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Kriegsfolgen und Kriegsverhütung | APuZ 1/1971 | bpb.de

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APuZ 1/1971 Artikel 1 Kriegsfolgen und Kriegsverhütung Internationale Organisationen

Kriegsfolgen und Kriegsverhütung

Carl Friedrich von Weizsäcker

/ 38 Minuten zu lesen

I. Ziel und Methode der Untersuchung

Eva Senghaas-Knobloch: Internationale Organisationen........... S. 17

Wer eine wissenschaftliche Untersuchung über Folgen eines möglichen zukünftigen, atomar geführten Krieges in unserem Lande vorlegt, der muß zunächst davon Rechenschaft geben, was ihn zur Wahl eines so grauenhaften Themas veranlaßt hat. Er kann dafür nur eine Rechtfertigung finden: die Hoffnung, durch seine Arbeit dazu beizutragen, daß das Unglück, das er beschreibt, verhindert werde. Wir schildern zunächst, wie wir dazu gekommen sind, diese Studie zu beginnen.

1961 schlug das Bundesinnenministerium eine Reihe von Gesetzen für den Schutz der Bevölkerung im Kriegsfall vor, darunter ein Gesetz über den Bau von Schutzräumen, über den Wert der vorgeschlagenen Maßnahmen entstand ebenso wie im breiten Publikum auch in wissenschaftlichen Kreisen eine Kontroverse. Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) setzte daraufhin eine Kommission ein, die nach einjähriger Arbeit ein Gutachten unter dem Titel „Ziviler Bevölkerungsschutz heute" veröffentlichte. Dieses Gutachten gab Anlaß zu einem Hearing im Bundestag, auf Grund dessen der Gesetzentwurf der Regierung in dem im Gutachten vorgeschlagenen Sinne modifiziert wurde.

Eine Kritik, die im Hearing an dem älteren Regierungsentwurf geübt wurde, war, daß er nur ein festes Kriegsbild zugrunde lege und der Vielzahl möglicher Kriegsbilder und der ihnen entsprechenden Waffeneinsätze nicht gerecht werde. Die VDW schlug daher der Stiftung Volkswagenwerk eine Studie vor, welche die Auswirkungen eines im Territorium der Bundesrepublik geführten Krieges unter verschiedenen Kriegsbildern — also in Abhängigkeit von den eingesetzten Arten und Mengen von Waffen, von den angegriffenen Zielen und von den Schutzmaßnahmen — ermitteln sollte. Das Ergebnis dieser Arbeit, die in der Zeit von 1964 bis 1969 ausgeführt wurde, ist in der unten genannten Publikation niedergelegt.

Wir hätten diese Arbeit nicht begonnen, wenn wir lediglich am Problem des Zivilschutzes interessiert gewesen wären. Das zwingendste Argument gegen ein sehr umfassendes Schutzraum-Bauprogramm waren schon 1964 seine hohen Kosten, und die bald nachher eintretende Knappheit im Bundeshaushalt machte es seit Anfang 1966 klar, daß ein solches Programm — wie immer die militärischen Argumente ausfallen würden — auf lange Zeit hinaus keine Aussicht auf Verwirklichung hatte. Wir hätten unsere Arbeitskraft nicht jahrelang der Erörterung des Nutzens eines fiktiven Programms gewidmet. Jede sicherheitspolitische Diskussion im Bundestag und in der breiteren Öffentlichkeit macht aber deutlich, wie schwer es ist, den Zweck unserer gegenwärtigen und der für die Zukunft geplanten Rüstung zu beurteilen, wenn kein hinreichendes öffentliches Bewußtsein von den möglichen Folgen eines wirklich äusgefochtenen Krieges vorhanden ist. Es ist ebenso gefährlich, die heutigen Waffenwirkungen nach unseren Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg beurteilen zu wollen, wie, im entgegengesetzten Extrem, die Zerstörungen als unkalkulierbar groß jedem vernünftigen, quantitativen Denken zu entziehen. Informierte militärische Fachleute vermeiden gewiß beide Extreme; um aber die Öffentlichkeit von dem Gewicht ihrer Argumente zu überzeugen, müssen sie bei dieser Öffentlichkeit ein Verständnis für das genaue Maß der Wirkungen voraussetzen, das dort in Wahrheit nicht besteht.

Es schien uns daher wichtig, eine Studie vorzulegen, die gerade auch dem Nichtmilitär Methoden und Ergebnisse solcher Kriegsschäden-Abschätzungen („damage assessment" in englischer Militärterminologie) bekanntmachen würde. Zu diesem Zweck wurde die Studie so angelegt, daß der nichtfachmännische Leser selber wählen kann, wie tief er ins Detail vordringen will. Unsere Aufgabe, die zivilen Kriegsschäden zu analysieren, ist deutlich abgegrenzt gegen die speziellere und in ihrer Besonderheit schwierigere Aufgabe einer militärisch-strategischen Analyse; letztere hätten wir, da wir bewußt auf die Kenntnis geheimer Informationen verzichtet haben, nicht übernommen. Wer eine militärische Strategie oder Taktik entwirft, der muß die Wirkungen von Waffen auf Truppen und auf Waffen im einzelnen beurteilen können; er muß dazu aktuelle Detailinformationen über die jeweils verfügbaren Waffensysteme besitzen. Uns kam es hingegen nur darauf an, abzuschätzen, in welchem Zustand Bevölkerung, Gebäude und Wirtschaft in unserem Lande nach einem Einsatz von Waffen einer bekannten durchschnittlichen Gesamtwirkung Zurückbleiben würden. Die Grundlagen für solche Rechnungen sind öffentlich zugänglich und bekannt.

Unsere Arbeit ist jedoch über eine bloße Schadensschätzung sehr weit hinausgewachsen. Dafür waren zwei Gründe maßgebend:

Erstens erwies sich rasch, daß eine Schadens-abschätzung überhaupt unmöglich ist ohne gewisse Annahmen über die politischen Ziele, die die kriegführenden Parteien verfolgen. Der Schaden hängt ab von Art, Menge und Ort der eingesetzten Waffen. Dieser Einsatz ist bestimmt durch die Strategie, die die Kriegführenden wählen. Welche Strategie sie wählen, wird aber auch von ihren politischen Zielen abhängen. Zwar haben wir versucht, von bloßen Ausnahmen über diese Ziele dadurch so unabhängig wie möglich zu werden, daß wir das ganze Feld des militärisch-technisch möglichen Waffeneinsatzes durch formale Variation gewisser Parameter überdecken. Es zeigt sich aber, daß der Spielraum der möglichen Kriegsfolgen, die wir dann zu erwägen haben, von verhältnismäßig unbedeutenden Schäden bis an die Auslöschung alles Lebens in unserem Lande reicht; damit bleibt für eine realistische Überlegung die Frage, welche Art des Waffeneinsatzes in einem Krieg wirklich gewählt würde, doch unerläßlich.

Zu dieser politischen Erwägung muß eine wirtschaftliche und medizinische treten. Es kommt nicht darauf an, welches Maß an Schäden am Ende bestimmter Kriegshandlungen eingetreten ist, sondern, vor allem auch darauf, ob unser Land sich aus einem derartigen Zustand wirtschaftlich wieder würde erholen können oder ob es an den Nachwirkungen der Schäden — Hunger, Krankheiten, Zerstörung der Produktionsmittel, Desorganisation — nachträglich noch zugrunde gehen würde. All diesen Fragen haben wir uns in sehr ausführlichen Untersuchungen gewidmet, die zum Teil nur in knappen Ergebnisberichten in die erwähnte Studie aufgenommen worden sind. Hier mag die methodische Bemerkung erlaubt sein, daß in einer wissenschaftlichen Untersuchung die Irrwege, die die Verfasser zunächst gegangen sind, zu den wichtigen Erfahrungen bei der Wahrheitsfindung gehören, auch wenn man sich entschlossen hat, sie — nachdem sie als Irrwege erkannt sind — nicht oder nur in knappen Andeutungen darzustellen.

Ein zweiter Grund für die Ausweitung der Untersuchung über eine bloße Schadensanalyse hinaus erwies sich für uns im Fortschritt der Arbeit als ebenso zwingend und noch bedeutsamer als der erste. Man bringt es, wenn man sich als Staatsbürger für das Wohl des Ganzen mitverantwortlich fühlt, nicht über sich, bloß mögliche Schäden auszurechnen und als Material für sicherheitspolitische Diskussionen anzubieten. Man kann nicht umhin, sich selbst die Frage zu stellen, was getan werden kann, um ein so großes Unglück zu verhindern oder doch weniger wahrscheinlich zu machen. Eine Studie über Kriegsfolgen sollte mit Zwangsläufigkeit weiter zu einer Studie über Kriegsverhütung führen.

