen Worten, zum eigentlich ordnungserhaltenden Element geworden und wuchs in dieser Eigenschaft immer mehr in die Rolle eines Antipoden der radikalen Massenorganisationen, vor allem der Rotgardisten, hinein. Ganz im Gegensatz zu Mao Tse-tungs Wunsch begann das Gewehr über die Politik zu regieren, was insbesondere an den Personallisten deutlich wird.
Von den insgesamt 216 „führenden Mitgliedern" der Revolutionskomitees auf Provinz-ebene sind 73 (= 33 v. H.) militärischer Provenienz. Noch beeindruckender ist der militärische Anteil an den Positionen des Ersten Vorsitzenden: nicht weniger als 21 von 29 dieser Spitzenposten sind von Offizieren besetzt.
Mit dem Aufkommen der neuen Parteiausschüsse beginnt sich ein gewisses militärisches Disengagement anzubahnen. Freilich läßt es sich die VBA nicht nehmen, vor ihrem „Rückzug" noch erheblichen Einfluß auf die personelle Zusammensetzung der neuen Ausschüsse zu nehmen. Die alte Forderung, die VBA sollte „Stütze sein und nicht Krücke", wird damit vielleicht am Ende doch noch Wirklichkeit. 3. Zuständigkeit und Aufgaben der Revolutionskomitees Die chinesischen RKs sind nicht ohne die konkrete historische Situation zu verstehen, der sie ihre „Geburt" verdanken: Entstanden auf dem Höhepunkt des kulturrevolutionären Chaos, waren sie dazu ausersehen, die Lücken zu füllen, die der Säuberungsprozeß in das Netz der Partei-und Verwaltungsstruktur gerissen hatte. Die neuen RKs übernahmen — von der Provinzebene abwärts — zunächst die Funktionen der früheren Partei-und Staatsorganisationen, die durch die Ereignisse in den Jahren 1966/67 so schwer angeschlagen waren, daß sie ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen konnten. Damals wuchsen die RKs in die Rolle von Führungsorganen hinein, die mit „proletarischer Autorität" alle richtungsweisenden Entscheidungen für ihre jeweilige Einheit trafen. Neben der Führungsaufgabe kam ihnen aber auch, gemäß der im Räteprinzip angelegten Gewaltenhäufung, die Befugnis der Ausführung und der Kontrolle zu.
Die Tendenz zur Globalzuständigkeit wurde noch dadurch verstärkt, daß die RKs nicht am Ressortprinzip orientiert sind, sondern in geradezu klassischer Weise den Ausschußtyp verkörpern. Sie haben keinen spezifischen und konkreten Aufgabenbereich, so wie er etwa einem Ministerium zugewiesen ist, sondern geben vor allem den organisatorischen Rahmen ab, in dem die . konturlose'Masse des Volkes sich sammeln kann, um sodann einen konkreten Aufgabenbereich --sei es eine Schule, eine Fabrik oder eine Verwaltungseinheit — in „revolutionärem Geiste" zu bewältigen. Das RK war also, zumindest bis zur Renaissance der Partei, ein Sammelbecken der ständig zirkulierenden Führungskräfte, ein Aktionszentrum, von dem der politisch-ideologische elan vital ausging und in dem sich die revolutionäre Solidarität von Tag zu Tag erneuerte.
Angesichts dieser souverän ausgreifenden Kompetenzenfülle hätte man die Funktion der RKs überspitzt dahin definieren können, daß sie für die Revolution zuständig sind, jedoch nur für die Revolution im Rahmen ihrer jeweiligen Einheit. Es ist wichtig, gerade diese letztere Einschränkung besonders hervorzuheben. War es doch eines der wichtigsten Anliegen des RKs der ersten Stunde, die außer Kontrolle geratenen Massenaktionen der Rotgardisten wieder stärker zu kanalisieren, indem man den Strom aufzweigte und die Rinnsale zurück in die Kanäle der einzelnen Einheiten lenkte. Jeder einzelne sollte in seine Schule, seine militärische Einheit und an seinen Arbeitsplatz zurückkehren, um dort die Revolution fortzuführen. Schon gleich bei ihrem Erscheinen sahen sich die RKs mit umfassenden Aufgaben konfrontiert: Sie waren z. B. zuständig für Massenaktionen aller Art (Kampfversammlungen, Gerichtsversammlungen, Produktionsaufrufe, Bewegungen im Dienste des Gesundheitswesens), für Verwaltung und Verwaltungsreform und für eine beinahe allumfassende Kontrolle, wobei Untersuchungen in den Grundeinheiten und „Zusammenfassung der Erfahrungen" eine wichtige Rolle spielten. 4. Ideologische Aspekte Eine bloß phänomenologische Darstellung würde dem Wesen der Revolutionskomitees nicht ganz gerecht. Es sei deshalb angemerkt, daß es eigentlich die von Marx beschriebene „Pariser Kommune" war, die das Urbild für die kulturrevolutionären Organe abgegeben hatte und die gegenüber den Revolutionskomitees nicht mehr waren als ein durch die Realitäten erzwungener Kompromiß. Immerhin hatte Art. 9 Abs. 4 des 16-Punkte-Beschlusses bestimmt, daß die „Kulturrevolutionskomitees" (wie sie damals noch hießen) an den Vorstellungen der Pariser Kommune auszurichten seien.
Ganz im Geiste der marxistischen Vorstellungen hatten sich die proletarischen Errungen-B schaften der Pariser Kommune den Chinesen in fünf Merkmalen offenbart: — Sie zerschmetterte die „militärisch-bürokratische Maschinerie der Bourgeoisie" und setzte anstelle der bourgeoisen Unterdrückung die Diktatur des Proletariats. — Sie bildete ein Regime, in dem „das Proletariat Herr im Hause war". Durch direkte Wahl der Funktionäre aus den Reihen der Arbeiter wurde ein Abwehrmechanismus gegen neue Klassen und neue Bürokratien geschaffen. — Es gab keine Gewaltenteilung im bürgerlichen Sinne. — Nicht lokale Interessen, sondern proletarischer Internationalismus sollte die Kommune-mitglieder leiten. — Die Ausbeutung wurde durch Enteignung der Enteigner beseitigt.
Der rote Faden, auf dem diese fünf Punkte aufgereiht sind, ist die Vorstellung von der schöpferischen Spontaneität der Massen, die ihrer Eindringlichkeit wegen geradezu als „voluntaristischer Illuminismus" bezeichnet werden kann, nämlich als „übersteigerter Glaube an die Allmacht der Massen und an deren Fähigkeit, jedweden Feind zu besiegen und alle möglichen Schwierigkeiten zu überwinden . . ., wenn sie nur eine einheitliche Führung besitzen und ein klares Bewußtsein von ihren Zielen haben". Nach diesem Glauben ist das Objektive das Werk des Subjektiven; die Allmacht der Massen wird göttlicher Omnipotenz gleichgesetzt.
Im Januar 1967 erfaßte das Modell der Pariser Kommune für kurze Zeit drei Städte (Shanghai, Tsingtao, Peking). Vor allem das Modell Shanghai schien Schule zu machen: Elf revolutionäre „Rebellenorganisationen" hatten sich dort Anfang Januar 1967 unter der Führung des „revolutionären Rebellen-Hauptquartiers der Shanghaier Arbeiter" zusammengeschlossen, das herrschende Regierungs-und Partei-Establishment gestürzt, die Kontrolle der wichtigsten lokalen Massenkommunikationsme7 dien übernommen und am 5. Februar 1967 die gesamte Stadt zu einer einzigen Kommune erklärt. Schon drei Wochen später allerdings waren „Fraktionalismus" und Disziplinlosigkeit so weit eingerissen, daß nichts anderes übrig-blieb, als das Kommune-Hauptquartier am 24. Februar in ein Revolutionskomitee umzugestalten, das — dem üblichen Schema folgend — nach dem Dreier-Allianz-Prinzip aufgebaut und im wesentlichen also vom Militär gestützt war.
Nichts bewies deutlicher als diese Ereignisse, daß die Massen — und mit ihnen die Idee der Pariser Kommune — versagt hatten. Die Armee bewies durch ihre nicht gerade zurückhaltende Aktivität, daß die Massen nicht mehr „Herr im Hause" waren.
Der im Modell der Pariser Kommune angelegte Gedanke einer Selbsterziehung der Massen wurde durch die Revolutionskomitees zwar überlagert, prinzipiell aber doch beibehalten. Die „breiten Massen" sollten mit umfassenden demokratischen Rechten zur Wahl und zum Auswechseln der Führer ausgestattet sein und eine revolutionäre Barriere gegen das ; Wiedererstehen des Bürokratismus" abgeben. Diesen Gedanken gilt es festzuhalten, wenn man von den RKs als den Repräsentanten der „Massenlinie" spricht.
Droht aber einer Organisation, die nach dem Vorbild der Pariser Kommune geformt ist, deren Funktionen also ganz von der spontan-schöpferischen Selbstbetätigung der Massen abhängt, nicht die Gefahr der Anarchie?
