Die Welt, in.der wir leben, wandelt sich durch Bildhaftes, auch wenn es nicht auf hohen Kothurnen daherkommt, ohne Götter und Musen, ganz ohne Sinn für Höheres, ja überhaupt ohne Artikulation. Eine Frau im Maxi bewegt sich buchstäblich anders als eine im Mini durchs Leben. Auch eine Lokalanästhesie — wir wissen es nicht erst seit Günter Grass — verändert vorübergehend unser Lebensgefühl. Die Ablösung des alten Mittagstischs, der auch bei nicht ganz sauberem Tischtuch die Illusion individuellen „Mahlens" vermittelte, durch Snackbar und Kantine verändert uns — bei gleichen Kalorienmengen und gleichermaßen verpatzten Speisen. Womit sich unser Sprichwort bestätigt: Wenn zwei das Gleiche tun, beispielsweise dasselbe essen, dann ist es nicht das gleiche, dann nämlich nicht, wenn die Erlebnisskalen der Menschen beim gleichen Tun variieren. Oder: Mit der PKW-Dichte in einem Lande wächst das begriffliche Schaltvermögen seiner Bevölkerung; man „schaltet" schneller, verzichtet eher auf Umschweife und epische Breite: Die Sprache der Politik und der Werbung setzt bei uns ein Begriffsvermögen voraus, dem wir zur Zeit der Postkutsche nur begriffsstutzig begegnet wären, und die der Kunst faßt bereits, was morgen begreiflich und erkannte Realität wird. Hier wird in Betracht gezogen die Welt der Bilder, das Imaginäre, Eingebildete mit Traum, Wahn, Sehnsucht und Besessenheit — all das, was sich dem klärenden Bemühen der empirischen Sozialwissenschaft, deren Hilfsdienste uns in diesen Jahren so unentbehrlich wurden, entzieht. Damit mag es sich erklären, daß dieser durch kritische Bewußtseinsbildung kaum erschließbare Kosmos der Bilderwelt in unserer gesellschaftlichen Bildungsarbeit — schon wieder der Wortbestandteil Bild! — kaum figuriert, ja, ihren Rahmen zu sprengen scheint. Aber dieser Schein könnte trügen, die Bilderwelt durchaus in den Rahmen der Bildungswelt gehören. Denn sie setzt nicht nur Zeichen, tut nicht nur Wunder, sondern wirkt in die faktischen, meßbaren Bereiche hinein.
Ein Geschichtsbild verblaßt: 1870/71
Das „Elementare" und das „Historische"
Das „Elementare" und das „Historische" — diese Unterscheidung trifft Ernst Jünger in den „Annäherungen" (Stuttgart 1970) bei seiner Feststellung, daß der Wein, ein Beispiel fürs Elementare, in Europa mehr Spuren als das Schwert, das für das Historische steht, hinterlassen hat. Der Wein, der vom Osten her zu uns in den Westen gelangte, habe bleibendere Umwälzungen bewirkt als der Alexanderzug mit der Vernichtung Babylons, der in umgekehrter Richtung zur ersten Weinstraße von Westen gen Osten verlief. Das „Elementare", um bei dem Wort zu bleiben, wird oft nur als mehr oder weniger schmückendes Beiwerk der historischen Kontur verstanden, die doch durch das elementare Erleben des Geschehens erst Farbe erhält. So kann es Historikern und Politikern passieren, daß ihnen bei der rückblikkenden Betrachtung wie angesichts der Gegenwart die relative Eigenbeweglichkeit, ja die vielleicht fast geschichtsfreie Existenz dynamischer Kräfte entgeht, die ihrerseits Geschichte machten. Zum Beispiel: 1870/71
Alle Welt spricht von den vermeintlich Croßen der Stunde, vm dritten Napoleon, Bismarck, Moltke, wenige von den getöteten Soldaten, Franctireurs und Kommunarden: Und niemand von denen, die unsere Welt um ein wesentliches Stück verrückten — Von Lautreamont und Rimbaud, die lange vor Freud die Tür zum Unbewußten öffneten, den Vätern des Surrealismus, Existentialismus und Symbolismus, den Vorläufern der Beatles und Gammler, von Dada und Neo-Dada, kinetischer und psychedelischer Kunst, von Dylan Thomas, Michael McClure ünd Eddie Cochran, nach deren Pfeife und Gitarre heute Organisatoren politischer Parteien (im Wahlkampf), Kirchenieute (in der Öffentlichkeitsarbeit) und Markenartikler (in der verpopten Werbung) tanzen.
Nicht einmal unter dem Strich, wo die Zeitungen über Wesentliches zu berichten pflegen, wüßten Journalisten derart Epochemachendes zu berichten; sie hielten — ein Sichtfehler, von dem sie heute gewiß frei sind — für weltbewegend, was Schlagzeilen machte: die Empfänge der Kaiserin Eugenie (wer trug was ?), Bismarcks Hick-Hack um die Emser Depesche, die Metzeleien, kurz alles, was aufmerken ließ, auch wenn es weniger merkwürdig war als das Universum, durch das „Le Bateau ivre" irrte, und das Phänomen „Maldoror"; zwei wenig französisch anmutende Dokumente französischer Sprache, deren eruptive Gewalt aller tradierten Kontinuität des Landes widersprach: Rimbaud stammt aus der nördlichen Peripherie Frankreichs, und die Eltern von Lautreamont kamen aus den Hochpyrenäen nahe der spanischen Grenze bei Tarbes, wo sich das Französische erst nach der Revolution so recht durchgesetzt hat; Dieser lautlose Aufstand, der zunächst in der Presse kein Echo fand, kam also aus Regionen, die sich und ihre Sprachen mit Füg oder zu Unrecht für unterdrückt hielten. Seine Stimme war schließlich unüberhörbar. Er erschütterte la douce France durch eine rebellische Gewaltsamkeit, die alle wohlausgewogenen, unumstößlich scheinenden Maße umstieß. Zugegeben, die Rechercheure hätten sich auf solcher Spurensuche schwer getan. Denn schon der Titel von Lautreamonts „Maldoror" (= L’aurore du mal) bedarf der Entschlüsselung; der erste Gesang war 1868 anonym, die erste vollständige (aber nicht in den Handel gelangte) Ausgabe 1869 unter dem Pseudonym Comte de Lautreamont erschienen, das wie ein Vexierbild die Worte Lautre Amon (der andere Amon, der andere Sonnengott) verbarg.
Auch zur Person des Isidore Lucien Ducasse alias Lautreamont ließ sich wenig ermitteln:
1870 wechselte er ständig sein Quartier, vielleicht um als Kriegsdienstverweigerer nicht eingezogen zu werden. Er, der das Gespenst des Krieges beschworen hatte, sich zu verstecken („cache-toi, guerre"), mag sich so vor ihm versteckt haben. Man weiß nicht einmal, ob er, wie mancher Arme im belagerten Paris, am 24. November Hungers starb oder durch eigene Hand, über diesen Tag berichteten deutsche Zeitungen, daß zwei deutsche Brigaden das XX.französische Korps ausLadon und Maizieres warfen. Paris dementierte, London glaubte Paris, die „Times" bezeichnete die deutsche Meldung als unkorrekt. Am gleichen 24. November bewies die Berliner „National-Zeitung" mit durchsichtiger Dialektik, daß das in Deutschland so beliebte Kriegslied „niemals einem erobernden Volke eignet", daß „deutsche Musik und deutsche Kulturverbreitung die bedeutendsten" seien. Den nationalistischen Tönen gesellten sich andere hinzu: „Daß ein semitisches Volk im Kampf gesungen, ist uns nicht überliefert". Deutschlands Zukunft hatte schon begonnen.
In diesen großen Tagen, als es für die Redaktionen in Deutschland wie in Frankreich darum ging, Tatsachen und Wahrheiten vaterländisch zu drehen, zu wenden und zu deuten, verlor man weder Zeit noch Gedanken an das Recherchieren nach unbekannten Größen.
Und wieviel Journalistenglück hätte erst dazu gehört, den gammelnden 16jährigen Haschfreund und Magier Jean Nicolas Arthur Rimbaud 1870 im Gefängnis von Mazas und 1871 in Verlaines Pariser Behausung ausfindig zü machen? Und wer in aller Kriegswelt hätte im Falle ihrer Entdeckung durch einen Zeitungsmann von einer Notiz darüber schon Notiz genommen? Schließlich befand sich die Presse beim übersehen so entlegener Abseitigkeiten in bester Gesellschaft. Derart Elementarisches hatten auch die revolutionären politischen Prognostiker kaum vor Augen. Von Karl Marx z. B. gibt es bekanntlich sehr detaillierte Gelehrtenprophezeiungen über die Zukunft der Menschheit, die er mit der Gesellschaft und diese wiederum mit dem Antagonismus zwischen ihren verschiedenen Klassen identifizierte. Ihm entging dabei sö ziemlich alles, was einige seiner Zeitgenossen an anderen als gesellschaftspolitischen Prozessen für die Zukunft kommen sahen, erlebten und artikulierten: Und hier wären neben Lautreamont und Rimbaud (von dessen verlorengegangenem idealkommunistischem Manifest der „Bund der Kommunisten" mit Sicherheit nichts Wußte) andere zu nennen, die nicht nur die soziale Krankheit der Gesellschaft, sondern die Erkrankung der Natur durch den Menschen und die der menschlichen Psyche ahnten und wahrnahmen. über Lyrik hat sich Marx, der zeitlebens Kunst als Waffe mißverstand, ebensowenig geäußert wie über den Dramatiker Büchner, der als einziger deutscher Bühnenautor des 19. Jahrhunderts politisch und literarisch revolutionär wirkte. Die gleiche Ahnungslosigkeit zeigt die marxistische „Deutsche Geschichte" von Franz Mehring bei der Behandlung der romantischen Schule, die Marx altbacken als „neumodische Romantik" abqualifiziert hatte: Mehring beschäftigt sich eingehend mit den versifizierten Kampfansagen von Theodor Körner oder Max von Schenkendorf; Wackenroder, Hölderlin, Novalis und Jean Paul werden von ihm nicht einmal erwähnt, (Viel weiter haben es die Marxisten bis heute nicht gebracht; Georg Lu-käcs verkennt bei allem intellektuellen Aufwand ebenso wie der schlichte Erich Honecker, daß die Meinung eines Künstlers nur sehr bedingt etwas über dessen Kunst — und deren Bewertung und Wirkung — besagt.)
Die verlorene Revolution von 1848/49 hat das Land der Dichter und Denker und damit vielleicht auch diese in einen provinziellen Status zurückfallen lassen. Frankreich stellt die Avantgarde, Deutschland die Nachhut.
So sehen Menzel und Leibi ihre Aufgabe noch im getreuen Abbild der äußeren Realität, während Cezanne mit seiner „Realen Vision" bereits neue Dimensionen erreicht. Die Brüchigkeit ehelicher Konventionen, von Flaubert um 1855 in „Madame Bovary" illustriert (Buch-ausgabe: 1857), nimmt bei uns erst Jahrzehnte später in „Effi Briest" (1895) literarische Gestalt an. (Und dabei stammte Fontanes Vater doch aus der Gascogne und seine Mutter aus den Cevennen!) 1870 verfällt fast das ganze geistige Deutschland dem nationalen Pathos; es schreibt, musiziert und malt fürs Vaterland; der felddienst-untaugliche Nietzsche eilt zu den Fahnen und posiert, den Säbel in der Rechten, vor dem Fotografen. Im November 1870, aus Frankreich zurückgekehrt, gesteht er einem Freunde: „Ich halte das jetzige Preußen für eine der Kultur höchst gefährliche Macht ..."
Härter sagte es Wilhelm Liebknecht 1872: „Die daheim Zurückgebliebenen, ruhig hinter dem Ofen oder dem Biertisch sitzenden Vertreter der Intelligenz, die Leuchten der Kultur, die Denker par excellence des , Denkervolkes', Journalisteh, Professoren und sonstige Intelligenzen — anstatt gegen den Krieg als einen Hochverrat an der Zivilisation und der Menschheit zu protestieren und die verblendeten Völker zum Frieden zu mahnen, gossen Ol ins Feuer, schürten in tollem Fanatismus die Flammen, in denen die wertvollsten Errungenschaften der Kultur aufloderten, und entdeckten, daß die erhabenste Kulturtat, die edelste Betätigung menschlicher Tugend der Krieg sei!"
Für den heutigen Leser klingt im ersten Satz dieses Zitats unausgesprochen, doch unüberhörbar der verächtliche Ton des leidenschaftlichen Kriegsgegners Liebknecht über die „ruhig hinter dem Ofen oder dem Biertisch sitzenden Vertreter der Intelligenz" durch — ein Beispiel für die in der Politik oft zu beobachtende In-kongruenz zwischen umweltbedingter Programmierung „mannhafter" Vorstellungen und vernünftiger Einsicht. Aber auch das Pathos der Empörung weist den Marx-Freund und späteren Chef des „Vorwärts" als Kind seiner Zeit aus, die in Deutschland jedenfalls emphatisch bewegt verlief. Analytische Ansätze feh-len in den zitierten Sätzen des wackeren Kämpen tür Frieden und Gerechtigkeit, bei deren Lektüre wir vielleicht nach einer möglichen Korrelation zwischen der Phase so prononcier-ter Mannhaftigkeit und Störungen des Trieb-lebens fragen dürfen. Wobei diese Störungen nur als ein Faktor von vielen (der aber nicht übersehen werden dürfte!) anzusehen wären. Vermutungen, wonach die expansive Kraft der siebziger Generation auf die bei deutschen Frauen damals weitverbreitete Frigidität (für die sie sich bei der Erziehung ihrer Kinder ein wenig schadlos hielten) zurückzuführen sei, verführen freilich zu unzulässigen Vereinfachungen und Generalisierungen: die nach ihrer Revolution über halb Europa expandierenden Franzosen litten gewiß nicht unter sexuellen Frustrationen! (Für ganz abwegig sollte man Erwägungen dieser Art jedoch nicht halten: Georg Christoph Lichtenberg, gewiß einer der klügsten Köpfe, die Deutschland hervorgebracht hat, hat bekanntlich die Eroberung Britanniens durch die Angeln und Sachsen weder ernsthaft noch unvernünftig durch solcherart Elementarisches begründet
Aber Frankreichs Uhren gingen immer schon anders als bei uns, auch 1870. Die Ereignisse werden künstlerisch kaum reflektiert, wenn wir von dem großen alten Mann der Romantik, Victor Hugo, absehen, der 1870, achtundsechzigjährig als „Seher und Führer der gesamten Menschheit" gefeiert, aus dem Exil nach Paris zurückkehrt und später „L'Annee terrible" (1872) ausführlich beschreibt. Aber was besagt für jene Zeit noch die Aussage des Meisters einer großen überlebten Form, der Hoch-romantik?