Hiermit aber weitet sich notwendigerweise der politische Horizont. Ob ein Krieg in unserem Land verhütet werden kann, hängt heutzutage nur in begrenztem Maße von den Verhältnissen in eben diesem, unserem Lande ab. Wir haben jedenfalls verhältnismäßig leicht der Versuchung widerstanden, Mutmaßungen und Vorschläge zum deutschen Problem in unsere Studie einzuflechten. Einerseits ist das deutsche Problem überhaupt nur im Rahmen einer größeren europäischen Ordnung lösbar. Auf die politischen Fragen einer solchen Ordnung können wir in der gegenwärtigen Studie ebenfalls nur andeutend hinweisen. Andererseits aber hängen auch die Möglichkeiten einer europäischen Ordnung sicherheitspolitisch wesentlich vom Kräfteverhältnis und den strategischen und rüstungspolitischen Konzeptionen der beiden Weltmächte ab. Die Frage der Verhinderung eines Atomkriegs in Deutschland ist aufs engste an die Frage der Verhinderung eines Atomkriegs zwischen den USA und der UdSSR geknüpft. Wenn wir überhaupt von Kriegsverhinderung sprechen, so müssen wir auch, und methodisch sogar zuerst, von der Verhinderung eines atomaren Weltkrieges sprechen.

Im öffentlichen Bewußtsein wird dieses Problem der Verhütung eines atomaren Weltkrieges heute weitgehend psychologisch verdrängt, obwohl es eine ständige intensive Dis-kussion der Experten über diese Fragen gibt. Man begnügt sich, wenn die Frage auftaucht, mit einer eigentümlichen Mischung von Sicherheit und Fatalismus, etwa ausgedrückt in den Sätzen: „Die großen Waffen sichern den Frieden" und „Wenn der große Krieg kommt, ist sowieso alles aus". Man schiebt das Problem gerade wegen seiner Übergröße ab und wendet sich dann wieder den Sorgen und Interessen des Tages zu. Wenn aber eine politische Haltung die Gefahr eines großen Krieges herausfordert, so ist es diese. Denn die Entscheidungen des Tages wirken auch auf den Faden zurück, an dem das Damoklesschwert des großen Krieges über uns hängt. Darauf, ob dieser Faden zu einem Strick verstärkt oder hauchdünn gescheuert wird, wirken auch das politische Bewußtsein und die aus ihm folgenden politischen Entscheidungen in einem zwar kleinen und nicht sehr mächtigen, aber geographisch, historisch und wirtschaftlich wichtigen Lande wie dem unseren ein.

Wir haben es daher für eine unserer wichtigsten Aufgaben gehalten, die Stabilität des Rüstungssystems der Weltmächte zu überprüfen, und haben versucht, die sehr schwierigen prognostischen Fragen, die sich hier stellen, durch ein mathematisches Modell zu klären. Damit mischen wir uns in die internationale sicherheitspolitische Debatte ein, die vor allem in den Vereinigten Staaten, aber auch in England, Frankreich und der Sowjetunion heute mit Nachdruck geführt wird, während die Bundesrepublik in der Kenntnisnahme dieser Probleme noch immer hinterherhinkt.

II. Kriegsfolgen

Unsere erste Aufgabe war, die entstehenden Verluste an Menschenleben, Gesundheit, Wohnungen und Industrieanlagen bei verschiedenen Formen des Waffeneinsatzes abzuschät-zen. Das dafür benutzte Computerprogramm ist spezialisiert auf den Einsatz atomarer Waffen; zur Berechnung konventioneller Waffen-wirkungen reicht die Feinheit unserer Rechnung nicht aus. In dem einleitenden Überblick, der hier gegeben wird, werden aber auch Wirkungen konventioneller Waffen einbezogen und die Waffenwirkungen von vornherein im Zusammenhang mit den möglichen Zielen der Kampfhandlungen diskutiert. Sehr vereinfachend kann man diese Ziele wie folgt klassifizieren. Möglich wäre:

a) ein Kampf um lokal begrenzte Ziele in unserem Land;

b) der Versuch eines Gegners, unser Land zu erobern;

c) ein Versuch eines Gegners, unser Land physisch zu zerstören;

d) ein Krieg in unserem Land, der nur ein Teil eines größeren Krieges zwischen den Weltmächten wäre.

a), b) und c) könnten auch in zeitlicher Folge, als Glieder einer Eskalationskette ablaufen; auch d) könnte das Ergebnis einer Eskalation eines in unserem Land auf einer der vorigen Stufen beginnenden lokalen Krieges sein. Bei a) könnte es sich etwa um einen zufälligen oder provozierten Grenzzwischenfall, einen hochgetriebenen Konflikt um die Zufahrtswege nach Berlin oder den Versuch der Wegnahme eines Faustpfandes handeln. Bei b) könnte es das Interesse des Gegners sein, die Wirtschaftskapazität unseres Landes möglichst unbeschädigt in seine Hand zu bekommen; deshalb haben wir u. a. Waffeneinsätze diskutiert, welche die Schädigungen der Bevölkerung und Industrie zu vermeiden suchen. Es ist auch eine politische Spannungssituation denkbar, in der dem Gegner gerade an unserer Ausrottung liegt (c). Wir müssen also fragen, ob diese physisch möglich ist.

Hierbei ist auch der Begriff der Zerstörung oder Auslöschung noch aufzugliedern. In der amerikanischen Abschreckungsstrategie spielt der Begriff des überlebens als lebensfähige Industriegesellschaft (viable 20th Century socie-ty) eine wichtige Rolle. Man geht davon aus, daß ein moderner Industriestaat schon dann von einer bestimmten Handlung abgeschreckt werden kann, wenn ihm als „Strafe" für diese Handlung die Zerstörung als lebensfähige Industriegesellschaft droht, selbst wenn keineswegs alle Menschen getötet würden oder die Bestellbarkeit der Äcker vernichtet wäre. Man schätzt, daß die amerikanische wie die sowjetische Industrienation nicht als solche überleben kann, wenn sie mehr als 20 bis 25 0/0 ihrer Bevölkerung und 50 0/0 der Industrie-kapazität verliert. Unsere Studie über den wirtschaftlichen Wiederaufbau hat uns zu der Auffassung geführt, daß dies nicht so sehr an den quantitativen Verlusten liegt, außer in gewissen Schlüsselindustrien, sondern primär an einem Zusammenbruch des Organisationsnetzes.

Eine sehr schwer getroffene Gesellschaft wird nicht mehr mit unverletzten Gesellschaften konkurrieren und sich ohne deren aktive Hilfe auch nicht selbst wieder herstellen können. Sie wird ebensowenig in eine moderne konkurrenzfähige Agrargesellschaft überführt werden können. Wenn sie in einen Zustand bloßer Subsistenzwirtschaft zurücksinkt, so wird sie vermutlich nicht einmal alle überlebenden ernähren können. Selbstverständlich ist all dies in hohem Grad hypothetisch. Doch darf man annehmen, daß die genannten Verlust-Prozent-zahlen etwa dasjenige Risiko bezeichnen, das keine der beiden Weltmächte heute einzugehen bereit ist.

Die Übertragung dieser Vorstellungen auf ein kleines Land wie die Bundesrepublik ist wiederum problematisch. Die Frage unserer wirtschaftlichen Erholungsfähigkeit hängt in ganz anderem Maß als in den einer Autarkie nahen Wirtschaftssystemen der Weltmächte davon ab, was unserer Umwelt zustößt und ob sie uns nachher Hilfe gewähren kann und will. Immerhin wird man sagen können, daß der Verlust unserer industriellen Wettbewerbsfähigkeit für uns schon ein kaum erträglicher Schlag wäre. Wir haben in unserer Studie in Ermangelung eines besseren Kriteriums die amerikanischen Prozentzahlen als Meßzahlen für wirtschaftliche Überlebensfähigkeit auch für die Bundesrepublik übernommen.

Summarisch läßt sich unser Ergebnis so aussprechen: Gegen keine der oben aufgezählten Bedrohungen besitzt die Bundesrepublik eine Verteidigung, und sie hat auch keine Aussicht, eine solche Verteidigung im kommenden Jahrzehnt aufzubauen. Unter dem Besitz einer Verteidigung wird dabei die Fähigkeit verstanden, einen Gegner, der entschlossen ist, die betreffende Drohung auszuführen, und der dafür auch großen Schaden in Kauf nimmt, durch Einsatz militärischer Mittel an der Verwirklichung der Drohung zu hindern. Es scheint uns für alle sicherheitspolitischen Überlegungen der Gegenwart und Zukunft notwendig, diesem, den Fachleuten wohlbekannten Sachverhalt nüchtern und ohne Schreck ins Auge zu sehen. Wir erläutern ihn nun zuerst allgemein und dann im besonderen.