Belehrt von den negativen Erfahrungen mit der Kommune von Shanghai und vor allem mit den ständigen Zwistigkeiten in den RKs begannen die Maoisten im Sommer 1968 eine wochenlange Diskussion um die Frage, wie die weitgehend dezentralisierten RKs zu einer Einheit zusammengefaßt werden könnten. Gegen zwei Übel galt es dabei vor allem anzugehen, nämlich gegen den immer mehr um sich greifenden — „revisionistischen" — „Polyzentrismus" und gegen die — „dogmatiB sehe" — Theorie, daß die Massen alles zu entscheiden hätten:
Die „Theorie von den vielen Zentren" wurde als „rechtsabweichlerische Tendenz" gebrandmarkt, bei der es gewissen Elementen vor allem darum zu tun sei, sich selbst zum Zentrum zu machen und individuelle Interessen sowie Ressortegoismen zu legitimieren. In Wirklichkeit gebe es entweder nur das proletarische oder aber das „bourgeoise" Lager. Eine dritte Möglichkeit scheide aus, so daß im Endergebnis die Verteidiger der vielen Zentren dem feindlichen Lager zugerechnet werden müßten.
Nicht weniger unbedenklich erschien den Maoisten das theoretisch immer wieder erhobene Postulat, daß der „spontane Wille der Massen" als Leitlinie zu dienen habe — eine Auffassung, die um so gefährlicher sein muß, als sie prima facie im Einklang mit der Massenlinie zu stehen scheint. Peking begegnete diesen Theorien mit dem Hinweis, daß spontane Äußerungen des Volkes, für sich genommen, nicht unbedingt korrekt seien. Kriterien für die Richtigkeit gäben vielmehr die Ideen Mao Tes-tungs ab, die letztlich ja nichts anderes seien als der „konzentrierteste Ausdruck der Weisheit der Massen".
Mit diesem Hinweis ist bereits angedeutet, wie sich die Chinesen die Lösung des Koordinationsproblems vorstellen. Das Einheitsstreben, das ja nur strategisch auf Einheit ausgeht, taktisch aber über die Zerstörung der je augenblicklichen Einheit führt, wurde zur großen Parole des Jahres 1969. Damals bildete sich — dem chinesischen Hang zur Numeralisierung folgend — die Formel der „fünf Einheiten" heraus. Um eine konzertierte Aktion der vielberufenen 700 Millionen unter monolithischer Führerschaft zu ermöglichen, galt es, in erster Linie die richtigen Meinungen zu konzentrieren: „. .. Auf dieser Grundlage erreichen wir einheitliche Auffassungen, eine einheitliche Politik, einheitliche Pläne, ein einheitliches Kommando und einheitliche Aktionen ..
Diesen gemeinsamen Nenner, der zugleid auch das Kriterium allen Strebens nach Einheit abgibt, bildet seit der Kulturrevolution das „Denken Mao Tse-tungs".
Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus als das Postulat. Wie sehr das Übel des Fraktionalismus den Maoisten zu schaffen machte, bewies vor allem die Kulturrevolution. 1966 waren zahlreiche sogenannte Rebellenorganisationen aus dem Boden geschossen und hatten revolutionäres Eigenleben entwickelt — so, wie sie es verstanden. Da jede Organisation und Ad-hoc-Gruppe ihre eigenen Vorstellungen hatte und in ihrem Handeln keine volonte generale wirksam werden ließ, kam es zu den mittlerweile bekannten Chaos, das zu Beginn des Jahres 1967 seinen Höhepunkt erreichte In den Fabriken spalteten sich die Belegschaften, in den Universitäten stürmten sich gegenseitig die Fakultäten, aber auch als Rotgardi sten organisierte Studenten und Arbeiter gerieten aneinander. Diese Auseinandersetzungen gingen selbst Mao Tse-tung zu weit. Seit Grundgedanke, daß es nämlich unter den Schutze der Diktatur des Proletariats keine grundsätzlichen antagonistischen Widersprüche in der Arbeiterklasse gebe, wurde Ausgangspunkt für mehrere Direktiven, welche das Modell der sogenannten Großen Allian als Grundlage für die Wiederversöhnung zwischen den verfeindeten Gruppen propagierten Aus dem Gegeneinander sollte ein Miteinan der werden.
Trotz der unzähligen „Großen Allianzen", die im Gefolge der neuen Direktiven entstanden mutete aber die Liste der „konterrevolutionä ren Verbrechen" immer noch wie ein Palim psest an, der fast täglich neu bearbeitet wer den mußte. Der Ruf nach einem neuen Gela tionsmittel wurde deshalb immer lauter. Damil waren die Fundamente für die Renaissance de: Partei geschaffen, der es nun erneut oblieget sollte, die Widersprüche in der Gesellschaf aufzulösen.
II. Die Parteiausschüsse
1. Historische Aspekte Bei oberflächlichem Hinsehen hätte man noch 1968 meinen können, die Revolutionskomitees seien Universalerben der Partei geworden. Selbst auf dem Höhepunkt der vermeintlichen Agonie gab die Partei aber immer noch Lebenszeichen. Zumindest an der Spitze in Peking und innerhalb der Volksbefreiungsarmee blieb der Apparat in seiner Substanz erhalten. Die Partei sollte ja nicht überhaupt, sondern nur in ihrer bisherigen Form verschwinden.
In dem nun anbrechenden Interregnum, das bis zum Wiederaufbau der Partei dauern sollte, wurde vor allem die Armee zum deus ex machina, der in den Provinzen direkt durch die Militärkontrollausschüsse und indirekt durch die neu gegründeten RKs regierte — eine Tatsache, die trotz ihrer Deutlichkeit den der RK-Organisation zugrunde liegenden Rätegedanken nie ganz verdrängen konnte.
Die ersten Anzeichen für eine Rekonstruktion der Partei gab es bereits im Oktober 1967. Es mußten aber noch eineinhalb Jahre vergehen, ehe der Neunte Parteitag im April 1969 endlich grünes Licht für den definitiven Parteiaufbau gab. Die 1512 Delegierten dieses „maoistischen“ Kongresses wählten ein neues ZK, das in seinem ersten Plenum seinerseits ein neues Politbüro und einen verkleinerten Ständigen Ausschuß schuf. Die Delegierten erließen ferner eine Parteisatzung, die sich erheblich vom Statut des Achten Parteitags abhob.
Als graue Eminenz hinter dem Prozeß des Aufbaus stand von Anfang an der Parteiapparat der Volksbefreiungsarmee (VBA), der ja die gesamte Kulturrevolution heil überstanden hatte und nunmehr seine Stunde gekommen sah, um die seit langem innermilitärisch gepflegten ideologischen und organisatorischen Vorstellungen auch außerhalb der VBA zur Geltung zu bringen. Die Militärs sorgten vor allem für spezifische, hier nicht näher zu erörternde „Arbeitsstile", für „Modellkader" und nicht zuletzt für VBA-Abteilungen zur „Unterstützung der Linken", die u. a. „Büros zur Parteiausrichtung" etablierten. Die Früchte dieser emsigen Tätigkeit zeigten sich bereits sechs Monate später. Am 18. November 1969 wurde der erste Parteiausschuß auf Kreisebene in Chang-te (Provinz Hunan) gegründet, dem weitere Ausschüsse auf derselben Ebene bald zu Dutzenden folgen sollten. 2. Strukturelle Aspekte Die KPCh ist pyramidenförmig in vier Etagen aufgebaut und folgt damit dem Schema der administrativen Hierarchie in der Volksrepublik.
Personell setzt sich der „ideale Parteiausschuß" zu rund 90 v. H. aus rehabilitierten Kadern und nur zu etwa 10 v. H. aus „neuen Gesichtern" zusammen, die — trotz ihrer Minderzahl — sämtliche sozialen Gruppen vertreten sollen. Entgegen allen guten Vorsätzen ist damit weitgehend eine Partei der Kompromisse im Entstehen. 3. Zuständigkeit und Aufgaben der Parteiausschüsse Die KPCh hat keinen spezifischen Aufgabenbereich in dem Sinne, wie er etwa einem Ministerium zugeordnet ist. Vielmehr kommt ihr ganz allgemein die Rolle der Führung, der Richtlinienkompetenz, der Kontrolle und der höchsten Autorität zu. Die Unbestimmtheit der Funktionen wird um so deutlicher, als die KPCh bis heute — ganz im Gegensatz zur KPdSU — kein formelles Parteiprogramm entwickelt hat. Die KPCh erfüllt in etwa die sechs Tatbestandsmerkmale, die Stalin 1924 als konstitutive Elemente einer kommunistischen Partei herausgearbeitet hat: — Sie empfindet sich ebenfalls als Führerin des „Proletariats", das sich aus „mehr als 90 v. H.der Bevölkerung“ zusammengesetzt und nicht nur aus Arbeitern, sondern auch aus armen Bauern und sonstigen Werktätigen besteht. — Auch die Organisiertheit wurde im großen und ganzen immer groß geschrieben (demokratischer Zentralismus, straffe Parteidisziplin); doch wechselten solche Perioden mit Zeiträumen der Anarchie (Kulturrevolution).
— Auch nach der Satzung von 1969 hat die Partei erneut die Aufgabe einer Vorhut, deren Führungsanspruch sich „die staatlichen Macht-organe der Diktatur des Proletariats, die Volksbefreiungsarmee, der Kommunistische Jugendverband und die revolutionären Massenorganisationen" fügen müssen. — Ebenso wie die Partei Stalins hat sich auch die KPCh dem weiteren Kampf gegen die Bourgeoisie auch nach Erreichung des sozialistischen Stadiums verschrieben.
— Der Kampf gegen den Fraktionismus in der Partei gehört schließlich ebenso zu den festen Mechanismen des chinesischen Parteiapparats — wie die permanente Säuberung.
