I. Einleitung
Der Totalitarismus-Begriff ist in der Gegenwart ein vielbenutzter Terminus. Er fehlt heute in keinem politisch-historischen Nachschlagewerk und Lehrbuch und er scheint zur begrifflichen Grundausstattung jedes Politikers und Journalisten zu gehören. „Totalitär" sind danach die Herrschaftsund Gesellschaftssysteme der kommunistischen Staaten, „totalitär" sind das nationalsozialistische Regime in Deutschland und der italienische Faschismus gewesen. So ist der Begriff des „Totalitarismus" im westlichen Sprachgebrauch eine handliche Formel geworden, mit der man vermeintlich bündig und prägnant jene Staaten zu bezeichnen vermag, die aufgrund ihrer faschistischen oder kommunistischen Ausprägung der parlamentarischen Demokratie gegenüberstehen.
Schon seit Beginn seiner Verwendung etwa Ende der zwanziger Jahre ist der Totalitarismus-Begriff der Doppeldeutigkeit unterworfen, die hier erkennbar wird. Auf der einen Seite soll er als ein wissenschaftlicher Begriff dazu dienen, bestimmte historisch-politische Erscheinungen möglichst präzise und eindeutig zu beschreiben und zu charakterisieren, auf der anderen Seite aber gewinnt er — gerade infolge dieser Verkürzung — eine nicht unwesentliche ideologische Bedeutung in der politischen Auseinandersetzung selbst. Zwar teilt er dieses Schicksal, im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik zu stehen, mit einer großen Zahl von Begriffen, deren sich etwa die Geschichtswissenschaft, die politische Wissenschaft und die Soziologie bedienen. Hier scheint jedoch dieses Phänomen ein besonderes Gewicht zu haben, weil die wissenschaftlichen und politischen Komponenten schon in der Begriffsbildung eng zusammenwirken und auch in der weiteren Begriffsentwicklung nicht ganz zu trennen sind.
Die historische Situation, in der sich dieser Begriff des Totalitarismus herauszubilden begann, war nämlich schon durch besondere po-litische Frontstellungen gekennzeichnet. Die Ausgangslage der Begriffsbildung wurde bestimmt durch die Konfrontation des faschistischen Systems in Italien, das sich Ende der zwanziger Jahre konsolidierte, mit den parlamentarischen Regierungsformen in Europa, die weiterhin schwer von den gesellschaftlichen Nachwirkungen des Weltkriegs erschüttert wurden. In der politisch verworrenen Nachkriegssituation mußte die Auseinandersetzung mit dieser kämpferischen Bewegung notwendig fundamentalen Charakter annehmen; denn die Erfolge des italienischen Faschismus strahlten auf die faschistischen Bewegungen in den anderen Ländern aus, zugleich stärkte die weitere Verfestigung des Bolschewismus in Rußland die nationalen kommunistischen Bewegungen in den europäischen Staaten. Dadurch sahen sich deren Regierungen von zwei Seiten dem Angriff auf das System der liberalen parlamentarischen Demokratie ausgesetzt.
Dies macht es verständlich, daß politische Abwehr und wissenschaftliche Analyse dieser Bewegungen nicht sorgsam voneinander gesondert bleiben, sich vielmehr in diesem Zeitabschnitt miteinander und in wechselseitigem Bezug entwickeln. Die ersten Versuche, in einer umfassenden Betrachtung der politischen Phänomene zu einem wissenschaftlich begründeten Begriff des Totalitarismus zu kommen, sind denn auch sehr stark mitbestimmt von den ideologischen Motiven der politischen Auseinandersetzung. Das ändert sich allerdings auch kaum in den späteren, groß angelegten Versuchen zu einer Theorie des Totalitarismus, die nach der politischen Niederwerfung des Faschismus einsetzen. Es verlagert sich nur der ideologische Akzent.