Allgemein gesehen teilt unser Land hierin das Schicksal aller Länder der Welt. Keine Nation kann sich heute effektiv gegen einen atomar gerüsteten Gegner schützen, sofern dieser Gegner beschlösse, ohne Rücksicht auf eigene Verluste die betreffende Nation physisch oder doch als funktionsfähige moderne Gesellschaft auszulöschen. Eben dies liegt für die beiden Weltmächte im Begriff der „second strike capability": jede der beiden kann heute die andere auch in einem zweiten Schlag, das heißt in Erwiderung eines schon vom Gegner geführten erfolgreichen ersten Schlages, mit den dann noch unzerstörten eigenen Raketenwaffen im eben erläuterten Sinne auslöschen. Wie wir noch eingehender zeigen werden, gilt gerade diese Situation gegenseitiger Abschrekkung heute als das wichtigste Mittel zur Verhinderung eines atomaren Krieges zwischen den Weltmächten. Im obersten Niveau der vorhandenen Waffen ist also der Begriff der Verteidigung gegenwärtig völlig außer Kraft gesetzt und durch den grundsätzlich andersartigen Begriff der Abschreckung ersetzt. Gegen kleinere Waffen hingegen gibt es in vielen Fällen allerdings Verteidigung mit gleichartigen Waffen und natürlich erst recht mit größeren Waffen. Aber eben die Möglichkeit, auf einen Angriff kleinerer (z. B. konventioneller) Waffen mit größeren (z. B. taktischen Atomwaffen) zu antworten, zeigt die Labilität dieser Art der Verteidigung, Der Angreifer könnte auch zu größeren Waffen übergehen, und so könnte der Kampf bis ins höchste Niveau eskalieren. Die Glaubwürdigkeit klassischer Verteidigung reicht heute für Atomwaffenbesitzer und deren Verbündete höchstens so weit wie die Glaubwürdigkeit der Abschreckung gegenüber einer Eskalation zum großen Atomkrieg.

Wir wenden diese Überlegungen auf den besonderen Fall der Bundesrepublik an und prüfen dabei stets die zivilen Folgen eines in einer bestimmten Stufe des Waffeneinsatzes geführten Krieges: a) Ein Kampf um lokal begrenzte Ziele in unserem Land Ob wir einen lokalen Übergriff von Truppen des Warschauer Pakts innerhalb unserer Grenzen durch einen rein konventionellen Einsatz abwehren können, hängt angesichts der konventionellen Überlegenheit dieses Bündnisses heute davon ab, einen wie großen Einsatz ein Angreifer dafür zu leisten bereit ist. Eine militärische Schule in unserem Land (in sehr entschiedener Formulierung vertreten durch B. von Bonin) fordert eine konventionell hinreichende Rüstung, um solche Übergriffe, falls sie vom Gegner in der Stufe des begrenzten konventionellen Einsatzes belassen werden, sicher abschlagen zu können. Ob dies durchführbar ist, ist umstritten. Man wird solche Übergriffe des Gegners nicht ohne Berücksichtigung seiner möglichen politischen Zielsetzung beurteilen können. Man darf heute wohl sagen: Daß es zu lokalen Übergriffen der War-schauer-Pakt-Truppen in die Bundesrepublik bisher nicht gekommen ist, liegt nicht an der Existenz einer ausreichenden konventionellen Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr oder der NATO, sondern einmal an der Drohung einer Eskalation zu einem größeren Krieg (im Sinne eines „nichtkalkulierbaren Risikos") und andererseits daran, daß die Sowjetunion keine sinnvollen politischen Ziele gesehen hat, die sie durch einen derartigen einseitig begrenzten militärischen Akt hätte zu realisieren hoffen können.

Der Schaden eines lokal begrenzt bleibenden konventionellen Kampfes bleibt unter der Stufe, die unser Programm zu berechnen eingerichtet ist. b) Der Versuch eines Gegners, unser Land zu erobern Ein Angriff mit dem Ziel, unser Land zu erobern, kann atomar oder konventionell begonnen werden. Konventionell begonnen, kann er ebenso fortgeführt oder in die atomare Stufe eskaliert werden. Wir treffen hier auf die auch in der Öffentlichkeit viel erörterten Probleme der NATO-Strategie, die wir hier nur unter dem Gesichtspunkt der Kriegsfolgen zusammenfassen.

Nach dem sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei im August 1968 wurde in militärischen und politischen Zirkeln der Bundesrepublik viel diskutiert, wie rasch ein ähnlicher Angriff auf die Bundesrepublik nunmehr würde vorgetragen werden können und welche Abwehr dagegen möglich sei. Einem Beobachter, der sich schon vorher mit den strategischen Möglichkeiten unserer Verteidigung beschäftigt hatte, mußte diese Debatte das Bild bieten, daß eine nicht allzu weitgehende Änderung der strategischen Ausgangslage (Vorverlegung einiger Divisionen und das demonstrierte Beispiel einer sehr raschen Besetzung aus einer als Manöver dargestellten vorbereiteten Truppenkonzentration) weiten Kreisen in unserer politischen Führungsschicht mit einem Schlag die seit langem bestehende militärische Lage zum Bewußtsein gebracht hätte, nämlich eben das Fehlen einer echten Verteidigung. Ohne vorhergehende starke Truppenkonzentrationen würden die militärischen Verbände des Warschauer Paktes die Bundesrepublik schwerlich — bei beiderseits konventioneller Kriegsführung — in einem Anlauf überrennen können, wohl aber nach einer solchen Konzentration. Aus politischen Gründen bestand freilich auch damals keine Gefahr eines russischen Einmarsches in die Bundesrepublik.

Dieselbe, seit nun zweieinhalb Jahrzehnten beiderseits respektierte Einteilung Europas in Interessengebiete der beiden Weltmächte schloß einerseits einen solchen Einmarsch in die Bundesrepublik aus und machte andererseits die Tschechoslowakei gegen ihn schutzlos. Rein militärisch aber gilt, daß wir einen massierten konventionellen Angriff der War-schauer-Pakt-Staaten nicht rein konventionell erfolgreich abwehren könnten. Falls die NATO überhaupt einen konventionellen, massierten Angriff zur Eroberung unseres Landes fürchtet, muß sie ihn heute mit dem unkalkulierbaren Risiko des Einsatzes atomarer Waffen abschrecken, denn sie würde ihn rein konventionell nicht abschlagen können.

Unter dem Aspekt der Kriegsfolgen ist zu sagen, daß ein konventioneller Krieg, der unser Land (in etwa drei Tagen) schnell durchzieht, nur begrenzten Schaden bringen würde, während der vielleicht denkbare Fall eines in unserem Lande hin-und hergehenden oder festgefahrenen, lang andauernden konventionellen Krieges uns Zerstörungen bringen würde, die an den Beispielen Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, Korea und Vietnam nur unvollkommen abzulesen sind und die, sowohl wegen der größeren Ausmaße wie wegen der größeren Verletzlichkeit eines Industrielandes, für unsere wirtschaftliche Fortexistenz lebensgefährlich werden könnten.

Unsere eigenen Rechnungen setzen bei der Eskalation zu atomarem Waffengebrauch ein. Rechentechnisch haben wir das ganze Gebiet der Bundesrepublik in 2469 Quadrate von je 10 mal 10 km Größe (genannt „Karrees") eingeteilt. Zu jedem Karree haben wir Bevölkerungszahl, Bebauung und wichtige Wirtschaftsdaten festgestellt. Die verschiedenen möglichen Kriegshandlungen stellen sich dann in der Anzahl, Größe und Explosionshöhe atomarer Sprengkörper dar, die jedes Karree treffen oder von der Seite her durch Druck, Wärme-Strahlung und Fallout in Mitleidenschaft ziehen.

Es ist nun technisch zweifellos möglich, einzelne Atomwaffen so zu placieren, daß der Schaden für die Zivilbevölkerung in Grenzen bleibt. Eine Bombe von 20 kt (Größe der Hiroshima-Bombe) auf ein schwach besiedeltes Karree tötet etwa 1000 Menschen; die Zerstörungen dehnen sich über ein Karree (100 qkm) aus.

Von solchen Fällen gehen Überlegungen aus, die den Einsatz atomarer Waffen als eine mögliche Form der Verteidigung ansehen. Vor dem wirklichen Ereignis kann man nicht mit Sicherheit entscheiden, ob diese Überlegungen realistisch sind. Ihre Schwäche liegt jedenfalls in der Annahme, es werde bei diesem begrenzten Waffeneinsatz bleiben. Generell gilt jeden-falls, daß es zu jeder Stufe eigenen Waffen-einsatzes eine höhere Stufe gibt, zu der der Gegner übergehen kann, eventuell militärisch übergehen muß. Man muß sich also fragen: Würde der Gegner einen Angriff überhaupt begonnen haben, wenn er nicht schon entschlossen wäre, auf einen Einsatz einzelner Atomwaffen durch die NATO seinerseits zu einem Einsatz überzugehen, der unseren Einsatz bricht und uns vor die Alternative stellt, zu unterliegen oder selbst eine höhere Stufe des Einsatzes zu wählen? Wir haben nun versucht, für die Wirkungen einer solchen operativen Eskalation eine untere Grenze dadurch abzuschätzen, daß wir (willkürlich und zu optimistisch) angenommen haben, beide Seiten befolgten eine „Strategie“, in der sie Atomwaffen nur auf den Karres zünden, die am dünnsten besiedelt sind; die Höhe der Eskalationsstufe ist dann durch die Anzahl solcher Karrees bezeichnet, die getroffen werden. Da dieses Maß an Schonung der Zivilbevölkerung nicht zu erwarten ist, werden die wirklichen Schäden höher liegen. Da die Anzahl der heute verfügbaren (sogar der heute in der Bundesrepublik stationierten) Sprengkörper bei 5000 bis 7000 liegt, muß mit der extremen Möglichkeit einer Eskalation bis zu 1000 oder mehr getroffenen Karrees gerechnet werden. Dann aber steigt nach unseren Rechnungen die Anzahl der Toten über 10 Millionen und kann die Grenze der Auslöschung als Industriegesellschaft erreichen.