Neben solchen, zumindest partiellen Gemeinsamkeiten gibt es aber auch gewisse Unterschiede zu der stalinistischen Vor Konzeption.
allem sind hier die Vorbild-und Rekrutierungsfunktionen der Partei zu erwähnen: Die Partei als zu dienen. Mitglieder Vorbild Ihre müssen, wie es heißt, ein „Vorbild an Tapferkeit im Kampf und ein Vorbild bei der Ausführung von Befehlen" sein; sie müssen vorbildlich Disziplin halten und politische Arbeit leisten.
Diese Funktion des guten Beispiels mag auch den Kommunisten anderer Länder obliegen. Bedenkt man jedoch, daß die gesamte konfuzianische Ethik, deren formalen Ausprägungen ja auch die Kommunisten nach wie vor unterliegen, auf dem Postulat aufgebaut war, weniger durch Strafen und Administrieren als vielmehr durch das eigene gute Vorbild zu herrschen, so mag man ermessen, welcher Stellenwert der Modellfunktion heute noch zukommt. Eng damit hängt die maoistische Prämisse zusammen, daß die Revolution insgesamt nicht das Werk der Partei, sondern die Aufgabe des sich im Klassenkampf selbst erziehenden Proletariats ist — eine Annahme, die vor allem in der pausenlos wiederkehrenden Aufforderung manifestiert wird, gegen „sein eigenes Selbst und gegen den Revisionismus zu kämpfen“ und dadurch die Revolution zu verwirklichen.
Eine weitere wichtige Mission der Partei ist die Rekrutierung der politischen Führerschaft, und zwar in einem doppelten Sinne: die Partei hat gleich einem Blutkreislauf „.. .den Abfall abzustoßen und frisches Blut aufzunehmen ...“. Noch wichtiger freilich als diese Regenerationsfunktion ist die Aufgabe, das Bewußtsein der Parteimitglieder permanent zu fördern und dadurch sicherzustellen, daß die Komitees sich durch ein Plebiscite de tous les jours in seinem ganzen ursprünglichen Sinne konstituieren. Für den Prozeß einer dauernden Selbstdefinition gibt die Partei den besten Rahmen ab. Die Integrationslehre Rudolf Smends fände hier ein dankbares Untersuchungsfeld: „Persönliche Integration" durch die charismatische Ausstrahlungskraft Maos, „funktionelle Integration" durch Kollektivierung der Lebensformen und „sachliche Integration" durch den gemeinsamen Kampf „unter der roten Fahne Mao Tse-tungs“ schaffen im Rahmen der neuen Parteiausschüsse — wie übrigens auch im Rahmen der RKs — eine Kohärenz, die ihre Einheitlichkeit nicht dem bürokratischen Apparat, sondern einem nach der Maxime „Kampf — Kritik — Änderung" geführten Klassenkampf verdanken soll. Gerade eine Partei, die dem Bürokratismus und der Entstehung einer neuen Klasse so ablehnend gegenübersteht wie die KPCh, muß auf diese bewußtseinsfördernde Funktion viel mehr bedacht sein als etwa die angeblich bereits dem „Revisionismus" verfallene KPdSU.
III. Das Verhältnis zwischen Revolutionskomitees und Parteiausschüssen
1. Das Verhältnis in der Theorie a) Allgemeines Wer geglaubt hatte, die RKs seien mit der Reaktivierung der Partei zum Untergang verdammt, sah sich schon bald nach dem 9. Parteitag in seinen Ansichten widerlegt, denn die RKs sollen nicht nur beibehalten, sondern sogar weiter konsolidiert werden. Die damit auftauchende Frage nach ihrem Verhältnis zu den neuen Parteiausschüssen mochte zunächst zwar auf sich beruhen; seit aber im November 1969 das erste Parteikomitee auf unterer Ebene entstanden war, konnte man einer Entscheidung nicht länger ausweichen. Allgemein einigte man sich darüber, daß sich die beiderseitigen Beziehungen nach Artikel V Absatz 5 der Parteisatzung von 1969 zu richten hätten. Danach müssen sich u. a. die „revolutionären Massenorganisationen . . . und die staatlichen Machtorgane der Diktatur des Proletariats ..." unter die Führung der Partei begeben. Ob man nun die RKs, wie Lenin es mit den Sowjets tat, als „Massenorganisationen“ einstuft oder aber als Administrativorgane: in jedem Falle unterstehen sie den extensiv auszulegenden Bestimmungen des Artikels V. Ganz in diesem Sinne taucht auch in den amtlichen chinesischen Erklärungen immer wieder die Feststellung auf, daß sich Parteiausschüsse und RKs zueinander verhielten wie führende zu geführten Organen.
Der Gedanke einer Selbstherrschaft der Massen, wie er eigentlich im Maoismus angelegt ist, hat damit eine weitere Einengung erfahren. Der Niedergang vollzog sich in zwei Abschnitten: die RKs verdrängten die Kommune, hatten aber ihrerseits den neuen Parteiausschüssen weitgehend Platz zu machen. Diese Überlagerungen der RKs erinnern an das Schicksal der Sowjets. Im folgenden soll daher versucht werden, beide Revolutionsorgane miteinander in Beziehung zu setzen.
Wie die Sowjets so scheinen auch die RKs langsam in die Rolle von Transmissionsinstru11 menten hineinzuwachsen. Die Revolutionskomitees gelten z. B. schon heute als Brücke zwischen Parteiausschüssen und Massen. In wichtigen Angelegenheiten haben sie den zuständigen Parteiausschuß zu konsultieren und von ihm Instruktionen einzuholen. Laufende Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung können von ihnen dagegen aus eigener Machtvollkommenheit erledigt werden. Wie es heißt, bewahrt diese Arbeitsteilung den Parteiausschuß davor, sich fast nur mit Teilfragen beschäftigen zu müssen und befähigt ihn andererseits, sich ganz der ideologischen Führung zu widmen. Seine Beschlüsse führt der Parteiausschuß überdies nicht selbst durch, sondern überläßt dieses Geschäft dem Revolutionskomitee, das seinerseits über den Stand der Ausführung laufend Bericht zu erstatten hat Vor allem haben die RKs alle Richtlinien des Parteiausschusses in konkrete „Verwaltungsakte" umzusetzen. Das organisatorische Prinzip, das die beiderseitigen Beziehungen formt, ist der demokratische Zentralismus. Vor allem soll die Parteidominanz eine einheitliche Führung garantieren. Nicht ganz zu Unrecht ist daher behauptet worden, daß sich die Beziehungen zwischen Parteiausschuß und Revolutionskomitee in nichts von dem Verhältnis zwischen Partei und Regierung in anderen kommunistischen Staaten unterscheiden.
b) Revolutionskomitees und Sowjets — Gemeinsamkeiten im Aufbau Sollte den RKs dasselbe Schicksal zuteil werden wie den russischen Sowjets, die nach einem verheißungsvollen Beginn als Organe der „proletarischen Selbstverwaltung" schließlich zu bloßen Transmissionsinstrumenten der Partei degradiert wurden? Die Annahme läßt sich nicht ohne weiteres von der Hand weisen; denn RKs und Sowjets weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf:
Dem Grundkonzept nach:
Beide basieren auf dem Konzept einer radikalen, direkten Demokratie und verstehen sich als Antipoden erstarrter und bürokratisch verfestigter Repräsentativsysteme. Bei beiden geht es darum, ganz im Geiste Rousseaus den Gegensatz zwischen Regierenden und Regierten abzubauen, den Staat also in die sich selbst verwaltende Gesellschaft zurückzunehmen und die Emanzipation der Massen auf jedem Lebensgebiet herzustellen. Beide Regierungsformen sollen die Oligarchisierung von Organisationen durch die Selbstorganisation des Volkes ersetzen und den „Staat" durch Dezentralisierung und Dislozierung seiner Funktionen überflüssig machen. Die „proletarische Masse" wird hierbei—wie Rosa Luxemburg es ausdrückt — geleitet von einem „unmittelbaren Klasseninstinkt“, der ihr sicheren revolutionären Halt gibt. Sie bedient sich überdies einer „Kampftaktik", die „nicht erfunden wurde, sondern das Ergebnis einer fortlaufenden Reihe großer schöpferischer Akte des experimentierenden, oft elementaren Klassenkampfes ist". Das „Unbewußte geht hier vor dem Bewußten, die Logik des objektiven historischen Prozesses vor der subjektiven Logik seiner Träger".
Dem Rahmen nach:
Räte und RKs bilden sich innerhalb derselben Keimzellen heraus. Wohnbezirke, Industriebetriebe, landwirtschaftliche, pädagogische, kulturelle und administrative „Einheiten" geben das Grundmuster ab. Die jeweilige Basis bestimmt sich also nach den bereits vorhandenen Gliederungen. Im Gegensatz zu den klassischen „Räten" gibt es in der Volksrepublik China jedoch keine Soldatenräte. Selbstverständlich kommen dem RK deshalb auch keine militärischen Machtbefugnisse zu. Ferner ist es — mit wenigen Ausnahmen — nicht zur Bildung von Revolutionskomitees in Einheiten über der Provinzebene gekommen, ganz zu schweigen von der Gründung eines zentralen Revolutionskomitees. Eine Erklärung für diese etwas unlogische Entwicklung mag darin liegen, daß der zentrale Parteiapparat trotz verheerender Säuberungen während der Kultur-revolution doch in seiner Substanz erhalten blieb. Andererseits zogen frühzeitig sogenannte „Militärkontrollkommissionen" in die zentrale Staatsmaschinerie ein, die dort teilweise auch heute noch wirken, übrigens dürfte es die Fortexistenz des innermilitärischen Parteiapparats gewesen sein, die das — eigentlich zu erwartende — Aufkommen von Soldatenräten behindert hat.