Pissaro und Monet gehen nach England, Cezanne führt, unbehelligt vom Lärm französischer Mitrailleusen und preußischer Hinterladergeschütze Essener Bauart, nahe Marseille Naturformen auf geometrische Grundelemente zurück. Zola arbeitet an dem Romanzyklus „Les Rougon-Macguart", dessen Umfang den von Balzacs „Comedie humaine" noch übertreffen soll. Von Flaubert erscheint 1870 „L'Education sentimentale", von Verlaine ein gänzlich unpatriotischer Gedichtband. Immerhin dient Gauguin bei der Marine, Maupassant beim Heer. Manet zieht, mit einer Mal-staffel versehen, in den Krieg, aber er malt nichts. Erst die Niederschlagung der „commune" läßt ein größeres Werk entstehen, „La Guerre civile".
Aber diese Absentisten und Statisten der Weltbühne drücken Neuorientierungen aus, unvergleichlich umwälzender als die Schlacht von Sedan und alles andere Schlachten: die Einheit des Bildes vom Menschen, an das Napoleon und Bismarck noch ganz ungebrochen, fast blindlings glaubten — sie hoben sie auf, sie lösten die Sujets Mensch und Natur wie alles Gegenständliche in Farbe und Fläche auf, womit die traditionelle Vorstellung von der einheitlichen Struktur und Kontur des Menschen, für jedermann sichtbar, überwunden wird. „Cette interrogation, si freguente aujourd'hui encore, n'aura plus du sens pour la prochaine generation." Die damals von gesinnungstüchtigen „guten Franzosen" oft und inquisitorisch gestellte Frage, die nach Leon Bloy für die kommende Generation keinen Sinn mehr hatte, lautete: „Was haben Sie 1870 getan?". Nun, es gab Leute, die anderes anrichteten und begingen als Sachschaden, Mord und Totschlag. Was wäre, wenn?
Natürlich gab es auch bei uns Besserwisser und Schwarzseher, ganz abgesehen von einigen Intellektuellen, die sich jeglicher politischen Teilnahme enthielten und also nichts zur Sache sagten. Außerdem hatten sie — wieder einmal — nichts zu sagen. So ist es vielleicht müßige Gedankenspielerei, wenn man sich vorstellt, das neugegründete Reich hätte die Voraussicht besessen, eine selbständige „Kaiserliche Zentrale für staatsbürgerliche Bildung" zu gründen. Aber das Müßige muß nicht unnütz sein; denken wir das Unmögliche zu Ende. Wen hätte man zur Vermeidung kommenden Unheils berufen sollen? Sozialdemokraten kaum, denen war der klare Blick durch ihren Kinderglauben an die Revolutionsbereitschaft der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Industrieländern noch vernebelt. (Freilich konnte auch Lassalle nicht ahnen, daß aus den „Verdammten dieser Erde", denen es nicht viel besser als dem Herdenvieh erging, dereinst die Hüter aller heiligen Kühe einer Wohlstandsgesellschaft würden, zuverlässiger als die, denen sie, oft mitbestimmend, dienen: von einem überdurchschnittlichen Lebensstandard an bleibt dem Menschen Muße zur schöpferischen Neurose, zum Setzen von Fragezeichen. Gunter Sachs, ja auch Gabriele Henkel, dürften für Guerilleros mehr Verständnis als mancher Vorarbeiter aufbringen.) Deutsch-nationale Professoren, die den neuen Staat, seine Gründer, Generale und Nutznießer idolisierten, wären noch weniger in Betracht gekommen. Ihre nicht erst durch die Reichsgründung ausgelöste Geisteshaltung charakterisierte Karl Hillebrand treffend so: „Schon vor unseren politischen Erfolgen regte sich jener Hochmutsteufel in der deutschen Wissenschaft und suchte für das Germanentum die Rolle des erwählten Volkes zu beanspruchen. Schon früherhin mochte man hin und wieder von unserer ganz absonderlichen kulturhistorischen Mission hören; schon in den vierziger Jahren begann, im Gegensatze zu den humanitärischen Ansichten des achtzehnten Jahrhunderts und unserer klassischen Literaturperiode, das Gerede von den .deutschen Tugenden'selbst im Munde bedeutender Männer aufzukommen und die übertriebene Bescheidenheit der früheren Tage einem etwas anmaßlichen Selbstgefühl Platz zu machen. Deutscher Fleiß und deutsche Treue, deutsche Redlichkeit und deutsche Frömmigkeit, deutsche Offenheit und deutsche Gewissenhaftigkeit, deutscher Wille und deutscher Familiensinn, deutsche Tiefe und deutsches Gemüt namentlich, hörte man schon damals gar vielfach preisen, als wären sie Monopole deutscher Nation."
Aber Männer vom Schlage Burckhardts, dem man die schweizerische Staatsbürgerschaft wohl hätte nachsehen können, ja sogar Fontanes (nach Ableistung seiner Verpflichtung als Kriegsberichterstatter in Frankreich) hätten, hätte man sie gewähren lassen, den Wahn-ideen der neuen Gesellschaft entgegengewirkt. Noch phantastischer wäre es gewesen, wenn Bismarck einen seiner prominentesten Gegner, den damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, auf den ehrenvollen Posten des Direktors einer weisen Kaiserlichen Zentrale im Kabinettsrang abgeschoben hätte. (Als Abschiebung hätte man es in der preußisch-deutschen Hierarchie gewiß gewertet, wenn der damalige Präsident der Landesverteidigungskommission, der bei offiziellen Anlässen Kaiser und Reich zu vertreten hatte, einer „nur" zivilen Beschäftigung nachgegangen wäre.) Der Kronprinz, gewiß kein starker Mann und intellektuell gewiß nicht Fontane, geschweige denn Burckhardt ebenbürtig, hatte für das politische Maß bessere Augen als die preußischen Falken: „Bismarck hat uns groß und mächtig gemacht, aber er raubte uns unsere Freunde, die Sympathien der Welt und — unser gutes Gewissen. Ich beharre noch heute fest bei der Ansicht, daß Deutschland ohne Blut und Eisen allein mit seinem guten Rechte moralische Eroberungen machen und einig, frei und mächtig werden konnte . . . Der kühne, gewalttätige Junker hat es anders gewollt."
Freilich, einiges wäre uns auch dann nicht erspart geblieben: Gegen die Unsäglichkeiten des europäischen Kolonialismus hätte der Ehemann einer empire-bewußten Engländerin nichts eingewendet, zur Arbeiterbewegung fand er nur ein ganz rechtes Verhältnis. Und als 1870 einige um ihre Souveränität besorgte deutsche Landesfürsten in Sachen Reichsgründung Umstände machten, wollte er sie, jeder Zoll bismarckisch aufgewallt, mit Gewalt unter einen Hut, unter die Hohenzollernsche Einheitskrone zwingen. Aber der Impuls verflog, und am Ende war er doch der Liberalsten einer unter denen, die Ruf und Namen hatten. So hätte er ein wenig das Gedächtnis an jene Liberalen wachhalten können, bei deren Aufstand sein Vater, später als Kaiser Wilhelm der Große gefeiert und dem Volke als gütiger Heldengreis präsentiert, ein einziges Mal in seinem Leben wirklich überdurchschnittliches geleistet hatte, als Kartätschenprinz.
Man kann da zwar nicht von einer „Wendung durch Gottes Fügung", wohl aber von einer gekonnten Leistung sprechen: Vor der endgültigen Niederschlagung aller deutschen Freiheitsbewegungen waren diese von der Etsch bis an den Belt auf politische Einheit gerichtet; danach verliefen sie von den Spartakisten bis zu den rheinländischen Separatisten zentrifugal bis zur Zerstörung der Reichseinheit Was wäre wenn? Auch ein Mann aus Eisen hätte gegen die Fälschungen und Irrwege der herrschenden Schicht nicht viel mehr vermocht als der freundliche Mann mit den weichen Zügen unter dem martialischen Bart, als der Vater Wilhelms II.
Vielleicht wären auch in prominentester Regie die Wirkungsmöglichkeiten einer solchen Instanz begrenzt gewesen; ihre Anlässe zu wirken dagegen fast unbegrenzt. Denn die Wahn-ideen, die schon lange in manchem deutschen Wirrkopf wucherten, wuchsen jetzt schneller als Militärhaushalt und industrieller Ausstoß. So erklärte ein Menschenalter nach der Reichs-gründung am 22. März 1905 bei einer Denkmalsenthüllung in Bremen Wilhelm II. in Abwandlung eines Satzes aus der Bergpredigt allen Ernstes und von vielen ernst genommen: „Wir sind das Salz der Erde". So ähnlich dachte Adolf Hitler dann schließlich auch. 1870/71: zum Gedenken Retrospektiv läßt sich so leicht mit löblicher Nutzanwendung auf die Gegenwart spekulieren, und die Jubiläumsjahre 1970/71 könnten, soweit diese Vergangenheit noch lebendig ist, Anlaß zu sachlich-analytischer Rückschau geben und gegeben haben. Die deutschen Fernsehanstalten vertieften und veranschaulichten das bislang herzlich wenig: Eine billige Persiflage auf die alte „Wacht-am-Rhein" -Stim-mung im III. Programm, einige Szenen, in denen Journalisten die Erklärungen der Leute an den Machthebeln, selbstredend in zeitgenössischen Anzügen und Uniformen, anhörten und mit pfiffigen Gegenfragen kaum in Frage stellten, waren alles. Auch bei den Buchverlagen tat sich nichts Sonderliches. Am bemerkenswertesten vielleicht ein Werk über „Die Reichsgründung 1870/71 — Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen"
Bewältigung der Vergangenheit?
Man hat sich, was die Jubiläen des deutsch-französischen Krieges und der Reichsgründung angeht, offensichtlich nicht allzu arg und umfassend um eine sogenannte Bewältigung der Vergangenheit bemüht und damit wohl keine große Unterlassungssünde begangen. Denn die für die politische Bildungsarbeit wichtigste Zielgruppe, die Jugend, läßt, was der Väter Herz erwärmte und höher schlagen ließ, kalt. In Frankreich mögen die Dinge anders liegen; einer Meinungsbefragung zufolge soll die Mehrheit der männlichen Franzosen den Wunsch haben, napoleonische Charakterzüge zu besitzen, also noch viel weiter als bis 1870 zurückzuschauen. Dort scheint das Bewußtsein geschichtlicher Kontinuität, wiewohl verblassend, immer noch bildende und damit auch politisch bildende Kraft zu besitzen. Mir wurde das schlagartig deutlich, als ich an den Pariser Kiosken volkstümlich illustrierte Publi-kationen über frühere Waffengattungen, wie die Kürassiere, im Aushang sah und in der Auslage eines mondänen Herrenausstattungsgeschäftes einen zerschossenen Dragonerhelm aus dem Ersten Weltkrieg: Vergleichbares wäre in der Bundesrepublik wohl nicht möglich.
Nun hat es gewiß nicht an bemühten Versuchen gefehlt, uns und vor allem die Jungen nach dem Kahlschlag des Jahres Null an der weithin beklagten Flucht in die Geschichtslo-sigkeit zu hindern, das Bewußtsein zu vermitteln, daß unsere Gegenwart notwendigerweise das Ergebnis der Geschichte, also auch und vor allem der deutschen Geschichte ist. Aber dabei stand das Naheliegende, das jüngst Geschehene notwendigerweise im Mittelpunkt. Und je mehr sich die Erkenntnis durchsetzt, daß die Bundesrepublik nicht wirklich und in allem der Nachfolger des deutschen Reiches, sondern ein Staatswesen sui generis ist, desto weniger Anlaß besteht, längst erloschene Beziehungen zu Ereignissen und Epochen zu verlebendigen, deren Verlauf Gegenstand der Geschichtsbücher, aber nicht unseres vitalen Interesses ist. Diese Vergangenheit hat jede Gewalt über uns verloren, es braucht sie darum auch keiner zu bewältigen.
Image-Bildung und Bilderwelt
„Macht" und „Geist" in den USA Ganz gegenwärtig und kaum zu bewältigen ist das alte Geist-Macht-Problem, dem Antagonismus zwischen „Elementarem" und „Historischem" verwandt, nicht nur in Deutschland: „Stern" -Herausgeber Henri Nannen sah in den Bücherregalen des früheren US-Präsidenten Johnson nur Werke nach dem Geschmack mittelständischer Durchschnittsamerikaner. Daß sich damit mehr als eine Geschmacksfrage stellte, zeigt die Vorliebe von gleich vier Präsidenten der Vereinigten Staaten für den Maler Andrew Wyeth, über den Hans Strelow sagt: „Wyeths Werk erlaubt nicht nur Aufatmen von der modernen Kunst, sondern auch Flucht aus der technischen Welt in eine ländliche Idylle."
Die Problematik dieser Haltung machte Vizepräsident Agnew 1969 offenbar: „Für Amerikaner ist es Zeit, zu dem harten, frischen Realismus und der einzigartigen Mischung von Optimismus und Pragmatismus zurückzukehren, die Amerika zu einer Großmacht werden ließ. Der Mann, der an Gott und sein Vaterland, harte Arbeit und eine ehrliche Chance glaubt, wird gerügt wegen seiner archaischen Ansichten. Der Nation, die mehr Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Chancen als jede andere Nation in der Weltgeschichte gegeben hat, wird gesagt, sie habe sich des Bankrotts schuldig zu bekennen. Die Zeit ist gekommen, dem geistigen Theater des Absurden Einhalt zu gebieten, die Motive der Autoren der Absurdität zu untersuchen und die Hauptdarsteller des Stückes herauszufordern."