Wir behaupten natürlich nicht zu wissen, daß ein atomarer Bewegungskrieg so hoch eskalieren wird. Es liegt in der Abschreckungsstrategie des „inkalkulablen Risikos", daß man mit dieser Möglichkeit droht, ohne sich auf sie festzulegen. Jedenfalls aber bedeutet dies, daß wir eine garantierte Verteidigung in dieser Stufe des Krieges wiederum nicht besitzen, denn wenn wir so hoch eskalieren, hinterläßt der Krieg, einerlei wer ihn militärisch gewinnt, ein im definierten Sinne lebensunfähiges Volk. c) Der Versuch eines Gegners, unser Land physisch zu zerstören Bisher sind wir von der Voraussetzung ausgegangen, daß beide kriegführenden Seiten militärisch bestimmte Ziele erreichen wollen; wir haben eine rationale Annahme über ihre Absichten zu machen versucht. Man muß aber auch die Frage stellen, was bei einem blinden Einsatz der vorhandenen Waffenkapazitäten oder bei einem Einsatz mit der Absicht unserer physischen Vernichtung erreicht werden könnte. Beides haben wir durchgerechnet. Es ergibt sich, daß schon der gezielte Abwurf von nur zehn Atombomben mit einer Sprengkraft von je zwei Megatonnen TNT auf die zehn Karrees, die am dichtesten besiedelt sind, mehr als acht Millionen Tote hinterlassen würde. Die 700 Mittelstreckenraketen, über die die Sowjetunion in Europa verfügt, können im Prinzip alle mit solchen Sprengköpfen ausgerüstet werden. Sollte der Gegner die Absicht haben, seine ganze Kapazität zur Zerstörung unseres Landes einzusetzen, so wäre er in der Tat fähig, das Leben in unserem Lande auszulöschen. Soweit die materiellen Fakten. Ob eine solche Handlungsweise im Ernst für möglich gehalten werden kann, wird noch zu untersuchen sein (vgl. d).

An dieser Stelle ist die Frage aufzuwerfen, ob uns ein großes Schutzraum-Programm gegen die Vernichtung (oder auch gegen die Gefahren eines begrenzteren Krieges) schützen könnte. In den nun bald zehn Jahren zurückliegenden Diskussionen hierüber argumentieren die Verteidiger eines solchen Programms mit Modellfällen. Es wurde etwa angenommen, auf die Bonner Rheinbrücke falle eine 20 kt-Atombombe. Die Anzahl der Toten wurde berechnet, einmal ohne Schutzräume, einmal mit Schutzräumen (und der Annahme, daß die Bevölkerung Zeit gehabt hat, die Schutzräume aufzusuchen). Natürlich ergab sich eine starke Reduktion der Anzahl der Toten durch die Schutzräume (ein starker „Rettungszuwachs"). Hier sind nun offensichtlich die Absichten des Gegners entscheidend. Will er nur die Rhein-brücke zerstören, so bleibt es vielleicht bei dieser Bombe; dann ist der berechnete Rettungszuwachs reell. Ist diese Zerstörung Teil eines atomaren Bewegungskrieges, so können weitere Bomben folgen; ein gegen eine isolierte Bombe optimal geplantes Schutzraumsystem wäre in diesem Fall zu schwach. Hat der Gegner jedoch die Absicht, unsere Bevölkerung zu treffen, so ist der Schutz illusorisch.

Schon seine heutigen Waffenkapazitäten können auch ein System schwächerer Schutzräume, das wir allenfalls rasch errichten könnten, nahezu nutzlos machen. Falls wir aber in einem Jahrzehnt oder in zwei Jahrzehnten ein großes Bunkersystem errichten, gibt die notwendigerweise öffentlich bekannte Anlage dieses Systems dem Gegner die genaue Anweisung, um wieviel er seine Waffenwirkung und -menge steigern muß, um der Abwehr stets überlegen zu bleiben. Ein Bunkersystem zusammen mit Antiraketen schließlich ist heute in seiner Wirkung selbst bei den Weltmächten umstritten; wegen der sehr viel kürzeren Warnzeiten ist es für ein mitteleuropäisches Land bis auf weiteres keine ernst zu nehmende technische Möglichkeit. Zusammenfassend folgern wir: Einen Rüstungswettlauf zwischen einem großen Bunkerbau-Programm unsererseits und einer gemäßigten quantitativen Vermehrung der gegnerischen Angriffswaffen müssen wir verlieren. Ein kleines Schutzraumprogramm (Fallout-Schutz und verstärkte Kellerdecken), wie wir es seinerzeit in unserer Denkschrift „Ziviler Bevölkerungsschutz heute" vorgeschlagen haben, könnte auch heute noch sinnvoll sein, da die Möglichkeit eines begrenzten Atomwaffeneinsatzes nicht ausgeschlossen ist. d) Ein Krieg in unserem Land, der ein Teil eines großen Krieges zwischen den Weltmächten ist

Ein lokaler Krieg in Mitteleuropa könnte bis zum großen Weltkrieg eskalieren. Die Besorgnis davor ist heute ein entscheidendes Moment der Friedenserhaltung in unserem Erdteil. Umgekehrt würde ein aus anderen Gründen entstandener Weltkrieg zwischen den beiden heutigen Supermächten unser Land schwerlich verschonen. Technisch könnte ein solcher Krieg allerdings mit einem Schlagwechsel von Interkontinentalraketen begonnen und möglicherweise sogar beendet werden. Führt dieser Schlagwechsel zur einseitigen Zerstörung eines der beiden gegnerischen Länder oder zu sofortiger Friedensbereitschaft beider, so ist ein Bewegungskrieg in Europa militärisch für beide Teile überflüssig.

Der von manchen europäischen Staatsmännern verfolgte Wunsch nach einem von beiden Supermächten politisch und militärisch unabhängigen, stark atomar gerüsteten Westeuropa (einerlei ob diese Rüstung national oder integral gedacht ist) entspringt u. a.der Hoffnung, in einer solchen Lage von dem „über unseren Kopf" ausgetragenen Konflikt der beiden Großen verschont zu bleiben. Aber was immer der politische Vorteil eines unabhängigen Westeuropas ist, so ist die Wahrschein-lichkeit gering, daß eine solche Rüstung, gerade wenn sie anstreben würde, stark genug für einen Angriff auf eine der Supermächte zu werden, für Westeuropa im Ernstfall eines Weltkrieges einen Schutz bedeuten würde Die Waffenkapazitäten sind heute groß genug, um durch Abzweigung eines kleinen Teils dieser Waffen auch das eng besiedelte Westeuropa zerstörend zu treffen, und eine schwer verletzte benachbarte Supermacht wird kaum wünschen, nach dem Krieg ein intaktes, hoch-gerüstetes Westeuropa zum Nachbarn zu haben. Wenn der fürchterliche Entschluß, die großen Waffen einzusetzen, überhaupt einmal gefaßt ist, so ist mit einer Mäßigung, die gegen das eigene machtpolitische Interesse verstößt, kaum mehr zu rechnen.

III. KriegsVerhinderung durch Abschreckung

Das Ergebnis des vorigen Abschnitts ist, daß unsere militärische Sicherheit heute nicht auf einem Vermögen zur Verteidigung, sondern auf Abschreckung beruht. Anders gesagt: Wir können nicht verhindern, daß der Gegner uns militärisch entweder erobert oder vernichtet, aber wir (das heißt die in der NATO verbündeten Nationen gemeinsam) können ihm androhen, daß die Kosten dieses Erfolges für ihn unkalkulierbar hoch — im Extremfall bis an die Grenze seiner eigenen Vernichtung — steigen können. Noch anders gesagt: Wir haben keine hinreichende Aussicht, einen Krieg auszuhalten, ja nur zu überleben; wir sind darauf angewiesen, ihn zu verhindern. Wie schon hervorgehoben, ist das keine Sondersituation der Bundesrepublik. In von Fall zu Fall etwas verschiedener Weise leben alle Industrienationen heute unter diesen Bedingungen. Aber unsere gefährdete geographische Lage und unsere ungelösten nationalen Probleme machen diesen Zustand für Deutschland gefährlicher als für andere Länder und machen damit Deutschland für die Welt zu einem noch nicht ausgeräumten Gefahrenherd.

Diese These von der Gefährlichkeit der Lage trifft freilich nur dann zu, wenn wir Grund haben, der Zuverlässigkeit der Kriegsverhinderung durch Abschreckung nicht voll zu trauen. Unsere Untersuchung muß sich daher nunmehr, wenn sie nicht an der wichtigsten Stelle unvollendet bleiben soll, der Glaubwürdigkeit und Stabilität der Abschreckung und darüber hinaus den allgemeineren Möglichkeiten der Kriegsverhütung zuwenden.