Im Gegensatz zu den Parteiausschüssen, die, wie die Existenz der früheren sechs Regional-büros böwies, zum Teil auch auf geographischer Basis gebildet werden, sind die Revolutionskomitees ausschließlich funktional orientiert, da ihnen ja die vorgegebenen Einheiten als Basis dienen.
Den Trägern nach:
Räten und RKs ist auch gemeinsam, daß sie von bisher unterprivilegierten Gruppen mit fundamental demokratischem Wertsystem getragen sind. In China gehören dazu vor allem die „armen Bauern und unteren Mittelbauern'sowie die revolutionären Arbeiter, die sich zusammen als die eigentlichen Produzenten fühlen und die — nach Mao Tse-tungs Postulat — „ 95 v. H.des Volkes" ausmachen. Sie sind der Überzeugung, daß sie ihre Probleme allein lösen, also ohne Experten auskommen können. Die wichtigste Erklärung für diese auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Vorstellung leitet sich aus der heute allgemein akzeptierten Erkenntnis her, daß die Politik an erster Stelle steht und daß fachmännische Tätigkeit letztlich nur ein Derivat des politischen Engagements ist. Ganz in diesem Sinne bildeten die Sowjets übrigens auch — ebenso wie die Revolutionskomitees — eine Art Ersatzgewerkschaft. Dem Gründungsanlaß nach:
Eng mit der Trägerschaft hängt der Gründungsanlaß zusammen. RKs und Räte sind das spontane und ad hoc entstandene Ergebnis einer „revolutionären" Situation, in der die bisherigen Herrschaftsverhältnisse fraglich geworden, wenn nicht gar zerbrochen sind (Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg China zur Zeit der Kulturrevolution 1966/671 An die Stelle des alten, hochkomplizierten Res sortsystems ist der multifunktionale Ausschuß getreten, in dem Beratung, Beschluß und Durchführung nicht mehr als getrennte Vorgänge betrachtet, sondern als komplexe Funktionszusammenhänge behandelt werden. Diese große Vereinfachung ist nur möglich unter dem Vorzeichen politischer Gleichgestimmtheit, sozialer Homogenität und weitgehender Interessenidentität. Im China der ausgehenden sechziger Jahre wurde dieser gemeinsame Nenner in den „Mao Tse-tung-Ideen" gefunden. Selbst dieses Kohäsionsmittel vermochte freilich nicht zu verhindern, daß — ebenso wie den Sowjets — das Problem eines -bei vielfäl tigen „Polyzentrismus" aufkam.
Der Funktionsweise nach:
Hier sind vor allem sieben Gemeinsamkeiten zu erwähnen:
— Die Ratsmitglieder sind möglichst direkt zu wählen.
— Die Kontrollkompetenzen der Wählerschaft sind — anders als im parlamentarischen System — permanent. Die umfassende Bindung an das Wählermandat verpflichtet den Repräsentanten jederzeit zur Rechenschaftslegung und macht ihn jederzeit abwählbar. Damit hängt der Brauch zusammen, alle Aktionen im Lichte der Öffentlichkeit vor sich gehen zu lassen (Publizitätsprinzip), so daß jederzeit Kritik durch die Massen möglich ist. Die Herrschaft richtet sich mit anderen Worten von unten nach oben, womit die Selbstherrschaft der Massen und weitgehende Identität von Wählern und Delegierten garantiert ist.
— Der Gewählte nimmt kein Amt, sondern ein Mandat wahr. Er ist also nicht „Berufsbeamter", sondern ein unmittelbar an das imperative Mandat des Wählers gebundener Revolutionär. Daraus ergeben sich zwei unmittelbare Konsequenzen: die „Ehrenamtskonzeption" (zumindest darf der Funktionär nicht mehr verdienen als der Wähler) und das „Rotationsprinzip", das für hochgradige Mobilität der Autoritätspositionen sorgt. — Da die Funktionen vom Wähler direkt kontrolliert werden und somit eine weitgehende Identität von Herrschern und Beherrschten garantiert ist, können RK und Rat auch auf die im parlamentarischen System üblicherweise verankerte Gewaltenteilung verzichten, die ja letztlich nichts anderes ist als der Ausdruck eines institutionellen Mißtrauens des Wählers gegenüber dem im allgemeinen bis zum Ende der Legislaturperiode verselbständigten Herrschaftsapparat. Aus demselben Grunde kann das Rätesystem auch auf politische Parteien verzichten. geben — Sowjets und RKs schließlich auch den Rahmen für ein weitgespanntes und vielfältiges Kongreßwesen ab.
Den Prämissen nach:
Selbstverwaltung und Selbsterziehung der Massen sind nicht möglich ohne eine gewisse „Reife" der Beteiligten. Die Verfechter des Systems der RKs und der Räte verlassen sich deshalb auf die schöpferische Spontaneität sowie auf die „selbständige direkte Aktion der Massen", wobei sie von der Vision eines „neuen Menschen" ausgehen. Dieses Ziel läßt sich nicht durch theoretisches Spekulieren, sondern nur durch unermüdlichen Aktionismus'erreichen. Denn nichts bewahrt die Arbeiterbewegung so sicher vor dem Abgleiten in Opportunismus und Revisionismus wie die „revolutionäre Selbstbetätigung und Potenzierung des eigenen politischen Verantwortlichkeitsgefühls
Den unmittelbaren revolutionären Zielen nach:
Wesentlich für die Räte-Ideologie ist vor allem das Ziel, die militärisch-bürokratische Maschinerie der Bourgeoisie zu zerschlagen und an ihre Stelle eine Diktatur des Proletariats zu setzen. Nur das Proletariat soll „Herr im Hause" sein. Nebenbei sind die Sowjets eine „Schule der Regierungskunst für Hunderttausende von Arbeitern und Bauern". überdies sollen die Räte nicht nur Lokal-oder Gruppeninteressen vertreten, sondern sich als Repräsentanten des allumfassenden „proletarischen Internationalismus" verstehen. In sozialer Hinsicht kommt es vor allem darauf an, die Ausbeutung zu beseitigen und zu diesem Zwecke die Enteigner zu enteignen. Vorbild für eine solche Ausrichtung bleibt nach wie vor die Pariser Kommune von 1871, wie sie von Marx in seinem „Bürgerkrieg in Frankreich" idealisiert wurde. Erscheint es bei so vielen Gemeinsamkeiten nicht gerechtfertigt, die Revolutionskomitees und Sowjets gleichzusetzen? Gewisse Unterschiede sind allerdings noch zu erwähnen, die ein wenig dazu beitragen, das Bild von einem allzu rein nach dem Rätetyp ausgeprägten RK zu korrigieren: — Weit entfernt von der frühsowjetischen Parteienpluralität gibt es in den RKs nur das Monopol einer einzigen Partei: der KPCh. Freilich sorgte der häufig beklagte „Fraktionismus" für noch vielfältigere Frontstellungen als sie bei einem noch so gut organisierten Parteienwesen hätten entstehen können. — Auch sind die RKs teilweise so stark mit Militärvertretern durchsetzt, daß die immer wieder beschworene proletarische Selbstverwaltung oft nicht mehr als ein Aushängeschild ist; von den revolutionären Organen wurde sogar behauptet, sie seien Keimzellen einer „Militärherrschaft" neuen Typs. Diese personelle Fusion hängt mit dem Dreier-Allianz-Prinzip zusammen, das den -Sowjets unbekannt gewe sen war. Dort hatten sich die Mitglieder nur aus „Bauern, Arbeitern und Angestellten" rekrutiert. Soweit das Militär Einfluß ausüben wollte, bildete es für sich gesonderte Soldaten-räte, die im gemeinsamen Orchester der „proletarischen Selbstverwaltung" mitzuwirken, aber nicht zu dirigieren hatten.
Revolutionskomitees und Sowjets: Gemeinsamkeiten im Schicksal?
Es ist aufschlußreich, eine Parallele zwischen dem Schicksal der Sowjets vor 50 Jahren und den chinesischen RKs zu ziehen. Bei den Revolutionen von 1905 und 1917 spielten die Sowjets eine überragende Rolle als Vertretungsorgane der werktätigen Massen. Durch den spontanen Gang der Revolution hatte sich ihr Funktionsbereich soweit ausgedehnt, daß sie zu einem „Staat im Staat", zu „embryonalen Machtorganen" und zu „lokalen revolutionären Macht-und Verwaltungsorganen“ wurden. Die Parole, „alle Macht den Räten" zu überantworten, bezeichnete den Höhepunkt dieser Entwicklung. Dabei waren die Anfänge der Sowjetbewegung gar nicht so verheißungsvoll gewesen, hatte man sie doch häufig nur als „Organe der revolutionären Propaganda" oder als „Auflauf in Permanenz" ohne bestimmte Funktion und ohne feste Verfassung bezeichnet.