Wer dieses Zitat aufmerksam gelesen hat, findet vielleicht Trost bei der Erinnerung an John F. Kennedy, der vielen als Personifikation lebendiger Demokratie gilt, während Vizepräsident Agnew bei uns eine so schlechte Presse hat, daß selbst ein so behutsam konservatives Blatt wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung Andeutungen über seine autoritärrestaurativen Tendenzen macht. Dabei gibt es bei allen Verschiedenheiten vielleicht doch mehr Entsprechungen zwischen Agnew und Kennedy, als man gemeinhin glaubt — das Beispiel Andrew Wyeth deutet das bereits an. Zwar ließ John F. Kennedy anläßlich seiner Inauguration zum Präsidenten der Vereinigten Staaten den berühmtesten Dichter seines Landes Verse über dieses Land und seine Menschen sprechen. Aber Robert Frost, 1875 geboren, war da schon ein uralter Mann. Seine romantisch verhaltenen Verse stehen Browning näher als den Beatniks, zu denen auch Kennedy kein Verhältnis fand.
Politik, Kunst und Charakter Lichtenberg irrte in der Meinung, „daß ein Regent meistens ein schlechter Mann ist". Und in dem unrichtigen Sprichwort, daß Politik den Charakter verdirbt, wird manchmal Ursache und Wirkung verwechselt: Sie zieht, wir wissen warum, eben auch Charaktere an, in denen etwas verdorben im Sinne von „zunichte gemacht" ist: vielleicht die Hoffnung auf Er-und Ausfüllung durch die Kunst, die dubiose Größen der Weltgeschichte wie Napoleon, Hitler und Mussolini früh begraben mußten. Man mißdeutet ihre Metamorphose vom künstlerischen Stadium in das der politischen Aktivität als Weiterentwicklung, vielleicht, weil sie so miserabel gedichtet und gemalt •haben. Oder weil, wer sich bei weltgeschichtlichen Psychosen groß hervortut, em Idolbedürfnis unserer heimlichen Unvernunft immer noch als Riese erscheint. In allem ist, wer sich in der Anstalt für den Kaiser von China hält, von jenem, der sich realiter dazu macht, vielleicht doch nicht so grundverschieden. Die biographische Anamnese von historischen Gewalttätern zeigt jedenfalls, daß sie ihre Laufbahn als Geschlagene einschlugen, „verdorbener" als weniger verderbliche Tatmenschen vor oder nach ihnen — auch Napoleon, dem Frankreich, wie Meinungsbefragungen ermittelten, nicht nur heimlich nachtrauert, während über Hitler und Mussolini die Geschichts-und Gerichtsakten wohl geschlossen sind. Ein Indiz für sein Karrierestreben findet sich in dem Autopsie-Bericht aus St. Helena, der von seiner gering geratenen Männlichkeit und der Herausbildung sekundärer weiblicher Geschlechtsmerkmale berichtet. Man muß, unter anderem, wohl ein petit caporal sein, um ein großer Napoleon zu werden. Männer mit Gardemaßen haben nicht das Zeug dazu.
Wo Kunst so immense Kompensationsbedürfnisse unzureichend und nur als ein Mittel von vielen stillt, wird sie auch von ursprünglich auf sie Gerichteten zu Dekoration und Staffage degradiert. Die Nachwelt, die Kaisern und Dichtern so gern Lorbeerkränze stiftet, hat das bei Napoleon übersehen. In seiner Feld-bücherei stand der „Werther", den er siebenmal gelesen haben will und dann doch verächtlich „Zeug für Domestiken" nannte. Was ihn ergriff, mußte von anderer Art sein als eine Bellestristik, mit deren Helden er sich nicht identifizierte. So erweist sich auch die Mär von der atemberaubenden Begegnung des „Olympiers" Goethe und des korsischen Heros in Erfurt als fauler Heldengedenkzauber: der Kaiser sitzt und führt das Gespräch; Goethe steht, wie stets fasziniert angesichts realer Macht, obwohl er Jahre später in einem Hol-pervers zur traditionellen deutschen Intellektuellenhaltung zurückfindet: „Sind Könige je zusammengekommen, so hat man immer nur Unheil vernommen."
Wäre es anders gekommen, wenn Napoleon im Angesicht von Goethe nicht geglaubt hätte, irgendwelche Staatsaffären wichtig nehmen zu müssen? Die Konjunktivfrage impliziert die Möglichkeit, daß die Historie ihre Launen hat, daß sie im Rahmen objektiver Gegebenheiten anders als in Wirklichkeit hätte verlaufen können. Den literarischen Versuch, Napo-leons vita nachträglich zu verändern, hat Dieter Kühn
Noch einmal: Was wäre, wenn?
Zu der Kunst ihrer Zeit hatten die meisten Aktivisten der Geschichte keine oder eine negative Beziehung. Was wäre anders gekommen, wenn es möglich gewesen wäre, ihnen die Moderne, deren ganze Richtung ihnen so gar nicht paßte, durch ein Zauberwort als Pflichtlektüre aufzuwingen? Wenn Wilhelm II. die Expressionisten erfaßt, wenn Hindenburg die „Weltbühne" verstanden, wenn Hitler von seinem Landsmann Musil etwas geahnt hätte? Wenn ihre Begegnung mit dem Zeitgeist so stattgefunden hätte, sie wären so außer sich geraten, daß sie, erweckt oder geheilt, zu sich selbst gefunden hätten. Dann wäre ihr Leben wie unsere Geschichte anders verlaufen, wenn es wahr sein sollte, daß Männer und ihre Ideen das anrichten, was man Geschichte nennt. Oder: sie hätten vor der Wahl gestanden, sich oder die, die sie schockierten, — wie auch immer — zu verdrängen, also wohl doch keine Wahl gehabt, das Gültige gelten zu lassen.
Der Staat: Forderung und Überforderung Diese Abwehrhaltung, die beispielsweise Carl J. Burckhardt an Churchill (das „ewig Gestrige in seinem Ton") moniert hat, läßt sich paradoxerweise auch bei politischen Revolutionären eigentlich immer feststellen. Ich erinnere an die zahlreichen Äußerungen Lenins gegen die zeitgenössische, wirklich revolutionäre Kunst, an seine konservative Haltung gegen die von seiner Parteigenossin Aleksandra Kollontaj propagierten „Wege der Liebe" in Richtung auf die sexuelle Emanzipation der Frau, an seine durchaus „konterrevolutionäre" Vorliebe für den harmonischen Wohlklang Tschaikowskys, der die zunächst ganz der Vergangenheit zugewandte russische Ballettradition begründete. Die zehn Tage der Oktoberrevolution, die die Welt erschütterten, ließen die heile Welt Lenins ganz ungeschoren. (Tschaikowsky war 1893, 24 Jahre davor, gestorben; seine* Musik 1910 durch die neuartige polytonale Komposition des „Feuervogels" von Strawinsky abgelöst worden. Auch gegenüber anderen russischen Neuerern der Kunst wie Archipenko und Kandinsky verhielt sich Lenin „konterrevolutionär".)
Aber revolutionär oder nicht: Regierungen benutzen die schöne Nutzlosigkeit der Künste gern zur Ausschmückung ihres Image; preiswerter als mit Subventionierungen der Kunst kann kein Staat mit sich Staat machen. Bei solcher Öffentlichkeitsarbeit stören naturgemäß keine unbeguemen Wegweiser zu den Problemen von morgen, Kassandrarufe oder heftiges Kopfschütteln; erwünscht ist, was gefällt, und nur das; und für Normalverbraucher Ungenießbares nur dann, wenn es zum guten Ton gehört, zu tun, als verstehe und genießt man Neutönerisches mit sublimer Kennerschaft. Wer „in" sein will, muß sich das schon mal ein paar Stunden Stockhausenscher Musikberieselung kosten lassen und den Maestro zu seinen Gästen zählen. Man zeigt sich täglich von der Sonntagsseite, kultiviert, mit Gespür fürs Ewige und das auf dem internationalen Kunstmarkt Gefragte; Goethe macht sich beim Kulturaustauschgeschäft immer gut — oder Beethoven-ein Hauch von ihrem deutschen Wesen haftet jedem deutschen Wesen an, sollte man meinen, soll man meinen. So weht der deutsche Geist, wohin er will, das Schöne, das Edle, das Wahre; es ist eine Lust, zu loben. Was einem Markenartikel recht ist, ist dem Staat billig. Warum nicht? Der Staat sind wir, oder?
Wer von ihm allerdings „Kulturförderung" als sittliche Verpflichtung (und nicht als zweckbestimmte Maßnahme) fordert, überfordert ihn, weil Literatur und Kunst, gewollt oder ungewollt, Unruhe stiften und nicht nur „was bleibet"! Sie vor allem sind es, die überkommenes und so das vom Staat repräsentierte Gefüge unserer Gesellschaft in Frage stellen.
Die gleiche Sicht und Ansicht könnten sich nur bei gleichen Standpunkten einstellen, und die kann es schwerlich geben. Wenn Malraux über sein Verhältnis zu de Gaulle sagte, „er erlernte mein Handwerk und ich das seine", dann war das nicht mehr als ein gallisches Bonmot.
Ernster stellt sich die Frage, wer auf wen hört, auf wen wir mehr hören sollen.
Integrierte und Inintegrable
Die Inintegrablen Die Internationale der Eierköpfe, parteifeindlichen Formalisten und dekadenten Westler, taub gegenüber dem Appell zu staatsbürgerlicher Orientierung und Reorientation, findet bei der öffentlichen Gewalt auch demokratischer Staaten schwer Gehör, wenn sie sich der Umwelt nicht anpaßt, sich nicht integrieren läßt. Dann wird diesen Leuten aus den verschiedensten Bereichen ein und derselbe Vorwurf gemacht — von der Wirtschaft und Werbung im Westen (wenn sie sich nicht zum Geschäft der Gebrauchsgraphik und anderer so-genannter kreativer Werbung hergeben) und, das sowieso, von der DDR
Die Annäherung zwischen der politischen und der Konsumgüter-Ideologie ist hier nicht zu übersehen, die Forderung an die Kunst, Nützliches, Praktikables zu schaffen, wird da wie dort erhoben. Für die Kunst macht es keinen Unterschied, ob sie für die Früchte der Revolution oder für Zitrusfrüchte eingespannt wird.
Sie muß dann — eine unzumutbare Zumutung — in der vorgeblich kreativen Werbung oder volksnah mit politischem Zungenschlag der Zeit nach dem Munde reden, statt ihr auf den Zahn zu fühlen, Wesentliches unterschlagen, statt Unwesentliches auszusparen. Sie nimmt die Menschen, wie die Menschen eben sind, und für bare Münze meistens Worte, die keinen rechten Kurswert mehr habender dernier cri von Politik und Wirtschaft stimmt selten mit dem überein, was bei der Intellegenzia up to date ist. Was bei solcher Überein-stimmung herauskommt, muß nicht auf Schönfärberei und Schwarz-Weiß-Malerei hinauslaufen. Wir besitzen Autoren, die dem moralischen Imperativ gesellschaftlichen Engagements folgen und die redlich um unsere kritische Bewußtseinsbildung bemüht sind. So verschreiben sich Erich Fried in London und Rainer Kunze in Thüringen vermeintlich oder wirklich guten Zwecken. Aber da gibt es gute Gedichte für schlechte Sachen und schlechte für gute. Die stärksten Gedichte in Frieds „und Vietnam und“ zum Beispiel sind die mit den bösesten Anklagen gegen Washington, die schwächsten von Kunze sind die ideologisch eingefärbten.
Auch bei unseren Romanciers fällt manchmal auf, daß eine Korrelation zwischen Aussage und Formniveau fehlt: wo sie sozialkritisch und sozialpädagogisch wirken wollen, gerät ihnen meist nur die überlieferte Form.
Einen Beleg dafür liefert eine Kritik von Joachim Kaiser über Günter Grass'„Blechtrommel" — ein für einen Bestseller erstaunlich gutes Buch — in der „Süddeutschen Zeitung" vom 31. Oktober 1959. Kaiser schrieb, durchaus nicht abschätzig, Grass bediene sich „keiner modernistischen Stilmittel. Sein Buch schreitet ruhig und übersichtlich voran" ..., die absurde Waghalsigkeit des Romans beruhe nicht „auf der großen Differenziertheit des neumodischen Schlauches, in dem sich veralteter, häufig geschmeckter Wein verbirgt, sondern auf der neuartigen, bestürzend natürliB chen Säure des Weins, den ein, vertrauenerweckend altmodischer Schlauch umgibt“. Diese Komplimente umschreiben, daß sich Grass an überlieferte Formen hält. Aber das Neue in der Kunst zeigt sich durch das Sprengen der alten Form an: Neutönerei ist in Oskars Trommeln nicht zu vernehmen. Die Sterbestunde der geschlossenen Kunstform Roman wurde freilich schon eingeläutet, als der Autor das Licht der Danziger Welt noch nicht erblickt hatte: am 2. Februar 1922, als bei Shakespeare & Co. in Paris der „Ulysses" erschien. Spätestens seit Joyce bringt die Lust zu fabulieren vorwiegend andere als literarische Erträge ein. Aber welche Macht der Erde hätte dem Iren mit Zureden oder Gewalt etwas von dem staatsbürgerlichen Verantwortungsbewußtsein vermitteln können, dem Grass sich so spektakulär verpflichtet fühlt? Eher hätte James Joyce Irland integriert.
Wenn Repräsentanten unserer Gesellschaft um die Integration der Inintegrablen bemüht sind, dann geschieht das mit moralischem Nachdruck, aber ohne Zwang, wie in dem Aufruf von Carlo Schmid, „die Intelligenz sollte sich entscheiden, innerhalb der Parteien zu wirken und nicht nur an ihrem Rand", wobei auch von klugen Köpfen nicht immer begriffen wird, daß und warum viele Künstler zwangsläufig am Rande der Gesellschaft stehen, ohne sich deshalb als deren Randerscheinungen zu begreifen. Brecht fühlte sich im Grunde auch noch gegen Ende seines Lebens in der DDR „asozial in einer asozialen Gesellschaft". Ein Heutiger drückt das so aus: „Die Kunst hat immer weniger mit der Welt gemein; sie schaut nach innen. . . . Die Welt ist draußen."