Der Erfolg der Abschreckung hängt an der Glaubwürdigkeit der Drohungen. Um einen Gegner von einer Handlung abzuschrecken, muß ich ihm für den Fall, daß er so handelt, ein Übel androhen. Das Übel muß einerseits groß genug sein, denn sonst könnte er den Gewinn, den ihm seine Handlung bringt, vorziehen und das Übel in Kauf nehmen. Andererseits muß hinreichend wahrscheinlich sein, daß ihm das Übel, falls er handelt, wirklich zugefügt wird: also, daß ich es kann und auch will. Meinen Willen kann er seinerseits durch eine Gegenabschreckung zu lähmen suchen: Er droht mir für den Fall, daß ich ihn ausführe, mit einem noch größeren Übel. Im Beispiel eines Krieges in unserem Lande: Wenn wir annehmen, die Truppen des Warschauer Paktes seien willens, unser Land zu besetzen, so können wir mit Widerstand durch konventionelle oder atomare Waffen drohen. Es kann sein, daß der konventionelle Widerstand nicht die Androhung eines hinreichend großen Übel ist; der Gegner mag sich zutrauen, ihn zu brechen. Der atomare Widerstand wäre ein größeres Übel für den Gegner; doch kann er durch die Drohung, selbst bis zur Vernichtung unseres Landes atomar zu kämpfen, unsere Bereitschaft dazu zu lähmen suchen. Die mit uns verbündete Weltmacht USA mag den Gegner vor der Ausführung dieser Drohung abschrekken durch die Androhung eines großen atomaren Schlags gegen sein eigenes Land; durch die Drohung des Gegenschlags wird er aber die USA möglicherweise von der Ausführung des ersten Schlags abschrecken.

Man sieht an diesem Beispiel das Dilemma, in dem sich eine Weltmacht wie die Vereinigten Staaten befindet, wenn sie zwischen eigener Sicherheit und Einhaltung ihrer internationalen Verpflichtungen und Interessen (commit-ments) zu wählen hat. Wenn die gegenseitige Abschreckung im Bereich der größten Waffen zuverlässig funktioniert, so ist eben darum die Drohung, die größten Waffen einzusetzen, nicht glaubwürdig; sie kann also nur schwer zur Abschreckung eines Gegners von Kriegs-handlungen auf einer niedrigeren Stufe der Skala benützt werden. Daher die amerikanische Militärdoktrin von der „flexible response"; auf jeden gegnerischen Übergriff muß mit einer genau angepaßten, nicht zu schwachen, aber auch nicht zu großen Gegenwehr geantwortet werden können.

Hier entsteht aber ein neues Dilemma. Wenn nicht garantiert ist, daß der Waffeneinsatz auf der einmal gewählten Stufe bleibt, so entsteht die Gefahr einer nicht mehr kontrollierbaren Eskalation. Da die Vereinigten Staaten diese fürchten müssen, tendieren sie dazu, schon den ersten Einsatz atomarer Waffen möglichst zu vermeiden, also „die atomare Schwelle anzuheben". Wenn umgekehrt die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, daß der Krieg nicht höher eskaliert, so kann es sein, daß er auf dem gewählten Niveau auch wirklich durchgefochten (und nicht etwa vermieden) wird, denn ein so begrenzter Krieg ist für eine Supermacht, die ihn außerhalb ihres eigenen Landes führt, nicht notwendigerweise ein unerträgliches Übel. Er ist es aber für das Land, in dem er stattfindet. So war es in den NATO-Debatten der vergangenen zehn Jahre stets das deutsche Interesse, die atomare Schwelle zu senken, also durch hohe Wahrscheinlichkeit einer Eskalation im Atomaren den Gegner auch von einem konventionellen Krieg abzuschrecken. Die Problematik dieser Interessenkollision zwischen uns und unserem größten Bundesgenossen spiegelte sich lange Jahre in den etwa halbjährlich wiederholten Anforderungen einer erneuten Zusage der längst zugesagten militärischen Hilfe für den Ernstfall. Tatsächlich ist seit 1945 nicht nur der Ausbruch eines Weltkrieges, sondern auch der Ausbruch eines Krieges in Europa vermieden worden. Die allgemeine Sorge vor solchen Kriegen hat zudem im Laufe dieser zweieinhalb Jahrzehnte schrittweise abgenommen, wenngleich nicht ohne Schwankungen und Krisen. Unsere Analyse gibt der Vermeidung beider Kriege nicht denselben Grund und dieselbe Zuverlässigkeit. Der große Weltkrieg wird gegenwärtig durch die beiderseitige Fähigkeit zum zweiten Schlag („second strike capability"), also durch eine gegenseitige Androhung eines gewissen sehr großen Übels, wie man hoffen darf, vorläufig noch mit recht großer Zuverlässigkeit abgewehrt (vgl. dazu die noch folgende kritische Analyse der Zukunftsentwicklung).

Die Abschreckung von einem begrenzten Krieg in Europa ist keineswegs von derselben Klarheit und Durchsichtigkeit. Man kann vielmehr umgekehrt sagen, daß eben gerade die Undurchsichtigkeit des Risikos hier den hauptsächlichen Abschreckungsfaktor ausmacht. Diese Tatsache wird nicht dadurch aufgehoben, daß die NATO seit 1967 die Strategie der flexiblen Reaktion zu ihrer offiziellen Doktrin erhoben hat. Wie im Weltrahmen ist auch auf dem beschränkten europäischen Feld diese Doktrin eine Verfeinerung gegenüber der älteren Abschreckungsstrategie der massiven Vergeltung, bei der gerade die Größe der Drohung ihre Unglaubwürdigkeit als Abschreckung gegenüber kleinen Übergriffen nach sich zog. Aber es wäre eine Selbsttäuschung, wollte man bei den eigenen Nationen oder beim virtuellen Gegner den Eindruck erwecken, als besäße man auf jede mögliche militärische Handlung des Gegners eine gerade angemessene Reaktion. Der Sinn der Doktrin kann jedenfalls in Mitteleuropa nur darin liegen, daß die Größe der Reaktion für den Gegner unvorhersehrbar, also sein Risiko „inkalkulabel" bleibt. Diese Strategie „mystifiziert" die Reaktionsbereitschaft zum Zwecke der Abschreckung. In dieser Lage wird die Sicherheit ohne Zweifel wesentlich dadurch erhöht, daß keine der beiden Seiten ein politisches Ziel hat, dessen Erreichung ihr das Risiko einer Status-quo-Veränderung wert wäre. Beide Supermächte sind am Status quo interessiert.

Nehmen wir an, wir hätten hiermit die Gründe der bisherigen erfolgreichen Kriegsverhinderung zwischen den Supermächten und in Europa im Umriß verstanden, so stellt sich uns die eigentlich wichtige Frage, ob diese Kriegs-verhinderung auch in Zukunft gelingen wird. Wir beginnen mit dem Verhältnis zwischen den Weltmächten und ihrem Problem des strategischen Gleichgewichts.

Es sei zunächst noch einmal hervorgehoben, daß die bloße Vernichtungskraft der großen Waffen keineswegs eine Friedensgarantie darstellt. In der strategischen Literatur ist diese Tatsache vor allem in einer berühmt gewordenen Abhandlung von R. Wohlstetter („The Delicate Balance of Power") hervorgehoben worden. Wenn zwei Mächte vorhanden sind, deren jede die Schlagkraft der anderen durch einen rasch geführten ersten Schlag vernichten kann, so bedeutet das eine objektive Prämie für einen Präventivkrieg. Ob eine der beiden Mächte dann zum Präventivkrieg schreitet, hängt nicht von der Rüstungssituation allein ab, sondern davon, wie sie die Bedrohung durch ihren Gegner beurteilt. Bildlich ausgedrückt: Jeder der beiden Gegner schläft schlecht, weil er weiß, daß der andere auch schlecht schläft. Auch ohne ernsthafte eigene aggressive Absichten wird er die im „Kalten Krieg" ausgeübten Pressionen und aggressiven Reden des Gegners ständig darauf abtasten, ob hinter ihnen die Absicht zur moralischen Vorbereitung des Präventivkrieges lauert. Seine militärischen Fachleute werden ihm im Ohr liegen, er müsse stets bereit sein, im Ernstfall als erster zu schlagen; und er wird auf das Anfliegen der feindlichen Raketen mit der Besorgnis warten, er könne durch versäumte Prävention die Zerstörung des eigenen Landes verschulden. Zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion hat dieser seelische Mechanismus in den kritischen Zeiten der unverbunkerten Langstreckenraketen nicht zum Heißen Krieg geführt; zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn kam es 1967 in einer ebenso gearteten Rüstungssituation zum Ausbruch.