Im Wirbel der revolutionären Ereignisse bildeten die Sowjets vielfach einen Ersatz für die oft nach festerer Organisation verlangenden Gewerkschaften und Parteien. Es verdient in diesem Zusammenhang festgehalten zu werden, daß vor allem die Partei im Frühstadium der Sowjets eine ganz untergeordnete Rolle spielte — eine Tatsache, die im Einklang mit dem Rätesystem steht, das ja antiparteilich ist und Parteidenken sowie Parteidisziplin im Interesse der Herrschaft des Proletariats als Ganzem bekämpft. Diese Mißachtung des Partei-wesens konnte sich auf die Dauer nicht durchsetzen; denn Lenins Lebenselement war schon seit Beginn der Revolution von 1917 nicht das Forum einer Räteorganisation, sondern vielmehr die Partei, und zwar die bolschewistische Partei. Im Unterschied zu den im wesentlichen parteilosen Räten von 1905 verwandelten sich die Sowjets von 1917 zunehmend in Kampfplätze der verschiedenen politischen Richtungen, die vor allem von Menschewiken, Bolschewiken und sozialen Revolutionären vertreten wurden.
Einmal begonnen, griff die „Parteiisierung" schnell um sich. Nach dem gescheiterten Juli-Putsch von 1917, der die Machteroberung durch die Sowjets zum Ziel hatte, wurde die Losung „Alle Macht den Räten" von Lenin plötzlich als nicht mehr zeitgemäß abgelehnt. Die Sowjets seien nur mehr „Nullen, Drahtpuppen", die reale Macht liege nicht mehr bei ihnen. Von nun an steuerte Lenin auf die Machteroberung seiner bolschewistischen Partei zu. So kam es, daß die Sowjets nach und nach systematisch „bolschewisiert" wurden. Aus Organen der proletarischen Selbstverwaltung verwandelten sie sich — nach den Worten Stalins — in Organe des Zusammenschlusses der Massen. Drei wichtige Tendenzen traten dabei deutlich hervor: — schrittweise Ausschaltung der nicht-bolschewistischen Parteien und damit Monopolisierung aller Machtpositionen durch eine Partei; — faktische Unterordnung der Sowjets unter die Leitung der Kommunistischen Partei nach dem Grundsatz des demokratischen Zentralismus, wobei in den Spitzenpositionen eine weitgehende Personalunion zwischen Sowjets und Partei angestrebt wurde; — wachsende Zentralisierung und Bürokratisierung. Dieser sich allmählich vollziehende Funktionswandel der Sowjets im System der Diktatur des Proletariats wurde später von Stalin auch ideologisch legitimiert. Stalin insbesondere entwickelte seine „Transmissionstheorie", nach der die Partei — und nur die Partei — die Diktatur des Proletariats verwirkliche: freilich nicht unmittelbar, sondern mit Hilfe der Gewerkschaften, der Genossenschaften aller Art, des Jugendverbandes und vor allem durch die Vermittlung der Sowjets und ihrer Verzweigungen.
Mit ihrer Verwandlung in einen bloßen „Hebel", der von der lenkenden Kraft der Partei nach Belieben geschaltet werden konnte, war die Räteidee grundlegend verraten worden. Die Sowjets waren nun nicht mehr Organe proletarischer Selbstverwaltung und Träger direkter Demokratie, sondern wurden zu bloßen Transmissionswerkzeugen unter dem allmächtigen Kommando einer alle Machtpositionen monopolisierenden Partei. In der Sowjetunion entstand damals jener tiefe, bis heute noch nicht zugeschüttete Graben zwischen der „neuen Klasse" der Partei-Elite und den sozial weit darunterstehenden Massen der Werktätigen.
Sollte sich diese Tragödie der russischen Räte im China der gerade abgeschlossenen Kultur-revolution wiederholen? Auch für die Chinesen hätte dann die Kritik Rosa Luxemburgs gegen den „rücksichtslosen Ultrazentralismus" jener Sowjetführer zu gelten, deren „Gedankengang hauptsächlich auf die Kontrolle der Parteitätigkeit und nicht auf ihre Befruchtung, auf die Einengung und nicht auf die Entfaltung, auf die Schurigelung und nicht auf die Zusammenziehung der Bewegung zugeschnitten sei". Demgegenüber sei „das einzige Subjekt, dem jetzt die Rolle des Lenkers zufalle, das Massen-fch der Arbeiterklasse, das sich partout darauf versteift, eigene Fehler machen und selbst historische Dialektik lernen zu dürfen. Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich viel wertvoller und fruchtbarer als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentral-komitees.“
Rosa Luxemburg tat dem Schöpfer des sowie tischen Marxismus, gegen den diese Invektive gerichtet war, zum Teil Unrecht; denn Lenin versuchte kurz vor seinem Tode, den immer mehr um sich greifenden Bürokratismus aufzuhalten — doch vergeblich. Mao Tse-tung war etwas erfolgreicher als der Russe Zumindest hemmte die von ihm ausgelöste Kultur-revolution den „Revisionismus" und die Bürokratisierung für einige Jahre. Weitere Kultur-revolutionen sollen sicherstellen, daß die Renaissance der Massenlinie nicht nur eine Episode bleibt. Derzeit sieht es freilich nicht so aus, als ob seine Pläne in Erfüllung gingen. c) Die Entelechie der neuen („maoistischen“)
Parteiausschüsse Sollte den RKs in China ein ähnliches Schicksal widerfahren wie den Sowjets in Rußland, so geriete der Maoismus mit seinen organisatorischen Vorstellungen in eine Sackgasse. Wäre es nämlich nach Mao gegangen, so hätten die RKs eine weit bedeutsamere Funktion als die eines bloßen Ausführungsinstruments behalten müssen. Es ist klar, daß Parteiausschüsse (als Elite-organe) und RKs (als organisatorische Ausprägung der „Massenlinie") nicht gleichberechtigt nebeneinander stehen, sondern nur auf Kosten des jeweils anderen in ihre eigentliche Rolle hineinwachsen können. In der Tat vermochten sich die RKs erst in dem Augenblick zu entwickeln und voll zu entfalten, als die alten Parteiausschüsse zugrunde gegangen waren. Diese Konkurrenz zwischen Parteiausschüssen und RKs mußte für die letzteren um so ungünstiger ausfallen, als sie auf denselben Ebenen und innerhalb derselben Einheiten angesiedelt sind wie die Parteiausschüsse, als sie ferner ebenso — wie diese — im Pyramidenmodell konzipiert sind, gleichfalls dem Prinzip des demokratischen Zentralismus huldigen, auf jeder Ebene über dieselben spezifischen Kongresse und Ausschüsse verfügen und schließlich sogar noch eine gewisse personelle Identität mit den Parteiausschüssen aufweisen. Die Parteiausschüsse treten damit praktisch in jeder Hinsicht, das heißt strukturell, prinzipiell, organisatorisch und personell, mit den RKs in Konkurrenz, was zur Folge hat, daß die letzteren immer mehr ihrer eigentlichen Funktionen beraubt werden.
Wie sehr sich die Maoisten einer solchen Gefahr bewußt sind, beweist die neue Parteisatzung, die den Elite-Gedanken weitgehend zugunsten der Massenlinie verbannen soll. Diese Tendenz wird besonders deutlich, wenn man die „liuistische" Satzung des 8. Parteitags (1956) mit der „maoistischen" des 9. Parteitags (1969) vergleicht. Beide Regelungen haben nur noch die Form gemeinsam, nicht mehr jedoch den Kern. Einzelne Bauelemente sind sich zwar gleich geblieben, doch der Geist, in dem sie zusammengefügt wurden, hat sich grundlegend gewandelt.
Erhalten geblieben sind vor allem einige Organfassaden, wie etwa der Nationale Parteikongreß, das ZK, das Politbüro, der Ständige Ausschuß des Politbüros, die Regionalkongresse und Regional-Parteiausschüsse sowie die „Zellen", „allgemeinen Zellen" und „BasisausB schüsse". Doch sind — vom Wegfall der Sekretariate, Kontrollausschüsse und Regional-büros ganz zu schweigen — die Machtkompetenzen so sehr verlagert worden, daß sie mit den alten Strukturen nur noch wenig Ähnlichkeit haben. Bildlich gesprochen zeigen die Wurzeln und vor allem die Spitzen des Baumes überorganisches Wachstum, während der Stamm und die Zweige nur kümmerlich zu gedeihen scheinen. Am besten ist die Spitze weggekommen: Der Ständige Ausschuß wurde auf Kosten der anderen Organe zu einem Machtzentrum, wie es in dieser Ballung vorher nicht bestand. Anstelle der alten Machtbalance zwischen Sekretariat, ZK und Politbüro ist die Machtkonzentration getreten, und die starren, streng formalisierten Institutionen der alten Partei sind durch Flexibilität (keine festen Tagungs-Zeiträume mehr, keine fest eingeplanten Sekretäre, keine genauen Abgrenzungen zwischen den drei Grundorganisationen) und Durchlässigkeit des neuen Apparates ersetzt worden. Die streng patriarchalische Haltung Lius hatte dem Aufruf Maos zur Mündigkeit der Massen zu weichen. Die bürokratische Attitüde der Partei wurde durch Maos charimatisehe Führerschaft abgelöst und die Parteiinteressen durch die Masseninteressen verdrängt das Establishment sollte der Spontaneität der Massen weichen.
Auch nimmt die Partei für Mao einen ganz anderen Stellenwert ein als für Liu Shao-ch’i. Für orthodoxe Leninisten, zu denen man auch Liu rechnen kann, war die Partei von jeher eine Art heiliger Gral, dem sie alle ihre Kraft widmeten und auf dessen magische Wirkung sie ihre Hoffnung setzten. Organisation, Rationalität, Besessenheit von der technischen Fungibilität des Apparates und Elite-Denken wäret Schlüsselelemente ihrer revolutionären Strategie, die deshalb von Massenbewegungen nicht viel hielt und andererseits einen gewissen Bürokratismus sowie materielle Anreize in Kauf nahm. Die Revolution sollte — wenn dies auch unausgesprochen blieb — in Wirklichkeit von oben erfolgen, wobei die Partei trotz ib res Eigenlebens stets als Inkarnation des Pro letariates galt. Vor allem der Personenkult hatte hinter dem Prinzip der kollektiven Führung zurückzutreten.