Hier drängt sich die Vermutung auf, daß es sich mit Lichtenstein, und nicht nur mit ihm, wie mit den Anhängern politisch-extremistischer Bewegungen verhält, die nach Scheuch „sozial oder nach ihrer Persönlichkeitsstruktur marginal sind"
In einer verdienstvollen Untersuchung von I lartin Doehlemann heißt es dazu: „Mit zunehmender gesamtgesellschaftlicher Isolierung der jüngeren Schriftsteller steigt die Progressivität ihrer Ideologien. Das ist eine empirische Bestätigung der weitverbreiteten Vermutung, daß eine soziale Ausgliederung oder mangelhafte Eingliederung von Gesellschat’smitgliedern deren Anfälligkeit für soziale Antihaltungen steigert. Die Außenseiterposition der Künstler, und weiterhin auch: die Rollen-unklarheit und Statusunsicherheit der Jugendlichen, die soziologische Zwischenlage der Studenten, das . soziale Freischweben'der Intelligenz werden angeführt zur Erklärung der Kritik-und Rebellionsbereitschaft dieser Gruppierungen."
Hier wird allerdings nicht der Lustgewinn in Rechnung gestellt, den jedes Heraustreten aus Norm und Reihe erzeugt; anders wäre nämlich nicht zu erklären, daß manchem wohl etablierten Intellektuellen die Außenseiterhaltung als Statussymbol, exklusiver als jeder Mercedes-Stern, dient.
Außer Betracht bleibe, daß diese Abseitsstellung zu den wenigen deutschen Traditionen gehört, die den 1945 eingeleiteten Umbruch, jedenfalls im Westen, ungebrochen überlebten. Aber was früher als spezifisch deutsch galt ist heute unter vielen Künstlergruppen der westlichen Hemisphäre Usus. Sie setzen ihre Markierungen, unbekümmert darum, ob die Gesellschaft diese beachtet, und die Gesellschaft beachtet sie ihrerseits als skurrile Phänomene ohne tiefere Bedeutung. Keine Brücke scheint sie zu verbinden — außer der immer wieder neuen Verwunderung über das So-Sein der anderen. Und die beruht ganz auf Gegenseitigkeit. Gegen die Unlösbarkeit des Problems hilft kein good-will, kein freundliches Zureden, wenn man der geschichtlichen Erfahrung glauben darf. Wie sollte sich in eine Gemeinschaft integrieren, wer sich als „Richter der Lebendigen und der Toten" (Jakob Michael Reinhold Lenz), als der „einzig wahre Mensch" (Schiller) fühlt, wenn auch der politisch engagierte Autor dem Künstler und nicht dem Politiker die bessere Übersicht über das kommende Weltgeschehen zutraut? „Was eine Gesellschaft und ein Jahrhundert werden, weiß die Literatur voraus — oder niemand weiß es" (Heinrich Mann). Das ist ein Erfahrungssatz und nicht Ausdruck von Größenwahn. Damit ist nicht gemeint, daß der Dichter Wahrsagerei über das Kommende ausübt: was sein wird, kündigt sich eher in der neuen Form eines Kunstwerks an.
Die neuerliche Selbstbescheidung prominenter Autoren, die ihr Wort nicht über das des „normalen" Staatsbürgers, also ihr Licht unter den Scheffel stellen, verträgt sich mit dieser These nicht. Denn wenn sie die Welt nicht schmerz-und gewissenhafter als andere wahrnähmen, wären sie vielleicht begabte Fabulierer, Handwerker, Spezialisten einer Branche — bestenfalls Sonderlinge, aber nichts Besonderes, Zwecken und nichts anderem dienlich.
In der Zweckdienlichkeit liegt ihre Stärke also nicht, und eine Integration über das unerläßliche Kunstgetriebe hinaus ginge über vieler Kräfte. Dafür steht Hölderlin exemplarisch in Worten, die er seinem Bruder schrieb: „Weißt Du die Wurzel alles meines Übels? Ich möchte der Kunst leben, an der mein Herz hängt, und muß mich herumarbeiten unter den Menschen, daß ich oft so herzlich lebensmüde bin. Und warum das? Weil die Kunst wohl ihre Meister, aber den Schüler nicht nährt . . . Nicht wahr, ich bin ein schwacher Held, daß ich die Freiheit, die mir nötig ist, mir nicht ertrotze. Aber sieh'. . ., dann leb'ich wieder im Krieg, und das ist auch der Kunst nicht günstig."
Dichter sind offenbar anders als die anderen, und wenn sie noch so sehr Menschen wie Du und Ich sein wollen.
Pop Art entzieht sich der sozialen Ein-und Unterordnung durch das überspielen aller Risiken und Konflikte. Aber auch Autoren mit intaktem Moralkodex, die von der Unzerstörbarkeit des Menschenbildes überzeugt sind, wie der konventionelle Erzähler Alexander Solschenizyn, verweigern sich einem solchen gesellschaftlichen Anspruch: „Ein großer Schriftsteller ist doch so etwas wie eine zweite Regierung."
Solschenizyn hat an anderer Stelle, und keineswegs aus Gründen der Opportunität, versichert, daß dieser Satz durchaus nicht nur an die Adresse der Sowjetmacht gerichtet ist — nicht nur, aber in erster Linie. Er wie jeder Schriftsteller weiß sehr wohl zu unterscheiden, ob er in der Form des Imperativs oder des Konjunktivs angesprochen wird, ob er im Falle eines Falles in einer Heil-oder Strafanstalt oder aber im Naturschutzpark des III. Fernsehprogramms gastieren darf (es sei denn, sein Welterfolg werde „gemacht"; dann freilich erweisen ihm alle Programme Lob und Ehr’!)
Form und Inhalt Es empfiehlt sich, in diesem Zusammenhang auf ein Mißstverständnis zu verweisen, dem zwar nicht die, aber manche Politiker, die sich sonst durch überlegene Sachkenntnis auszeichnen, unterliegen, wenn sie Kunst nach ihrem Inhalt messen. So galt manchem von ihnen Horst Wessel gleichviel wie Bert Brecht, weil beide von der parlamentarischen Demokratie nichts hielten. So setzten sich wackere Demokraten gegen ihre literarischen Gegner von Rechts und Links wie gegen böse Leitartikler, Pamphletisten und sonstige Opponenten zur Wehr. Das ist, versteht sich, ihr gutes Recht, aber sie tun gut daran, es nicht unbedacht auszuüben. Bedacht sollte werden, daß die Form einer künstlerischen Aussage schwerer als deren Inhalt wiegt, ja, daß die Formsache in der Kunst zur Hauptsache werden und im Wi-derspruch zu Tendenz und Engagement des Künstlers stehen kann. Hier läßt sich aus der Geschichte lernen. 1890 trat der sentimentale Hermann Sudermann mit dem sehr effektvollen Drama „Die Ehre" hervor; und alle Welt von Stand und Geblüt strömte zu den Aufführungen, sich zu entrüsten. Der belanglose Autor hatte mit gekonnter Dramentechnik unter Verwendung billiger Klischees den sittlichen Wert der Ehre in Zweifel gezogen. Jedermann hätte an seiner Sprache ablesen können, daß er literarisch ein Leichtgewicht war, demgegenüber sich selbst ein Epigone des Naturalismus wie der heute nur noch im Fernsehen mögliche Gerhart Hauptmann wie ein gigantischer Neuerer ausnahm. Man tat sich trotzdem schwer mit Sudermann und seiner spätestens seit Voltaire fragwürdig gewordenen „Ehre", von der in unseren Jahren nur noch Kriegervereine und Jürgen von Manger reden.
So erneuert auch der Puritaner Rolf Hochhuth mit seiner konservativen Diktion und seinem traditionellen Handlungsabläufen die Bühne nicht. So erregt er alles andere als künstlerischen Anstoß. Umgekehrt wurden die Bilder von Franz Marc, der unter dem Einfluß von Macke und Kandinsky zum Blauen Reiter fand und schon 1910 mit Zeichnungen und Aquarellen zur abstrakten Malerei vorstieß, im Dritten Reich aus den Museen entfernt, obwohl er sich, keineswegs ein Konformist, ganz system-konform 1914 freiwillig zu den Fahnen gemeldet hatte und 1916 für Deutschlands „Ehre" gefallen war. Ein Beispiel mehr für die Irrungen, Wirrungen zwischen Kunst und Gesellschaft: Als 1926 im Berliner Wedding Bilder des pazifistischen, antikapitalistischen Malers Otto Dix ausgestellt wurden, protestierte die sozialistische Arbeiterschaft lauthals gegen seine Darstellung der Arbeiterfrauen.
Adolf Behne griff in einem Artikel in der „Weltbühne" vom 12. 3. 1926 „An den Verein kommunistischer Kunstmaler" John Heartfield (Herzfelde) an, der sich zum Wortführer einer Kunstanschauung machte, die später den Namen „sozialistischer Realismus" erhielt. Behne, selbst Kommunist, berührt darin den wunden Punkt der erst später zur Doktrin erhobenen Meinungen kommunistischen Banausentums: „Sie bezweifeln, daß selbst die kühnsten Farbgedanken imstande sein werden, auch nur ein Dutzend Arbeiter gegen die Herrschaft des Kapitals in Bewegung zu setzen oder auch nur ein Gewehr zum Abfeuern zu bringen. Ich denke allerdings, das In-Bewegung-Setzen, worunter doch wohl die unmittelbare politische Aktion zu verstehen ist, das sei Sache der politischen Strategen. Ist denn plötzlich der Bürgerkrieg für Sie eine ästhetische Angelegenheit geworden? Kunst kann freilich das Denken und Fühlen der Menschen beeinflussen, und insofern kann sie der In-Marsch-Setzung vorbereitend helfen — aber eben nur, wenn sie die beste, kühnste, freiste Kunst ist. Oder haben Sie besonders Vertrauen zu jemand, der sich auf Schritt und Tritt bevormunden läßt?
Ihr ganzes Denken ist opportunistisch: . Erst müssen wir die Massen packen'. Und als eines der vielen Mittel erscheint Ihnen — zwar nicht die Kunst, aber die auch von den Bürgern stets mit Kunst verwechselte Möglichkeit der Illustration, der Wiedergabe. Sie täuschen sich. Diese Dinge haben höchstens die Kraft, schnell verpuffende Stimmungen zu erzeugen, und ob diese Stimmungen Ihnen immer sehr günstig sind, ist noch fraglich. Vielleicht gibt Ihnen die Tatsache zu denken, daß in der Ausstellung Wedding Arbeiter an Otto Dix Stimmungs-Kritik geübt haben, indem sie die Entfernung seiner Proletarier-Weiber verlangten — lange vor der Deutschnationalen Volkspartei. Wenn man Massen packen will, darf man ihre Psychologie nicht mißachten.
Spielen Arbeiter Schach, dann hat es einen Sinn, daß sie so gut, so brillant wie nur möglich spielen, weil diese Schulung sie für alle Denkarbeit, also auch für den . Marsch'geeigneter macht — denn ob mit oder ohne Waffe gekämpft wird: Sieger ist nicht der dickere Bi-ceps, sondern das stärkere Gehirn.
Ihre Logik ist aber: Es kommt nicht darauf an. gut zu spielen, sondern den Klassenstaat zu entlarven. . Arbeiter, beachtet nicht die Regeln, die eine Reihe von Proletariern zum Schutz vor König und Königin stellen!'
Sie verwechseln immer Sache und Form.
Mein Standpunkt ist: Jene revolutionierende Kraft, die Kunst und Wissenschaft zu leisten fähig sind (und die nach meiner Überzeugung nicht gering ist), kann nur stecken in ihrer spezifischen Leistung als Kunst, als Wissenschaft — nicht aber in der die faktische Arbeit nur einkleidenden Außenschicht oder Fassade, das heißt: Modell, Thema, Inhalt, Gedanke (innerlich!). Indem Sie einseitig die (äußerlichen!) Fassaden-Werte propagieren, die von der anderen Seite her das gebildete Spießertum als , Neue Sachlichkeit'begeistert grüßt, hemmen Sie die wahre revolutionäre Möglichkeit der Kunst und der Wissenschaft. Sie sind — entschuldigen Sie freundlichst — zwar rot angestrichen, aber (innerlich!) stockkonservativ."
Schon damals bekämpften sich im marxistischen Lager „Inhaltisten" und „Formalisten": 1938 bezog Brecht mit der Verleugnung eigengesetzlicher Formprobleme Stellung: „Alles Formale, was uns hindert, der sozialen Kausalität auf den Grund zu kommen, muß weg; alles Formale, was uns verhilft, der sozialen Kausalität auf den Grund zu kommen, muß her." 19a)
Aber Brechts Formniveau widerlegt seine Meinung über den Formalismus. Nicht das Volk, an das er sich wandte, verstand ihn zu Lebzeiten, sondern die Minorität der Linken in aller Welt. Die Form prägt, den Inhalt muß man sich erst einprägen, wo nicht einfach Werbung oder Propaganda betrieben werden. Brecht verwechselte hier Inhalt und Form.
Ein Boogie-Woogie, ein Gedicht von Gottfried Benn, zu Ehren einer Diktatur gemacht, hätten deren Fundamente eher gelöst als gefestigt: le style est l'homme, und die Form ist das Kunstwerk. Daß Andre Chenier, der Vorläufer der französischen Romantik und Verfechter einer poesie pure, ein Feind der Jakobiner und einer der Mitverfasser von Ludwigs XVI. Verteidigungsrede war, ist für uns, so weit uns sein Tod unter dem Fallbeil Robespierres nicht rührt, ohne Belang. Die Beziehung der Kunst zu politischen Richtungen beruht meist auf grandiosen Mißverständnissen, wie bei dem großen Anreger der modernen anglo-amerikanischen Dichtung Erza Pound, der im Entsetzen über den Wucher der kommerziell-kapitalistischen Wallstreet-Welt auf eine Erneuerung durch die faschistische Staatsordnung setzte. (Weshalb er im Krieg über Radio Rom antiamerikanische Propaganda machte, und 1945 dank dem Einspruch der ganzen literarischen Welt vor dem fälligen Hochverratsprozeß durch Einlieferung in ein amerikanisches Irrenhaus bewahrt werden konnte; aus dieser Haft wurde er erst 1958 entlassen.)