Der Gedanke, beide Seiten müßten eine gesicherte Fähigkeit zum zweiten Schlag haben, ist der intelligente Versuch einer amerikanischen Schule von Militärtheoretikern, deren Analyse wir hier folgen, mit dieser Instabilität fertig zu werden. Von klassischen strategischen Konzepten her mag es verblüffend erscheinen, daß die eine der beiden konkurrierenden Mächte vorschlägt, nicht nur sie selbst, sondern auch die andere solle eine Fähigkeit erwerben, auch noch im zweiten Schlag den Gegner vernichtend zu treffen. (Die Realisierung dieser second strike capability besteht heute teils in verbunkerten Raketenbasen, teils in raketentragenden U-Booten.) Bleiben wir aber bei der obigen Stilisierung, so können wir sagen: Nur wenn die Amerikaner wissen, daß die Russen ruhig schlafen, können die Amerikaner ruhig schlafen, und vice versa. Die Versuchung, in irgendeiner Phase der ständig wechselnden Kräfteverhältnisse doch zum Präventivschlag zu greifen, ist gerade für den objektiv schwächeren der beiden Partner groß. Diese Versuchung ist dann am kleinsten, wenn auch der Schwächere weiß, daß auch der Stärkere weiß, daß der Schwächere immerhin stark genug ist, den Stärkeren auch im zweiten Schlag noch vernichtend zu treffen. Dann ist der Stärkere nicht in Versuchung, seine Überlegenheit erpresserisch auszunützen, und der Schwächere braucht eine solche Erpressung nicht zu fürchten bzw. ihr kriegerisch zuvorzukommen. Der Verwirklichung dieses Gedankens verdanken wir zu einem erheblichen Teil die Entspannung zwischen den Weltmächten in den sechziger Jahren.

Aber die technische Welt stabilisiert sich nicht von selbst. Sie bedarf einer bewußten, technisch durchdachten und politisch gewollten und durchgesetzten Stabilisierung. Die beiderseitige second strike capability ist selbst ein Beispiel einer solchen geplanten Stabilisierung. Sie ist aber von bestimmten technischen Voraussetzungen abhängig. Heute sind wenigstens zwei technische Entwicklungen im Gang, die geeignet sein können, diese Stabilität zu gefährden: Antiraketen (ABM = Anti-Ballistic Missiles) und Raketen mit mehrfachen Sprengköpfen (MIRV = Multiple Independently tar-geted Reentry Vehicles). Erstere sollen anfliegende Raketen vor Erreichen des Ziels vernichten, letztere tragen mehrere Sprengköpfe nahe ans Ziel, die dann gesteuert mehrere verschiedene Punktziele treffen können. Sie gestatten so z. B. von einer einzigen Basis aus eine Rakete abzuschießen, die mit ihren verschiedenen Sprengköpfen fünf verschiedene gegnerische Raketenbasen vernichten kann.

Daß diese letztere Technik wieder eine Verstärkung des ersten Schlages gibt und die gegnerische Fähigkeit zum zweiten Schlag herab-mindern oder auslöschen kann, ist leicht einzusehen. Aber auch ein Antiraketen-Schild mag gerade wirksam genug werden, um den zweiten Schlag des Gegners aufzufangen, ohne den stärkeren ersten Schlag abwehren zu können. So entsteht die paradoxe Situation, daß eine scheinbar rein der Verteidigung und dem Schutz von Menschenleben dienende Waffe in Wirklichkeit die Sicherheit ihrer Besitzer gefährden kann. Zwar wird die Zahl der Toten, falls der Gegner angreift, durch die Antiraketen vermindert. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß er angreift, kann dadurch gesteigert werden, daß er nun wieder Grund hat, in Spannungssituationen einen Präventivkrieg für notwendig zu halten.

Die qualitative Beurteilung dieser Verhältnisse wird sehr kompliziert. Sie hängt von der Menge verfügbarer Raketen der verschiedenen Typen auf beiden Seiten und sehr wesentlich von den Treffwahrscheinlichkeiten dieser Raketentypen ab. Unsere Studie verfährt hier ähnlich wie bei der Schadensberechnung. Sie versucht nicht, die technischen Daten der Raketentypen, also insbesondere die Treffwahrscheinlichkeiten, zu ermitteln, sondern betrachtet vielmehr die ganze mögliche Variationsbreite dieser Parameter, also z. B. Treffwahrscheinlichkeit für jeden Typ im vollen Spielraum zwischen 0 und 100 Prozent, und studiert die Stabilität oder Instabilität der entstehenden Abschreckungssituation als Funktion dieser Parameter. Zeigt sich dann z. B., daß in einem weiten Bereich angenommener Treff-wahrscheinlichkeiten stabile gegenseitige Abschreckung besteht, so darf man annehmen, daß diese Abschreckung auch bei Entwicklung der neuen Waffen erfolgreich fortbestehen wird. Zeigt sich umgekehrt, daß die Stabilität nur in schmalen Intervallen der angenommenen Parameterwerte besteht, so muß man fürchten, daß die wirkliche Entwicklung die Stabilität aufheben wird.

Die beiden Supermächte haben in Wien die SALT-Gespräche (Strategie Arms Limitation Talks) aufgenommen. Der außenstehende Beobachter kann schwer beurteilen, wieviel beide Seiten sich von diesen Gesprächen versprechen und wieweit sie selbst in der Begrenzung der eigenen Rüstungen zu gehen bereit sind. Es gibt immanente Zwänge des Abschreckungssystems, die es beiden Seiten sehr schwer machen, das Weiterrüsten zu bremsen. Man wird den verantwortlichen Staatsmännern gerechter und sieht zugleich die Gefahren der bestehenden Lage deutlicher, wenn man den Grund des Wett-und Weiterrüstens nicht in unzureichender persönlicher oder klassenbedingter Abrüstungsunwilligkeit, sondern in der inneren Konsequenz des seit Jahrtausenden überlieferten Systems der Machtpolitik sieht, der sich eine Führungsgruppe, die einen heutigen Staat leitet, fast nicht entziehen kann. Robert McNamara hat 1967 in seiner Rede von San Francisco dargestellt, daß ein Verteidigungsminister, der nur seinem unmittelbaren Auftrag folgt, kaum umhin kann, mehr als notwendig zu rüsten, da er angesichts der Ungewißheit über die begonnenen oder bevorstehenden Rüstungen des Gegners seine Pflicht zu versäumen fürchtet, wenn er seine Vorbereitungen nicht auf den schlimmsten Fall einrichtet. Präsident Eisenhower hat in seiner Abschiedsrede auf die ökonomischen Interessen hingewiesen, die einen Rüstungswettlauf weitertreiben. Schließlich ist den beiden Supermächten Interesse gemeinsam, das dritten Mächten, also insbesondere China, stets weit überlegen zu bleiben.

Angesichts dieses Drucks in der Richtung auf ein Wettrüsten muß man wohl die SALT-Gespräche, auch wenn sie langwierig und die erhofften Ergebnisse bescheiden sind, als Zeichen einer echten Besorgnis beider Partner gegenüber den Gefahren eines weiteren Wettrüstens ansehen. Diese Gefahren liegen nicht nur in den hohen Kosten. Unsere Untersuchung jedenfalls würde die Auffassung stützen, daß auch eine echte Gefahr der Entstabilisierung des Abschreckungssystems durch weitere Rüstung besteht. Ganz allgemein kann man sagen: Es gibt eine Reihe von Parameter-werten, bei denen die Stabilität bewahrt bleibt, aber auch eine Reihe von Werten, für welche sie fortfällt. Werte, die einer der beiden Seiten eine so klare Überlegenheit geben, daß sie dieses Ergebnis dem heute ungefähr bestehenden schützenden Gleichgewicht vorziehen könnte, sind möglich; aber da dann der Schwächere sehr große Anstrengungen machen wird, aus der Situation der Unterlegenheit herauszukommen, sind hier große Kosten für beide Seiten und der Durchgang durch sehr gefährdete Zwischenphasen zu befürchten. Man kann das Ergebnis dieser komplizierten Überlegungen in die einfache Formel zusammenziehen: Die technische Weiterentwicklung der Waffen bietet günstigenfalls die Aussicht, daß der jetzige Sicherheitsgrad der Verhütung des Weltkrieges gewahrt bleibt, enthält aber eine Fülle von Möglichkeiten, daß er sich verschlechtert. Man könnte gegen unsere Überlegung einwenden, daß wir nur zwei neue Waffentypen berücksichtigt haben. In der Tat haben wie von vielen anderen möglichen physikalischen sowie von chemischen und biologischen Waffen abgesehen. Insofern bedeuten unsere Rechnungen nur ein Modell, dessen Methode freilich auf andere Fälle übertragen werden könnte. Es fragt sich nun, ob die Hinzunahme weiterer technisch möglich werdender Waffensysteme zur Stabilisierung oder zur Entstabilisierung beiträgt. Diejenigen Militär-theoretiker, die das gegenwärtige Abschrek-kungssystem für grundsätzlich ausreichend halten, setzen ihre Hoffnung darauf, daß neue Systeme die bisherigen second strike capabi-lities nicht völlig ausschalten, vielleicht sogar durch neue ersetzen können. So bietet sich angesichts der möglichen Entstabilisierung durch MIRV die Verlegung der Raketen auf bewegliche Basen, vor allem im Meer, an. Doch fordert dieser technische Ausweg wieder zu einer technischen Leistung, z. B. zur Ortung von Unterseebooten, heraus. Die Unübersehbarkeit der technischen Weiterentwicklung hat jedenfalls die Verfasser der hier vorgelegten Studie zu der Überzeugung gebracht, daß auf eine permanente technische Stabilisierung der Kriegsverhinderung durch Abschreckung nicht zu rechnen ist.