Dieses orthodoxe Programm war nie nach Maos Geschmack gewesen, obwohl er ihm bisweilen Lippendienste erwiesen hatte. In seinen Augen war die Partei nicht eine geheiligte Institution, die ihre Legitimation in sich selbst trug, sondern lediglich eines von vielen nützlichen Werkzeugen, die in den Dienst der gesellschaftlichen Sozialisierung gestellt werden konnten. Perfektion der Parteimaschinerie war Nebensache. Spontane Massenaktionen gingen ihm über Organisation und Fungibilität, schöpferische Selbstentfaltung der Massen über elitäre Disziplin, moralische und „politische" Faktoren über technokratische Fähigkeiten, innere Proletarisierung über Parteizugehörigkeit, Klassenbekenntnis und Klassenkampf über technische Präzision, beharrliche Willensanspannung über nüchterne Analysen und objektive Möglichkeiten sowie schließlich „Revolution von unten" über „Revolution von oben". Nicht das Vertrauen auf eine Elite kennzeichnet also Maos Denken, sondern das Vertrauen auf die Massen. Voluntarismus opponiert hier gegen Intellektualismus und revolutionäre Romantik letzten Endes gegen nüchternen Realismus.
Mao Tse-tung schwächt die alten Parteiinstitutionen und läßt z. B. Petitionen nicht mehr auf dem Dienstweg laufen, sondern gestattet den Beschwerdeführern, sich direkt „an den Vorsitzenden des ZK" zu wenden, so daß man vermuten kann, er habe verhüten wollen, daß sich zwischen ihn und die Massen ein organisatorisches Gebilde schiebe. Am souveränsten aber tritt seine Geringschätzung gegenüber der Partei und ihrem kollektiven Anspruch auf Suprematie in der seit Anbeginn des Kommunismus wohl einzigartigen Apotheose hervor, die er in Kapitel I des neuen Parteistatuts seinem Denken und seiner Linie zollen läßt. Hat sich nicht die Partei schließlich vollends ihrer Rechte begeben, wenn sie es hinnahm, daß auch noch ein persönlicher Nachfolger des Vorsitzenden testamentarisch eingesetzt wurde? d) Die dialektische Spannung zwischen Revolutionskomitees und Parteiausschüssen Betrachtet man die neue Parteisatzung ihrer Entstehungsgeschichte, vor allem aber den hinter ihr stehenden Intentionen nach, so läßt sich wohl kaum leugnen, daß ihre Schöpfer mit äußerster Behutsamkeit ans Werk gegangen sind, um jedes neue Elitedenken und jede Rebürokratisierung von vornherein zu verhindern. Gemäß der Erkenntnis, daß der Kommunegedanke in unversönlichem Gegensatz zur Parteidiktatur steht, sollte die Partei gleichsam schwebend und für die Massenlinie offen bleiben.
Rein theoretisch ließe sich ein Gleichgewicht zwischen RK und Parteiausschuß in der Tat vorstellen: Die Partei muß nämlich nicht unbedingt autonom handeln, sondern kann sich — ganz im Sinne der Massenlinie — auch als heteronom bestimmte Organisation verstehen, die (als primus inter pares) den im RK durch die Massen bereits zur Beschlußreife gebrachten Entscheidungen lediglich ihr formelles Placet erteilt.
Die Problematik, die sich im Verhältnis zwischen Parteiausschüssen und RKs anbahnt, läßt sich wohl am besten in den folgenden Dichotomien verdeutlichen:
Elite Massen Befehl — Überredung und Überzeugung Stabilität — Fluktuation (Systemstabilität) (Wandel in Permanenz) strukturorientiert — aktionsorientiert Primus — primus inter pares Bürokratie — Massenlinie Diktatur der Partei— Diktatur der Massen „Zentralismus" — „Demokratie"
Vor allem das zuletzt genannte Begriffspaar bedarf einer Konkretisierung. „Zentralismus" meint die in Pyramidenform angelegte verti17 kale Organisation, in der die Befehle nach unten und die Informationen nach oben fließen, während mit „Demokratie" ein Zustand bezeichnet ist, in dem es auf die — horizontal gesehene — Zustimmung der Mehrheit des Volkes ankommt. Während der „Zentralismus" in seinen praktischen Auswirkungen den Gehorsam des Befehlsadressaten fordert, räumt ihm die „Demokratie" umgekehrt das Recht ein, seine Meinung auszudrücken, zu kritisieren, an Massenversammlungen teilzunehmen und sich an kollektiven Entscheidungen zu beteiligen. Da beide Begriffspaare sich polar ergänzen, kann es ohne Demokratie keinen richtigen Zentralismus geben (Gefahr des Bürokratismus), aber auch umgekehrt ohne Zentralismus keine Demokratie (Gefahr des Ultra-Demokratismus und der Anarchie!). Im Idealfall müssen sich also beide Zustände etwa die Waage halten. Angesichts des sich neu heraus-kristallisierenden Verhältnisses zwischen Parteiausschüssen und RKs besteht allerdings die Gefahr, daß sich die Gewichte ganz zugunsten des Zentralismus verlagern.
Eng hängt damit jener weitere Widerspruch zusammen, welcher in der Alternative Systemstabilität — Wandel in Permanenz beschlossen ist. Eine ideale Synthese ließe sich hier in der Formel „stabilisierte Fluktuation" wiedergeben. Ob aber der revolutionäre Elan nicht durch die zentralistischen Neigungen der Neo-KPCh erstickt wird? überall zeigt sich hier die Dialektik am Werk, und nirgends kann vielleicht der Widerspruch zwischen der maoistischen Version von der freien Spontaneität der Massen und dem Systemdruck einer festen Organisation deutlicher beobachtet werden als anhand des Ringens, das sich derzeit zwischen Parteiausschüssen und RKs abspielt. 2. Das Verhältnis von Parteiausschüssen und Revolutionskomitees in der Praxis Ebenso wie die „Bolschewisierung" der Sowjets erfolgt die „Parteiisierung" der RKs weniger von außen als vielmehr von innen: Wie die bisherige Entwicklung nämlich gezeigt hat, scheint weitgehende Personalunion sowie Organidentität zwischen Parteiausschüssen und RKs zum institutioneilen Normalfall zu werden. In der Hsinhua-Druckerei in Peking, deren Parteiaufbau durch höchst offizielle Publikationen zum Modellfall emporstilisiert wurde, setzt sich die Mehrheit der Mitglieder des RKs aus „Mitgliedern des Parteikomitees" zusammen. Das Parteikomitee gründet überdies keine besonderen Verwaltungsorgane, sondern bedient sich der Büroorganisation des RKs. Gewisse Reibungsverluste scheint es freilich trotz dieser weitgehenden Personalidentität bisweilen zwischen dem als dem „Kern'bezeichneten Parteiausschuß und dem Ständigen Ausschuß des RKs zu geben. Beide Gruppen halten z. B. an manchen Orten voneinander getrennte Versammlungen ab. überhaupt reicht der Spielraum im beiderseitigen Verhältnis von einfacher Kooperation bis zur Identität. In der gleichfalls zum Modell erhobenen Chemiefabrik Nr. 3 in Peking ist z. B der Mitgliederbestand des Ständigen Ausschusses des RKs identisch mit dem als „Führungsgruppe" apostrophierten Parteiausschuß.
In RKs, die noch eine gewisse personelle Selbständigkeit bewahrt haben und in denen der „taste of power" im Laufe von zwei Jahren provisorischer Machtausübung gewachsen ist taucht nach alledem die Frage auf: „Wozu eigentlich Parteiausschüsse?", „reichen RKs etwa nicht aus?" Viele RK-Mitglieder vermögen nicht einzusehen, warum die Partei-Kern-gruppe, die sich ja auch nur aus einem Teil der RK-Mitglieder zusammensetzt, den Ton angeben soll. Kritik solcher Art geht vor allem von den Mitgliedern der linksgerichteten Massenorganisationen aus, die über den Mechanismus der Dreier-Allianz in das RK gekommen sind. 3. Die gewandelte Aufgabenstellung der Revolutionskomitees Bis Ende 1968, als die RKs auf dem Zenith ih rer Macht standen, waren sie beinahe für alle zuständig. Parteiausschüsse auf unterer Ebene existierten praktisch nicht mehr, und so blieb den RKs nichts anderes mehr übrig, als — von der Provinzebene abwärts — neben den Staats-auch die Parteifunktionen zu übernehmen. In der damaligen Situation konnten die RKs mit vollem Recht als „provisorische und revolutionäre Führungsorgane" definiert werden, welche „mit proletarischer Autorität die Interessen des gesamten Proletariats in jeder Einheit vertreten und dabei im jeweiligen Bereich die einstigen Aufgaben von Partei und Staat wahrnehmen".