Auch der zivilisationsfeindliche Knut Hamsun, der mit den deutschen Faschisten kollaboriert hatte, wurde nach 1945 als psychiatrischer Fall behandelt. Auch Hamsun wurde durch die Unvereinbarkeit von gesellschaftlicher Realität und erlebtem Sein politisch in die Irre geführt. Man hat ihm am Ende Kontakt-und Wirklichkeitsverlust attestiert. Aber wenn man den Bericht des 90jährigen
Das prominenteste deutsche Opfer solcher Mißverständnisse war Gottfried Benn, der die Unvereinbarkeit von Gesellschaft und Selbstverwirklichung, die schon in der deutschen Romantik vielfach angeklungen war, zum Axiom erhob. Die Anwendung dieses Prinzips auf die Lebenspraxis hieß bei Benn „Doppelleben". Aber der nonkonformistische Benn schaltete sich 1933 ohne Not in die faschistische Polemik gegen Humanismus und Rationalismus ein und gleich. Dieter Wellershoff hat aufgezeigt, wie Benn zu diesen blamablen Irrtümern kam, die er spätestens im August 1934 als solche erkannt hat. Aber auch dann verkennt er die Lage, wenn ihm das Ganze allmählich vorkommt „wie eine Schmiere, die fortwährend . Faust'ankündigt, aber die Besetzung langt nur für , Husarenfieber'"
Zu einer gesellschaftlichen Orientierung ist Benn nie gekommen: „Wir lebten etwas anderes, als wir waren, wir schrieben etwas anderes, als wir dachten, wir dachten etwas anderes, als wir erwarteten, und was übrig bleibt, ist etwas anderes, als wir vorhatten."
Aufschlußreich für seine Abschirmung gegenüber machtpolitischer Realität ist eine Stelle in einem Brief an Ernst Robert Curtius über eine vorgesehene Begegnung mit Vertretern der Staatsgewalt. „. . . Und nachdem ich auf der Einladung sah, daß ein Bundesminister, zwei hessische Minister, vier Universitätsrektoren und die dazugehörigen hohen Kommissare das Ehrenpräsidium bilden, fühle ich mich nicht ganz am Platze, andererseits irritiert es mich auch nicht."
So läßt auch der Militärarzt Benn in seiner Welt-und Nebelschau humanitas und Mitgefühl mit dem Schmerz einer blutenden Welt Vermissen; so, wie Ernst Jünger sich von der Menschlichkeit ab-und der Erforschung von Gesteinen, Insekten und Drogen zuwandte, flüchtete sich Benn von der Teilnahme am Leben und Sterben ringsum in die Rolle des unbeteiligten Zuschauers: Verzweiflung zwingt zum engagierten Disengagement: „Die Geschichte! Werbesklaven, Feldsklaven, Troßsklaven unten, darüber Fanatismus für Zirkuspferde, für Wasserorgeln, eintönig aber laut, groß wie Stadtkutschen. Dann einige verlorene Schlachten, oder die zahllose Klasse erschlägt einige Tyrannen, und all s ist zu Ende für eine Weile. Nur für eine Weile — die Ge-schichte in ihrem regelmäßigen und fruchtbaren Rhythmus mauert die Epochen ineinander, aus dem Perserschutt erbaut sie das Parthenon, die antiken Tempel macht sie zu Steinbrüchen des Quattrocento, unter ihren Fittichen leben die Foren weiter als Ziegenberge und die Ka-pitole als Kuhweiden, die Wölfin legt sich in die Schafställe und säugt Lämmer — also man muß stehn und sich halten, wo die Herren Lorgnetten tragen und in die Porphyrsärge sinken, man muß stehen und schauen, dann wird der Rhythmus kapital, man muß schauen, zurücktreten, sich erheitern, dann knospen die Galeeren, Wunden heilen durch Maden und die Universalgeschichte wird wunderbar."
Wir machen es uns zu leicht, wenn wir Pound, Hamsun und Benn primär politisch werten. Oder, nach dem L’art-pour-l’art-Prinzip, nur künstlerisch, ohne gesellschaftliche Bezüge. Vielleicht fällt es ins Gewicht, wie schwer sie sich mit ihren verzweifelten, vergeblichen Ausbruchsversuchen aus der noch durch keinen Terror erzwungenen inneren Emigration in ihnen fremde Gemeinschaften taten. Da hatten es kommunistische Autoren, vom Glauben an Gemeinschaft und Zukunft getragen, unendlich leichter. Man kann auch sägen: sie machten es sich leichter. Als der Dichter des „Hinkemann", Ernst Toller, nach dem Abschluß des Stalin-Hitler-Paktes sich 1939 in New York erhängte, dozierte der nach Erscheinen seines Welterfolges „Krieg" zum Kommunismus bekehrte Ludwig Renn, daß nur die totale Hingabe vor den ausweglosen Depressionen Einsamer schützt: „Er war im wesentlichen Kommunist geworden. Aber er hatte es verpaßt, in die Kommunistische Partei einzutreten. Nun stand er ohne Halt da, den ihm die Kommunistische Partei mit ihrer Brüderlichkeit gegeben hätte. Dahin kommt ein Schriftsteller, wenn er keine gesellschaftliche Bindung mehr hat."
In einem anderen, besseren Sinne waren Pound, Hamsun und Benn haltlos, rückhaltlos, und damit nicht nur moralisch denen überle-gen, die ihr Heil in der Flucht suchten, in der Ausflucht in die Kollektive: Sie unterlagen nicht dem Zwang, den die Macht auf den Ausdruck, die Form, die Sprache derer ausübte, die sich ihr anvertrauten.
Von so gesellschaftsbezogener Literatur dachte Benn gering. Johannes R. Becher, „in seinen jungen Jahren einer der begabtesten Lyriker meiner Generation "
Ich kommentierte Pläton im Hinblick auf heutige Formprobleme einmal so: „Dabei ist es unerheblich, ob der Schöpfer einer neuen , Art'von Kunst die Absicht hat, die . wichtigsten Gesetze des Staates'in Frage zu stellen oder nicht. Strawinsky versuchte es in der , Poetique Musicale'1948 vergebens, die Gemüter zu beschwichtigen, die sich von seinen Dissonanzen beunruhigt fühlten: „Seit mehr als einem Jahrhundert häufen sich die Beispiele für einen Stil, worin die Dissonanz sich selbständig gemacht hat. Sie wurde zu einem Ding an sich. Und so geschieht es, daß sie weder etwas vorbereitet, noch etwas ankündigt. Die Dissonanz ist ebensowenig ein Träger der Unordnung wie die Konsonanz eine Gewähr für Sicherheit'.
Man darf ergänzen: Dissonanz ist kein Träger der Unordnung an sich — aber sie hat gewiß einmal einer an harmonischen Wohlklang gewöhnten Welt das Gefühl der Bedrohung gegeben. Dieses Gefühl war nicht überall gleich stark. Die demokratischen Staatswesen ließen der Auseinandersetzung über das Neue freien Lauf; die Politik kümmerte sich um die Kunst nicht viel mehr als die Kunst um die Politik. Sie überlebten trotzdem."
Ich darf weiter ergänzen: nicht nur diese Staatswesen überlebten, auch die Kunst überlebte, wo man sie nicht als „dekadent", „kosmopolitisch", „kommunistisch" oder „formalistisch" diskriminierte.
Dienende Kunst Zur äußersten Konsequenz greift Macht, wenn Kunst an bestehende Gemeinschaftsformen rührt, den Aufruhr vorstellbar macht. Belletri26) stik und die schönen Künste (sollte man dieses Beiwort nicht anderen Branchen überlassen, in denen es wie in Kosmetik, Mode und Wetterkunde noch etwas Sinn hat?) werden dabei nicht bedroht. Auch Kitsch und Epigonentum, als „schön" empfunden oder nicht, liegen außerhalb dieses Bereichs. Ebenso die Klassik, die unsere „Gebildeten" nicht gegen die Macht-ideologen des Dritten Reiches immunisierte; diese verboten folgerichtig die „Entarteten", nicht Goethe, Schiller oder Hölderlin.
Friedrich Hölderlin hat die Vende in der Zeit durchwandert, als deren royalistische, feudalistische Kräfte sich mit dem revolutionären Dritten Stand auseinandersetzten, und, nach Nürtingen zurückgekehrt, einem kurländischen Freunde (der übrigens später wie Hölderlin wahnsinnig wurde) von seinem Reise-erlebnis in dem berühmten Briefe vom 2. Dezember 1802 berichtet, in dem er sich als von „Apollo geschlagen" bekannte. Dieser Brief findet sich in einer Sammlung wieder, die Walter Benjamin unter dem Pseudonym Detlef Holz 1936 — der Faschismus warf seine Schatten voraus — in der „Frankfurter Zeitung" veröffentlichte und als Emigrant, in der Schweiz unter diesem Pseudonym und dem Titel „Deutsche Menschen — eine Folge von Briefen" publizierte. Der Titel der Anthologie sollte, so berichtet Adorno im Nachwort zu einem Nachdruck, den Export ins Dritte Reich ermöglichen. Was auch, freilich ohne sonderlichen Effekt, gelang. Die nachfolgende Brief-stelle mit der Schilderung der Vende mag verdeutlichen, welche Wahrnehmungen des Wirklichen, weit über das Tatsächliche hinaus, dem sehenden Auge möglich sind. Kein Zweifel, daß Walter Benjamin dies den Verblendeten, die schließlich auch das Tatsächliche nicht mehr wahrzunehmen imstande waren, zeigen wollte, und warum er sich gerade von der Veröffentlichung dieses Briefes von Hölderlin Hilfe für die mit Blindheit Geschlagenen versprach: „... In den Gegenden, die an die Vendee grenzen, hat mich das Wilde, Kriegerische interessiert, das rein Männliche, dem das Lebenslicht unmittelbar wird in den Augen und Gliedern und das im Todesgefühle sich wie in einer Virtuosität fühlt und seinen Durst zu wissen erfüllt. Das Athletische der südlichen Menschen, in den Ruinen des antiken Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter; ich lernte ihre Natur und ihre Weisheit kennen, ihren Körper, die Art, wie sie in ihrem Klima wuchsen, und die Regel, womit sie den übermütigen Genius vor des Elements Gewalt behüteten . .
Diese Worte, auch der letzte vieldeutige Nebensatz, erhoben bei uns nur, wer sich längst erniedrigt fühlte. Denn die Partei begann schon, sich Hölderlin neu interpretiert zu eigen und zu nutze zu machen — wie ein wenig später die DDR. 1935 erschienen Hölderlins Gesammelte Briefe (einschließlich des hier zitierten); ein Jahr nach Stalingrad war der erste friedensmäßig ausgestattete Band der Großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe von F. Beissner fertiggestellt. Diese politische Harmlosigkeit Hölderlins wie wohl aller alten Dichtung erklärt sich übrigens nicht durch den mangelnden Kunstverstand der damaligen Machthaber; in einer durch sie verkehrten Welt pflegen Banausen recht genau als „Unrat" wahrzunehmen, was sie gefährdet. Das zeitgenössische Wort, das ihre Entartung enthüllte, galt als entartet, und unsere gebildeten Stände ließen das gelten.
Am Beispiel Hölderlins läßt sich die Methodik von ideologischen Umbewertungen zeigen. Im Neuen Brockhaus von 1937 steht: „Seine meist reimlosen, in altgriechischen Versformen oder freien Rhythmen abgefaßten, an Klopstock und Pindar geschulten Gedichte bilden einen Gipfelpunkt deutscher Lyrik; sie feiern die ewigen Schicksalsmächte mit Vorliebe in den Sinnbildern der altgriechischen Göttersage. In der Klangkraft ihrer Worte, in dem tiefen Bedeutungsgehalt ihrer Bilder und Gesichte stellen sie die engste Verschmelzung altgriechischen Formensinns mit deutschem Wesen dar. Sie sind getragen von echter Vaterlandsliebe, von dem Gefühl der Allbeseeltheit der Natur und des Lebens und von der Sehnsucht nach Edlem, schönheitserfülltem Dasein in volkhafter Gemeinschaft, wie er sie in dem von ihm verklärt gesehenen alten Griechenland schon einmal verwirklicht sah."
Wo diese Umwertung aller Werte vor sich geht, wird die Abschaffung von Freiheit als befreiende Tat gefeiert. Johannes R. Becher hat das 1930 in einem Rundfunkgespräch mit Gottfried Benn so begründet: „ . . . auch ich habe an die Möglichkeit einer reinen Kunst geglaubt, denn ich habe an einen Geist geglaubt, der über den Wassern schwebt. Ich war demnach von der Souveränität und der Unabhängigkeit der Dichtung tief überzeugt, bis ich eines Tages auf Grund von Erlebnissen und Erkenntnissen Einsicht bekam in den Klassenmechanismus, der die Geschichte des Menschen und ganz besonders die heutige Geschichte der heutigen Menschen beherrscht. Ich erkannte, daß der reine Dichter, der ich zu sein glaubte, in Wirklichkeit ein höchst unreiner Dichter war, ein Dichter einer bestimmten Klasse, der bürgerlichen Klasse. Immer hatte ich, wenn auch noch so versteckt, Klasseninhalte gedichtet, und die Tendenz bestand nicht nur in dem, was ich dichtete, sondern auch in dem, was ich nicht dichtete, was ich verschwieg. Und ich verschwieg damals in meiner ganzen Dichtung das, was ich heute ausspreche, daß die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Dieser Klassenmechanis-mus ist eine Zwangsstellung, es gibt kein Darüber, es gibt kein Heraus."
Wenn Dichter sich durch eine besondere Affinität zur Wahrheit auszeichnen, dann war Becher einer, auch noch dann, als sich ihm das dichterische Wort längst versagte. Er dekuvrierte seine sozialistisch-realistische „Vergangenheitsbewältigung" 1937 durchaus zutreffend: „Wenn Kunst das beste Mittel ist, einerseits sich tiefer mit der Wirklichkeit zu verknüpfen, andererseits aber auch das beste Mittel, der Wirklichkeit auszuweichen, so hat die deutsche Literatur wohl mehr als eine andere die Kunst des Ausweichens geübt. Es lohnte sich zu untersuchen, welchen geschichtlichen Fragestellungen die Literatur in der Vergangenheit auswich und wo unsere Literatur, wenn sie sich der Historie zuwendet, das Vergangene aufholen und mit dem Leben verknüpfen müßte. Mit der Last einer ungestalteten Vergangenheit hinter sich, läuft man Gefahr, auch in der Gegenwart sich nicht zurechtzufinden."