Man kann ein erstes Argument für diese Über-zeugung auf die folgende, nur wenig stilisierte Form bringen: Durchschnittlich alle sieben Jahre tritt ein technisch neuartiges dominierendes Waffensystem an die Stelle des bisherigen. Es müßte also alle sieben Jahre von neuem glücken, das jeweils dominierende Waffensystem in der Gestalt von second strike capabilities oder analogen Strukturen zu stabilisieren. Wenn dies auch nur in einer einzigen der Phasen mißlingt, so besteht danach für eine Reihe von Jahren der oft gehörte Satz, keine Seite könne einen Atomkrieg gewinnen, nicht mehr zurecht. Die Welt ist dann nicht mehr auf die Vorsicht, sondern nur aut die Friedensliebe der Großmächte angewiesen. Ein zweites Argument besagt, daß auch heute das Gleichgewicht der strategischen Waffen, wie oben erläutert, zwar den totalen Weltkrieg, aber nicht lokale Kriege verhindert. In außereuropäischen Ländern haben wir dies täglich vor Augen; und in den wechselnden technischen und politischen Konstellationen hat Europa keine Garantie, verschont zu bleiben. So stellt sich nach unserer Überlegung die direkte und unausweichliche Forderung, daß die Sicherung des Weltfriedens durch politische Schritte geschieht.

IV. Kriegsverhütung im Felde der Politik

Das Ergebnis unserer Überlegungen zu dieser Aufgabe stellt uns die Schwierigkeiten und damit die Gefahren deutlich vor Augen. Es ist freilich methodisch kaum möglich, in diesem Bereich zwingende Schlüsse zu ziehen. Während wir für die Abschreckungsstrategie wenigstens ein mathematisch wohldefiniertes, wenn auch kompliziertes und doch spezielles Modell vorlegen konnten, bewegen wir uns im politischen Feld naturgemäß sehr viel mehr im Bereich schwer durchdiskutierbarer Vermutungen. Generell läßt sich etwa soviel sagen: Ein politisch gesicherter Weltfriede müßte eine Struktur der Welt sein, die die politischen Garantien ihrer eigenen Stabilität gegen Partikularinteressen beim Druck wechselnder technischer und sozialer Entwicklungen in sich enthält. Ein solcher Zustand muß ferner nicht nur stabil sein, wenn er einmal erreicht ist. Er muß vielmehr, wenn er ohne die Katastrophe des Durchgangs durch einen Weltkrieg erreicht werden soll, über eine Kette von Zwischenzuständen hinweg hergestellt werden können, deren jeder ebenfalls eine für die Zeit, die er währt, hinreichende Stabilität hat. Wir haben eine Reihe von Modellen eines solchen Weltzustandes und des Übergangs zu ihm diskutiert. Dabei haben wir keine Utopien entworfen (so wichtig dies als gedankliche Arbeit sein kann), sondern Zustände erwogen, die von der heutigen Welt-läge aus ohne radikalen Bruch erreichbar erscheinen. Die heute nächstliegende Struktur ist die gemeinsame Vorherrschaft der beiden Supermächte, das Duopol. Unsere gesamte bisherige Diskussion der Kriegsverhütung setzte dieses Duopol faktisch voraus. Wir sind bereits auf gewisse Grenzen seiner Stabilisierbarkeit gestoßen. Lösen wir uns von den technischen Einzelheiten, so tritt als wesentliche strukturelle Schwäche des Duopols die doppelte Schwierigkeit hervor, einerseits alle anderen Nationen im Zaum zu halten und andererseits das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den beiden Supermächten zu wahren. Namen wie China und Vietnam kennzeichnen die erste Schwierigkeit zur Genüge. Nicht ebenso deutlich ist dem politischen Weltbewußtsein vielleicht die zweite Schwierigkeit, also die, das Gleichgewicht zwischen den Duopolisten zu garantieren. Ihr sei daher hier noch eine kurze abstrakte Erörterung gewidmet.

Die klassische Theorie des Gleichgewichts der Mächte, wie es z. B. im Italien der Renaissance und dann durch Jahrhunderte im „europäischen Konzert" praktiziert wurde, setzte wenigstens fünf Großmächte voraus. Nur dann ist zu mutmaßen, daß sich durch Gruppierungen wie die der drei schwächeren gegen zwei stärkere oder im Extremfalle der vier schwä-cheren gegen einen Hegemoniekandidaten das stets zu Störungen neigende Gleichgewicht immer wieder herstellen läßt. Zwischen zwei Konkurrenten um die erste Stelle ist das Gleichgewicht überhaupt nur herzustellen, wenn die Ressourcen der beiden einander schicksalhaft über längere Zeit etwa gleich-bleiben oder wenn so ungewöhnliche Lagen wie die heutige Fähigkeit zu gegenseitiger Vernichtung im zweiten Schlag eintreten. An sich tendiert, wie zahlreiche historische Beispiele zeigen, eine Zweierherrschaft zum endlichen Austrag der Konkurrenz mit den Waffen.

Es ist nicht zu bezweifeln, daß sich das Weltbewußtsein unter dem manifesten Druck dieser Gefahr rasch in der Richtung entwickelt, andere Friedensgarantien als die der bloßen Großmachtpolitik zu fordern. Aber dieses Bewußtsein ist noch nicht so weit gekommen, funktionsfähige politische Formen zu entwickeln und durchzusetzen, die die Großmacht-politik zu ersetzen vermocht hätten. Wir müssen daher heute die Stabilität machtpolitischer Strukturen überprüfen, teils, um zu ihrer notwendigen Kritik beizutragen, teils aber auch, um realistische Wege des Übergangs zu neuen Strukturen zu finden.

Ein historisch naheliegendes Modell ist der Übergang zum Monopol, also zur politischen Hegemonie einer einzigen Macht. Der einzige Kandidat hierfür ist in der heutigen Weltsituation Amerika; ob in absehbarer Zukunft Ruß-land oder in ferner Zukunft China stark genug für eine solche Rolle sein könnten, lassen wir, da wir unseren Blick auf die für uns relevante nahe Zukunft richten, hier noch außerhalb der Debatte. Der Wunsch, Amerika in hegemonialer Weltstellung zu sehen, war in den letzten Jahrzehnten nicht nur für manchen Amerikaner, sondern gerade auch für viele Europäer attraktiv, die sich so eines ungewöhnlichen Schutzes ihrer Sicherheit und ihrer Interessen erfreuen würden. Doch haben wir uns in unserer Analyse nicht zu der Meinung duichringen können, daß dies praktikabler friedlicher Weg zum politisch garantierten Weltfrieden sei. Die gegenwärtige große Krise des amerikanischen Ansehens in der ganzen Welt ist wenigstens eines der Symptome der Schwierigkeiten. Gerade das fortschreitende Weltbewußtsein erträgt diese machtpolitische Präponderanz nicht und verliert den Glauben an die echten und nützlichen Werte der amerikanischen Staats-und Gesellschaftsauffassung, da es die Mittel nicht akzeptiert, mit denen diese durchgesetzt werden. Man mag das als eine Anpassungskrise ansehen, aus der Amerika geläutert und die Welt bescheidener hervorgehen könnte. Doch ist zudem der Übergang von dem heutigen Duopol mit Übergewicht Amerikas zu einer echten Hegemonie, rein machtpolitisch beurteilt, ohne Waffengang kaum vorstellbar. Das ist nicht nur ein Urteil aus historischen Parallelen in sechs Jahrtausenden, die nicht ohne weiteres durch die Atomwaffen außer Kraft gesetzt sind. Es läßt sich auch durch eine nähere Erörterung der Abschreckungsstrategie begründen.