Mit dem 9. Parteitag jedoch, vor allem aber seit der Gründung des ersten Parteiausschusses auf Kreisebene im November 1969 hat sich die Position der RKs schlagartig geändert. Aus Führungsorganen sind sie zu Führungsinstrumenten geworden, wobei sie freilich nicht auf die bloß passive Stufe einer Massenorganisation herabgesunken sind. Vielmehr bleibt ihnen, wie die folgenden Ausführungen beweisen sollen, ein nach den konkreten Verhältnissen in den einzelnen Einheiten bestimmter, mehr oder weniger weiter Spielraum zwischen Führungsorgan und Massenorganisation. Äußerlich gesehen ist es mit den oben angegebenen Kompetenzen zwar beim alten geblieben, doch sind die RKs nicht mehr Führer, sondern bloß noch Ausführende, soweit es nicht gerade um untergeordnete laufende Angelegenheiten geht. Parteiausschüsse und RKs verhalten sich also ähnlich wie Parteiausschüsse und Administrativorgane in den anderen kommunistischen Staaten, freilich mit der alles entscheidenden Einschränkung, daß die RKs sich als revolutionierte Organe zu verstehen haben, in denen der Bürokratismus keinen Halt mehr finden kann. Gerade aus diesem Grunde wurden Personal-und Satzungsvorschriften radikal reduziert und vereinfacht.
Die RKs sind damit ein neuer Versuch, die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft abzubauen. überspitzt könnte man ihre Funktion dahin gehend definieren, daß sie im Rahmen ihrer jeweiligen Einheit für die „Ausführung“ der Revolution zuständig sind. Immer mehr kommt ihnen die Funktion zu, im Dienste der Verwirklichung von Parteidirektiven die „Massen zu mobilisieren".
Welche konkreten Aufgaben ihnen in diesem Rahmenwerk verblieben sind, geht insbesondere aus einer „jüngsten Weisung" hervor, die Mao Tse-tung zu einer Zeit erließ, als die letzten RKs auf Provinzebene gerade eingerichtet worden waren. Folgende sechs Punkte stehen danach im Vordergrund: — Massenkritik und Massenverurteilung — Säuberung der Klassenreihen — Ausrichtung der Parteiorganisationen — Vereinfachung der Verwaltungsstruktur — Abänderung „unvernünftiger" Vorschriften und Regelungen — Freisetzung von Büroangestellten für ihren Einsatz bei Produktionsarbeiten Neben diesen Standardaufgaben führen die RKs systematisch Untersuchungen durch, indem sie z. B. Propagandatrupps an die ihnen untergeordneten Abteilungen schicken und die dabei gewonnenen Ergebnisse popularisieren. Sie wählen Modelle (Einzelpersonen, Kollektive, Satzungen etc.) und empfehlen deren Nachahmung. Sie versenden im Namen ihrer Einheit Beileidsschreiben an die Opfer von Naturkatastrophen und geben den auf das Land verschickten Studenten und Kadern mit Hilfe von „Trostbriefen“ moralische Anleitungen. Weitere Aspekte der Massenmobilisierung treten hervor, wenn etwa das Provinz-RK von Chekiang eine Kundgebung zur Ankurbelung der Kohleproduktion abhält oder aber auf größeren Veranstaltungen wichtige Direktiven oder politische Fragen diskutieren läßt, überhaupt werden die RKs immer mehr zu einer Art Informationszentrum für aktuelle Tages-fragen und zu einer permanenten Institution für politische Nachhilfestunden. Kein Wunder, daß die RKs unter diesen Umständen nach und nach zu Kristallisationspunkten für Konferenzen und Kongresse aller Art geworden sind. RKs aller Ebenen veranstalten z. B. Finanz-und Handelskonferenzen, Baumwoll-Konferenzen, Konferenzen zu Fragen der Maschinenbauindustrie, landwirtschaftliche Konferenzen, Konferenzen über journalistische Arbeit, über Erziehungsfragen und über Fragen der „Revolution und Produktion", ferner Konferenzen über Zuckerproduktion, über Gesundheitsfragen, über „einen landwirtschaftlichen und industriellen Großen Sprung nach vorn", über „Aufgaben für das Jahr 1970", über landwirtschaftliche Mechanisierung und über Schweinezucht.
All diese Veranstaltungen finden meist in Form von Seminaren statt, die in der Regel ein bis zwei Wochen dauern. Manchmal kommt es auch zu „Radio-und Telefonkonferenzen", bei denen die Teilnehmer über das jeweilige Medium instruiert und zur Stellungnahme aufgerufen werden. Konferenzen dieser Art sind freilich nicht nur Fachtagungen — obwohl auch Fachthemen zur Sprache kommen —, sondern dienen noch mehr der ideologischen Schulung des Führungspersonals.
IV. Lösungsversuche der Widersprüche zwischen Parteiausschüssen und Revolutionskomitees
Die Lösung der Widersprüche zwischen Parteiausschüssen und RKs hängt letztlich von der Egalisierung zwischen Funktionären und Massen ab. Da die Gefahr einer neuen Bürokratisierung gerade von den Funktionären her droht, kommt es für Maos Programm einer permanenten Revolution darauf an, wie das „Kader-Problem" gelöst wird. Immerhin stellen Funktionäre in den Direktorien und Ständigen Ausschüssen der RKs rund ein Drittel der Repräsentanten und in den Parteiausschüssen sogar manchmal bis zu 90 v. H.des Personals. Periodisch in der Presse wiederkehrende Klagen zeigen, daß die Verwaltungsorganisation trotz der Kulturrevolution vom Übel des Bürokratismus noch lange nicht kuriert ist. Drei spezifische „Arbeitsstile" sollen vor allem dieses Problem lösen, nämlich — Vereinigung von Theorie und Praxis, — Vereinigung von Funktionären und Volk, — Kritik und Selbstkritik.
Bei genauerem Hinsehen lassen sich alle Maximen auf den einzigen gemeinsamen Nenner der aktiven körperlichen Mitarbeit bringen, einer Mitarbeit also, die dem einzelnen Funktionär dazu verhilft, sich nach und nach mit den Wünschen und Interessen der Massen zu identifizieren.
Im Laufe der Kulturrevolution haben sich einige Methoden herausgebildet bzw. erneuert, die mit diesem Gebot Ernst machen sollen. Nach ihrem Wirkungszeitraum lassen sich zwei Modelle unterscheiden, die der Begegnung mit der Praxis, mit den Massen und mit der erzieherischen Kritik besonders förderlich sind. a) Mehr kurzfristig wirkt das Rotationssystem, vor allem in Form des sogenannten Drei-Drittel-Systems. Danach arbeitet ein Drittel der Funktionäre in der „Produktion", ein Drittel leistet unmittelbar an Ort und Stelle (nicht etwa vom Schreibtisch aus) Untersuchungs und Kontrollarbeit und das restliche Drittel geht der Routinearbeit im Büro nach. Manche Betriebe neigen dazu, den Rotationsmechanismus durch „vier Fixierungen" zu institutionalisieren. Hierbei solle die Art, die Zeit die Menge und die Qualität der Kader-Arbeit genau festgelegt werden. Die Ergebnisse fallen hierbei recht verschieden aus: Die Zeiträume der Kader-Mitarbeit reichen von einem halben Tag pro Woche über die Hälfte der täglichen Arbeitszeit bis zu einem Drei-Schichten-Rhythmus, der die Funktionäre alle drei Monate wieder an die Produktion heranführt.
Der „Versendung nach unten" (hsia-fang) entspricht übrigens eine Gegenbewegung, die sich als „Hinaufschicken" (shang-fang) definieren ließe und die ganz im Sinne der maoistischen Egalisierungsbestrebungen für eine weitere Einebnung der Widersprüche zwischen oben und unten dienen soll. Technisch vollzieht sich dieses „Hinaufschicken" zum Teil über die Revolutionskomitees, in die Vertreter von Massenorganisationen nach dem Schema der Drittelparität Eingang finden. b) Zu einer weiteren und nachhaltigeren Methode, um das „fundamentale Prinzip der Verwaltungsreformen“ mit Hilfe der „Massenlinie“ zu lösen, sind die sogenannten „Funktionärsschulen des 7. Mai“ geworden, die 1968 ins Leben gerufen wurden. Die Ausbildung der Funktionäre in diesen häufig an Arbeitslager gemahnenden Schulen trägt, wie immer wieder versichert wird, nicht Sühne-, sondern Präventivcharakter. Sie soll den betreffenden Funktionär davor bewahren, dem „Revisionismus“ zu verfallen. Bisher haben die meisten von ihnen angeblich nur „drei Tore“ durchschritten (Elternhaus, Schule, Büro). Nun sollen sie auch das „vierte Tor“, nämlich das der Revolution, passieren. Ebenso wie ein Messer rostig wird, wenn man es nicht wetzt, und Wasser fault, wenn es stillsteht, wird ein Kader revisionistisch, wenn er nicht an körperlicher Arbeit teilnimmt.
Eigens für diesen „Versendungs" -Zweck errichtete Büros sorgen für eine „planmäßige" Verwirklichung der hsia-fang-Pläne. Ganze Ministerien, Schulen und Revolutionskomitees werden auf diese Weise ausquartiert und in landwirtschaftliche Produktionsbrigaden, Werkstätten und Arbeitslager eingeschleust. Sie machen Land urbar, bauen Straßen und helfen den Bauern bei der Ernte.