Genau das geschah ihm. Becher fand sich dann auch nicht mehr zurecht in der Sprache, die er in ungestümer Jugend durch seinen „Fäkalien-Barock", dem unsere underground-Lyrik so unsäglich verpflichtet ist, bereichert hatte.
Das läßt sich durch die Gegenüberstellung eines stilgerecht expressionistischen Aufschreis mit ein paar Klischeeproben seiner Stalin-Hymne belegen: „Schluchz bei sanften Schwestern, wächsernes Mädchenkind!
Spucke Lungenblut! Langer Eiter rinn! Löse die Verbände fiebernd!
Mach dich frei!
Bäum empor dich! Reiß dich los mit brennendem Schrei! ..."
(1914) „Seht! Uber Stalins Grab die Taube kreist, Denn Stalin: Freiheit, Stalin: Frieden heißt. Und aller Ruhm der Welt wird Stalin heißen. Laßt uns den Ewig-Lebenden lobpreisen."
(1953)
Das Stakkato der Bürgerschreck-Verse hebt sich durch seine Bildhaftigkeit von der Ausdrucksarmut der gereimten knüppeldicken Lobesphrasen von 1953, die an Baldur von Schirach und die Seinen, aber auch an die ganz schlimmen „vaterländischen Gedichte" älterer Schullesebücher erinnern.
Zu Stalin fiel Becher ebensowenig ein wie vorher anderen zu Hitler, Hindenburg und Bismarck; auf der literarischen Bühne herrschten Unhelden wie der Hochstapler Felix Krull (1922), der brave Soldat Schwejk (1920— 23), der morbide Hans Castorp des „Zauberbergs" (1924), der arme Sergeant Grischa (1927), der „Mann ohne Eigenschaften" (1930), Brochs „Schlafwandler" und Canettis geistig erblindeter Peter Kien („Die Blendung", 1936). Becher wurde, ich weiß, er wußte es, als Autor ein Opfer des Marxismus, an den er sich verbissen hielt. So suchte der Kultusminister der DDR — Herrschaftswissen schützt vor Torheit nicht — Halt in den erstarrten Formen des Sonetts und der bei Hölderlin noch glutvollen Hymne.
Bechers „Zwangsstellung", vor 40 Jahren eingenommen, ist noch nicht geräumt, seine Vorstellung, die Welt durch das dienende Wort zu verbessern, immer noch verführerisch. So fragt Jean Paul Sartre: „Was bedeutet die Literatur in einer Welt, die hungert? Die Literatur hat aber, wie die Moral das Bedürfnis, universell zu sein. Der Schriftsteller muß sich daher auf die Seite der Mehrheit stellen, der der zwei Milliarden Hungernden, wenn er sich an Alle wenden und von ihnen gelesen sein will. Andernfalls dient er einer privilegierten Klasse und wird Ausbeuter wie sie. Um dieses totale Publikum zu erlangen, bieten sich ihm zwei Mittel: auf . Literatur'verzichten und sich der Erziehung des Volkes widmen, wie es die sowjetischen Schriftsteller tun."
Solche Gedanken führen zwangsläufig zur Annäherung an Mächtegruppierungen. Sartre ist, wie Konstantin Simonow fordert, „gegen eine Literatur, die frei ist von Verantwortung der Menschheit gegenüber, und für eine Literatur, die den wesentlichen Bedürfnissen des Volkes und der Menschheit verpflichtet ist"
Auf einer Podiumsveranstaltung erklärte ein junger Russe Sartre: „Ich bin Techniker und brauche die Poesie, um meinen Beruf konkret ausüben zu können"
Simonows Forderungen sind ebensowenig neu wie die Sehnsucht von Literaten, aus der Literatur in die Politik auszubrechen. Den Ausgangspunkt dazu bildet die Emanzipation der Kunst von Zöpfen der alten Ordnung, die Romantik. Friedrich Schlegel hat mit glühender Inbrunst davon geschwärmt, „in der Politik zu schwelgen"; er wollte „nicht nur wie Luther predigen und eifern, sondern auch wie Mohammed mit dem feurigen Schwert des Wortes das Reich der Geister erobernd überziehen" Nach Taten dürstete es auch den fanatischen Napoleonhasser Kleist und den späteren Anführer der Sulioten von Missolunghi, Lord Byron. „Wer wird noch schreiben, wenn er Besseres zu tun hat? Handlung! Handlung! Handlung! sagte Demosthenes", schrieb er 1813 in sein Tagebuch. Es war diese heroische Komponente der Romantik, die die russischen Dichter faszinierte, was sich am Byronismus Lermontows, aber auch des jungen Puschkin zeigte.
Ein Spezifikum der späteren deutschen Romantik, die Neigung zu Resignation und Realitätsflucht, blieb der russischen romantischen Schule fremd. „So äußerte sich der sozialkritische Nikolai Tschernyschewsky zu E. T. A. Hoffmanns . Meister Floh': . Diese schreckliche Erzählung konnte nur im Hirn eines Menschen entstehen, der sich an dem sattgesehen hat, was man in Deutschland mit dem Wort . Kleinstädterei'zu bezeichnen pflegt, der sich an dem Leben von Menschen sattgesehen hat, denen die Möglichkeit genommen ist, sich auf irgendeine Weise am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen .. Belinsky (1811— 1848), Tschernyschewsky (1828— 1889) und Dobroljubow (1836 bis 1881), die Begründer der russischen Kunst-theorie des neunzehnten Jahrhunderts, hatten die Schriftsteller und Künstler ausdrücklich zur Bekämpfung schlechter sozialer Zustände aufgefordert: sicher ist damit eine gewisse Verwandtschaft zu Marx und Engels gegeben. — . Höchste Bestimmung der Kunst ist es, ein Lehrbuch des Lebens zu sein', hatte Tschernyschewsky geschrieben, und: , Da ein Dichter oder Maler nicht aufhören kann, ein Mensch zu sein, kann er, wenn er es auch wollte, auf sein Urteil über die von ihm geschilderten Erscheinungen nicht verzichten. Dieses Urteil kommt in seinen Werken zum Ausdruck. Hier liegt die neue Bedeutung der Kunst.'Diese neue Bedeutung ließ in der Tat keinen Raum für Dürers , heimlich Schatz des Herzens', für bürgerlichen Ästhetizismus und das Schöpferische an sich, hier wurde Kunst anderen, dem Aktionsraum zugehörigen Prinzipien untergeordnet. Die russische Kunstkritik lehnte . mit bewußter Schärfe den Anspruch ab, in die Seele der Dichter hineinzukriechen, um von hier aus das Kunstwerk als Produkt einer rätselhaften schöpferischen Subjektivität zu erfassen'(Lukacs). Für uns', sagt Dobroljubow ist weniger wichtiger das, was der Verfasser ausdrücken wollte, als das, was von ihm ausgedrückt wurde, wenn auch unabsichtlich, einfach infolge der richtigen Gestaltung der Lebenstatsachen.'"
Und die staatlichen Organe können, jeder Sowjetologe weiß es, nicht umhin, über diese Richtigkeit nach allen Regeln der Kunstbeherrschung zu befinden. So lange die Sowjetunion nicht anders kann, bleibt ihr vielfach bezeugter koexistentieller Pragmatismus ideologisch gebunden und für uns Vorsicht am Platze. Darüber, wie und wann das (auf Zusammenarbeit mit der übrigen Welt angewiesene) Sein das revolutionäre Bewußtsein zurückdrängt, gibt es nur Vermutungen; es dauert immer lange, bis die paradiesischen Endziele, zunächst scheinbar greifbar nah, in unerreichbaren Fernen verblassen, bis die Mittel die Zwecke überwuchern. Keine Verabsolutierung ist der Zeit gewachsen, es kommt nur darauf an, diese zu überstehen.
Ganz im Ungewissen der Kreml-Astrologie darüber, in welchem Maße die sowjetische Außenpolitik durch die Berufung auf Marx und Lenin gerechtfertigt oder aber bestimmt wird, bleiben wir jedoch nicht, wenn wir die sowjetische Kunstpolitik als Seismographen benutzen.
Solcher Ungewißheit, wie sie Winfried Martini in „Dialog" 9/1970 oder der amerikanische Sowjetologe Robert Kilmarx in der vom „Center for Strategie and International Studies" herausgegebenen Studie „New Trends in Kremlin Policy" äußert, könnten Erwägungen wie die hier folgenden vielleicht ein wenig abhelfen.
Wenn die sowjetischen Autoren jetzt anfingen, Freundliches über die Bundesrepublik zu schreiben, dann würde das für den Abbau der mentalen Absperrung so wenig sprechen wie die Tendenz eines von oben geleiteten Leit artikels in der „Prawda". So bedeutsam das politisch im engeren Sinne wäre — die viel-verheißene Annäherung im Geiste zwischen den Sowjets und uns erscheint mir erst glaubwürdig, wenn man den Künstlern im Osten die Möglichkeit gibt, den Anschluß an den Westen zu finden. „Anschluß", das Wort ist mit Bedacht gebraucht: die Kunst ist in der Sowjetunion um Jahrzehnte hinter der allgemeinen Entwicklung zurückgeblieben. Bei einem Kulturaustausch mit zeitgenössischer Kunst und Literatur wären wir eindeutig die Gebenden — aber nicht die Dummen: das Wagnis der Freiheit ist kein Tauschobjekt.
Zuverlässigere Indikatoren als die Gewährung künstlerischer Form-Freiheit dürfte es kaum geben. Die Erwartung, die Technisierung des Landes wirke unmittelbar entideologisierend, täuscht wohl: haben unsere Peene-münder Technokraten etwa nicht gespurt oder ihre amerikanischen Kollegen auf dem Versuchsgelände bei Los Alamos in New Mexico, von Hiroshima und Nagasaki zu schweigen?
In diesen Berufszweigen ist man nicht weniger systemimmanent als bei der Masse der Journalisten, Werksdirektoren oder beim Militär.
Mehr Anstöße auf den verschiedensten Ebenen könnte das Ausland bringen mit der ansteckenden Wirkung von Massenekstasen, wie sie die Rolling Stones bei Teenagern auslösen, durch das überfluten der Sexwelle über Mauer und Vorhang hinaus. Auch die Wirkung von ausländischen und emigrierten Künstlern wäre hier in Rechnung zu stellen. Als Beispiel dafür bieten sich die Stücke des Antiformalisten Brecht an, deren Formsprache die russischen Kulturfunktionäre in den fünfziger Jahren noch so befremdete, daß sie trotz ihrer antikapitalistischen Aussage in London häufiger als in Moskau gespielt wurden. Hier ist auch an die zahlreichen Übersetzungen von Werken Heinrich Bölls zu denken, der Sowjetbürgern durchaus noch Neues zu sagen hat. „Infiltrationsprozesse" dieser Art verlaufen in den verschiedenen kommunistischen Ländern Europas recht verschiedenartig, woraus sich wiederum Politisches ablesen läßt. Die Rumänen zum Beispiel spielen ihren Eugene Ionesco unbekümmert, und die Polen veröffentlichen vorsichtig ausgewählte Briefe des verstorbenen Witold Gombrowicz, den sie gerade noch verunglimpft hatten, als er in West-Berlin mit einem Ford-Stipendium lebte.
Psychologische Spekulationen über ein mögliches Politikum Prophetien, so meint ein Branchenwitz der Futurologen, fallen besonders schwer, wenn sie für die Zukunft gelten sollen. Da in jeder Spekulation ein Quentchen Prophetie steckt, ist auch diese mit allem Vorbehalt aufzunehmen. Sie muß darum nicht falsch sein.
Je harmonischer unser Weltbild, desto ausgeglichener ist das Verhältnis zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Im Kolorit des noch weit verbreiteten Freund-Feind-Denkens halten sich krasse Gegensätzlichkeiten die Waage.
Nur bei wenigen, im Wortsinne Gebildeten, entstehen Übergänge zu den Kontrasten. Der Ausfall eines der beiden Kontrastelemente in dem Bilde, das sich viele Menschen von der Welt machen, schafft, so zeigt es die Aggressionsforschung, Beunruhigungen, versetzt Gemüter in Bewegungen, deren Dynamik im voraus schwer einschätzbar ist. Als ein derartiger Anstoß zur Beunruhigung bestimmter Bevölkerungsschichten wäre vielleicht eine Beendigung des kalten Krieges in Betracht zu ziehen, die nicht nur kalten Kriegern einen Gegenstand aggressiver Bindungen nähme. Denn damit entstünde in unserer seelischen Ökonomie ein Vakuum, dem durch politische Argumentationen vielleicht nicht hinreichend und sicher nicht in Kürze zu begegnen wäre. Wenn der Kommunismus nicht mehr Weltfeind Nr. 1 ist, der Buhmann und Albtraum der vergleichsweise freien Welt, dann könnte ein Nachlassen der Angst vor der bolschewistischen Gefahr auf Kosten des ohnehin seit der verlorenen Revolution von 1848/49 unterentwickelten Gemeinschaftsgefühls zwischen den Menschen dieses Landes gehen. Einigkeit macht stark — und Angst einigt. So wird es schwer-fallen, einen Ersatz für diesen Gegenstand einer lange praktizierten Verteufelung zu finden. Die Politiker, die ich auf diese Frage ansprechen konnte, gingen darauf nur scheinbar realistisch ein: nach dem Vertrage von Moskau werde man gewiß eng mit kommunistischen Staaten zusammenarbeiten, wirtschaftlich, wissenschaftlich, in kulturellem Austausch; der weltanschauliche Gegensatz zum Kommunismus bleibe von diesen Prozessen jedoch unberührt. Aber wissen wir nicht aus der Geschichte, daß das Eingehen solcher Bindungen viel Gegensätzlichkeit im Geiste ausräumt? Die Wirtschaft folgt der Flagge, die Entteufe-Jung (trotz ideologischen Vorbehalts) der wirtschaftspolitischen Kooperation.