Die Theoretiker der Abschreckungsund Eskalationsstrategie müssen davon ausgehen, daß beide Seiten sich hinreichend „rational" verhalten. Rational in diesem Sinne ist es, das kleinere Gut dem größeren Gut oder der Vermeidung des größeren Übels zu opfern. In extremen Situationen treten aber seelische Kräfte auf den Plan, die die Ordnung der Güter verändern. Das gesamte Phänomen des Krieges, das die Menschheitsgeschichte seit undenklichen Zeiten durchzieht, wäre unmöglich ohne die in jedem Menschen angelegte Umschaltung von der Selbsterhaltung zu der Einstellung „das Leben ist der Güter Höchstes nicht“. Wer, um noch ein anderes Zitat zu gebrauchen, sich dazu bringen kann, „lieber tot als Sklav" zu sein, der handelt im Sinne seiner neuen Werte rational, wenn er vom Standpunkt der Abschreckungsstrategie aus das Irrationale tut. Und die Erfahrung lehrt dann zudem, daß oft eben diese scheinbare Irrationalität sich bezahlt macht. Vermutlich verdankt die Schweiz ihre Bewahrung im Zweiten Weltkrieg ihrer manifesten Bereitschaft, notfalls im Kampf unterzugehen (und den Gotthard-Tunnel in den Untergang mitzunehmen); das Scheitern der Eskalationsstrategie gegen Nordvietnam ist ein aktuelles Beispiel. Noch weniger kann man erwarten, daß der kommunistische Block eine echte amerikanische Hegemonie kampflos akzeptieren wird. Amerika mag, wenn der Friede bewahrt bleibt, noch lange die erste unter den Weltmächten sein; es kann nicht ohne Atomkrieg der den „Frieden" garantierende Führer der Welt werden.

Wir sollten uns nicht wundern, daß der Versuch, den Frieden durch die Strukturen der Machtpolitik der Großmächte permanent zu sichern, auf eine Sandbank läuft. Die klassische politische Struktur souveräner Mächte ist bis in ihre juristischen Einzelheiten und bis in die emotionalen Grundlagen der in ihr in Anspruch genommenen Loyalitäten so aufgebaut, daß sie den Krieg als Ultima ratio enthält. In allen klassischen Gleichgewichtssystemen sind viele kleine Kriege und gelegentliche große Kriege geführt worden. Nicht die Unfähigkeit eines Systems souveräner Staaten, Krieg ganz zu vermeiden, ist etwas Außerordentliches, sondern das Außerordentliche ist, daß uns eben diese Aufgabe der Elimination zumindest des großen Krieges durch die Entwicklung der technischen Welt gestellt wird. (Daß Staatensysteme in einem ruhigen Winkel der Geschichte, wie heute die skandinavischen Staaten, miteinander Frieden bewahren, beweist nicht, daß die Großmächte dazu fähig sein werden; die skandinavischen Staaten sind friedfertig, seit sie definitiv keine Großmächte mehr sind.)

Wir haben also Ausschau nach Kräften zu halten, die die traditionellen Souveränitäten überspielen können. Eine der wichtigsten Kräfte solcher Art sind transnationale Bindungen. Den imperialen und nationalen Einheiten stehen einmal internationale Organisationen gegenüber, wie etwa die Vereinten Nationen, die Liga der Gesellschaften vom Roten Kreuz usw. Sie sind Zusammenschlüsse, in denen die Nationen als Nationen auftreten. Ihr Gewicht für die Friedenserhaltung ist nicht gering, aber doch gleichsam a priori nicht ausreichend, solange die Nationen ihnen die entscheidenden Souveränitätsrechte nicht delegieren. Als transnational bezeichnet man demgegenüber heute solche Strukturen, welche Menschen verschiedener Nationen untereinander ohne den Umweg über die jeweilige Staatsautorität miteinander verbinden. Alte Beispiele sind die katholische Kirche und die „Gelehrtenrepublik" der Wissenschaft. Im Bereich der Wirtschaft können nicht nur Handelsbeziehungen, sondern nachgerade auch große Firmen als ganze transnational sein.

Wie weit tragen transnationale Bindungen als Friedenssicherung? Man wird nicht bezweifeln, daß sie einen wichtigen Beitrag leisten. Je mehr Bindungen der Entschluß zum Krieg zerreißen muß, desto schwerer wird er vermutlich fallen. Die Hoffnung, auf diese Weise, durch Schaffung einer echt transnationalen Gesellschaft, den Krieg definitiv zu fesseln, erinnert aber ein wenig an Swifts Erzählung von Gulliver, den die Liliputaner, als er schlafend am Boden lag, mit einem Gewebe spinnendünner Seile und mit winzigen Pflöcken, die jedes seiner langen Haare einzeln in die Erde rammten, gefesselt hatten. Wie versenken wir Mars in einen so tiefen Schlaf, daß er dies über sich ergehen läßt? Konkret gesagt: Die transnationalen Bindungen werden ein unentbehrlicher Teil eines friedensbewahrenden Systems, aber nicht seine einzige Grundlage sein.

Unsere Studie erwägt schließlich ein durch internationale Organisationen gesichertes politisches System, das die Abrüstung der Nationalstaaten und Blöcke erlaubt. Formale Entwürfe hierfür sind z. B. in der von Clark und Sohn vorgeschlagenen Ausgestaltung der Charta der Vereinten Nationen vorhanden. Für jedes derartige Modell ist entscheidend, daß die bisher souveränen Staaten nicht nur Abkommen unterzeichnen, sondern ihre Macht zur Kriegführung abgeben. Es ist ebenso plausibel, daß, wenn dies einmal geschehen ist, der große Weltkrieg vermieden werden kann, wie es unplausibel ist, daß die heutigen Mächte freiwillig die Schwelle zum wirklichen Machtverzicht überschreiten werden.

Treten wir nun zum Abschluß einen Schritt zurück und betrachten aus der Distanz der Überlegung die vielen einzelnen Schritte, die wir vollzogen haben. Das Ergebnis ist tief beunruhigend. Wir glauben hinreichend deutlich gemacht zu haben, daß es keinen zuverlässigen Weg zur Kriegsverhütung gibt, der nicht den Machtverzicht der Imperien und Nationen in sich schließt. Die innere Logik der Weltpolitik strebt heute diesem Ziel so wenig zu wie in vergangenen Zeiten. Die Gefahr freilich und das Bewußtsein der Gefahr ist heute größer als früher. Am grundsätzlichen Streben aller großen Mächte nach der Vermeidung des Weltkriegs brauchen wir nicht zu zweifeln. Aber dieses Streben wirkt sich aus zwei Gründen nur unzureichend aus. Der eine Grund ist das Mißtrauen gegeneinander, das zwischen konkurrierenden Mächten unvermeidlich und insofern, solange das System konkurrierender Mächte besteht, legitim ist. Der zweite Grund ist das Zutrauen zur Stabilität des gegenwärtigen Zustands. Dies ist nach unserer Überzeugung ein falsches Zutrauen, das die Mächte hindert, die traditionelle Prioritätenfolge ihrer Ziele umzukehren. In einem grundsätzlich stabilen Mächtesystem gibt jede einzelne Macht ihrem eigenen Partikularinteresse die erste Priorität. Nur wenn die Gefährdung des Ganzen gesehen wird, vermögen konkurrierende Mächte allenfalls der Bewahrung des Ganzen den Vorrang vor ihren Partikularinteressen zu geben. Dies ist in der vor uns liegenden Zeit erforderlich.

In einer solchen Lage hat die Öffentlichkeit eine wichtige Rolle. Das gilt nicht nur von der sogenannten Weltöffentlichkeit, sondern auch von der Öffentlichkeit eines kleineren Landes wie des unseren. Es ist eine beliebte Selbststilisierung derer, die am Regierungsgeschäft nicht teilnehmen, die Völker wollten ja den Frieden und nur ihre Regierungen verhinderten ihn. Die meisten, die so reden, sehen nicht, daß es der Druck der im Volk und seiner Öffentlichkeit wirksamen Einzelinteressen ist, die auch einer wissenden und handlungsbereiten Regierung den Spielraum des Handelns unerträglich einschränkt. Die Öffentlichkeit selbst muß begreifen, daß das eigene überleben davon abhängen kann, ob der Strukturwandel der Welt, der zum politisch garantierten Weltfrieden führt, die erste Priorität der Politik ihres eigenen Landes ist.

Die Ansätze zu dieser Einsicht sind heute in unserem Lande vorhanden; die politische Realität wird jedoch nicht von ihr bestimmt. Es ist das Ziel der vorliegenden Studie, zu ihrer Entstehung beizutragen. Die Ausarbeitung einer Politik unter dieser Priorität ist Sache eines anderen Gedankengangs. Ohne Zweifel gehört zu dieser Politik der Versuch, die Konfliktherde, die im eigenen Land und in seiner Beziehung zu seinen Nachbarn liegen, zu löschen. Dies wird heute versucht, und wenn unsere Analyse richtig ist, so ist dieser Versuch lebenswichtig.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Carl Friedrich von Weizsäcker, Dr. phil., o. Prof., Physiker und Philosoph, Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg, geb. am 28. Juni 1912 in Kiel. Veröffentlichungen u. a.: Die Atomkerne, 1937; Zum Weltbild der Physik, 196310 (engl. 1952, franz. 1956, holl. 1959); Die Geschichte der Natur, 19625 (engl. 1951, norw. 1955, schwed. 1955, span. 1962); Atomenergie und Atomzeitalter, 19583 (jap. 1958, holl. 1959, dän. 1959, span. 1959); Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, 1957; Bedingungen des Friedens, 1963; Die Tragweite der Wissenschaft, 1. Bd.: Schöpfung und Weltentstehung, 1964 (engl. 1964); Gedanken über unsere Zukunft. Drei Reden, 1966; Der ungesicherte Frieden, 1969.