Die Mitarbeit führt zu zwei hervorstechenden Auswirkungen, nämlich der Militarisierung sowie der Kollektivierung des Alltagslebens. Die „hinabgeschickten" Kader haben sich an den Organisationsprinzipien der Armee zu orientieren. Bei Produktionsmannschaften arbeiten sie in Schwadronstärke, bei Produktionsbrigaden in Zugstärke mit. Nicht zufällig auch wird die ganze Entsendungsaktion eng mit der Bewegung zur „Kriegsvorbereitung" gekoppelt. Die Funktionäre haben außerdem mit den Bauern „fünf Dinge zu teilen", nämlich mit ihnen zusammen zu arbeiten, zu wohnen, zu studieren, zu essen und auch an der Freizeit teilzunehmen. Sie haben sich dabei als „Diener und Schüler der Massen" zu verstehen: „Arbeite ich als Funktionär in einem Schweinestall oder in der Schafhürde, so mache ich Revolution ...“. Eine etwa halbjährige Mitarbeit in der Produktion ist zur Regel geworden. Letztlich kommt es weitgehend darauf an, ob sich der Kandidat . weltanschaulich'geändert hat.
Die Pekinger Führung hat es aber nicht bei der Politik des hsia-fang bewenden lassen, sondern sorgte schon bald nach Beginn des Aufbaus von Revolutionskomitees für ein umfangreiches Arsenal von Regeln, unter anderem für die berühmten „ 12 Punkte“, die den Kadern bei ihrer neuartigen Tätigkeit als Leitfaden dienen sollen. Ermahnungen, sich mit den Massen zu vereinigen, ein bescheidenes Leben zu führen, periodisch an produktiver Arbeit teilzunehmen und sich ständig mit den Mao Tsetung-Ideen zu beschäftigen, stehen dabei im Vordergrund.
Theoretisch gesehen scheinen die von den Maoisten gewählten Methoden der Kaderversendung und des neuen „Arbeitsstils“ ein geeignetes Instrumentarium zu sein, um die Revolution vor der Gefahr des Parteibürokratismus und dadurch auch die in den RKs verkörperte „Massenlinie" zu retten. Sollte den Chinesen gelingen, was den Sowjets versagt blieb? Die Zukunft wird erweisen müssen, ob der maoistischen Revolutionsstrategie ein Dauererfolg beschieden ist.
V. Zusammenfassung
Revolutionskomitees sind revolutionäre Organisationen, die nach dem „Dreier-Allianz-Prinzip" (Vertreter von Kadern, Massenorganisationen und Streitkräften) aufgebaut und auf denselben „Ebenen" sowie innerhalb derselben „Einheiten" angesiedelt sind wie die Parteiausschüsse. Da sie ferner nach dem gleichen Pyramidenmodell konzipiert sind, demselben „demokratischen Zentralismus" unterliegen, von derselben Kongreß-und Ausschußstruktur geprägt und schließlich sogar personell zum Teil identisch sind, entsteht eine dialektische Spannung zwischen beiden Organisationsformen, die sich nur auf Kosten des einen oder des anderen Gremiums lösen läßt.
Nach der weitgehenden Zerstörung des alten Parteiapparates während der Kulturrevolution übernahmen die Anfang 1967 angeblich spontan (in Wirklichkeit aber unter bemerkenswerter Mithilfe der Volksbefreiungsarmee [VBA]) entstandenen RKs neben den administrativen Funktionen der alten Verwaltungsmaschinerie auch die Aufgaben der Parteiausschüsse. Seit jedoch im Gefolge des 9. Parteitags (April 1969) die neue Partei aufgebaut wird, verlieren die RKs, deren weitere Existenz übrigens nicht in Frage gestellt ist, nach und nach ihre bisherigen Führungsbefugnisse. Dieser Verlust ist eine Folge der neuen Parteisatzung von 1969, die der Partei sämtliche Führungsrechte zuspricht.
Entsteht damit aber nicht die Gefahr, daß die RKs genau so gründlich „parteiisiert" — und bürokratisiert — werden wie die ihnen dem Geist und der Struktur nach ähnlichen Sowjets vor 50 Jahren? Eine solche Entwicklung liefe den organisatorischen Vorstellungen des Maoismus zuwider, dem — wie ein Vergleich zwischen alter und neuer Parteisatzung beweist — die Partei nicht geheiligter Selbstzweck, sondern nur eines von vielen nützlichen Werkzeugen ist und dem es mehr um die „demokratische" und schöpferische Selbstentfaltung der Massen als um einen elitär gepflegten „Zentralismus" geht. Ginge die Rechnung Mao Tse-tungs auf, so würden sich das der Parte immanente Eliteprinzip und die den RKs (trotz starker Beteiligung der Volksbefreiungsarmee innewohnende „Massenlinie" etwa die Waag halten.
Bei einer solchen Konstellation würde die Par tei überwiegend als praeceptor und Träge von auctoritas auftreten, hätte also hauptsäd lieh mit „Modell-" und Regenerationsfunktio nen zu tun und müßte weitgehend auf ein Rolle als „Regens" und Träger von potesta verzichten. Sie wäre damit, um bei der präg nanteren lateinischen Terminologie zu blei ben, nicht primus, sondern nur primus inte pares. Könnten sich Parteiausschüsse und Re volutionskomitees in dieser Weise aufeinan der einpendeln, so kämen auch die jeweils m ihnen eng verbundenen organisatorische Konsequenzen wie Systemstabilität bzw. Flui tuation und Struktur-bzw. aktionsorientier Haltung zu einer fruchtbaren Synthese, di sich etwa mit der Formel „institutionalisiert Revolution" wiedergeben ließe.
Dies sind theoretische Betrachtungen. In de Praxis hat sich das Spannungsverhältnis zw sehen Revolutionskomitees und Parteiau Schüssen einstweilen dahin ausgewirkt, da die Führungsmitglieder der beiderseitige Ausschüsse ganz oder teilweise identisch sir und daß sich die Partei überdies der Bürod ganisation der RKs bedient. Gleichzeitig ziel sich das Militär schrittweise aus den RKs t rück, nicht ohne vorher freilich tatkräftig a dem Aufbau sowohl der RKs als auch der na en Parteiausschüsse mitgewirkt zu haben.
Was die neue Aufgabenstellung der RKs anb langt, so kommt ihnen eine ähnliche Unive salkompetenz zu wie bereits vor dem Aufb der Neo-KPCh. Allerdings sind sie — ihrenB fugnissen nach — nicht mehr Gehirn, sonder weitgehend nur noch Nervensystem. Sie b ben eine ähnliche Position wie die Parteiau schüsse gegenüber den Administrativorgan’ in anderen kommunistischen Staaten, freilich mit der alles entscheidenden Einschränkung, daß sie sich als „revolutionierte" Organe zu verstehen haben, in denen der Bürokratismus keinen Halt mehr finden kann. Insofern vermögen sie auf die Parteiausschüsse ungleich stärker zurückzuwirken, als dies in anderen Ländern der Fall ist. Generell kommt ihnen die Funktion zu, in enger Zusammenarbeit mit der Partei die „Massen" zu mobilisieren — eine Aufgabe, der sie hauptsächlich dadurch nachkommen, daß sie immer mehr zum Initiator von Konferenzen auf allen nur denkbaren Sachgebieten werden, wobei ideologische Schulung weit Rolle spielt eine größere als sachlicher „Erfahrungsaustausch".
Trotz dieser gewiß nicht unbedeutenden Befugnisse scheint es im Augenblick, als hätten die RKs dem institutioneilen Druck der Partei noch weiter nachzugeben. Wird damit die maoistische Vision einer direkten Massendemokratie gefährdet?
Die Antwort — und damit auch das Verhältnis zwischen Parteiausschüssen und RKs — hängt letztlich vom weiteren Schicksal der Revolution ab. Gelingt es, sie über die „Massenlinie" am Leben zu halten, so wird den RKs als den eigentlichen Trägern des Kommune-Gedankens ein breites Wirkungsfeld verbleiben. Sollten jedoch Parteibürokratismus und Elite-denken um sich greifen, so wären die RKs — ähnlich wie zu Stalins Zeiten die Sowjets — dazu verurteilt, als bloße „Hebel" und Transmissionsriemen der allumfassenden Parteimaschinerie zu fungieren.
Zu einem nicht geringen Teil werden die künftigen gegenseitigen Beziehungen also von der Erziehung der Funktionäre abhängen. Um die „Massenlinie" vor allem auch in den Parteiausschüssen Wirklichkeit werden zu lassen, ist es seit der Kulturrevolution wieder verstärkt üblich geworden, Kader „nach unten“ zur Produktionsarbeit zu schicken, um sie so — wie es heißt — vor dem „Revisionismus" zu bewahren. Neben verschiedenen Formen des Rotationssystems ist es vor allem das Rahmen -werk der „Kaderschulen des 7. Mai", innerhalb dessen die Politik des „hsia-fang" in großem Stil ihre Verwirklichung findet. Begleitet sind diese Maßnahmen von immer neuen Kampagnen für einen neuen „Arbeitsstil", der seine Ausprägung vor allem in den „ 12 Punkten" vom 5. November 1969 gefunden hat.
Die Zukunft? Revolutions-und Parteiausschüsse stehen zueinander in einem so strikt -rezi proken Verhältnis, daß sich der eine nicht ausdehnen kann, ohne den anderen einzuengen. Falls daher nicht eine von beiden Optionen den Vorzug erhalten soll, muß alles unentschieden und in der Schwebe bleiben. Den dialektisch denkenden Chinesen dürfte diese schicksalhafte Verklammerung nicht etwa als Nachteil erscheinen, sondern als einer jener fruchtbaren Widersprüche, die den revolutionären Prozeß am Leben erhalten.