Die Inkarnation des Bösen wird vermutlich auch den Ideologen in Moskau und Ost-Berlin, obwohl sie messerscharf zwischen politischer Praktik und Geisteshaltung unterscheiden und so die Zwangsläufigkeit gewisser Prozesse übersehen, fehlen, sie verunsichern, sie verändern. Aber eben nicht nur sie. Verlagerungen von Affektbesetzungen sollten in unser politisches Kalkül einbezogen werden schon angesichts alter mentaler Affinitäten zwischen Russen und Deutschen: Die Berliner „Kreuzzeitung" hatte nicht von ungefähr den Zaren Nikolaus am 19. Mai 1852 als „den besten Preußen" in Berlin begrüßt. Für mich stellt sich hierzu weniger die Frage nach außenpolitischen Konsequenzen dieser Möglichkeiten als diese: Seit 120 Jahren trugen irgendwelche Erzfeindschaften zum leidlichen Zusammenhalt der Deutschen bei, Franzosen, Juden und Kommunisten hielten dafür her und uns zusammen. Werden wir es fertigbringen, mit unstreitig pathologischen Ersatzteufeln wie Taximördern und Kindesschändern auszukommen, werden wir unseren Teufelsbedarf im eigenen Lande decken können? Oder wird uns die sowjetische Negativfigur nicht so arg fehlen, weil unser Bedürfnis nach Aggressionsabfuhr mit der Weiterentwicklung des kritischen Bewußtseins abnimmt, weil unser Weltbild nicht mehr voll schrecklicher Vereinfachungen ist?
Ideale und Idole
Im Mittelpunkt unseres bewegten Weltbildes, dem Bild vom Menschen, geht es am bewegtesten zu; es schwankt in immer neuen Perspektiven, seitdem wir anerkannte Werte zu Wertungen, über die sich streiten läßt, relativierten, herabsetzten. Wie der Mensch beschaffen sei, worum und warum er immer strebend sich bemühen soll, das mag für den einzelnen wie für große Gemeinschaften außer Zweifel stehen; für die Gesellschaft als Ganzes dagegen nicht. Die Gesamtheit kann einigermaßen friedlich nur Zusammenleben, wenn sich die verschiedenartigsten weltanschaulichen Gruppierungen ineinander schik-ken. Die unerläßliche Konsequenz daraus heißt Toleranz, und die schließt die Dominanz bestimmter Wertvorstellungen aus.
Durch diesen Ausschluß lockert sich, worauf schon der Amerikaner Riesman hinweist
Ziel zu dienen. Was uns aus geschichtlich verständlichen Gründen an erhebendem Gemeinschaftsgefühl abgeht, schlägt auch die anderen Industrienationen immer weniger in den Bann. Das liegt nicht am verbreiteten Understatement gegenüber allem Gefühlsbetonten, sondern an der Auszehrung nationaler Emotionen durch eine auf Toleranz angewiesene technisierte Gesellschaft.
Toleranz fordert, anders als ein Glaubensbekenntnis religiöser oder säkulärer Art, dem Menschen nicht das Äußerste ab. Durch keinen kategorischen Imperativ zwingt ihn Duldsamkeit, über sich und das Menschlich-AHzumenschliche hinauszuwachsen; sie ist auf Ideale, wie sie hierzulande mit neidvollem Seitenblick auf den Osten gelegentlich vermißt werden, nicht angewiesen. (Ein Politiker freilich, der solchen Neid auf östliche Unbedingtheiten teilt, würde die Lage verkennen: ideologischer Anspruch steht nämlich im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Freiheit. Damit verbietet sich der Ruf nach einer westlichen Gegenideologie.)
So sollte auch die vergleichsweise geringe Jugendkriminalität in der DDR hier keine sauersüßen Reflexionen über den Preis der Freiheit oder den Lohn der Unfreiheit auslösen: wo der Staat jedermann von Kind auf an die ihn tragenden Vorurteile und Doktrinen bindet, entsteht nur scheinbar ein sicherer Hort der Ordnung; er und diese geraten in Gefahr, wenn die ideologischen Wertskalen auf einen Minimalstand praktischer Spielregeln abgleiten. Und dahin scheinen nun die Dinge mit zwangsläufiger Allmählichkeit zu tendieren. Der geistige cordon sanitaire, der das Land hermetischer als die Mauer gegen unsere „Dekadenz" abschließt, hält nicht mehr recht, die Ansteckungsgefahr, die von uns, nicht von dort, ausgeht, nimmt zu; junge staatsbewußte DDR-Bürger infizieren sich leichter als die Alteren in freierer Luft.
Aber zurück zu uns und unseren Unerläßlich-keifen, die wir ohne radikale, also gewaltsame Veränderung unserer Gesellschaftsstruktur eben nur mit den Mitteln dieser Gesellschaft anvisieren und in optimalen Annäherungswerten erreichen können.
Daß dabei Idole an die Stelle von Idealen treten, daß Show-business-Leute oder erfolgreiche Baseball-Trainer von politischen Gruppen zunehmend als Galionsfiguren angeheuert werden, um Politik nicht nur zu verkaufen, sondern auch vielleicht gar selber zu machen, muß als offenbar unvermeidliche Folge dieses Prozesses hingenommen werden. Tröstlich mag dabei die Hoffnung sein, daß auch Branchenfremden in der Politik die Orientierungshilfen von Wissenschaft und Forschung zur Verfügung stehen. Ob diese Hilfsmöglichkeiten in Anspruch genommen wurden, lag schließlich schon immer im freien Ermessen der Macht. Im übrigen hat die in Europa mehr als in den Staaten irritierende Profanierung des politischen Handwerks auch ihr Gutes, wenn sich Herrschaft nicht mehr als Obrigkeit geriert, sich mit Schnulzensängern, Kapellmeistern, Quizmastern, Party-Löwinnen und anderen Geringfügigkeiten von hohem Stellenwert liiert, um, weil ihr Glanz verbleicht, an dem solcher Stars teilzuhaben. Das Gute daran: Von Stars kann man sich blenden lassen, aber man glaubt nicht an sie; eine chronische Lähmung des kritischen Bewußtseins durch sie ist also kaum zu befürchten
Gewiß, wir löffeln die Suppe aus, die der herkulische Spitzensportler im Telespot empfiehlt; ein jeder desodoriert sich, so gut er kann, nach dem Beispiel irgendeiner hauchzarten Blondine, und wenn einmal das Räuspern und Spucken Mode werden sollte: wir folgen ihr. Dies um so williger, je weniger wir uns auf geschlossene ethische Systeme, eben auf Ideale, stützen. Der „außengeleitete" Mensch David Riesmans ist somit also auf das Idol, auf Idolisierung angewiesen. Aber was ist ein Idol?
Ideale fordern den Menschen, aktivieren ihn.
Wo sie Gestalt annehmen, Menschengestalt, müht er sich, ihr zu gleichen, wie sie zu werden. Und des idealisierten Liebesobjektes will man sich würdig erweisen, seiner Wert werden. (So war’s ja wohl.) Das Idol löst dagegen keinen Prozeß innerer Angleichung aus, es aktiviert keine Ich-Entwicklung. Man macht es eher in auf Äußerliches bezogenen Verhaltensweisen nach, aber man strebt ihm nicht nach. Im übrigen bleibt man passiv, fasziniert, bewundernd, beglückt, und dabei am bequemsten im Fernsehsessel. Idole vertragen sich ohne weiteres mit unseren Interessenverhaftungen, Ideale bekanntlich nicht unbedingt. Mit anderen Worten: Wo Ideale fehlen, fehlen sie uns. Und die gegenwärtige Ideologiekritik begünstigt eine Reduzierung unseres Bestandes an Idealen, die unter unserem seelischen Existenzminimum liegt. Die so entstehende Leere wird durch Idole, bekanntlich keine Spender von Lebenshilfe, nicht ausgefüllt. Das zeitigt Verunsicherungen, die um so schmerzhafter empfunden werden, je unüberschaubarer unsere verfremdete Welt in allen Lebensbereichen für das Individuum wird.
Aus dieser Unsicherheit erklärt es sich, daß die Verringerung unseres ideologischen Potentials nicht, wie es unser aufklärerisches Wunschdenken erhoffte, die Menschen zur-praktischen Vernunft und zu größerer Toleranzbereitschaft führte. Statt dessen wurden aggressive Energien von solcher Intensität freigelegt, daß sich nunmehr die Gesellschaft als Ganzes bedroht fühlt. Beispiele für dadurch bestimmte Verhaltensweisen brauchen an dieser Stelle nicht angeführt zu werden; sie finden sich regelmäßig unter den Balkenüberschriften unserer Boulevardblätter. Hier ist auch nicht der Platz, um über die ethischen Bemäntelungen von Gewalttaten Betrachtungen anzustellen und zwischen kriminellen und Überzeugungstätern säuberlich zu unterscheiden: wir wissen, wie die Terrorwelle dieser Jahre zustande kam.
Auf diese Einzelfragen sei hier nicht weiter eingegangen, da ihre Beantwortung nicht unmittelbar den Zusammenhang zwischen dem Hervorschießen sadistisch-aggressiver Bedürfnisse und der Ent-Bindung von ideologischen Zwängen erhellen würde. Der Ausfall der alten Halte-und Orientierungspunkte enthemmt mit Sicherheit auch Brutales: Die Gewalttaten — psychiatrisch, soziologisch und ideologisch überzeugend interpretiert — nehmen zu. Und wenn die Faustregel stimmt, daß, was heute in den USA Unsitte ist, in zehn Jahren bei uns gang und gäbe wird, gehen wir herrlichen Zeiten entgegen: Für den amerikanischen Rassenkonflikt ließe sich bequem ein Ersatz finden, wenn es darum geht, andere zu ächten statt zu achten. So wäre einiges Unheil zu erwarten, falls es nicht gelänge, viele, die aus unserer Problemwelt in eine herz-und gemüthafte Scheinwelt regredieren, an unsere so gar nicht heile Ordnung zu binden. In der Gesellschaft feiert — so weit sie sich am Western, am Krimi auf dem Bildschirm oder beim Groschenroman feierabends delektiert — wie in der asozialen Gegengesellschaft der ritterliche Drachentöter kitschige Urständ'.
Aber der Prinz Eisenherz von heute ist nicht unbedingt edel, hilfreich und gut; man realisiert auch die negative Seite feudalen Herr-schertums — seinen rücksichtslosen Anspruch auf unbedingte Berücksichtigung seiner Wünsche. So verlangt auch der Bandenchef blinde Unterordnung von seiner Umwelt, ein schwarzer Ritter über Leben und Tod, dem alles Ritterliche abgeht.
Lebenshilfe, Geborgenheit, Selbstidentifikation suchen unkritische Geister auf den Schutthalden der Historie, wo seit dem Don Quijote de la Mancha Ritterlichkeit nur noch als Gespenst umgeht. Wer mit der Wirklichkeit noch nichts Rechtes anfangen kann, kann mit ihr etwas anfangen. Das Bild vom Ritter ohne Furcht und Tadel verführt im politischen Bereich zu der rechtsextremen Sehnsucht nach dem starken Mann, der auf unser blindes Vertrauen Anspruch hat. Und führt im Straßenverkehr zu jenem Typus von Kavalier am Steuer, der mit getuntem „Sport" -Wagen und einigen Promille das Gaspedal seine Kraft spüren läßt. Das Bedürfnis schwächlicher Gemüter, ein ganzer Kerl zu sein (und welcher von des kritischen Gedankens Blässe nicht angekränkelte Halbstarke zwischen 16 und 60 will kein ganzer Kerl sein?), führt, legitimiert durch romantische Vorstellungen von „Ritterlichkeit", zu sozialem Fehlverhalten — überall, wo wir auf die Kombination von Rücksichtnahme und freier Beweglichkeit angewiesen sind, also nicht nur in der Politik und auf der Straße.
Mindestnormen für das Sozialverhaiten Was tun mit den vornehmlich emotional Ansprechbaren, die emotional anzusprechen wir seit 1933 eine heilige Scheu haben? Aber Scheuklappen brauchen wir darum nicht zu tragen; und vor der Geringschätzung moderner Werbung und des vorzüglich von ihr Erreichbaren könnte uns der Gedanke an den Heiligen Paulus und seine höchst werbewirksamen Römerbriefe bewahren. Auch von aufklärerischer Abstinenz gegenüber dem Ein-und Nachfühlen des beharrlich Gemütlichen oder affektiven Fehlbesetzungen ist abzuraten: in ihren vielen schwachen Stunden fallen auch die Besten und Einsichtigsten in die gemütlichen Niederungen, in den Dunstkreis von Stimmung und Sentiment, zurück.
Hier kann, um bei unserem früheren Beispiel zu bleiben, das verzerrte Leitbild des Ritters nur umfunktioniert, nicht aber über kurz oder lang durch ein zeitgemäßeres ersetzt werden: mit den Mitteln der Image-Werbung und -Pflege, mit Nutzung aller vorgegebenen Idole zu aller Nutzen. Diese könnte die Welt der Bilder und unser Bild vom Menschen nicht stören, aber dessen vielfach gefährdete Zukunft in der Gemeinschaft sichern helfen.
Aber wie kann das geschehen? Im Unterschied zur politischen Bildungsarbeit nicht oder doch nicht vorwiegend mit dem Appell an die Vernunft. Die vielfachen Mahnungen zur Einsicht und Rücksichtnahme durch die Repräsentanten des öffentlichen Lebens verfangen ungefähr soviel wie der Hinweis an einen jugendlichen Zigarettenraucher auf die ihm drohenden Altersschäden; ein junger Mensch ist kaum in der Lage, sich in die eines Älteren, Nikotingeschädigten einzufühlen. Er wird sich auch nicht darum bemühen, weil das Rauchen aus vielfach erörterten Gründen sein Selbstbewußtsein hebt. Solange es für viele Leute „dazugehört", vernünftig nicht Vertretbares zu tun, um dazuzugehören, lassen sie sich nicht davon abbringen, es sei denn, man gebraucht das pädagogisch untaugliche Mittel der Gewalt. Viel-versprechender wäre es, neue Modelle für Verhaltensnormen zu bestimmen und als exemplarisch vor der Öffentlichkeit herauszustellen. Damit würde bewußt auf die eigentlich wünschenswertere Veränderung und Entwicklung seelischer Strukturen verzichtet, aus welchen im optimalsten Falle erst nach langer Zeit und sicher nicht durchweg ein Verhaltens-wandel des Publikums resultieren würde.
Durchschlagendere Effekte lassen sich durch die Nutzung der Idole und vorgegebener unzeitgemäßer Wertvorstellungen erzielen. Wir könnten da psychologisch fundierter und systematischer als die Amerikaner arbeiten, die beispielsweise das leidige Problem vom Alkohol am Steuer mit Schocktherapien („Scream bioody murder")
Und die Protestgeneration?
Schaden würde die Gesellschaft freilich nehmen, die gegen sie gefährdende Praktiken eingriffe, ohne deren Motivationen zu begreifen. Das gilt auch und gerade gegenüber jenem Teil der Jugend, ob rebellisch oder weltflüchtig, deren geistige Urheberschaft im Anarchismus Godwins, Proudhons oder Bakunins zu suchen ist. Oder im Werk des stets elenden, revoltierenden, alles überkommene negierenden Melancholikers Tristan Corbiere, den Verlaine posthum entdeckte und als den ersten poete maudit feierte.
Man könnte auch an das von Rimbaud programmierte und exemplarisch vorgelebte „lange, ungeheuere und durchdachte drglement (In-Unordnung-Bringen) aller Sinne" denken, das im frühen deutschen Expressionismus furore machte, in der „Schlagwetter-Atmosphäre" des jungen Becher, dessen totale Enthemmtheit sich bekanntlich auch im Totschlag an einem Mädchen manifestierte. Oder in den auch formal von Rimbaud beeinflußten Morgue-Gedichten Benns, deren krasse Aggressivität ihre Entsprechung im privaten Bereich des jungen Berliner Armenarztes fand: die Frau, mit der er zusammenlebte, hat sich, kaum ohne das bei Suiziden meist nachweisbare Motiv gezielter Rache, aus dem Fenster gestürzt. Nichts, was dem Bürger lieb und selbstverständlich war, blieb vom expressionistischen Sturm und Drang nach extremer Freiheit verschont. Hier finden sich bereits alle Elemente, die in den heutigen Artikulationen des totalen Gesellschaftsprotests perseveriert werden. Auch der Linksdrall war selbstverständlich, die Grenzlinie zwischen Kommunisten und anderweitig Radikalen indessen noch nicht gezogen. Gegenüber den Behörden der Weimarer Republik, die staatsfeindliche Verse und Pamphlete in Beschlag nahmen oder mit Prozessen beantworteten, fühlte sich die literarische Welt noch solidarisch. Als der Oberreichsanwalt gegen Johannes R. Becher ein besonders bedrohliches Verfahren einleitete, erhob Theodor Heuss am 25. August 1925 in der „Frankfurter Zeitung" „aus innerer Verantwortung für die Freiheit des deutschen Schrifttums" hiergegen Einspruch.
Freiheit wurde auch für das Triebleben gefordert; die Aufhebung dieser Repression sollte mit oder ohne soziale Umwälzungen einen allgemeinen Abbau der Aggressionsbereitschaft bewirken. Die Selbstverständlichkeiten des heutigen Sexualverhaltens würden offen nur von gesellschaftlichen Außenseitern bejaht und geübt. (Noch Kinsey hat beobachtet, daß sexuelle „Abweichungen" von der Norm bei Intellektuellen wie bei Asozialen häufiger als bei den Angehörigen anderer Bevölkerungsgruppen Vorkommen.)
Und wenn es noch so schwer fallen sollte: auch gegenüber offenen Provokationen durch die heutige Protestgeneration müssen wir der „gerechten Empörung" entraten, wenn wir uns ihrer wirksamer als durch Polizeiknüppel erwehren wollen. Wie kaum zumutbar schwer das selbst einem prominenten Literaturwissenschaftler gegenüber einem berühmten Dichter fällt, zeigt Arnold Hauser bei der Erwähnung Rimbauds in seiner berühmten „Sozialgeschichte der Kunst und Literatur": Er faßt eS einfach nicht, daß „ein Neurastheniker, ein Tunichtgut, ein Tagedieb, ein durch und durch bösartiger, gefährlicher Mensch . . . ein Verbrecher an änderen und sich selbst, der seine kostbarsten Schätze von sich wirft und vollkommen vergißt, vollkommen verneint, daß er sie je besaß; einer der Wegbereiter und, wie Viele behaupten, der eigentliche Begründer der modernen Dichtung..."
Diese Einengung des Vorstellungsvermögens auf moralische Kategorien stört uns bei der Beurteilung Rimbauds weniger als bei der seiner Nachfahren im Geiste. Denn unser Interesse richtet sich heute nicht so sehr auf sonderbare Heilige einer unheiligen Welt, auf die Visionen vereinsamter Einzelner, sondern auf eine einsame Masse und auf eine weltweite und vielleicht einmal weltumfassende Gegen-Bewegung dazu. Ihr stehen manche hilflos und entrüstet gegenüber, wie der genannte Literatur-Soziologe Rimbaud. Es ist schwer zu fassen und doch mit Händen zu greifen, daß diesen Jungen Woodstock näher als Weimar liegt, daß Beat ihnen mehr als Schlager, Bur-roughs mehr als Benn bedeuten. Daß sie, wie ihr Seniorsprecher Marshall McLuhan ahkün-digt, nach der Flucht in die elfenbeinernen Türme früherer Schöngeister vüm Sturm auf die Kontrolltürme träümen. (Wobei sie übersehen, daß zur Ausübung gesellschaftlicher Kontrolle die exakte, kontinuierliche, durch keine Stimmungsschwankung beeinflußte Bedienung von Kontrollapparaturen gehört. Mit einer solchen Machtübernahme würde unser grauer Alltag mit seiner Fron über das bunte Ungestüm der Protestgeneration kommen, de= ren Emanzipation von unserer Leistühgsgesellschaft so lange Illusion ist, Wie sie von deren Produkten lebt Und profitiert: Paradiesische Gefilde, die unseren fahrenden Rittern, die von ritterlichen Posen und Fiktionen so begrüßenswert frei sind, Lebensunterhalt ohne Ausübung einer Erwerbstätigkeit gewähren, wird auch der Findigste hier kaum aufspüren.)
Was bleibt der Gesellschaft, von ihnen provoziert und attackiert, zu tun, wenn sie auf die probatesten, das Gemüt befriedigendsten Mittel der blinden Gegnerschaft verzichtet? Nichts außer kaum Zumutbarem: Das Bemühen, die Wahrheit im Irrtum der anderen zu erkennen, also das GeSpfäch, das hermetischen Abriegelungen so schlecht bekommt wie der Frühling dem Eis auf Strom und Bächen. Und eine Übereinkunft: Wer oder was nicht in Frage gestellt werden darf, wird dadurch als schon nicht mehr fragwürdig abqualifiziert. Und die Berücksichtigung tiefenpsychologischer Einsichten: Man steht dann den anderen, obwohl als Mitglied der Gesellschaft von deren Wohl und Wehe betroffen, mit der Objektivität des Analytikers gegenüber, dem es nicht so sehr um das Beund Widerlegen von Meinungen als um analytische Klärungen geht.
Zum Beispiel um das Phänomen der Verzweiflung: Mart müßte wohl an einer Welt ohne die, die an ihr manchmal verzweifeln, verzweifeln. Aber wer aus verzweifelter Grundhaltung rebelliert, begibt sich der einzigen Chance, die Welt irgendwo zu verbessern; er läßt alle Hoffnung fahren. Ich glaube, Hannah Arendt hat Verzweiflung als bestimmendes Motiv dieser Jungen am deutlichsten herausgestellt: „Das Allerbedenklichste an den Bewegungen in Westeuropa und Amerika ist eine eigentümliche Verzweiflung, die in ihnen steckt, als ob sie schon wüßten, daß sie zusanimengeschlagen werden. Und als ob sie sich sagten: wir wollen es wenigstens provoziert haben, zusammengeschlagen zu werden: wir wollen nicht auch noch unschuldig sein wie die Lämmer. Es ist etwas von Amoklaufen in diesen bombenwerfenden Kindern. Ich habe gelesen, daß die französischen Studenten in Nanterre bei den letzten Unruhen — nicht bei denen im Jahre 68, sondern jetzt — an die Wände geschrieben haben: , Ne gächez pas votre pourriture'(Verderbt euch nicht eure Verfaulung) > . . Treibt es weiter, treibt es weiter; Das heißt, diese Vorstellung: es ist alles wert, daß es zugrunde geht — die ist da. Dieses Element der Verzweiflung ist überall da."
Hannah Arendt spricht hier ausdrücklich von der studentischen Protestbewegung; aber Verzweiflung dürfte auch die Verhaltensmuster der Jungen bestimmen, die die Flucht in ekstatische Musik angetreten haben oder denen sich das Tor zur Ersatzwelt mit acid auftut oder die sich mit dem Glauben an irreale Patent-und Endlösungen über die Realitäten dieser Welt trösten. Für die Verzweiflung in vielerlei Gestalt als Reaktion auf die Welt und was sie regiert, tragen wir im Gespräch ein wenig die pädagogische Verantwortung.
Pädagogisch begriffen und den Jungen verdeutlicht werden sollte auch, daß Rebellion und Weltflucht ungleich größere Lustgewinne abwerfen als die Befriedigung durch nüchterne Einschätzung der Lage unter Zurückstellung — nicht Verdrängung — von Emotionen. Daß die Anti-Einstellung nicht so sehr durch souveräne Erkenntnis als durch Lustgewinn-Streben bestimmt ist, sehen sie allerdings schwerlich ein: es könnte ihnen dadurch etwas Lust vergehen.
Auch die Entdeckung, keineswegs Entdecker ungeahnter Daseinsdimensionen, sondern Folgeerscheinung eines langen geschichtlichen Prozesses zu sein, ein Glied in der langen Kette derer, die an den Ketten sozialer Zwänge rüttelten, verstimmt zunächst. Aber die Aufdeckung solcher Kontinuitäten fasziniert auch; am Ende fühlt man sich durch die Widerspiegelung von Verwandtem bei den Alten und Früheren erhoben und bestätigt — etwa durch Louis Aragon, der später in die kommunistische Zweck-und Tendenzliteratur abglitt, aber vor 50 Jahren (1920) schrieb: „Keine Maler mehr! Keine Literaten, Komponisten, Bildhauer mehr! Keine Religionen! Weg mit den Republikanern, Royalisten, Imperialisten, Anarchisten und Sozialisten! Keine Bolschewisten, keine Politiker und Demokraten mehr! Weg mit Polizei und Armeen und Vaterländern! Ein für alle Mal: Schluß jetzt mit dem ganzen Unfug! Weg damit, mit allem! Nichts, aber auch gar nichts mehr! NICHTS! NICHTS! NICHTS! — Vielleicht setzt sich dann das ganz Neue, was so ähnlich ist wie das, was wir verabscheuen, so durch, daß es nicht schon von Anfang an verrottet und grotesk erscheint!"
Und ihre verzweifelte Pauschalkritik an Gott und der Welt, die, berechtigt oder nicht, für jeden, der nicht gefühllos oder schwer von Begriff ist, einfühlbar und begreiflich sein muß? Sie kommt aus der Emotion und nicht aus der rätio. Also keine Schutz-und Trutzwand aus Ratio und Moral errichten!
Im „Godesberger Gespräch"
Zu denken gab jüngeren Gesprächsteilnehmern auch, daß Fernsehdarbietungen von Auto-und Motorradrennen mit Spannung verfolgt werden, obwohl sie den utilitären und wenig humanitären Charakter solcher Veranstaltungen kennen — der Mensch in seinem Widerspruch! Widersprüchlich verhält man sich auch gegenüber gekonnten Gags im Werbefernsehen, man merkt die — nicht akzeptierte — Absicht und ist doch nicht verstimmt, ein Indiz für heimliche Affinitäten zu der abgelehnten Sozietät, für die auch das Interesse an der vorwiegend dem kommerziellen Sport gewidmete Sportschau spricht. Das Aufwerfen solcher Zweifelsfragen regt zu konstruktiver engagierter Kritik an; die Verzweiflung der totalen Negation klingt ein wenig ab.
Eine kleine Zusatzhilfe zur Profilierung und Fundierung der Kritik ergab sich auch bei der Diskussion über die Ausdrücke äußerster Negation: „bulls" und „pigs". Deren bedenkenlose Verwendung verweist nicht allein auf Antihumanitäres, sondern paradoxerweise auch auf eine anthropozentrische Mißachtung des Kreatürlich-Tierischen. Immerhin findet sich im Blick eines Bullen etwas von dem Ausdruck, der der „kuhäugigen Göttin Hera" eigen war, immerhin ist das „Schweinische" am Schwein das Menschenwerk pflegesparender Kojenhaltung. Den jungen Gesprächspartnern leuchtet es meist prompt ein, daß sie hier wie gelegentlich auch sonst bemooste Vorurteile übernommen haben. Ihr Vokabular, und mit der Sprache letztlich ihr Denken, wandelt sich damit ein wenig.
Leicht fällt auch die Einsicht, daß wir die eigentlichen Orientierungspunkte der Leute sind, die von uns nichts wissen wollen und so zu leben versuchen, als existiere die Welt nicht mehr, aus der sie sich zurückgezogen haben. Sie können diese noch so affektvoll negieren, aber sich von ihr nicht lösen: Das Band der Haßliebe hält bekanntlich fester als jede andere Bindung. Hilfe beim Ablassen des Affekt-staus leistet auch die Überlegung, daß unser Verhältnis zur Umwelt, zu der wir alternierend ja, nein, vielleicht und aber sagen, ambivalent ist, voller Widersprüche, Zweifel und Differenzierungen, das ihrige dagegen oft einschichtig. Deshalb verstehen wir sie und sie uns nicht. Uns ist nichts Menschliches fremd. Auch die Erfahrung der „Godesberger Gespräche" zeigt, daß sie — die anderen, nicht die Fremdgruppen! — besser im Bilde über andere sind, wenn sie sich ein bessseres Bild von ihnen machen, als es ihre Schwarzweiß-malerei vermag. Wer da analytisch vorgeht, wirbt kaum erfolglos um Verständnis.
Das alles läuft nicht auf die Frage hinaus, wer nun eigentlich recht oder unrecht hat (denn unrecht haben alle genug: wir sind allzumal Sünder...), sondern auf ein uraltes, überaus aktuelles Problem: Lohnt es sich, um diese Welt, ihren Bestand, ihre Verbesserung wirksam, also ohne die Himmelsschrift revolutionärer Verheißungen, frei von illusionistischen Sinnesvernebelungen, zu kämpfen? Auf diese Frage muß freilich die Antwort kennen, wer das Wagnis des Gesprächs über die Welt der Bilder und die politische Welt eingeht.