In der ersten Phase der Bildung des Totalitarismus-Begriffs war dieser Akzent vornehmlich auf den italienischen Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus gerichtet. Das entsprach den politischen Erfordernissen, wenn es auch schon, interessante wissenschaftliche Bemühungen zu einer Verallgemeinerung gab. Nach 1945 traten mit der veränderten politischen Konstellation neue politische Erfordernisse in den Vordergrund. Die ideologische Auseinandersetzung richtete sich gegen den Kommunismus, und der Totalitarismus-Begriff wurde vornehmlich als Instrument der Konfrontation mit dem Osten dienstbar gemacht. Diese Funktion aus der Zeit des Kalten Krieges hat er noch bis in die gegenwärtige Tagespolitik behalten; teilweise gilt die Anwendung dieses Begriffs auf Staaten des kommunistischen Lagers noch heute als ein Akt politischer Ethik, der von echter politischer Argumentation im Verhältnis zu diesen Ländern entbindet.
Diese wenigen Überlegungen haben schon deutlich gemacht, daß der Totalitarismus-Begriff und seine Verwendung eine ganze Reihe von Fragen aufwerfen. Es lohnt sich deshalb, der Entstehung, den späteren Wandlungen und der Kritik dieses wissenschaftlichen wie politischen Begriffs genauer nachzugehen. Die folgende Darstellung, die diesen Versuch unternimmt, will zunächst in großen Zügen die Entwicklung des Totalitarismus-Begriffs nachzeichnen, wie sie sich in der wissenschaftlichen Diskussion darbietet, um danach die wichtigsten Gesichtspunkte der kritischen Auseinandersetzung mit diesem Begriff vorzutragen.
Bei der Darstellung der Entwicklung des Totalitarismus-Begriffs ist es unumgänglich, ihren Gang zu überschaubaren Richtungen zusammenzufassen. Aus den zahlreichen in der Literatur vorhandenen Ansätzen muß daher eine straffe Auswahl getroffen werden, die vornehmlich die in Deutschland bekanntgewordene Literatur berücksichtigt. Sie läßt sich hier in drei Abschnitte gliedern. Der erste Abschnitt verfolgt die frühen Ansätze eines Totalitarismus-Begriffs bis zu dem Zeitpunkt, da sich in den vierziger Jahren allgemeine Elemente totalitärer Herrschaft aus der Erörterung herausbilden. Darauf folgt die Entwicklung der allgemeinen Totalitarismus-Theorie in den großen Arbeiten von Hannah Arendt und C. J. Friedrich aus den fünfziger Jahren. Im dritten Abschnitt wird dann versucht, aus der Diskussion vor allem in den sechziger Jahren die Wandlungen und Neuansätze des Totalitarismus-Begriffs aufzuzeigen. Schließlich soll der vierte Abschnitt systematisch die Hauptprobleme dieser Begriffsbildung und ihrer Anwendbarkeit auf politische Phänomene behandeln, um in der Folge ein zusammenfassendes Urteil über den Totalitarismus-Begriff zu ermöglichen.
II. Erste Ansätze zu einem Begriff des „Totalitarismus"
Dieser Abschnitt behandelt den Zeitraum der Diskussion um die Herausbildung des Totalitarismus-Begriffs von etwa Mitte der zwanziger Jahre bis zum Zusammenbruch des Faschismus und Nationalsozialismus 1945. Es wird ein weiter Bogen gezogen von frühen Ansätzen einer vergleichenden Betrachtungsweise des Faschismus und Bolschewismus bis zu einer Analyse, die systematische Elemente der totalitären Herrschaft vorstellt. Francesco Nitti
Nitti beschreibt die Krise der liberalen Demokratie in Europa, die sichtbar geworden sei durch das Aufkommen der Diktaturen in Italien und Rußland sowie die reaktionären Bewegungen in allen europäischen Demokratien
Uber diese gemeinsame Ausgangslage hinaus haben Faschismus und Bolschewismus nach Nittis Auffassung ferner noch gemeinsame politische Zielsetzungen und gemeinsame Arten der Herrschaftsausübung. „Das Charakteristische dieser Bewegungen liegt ... in ihrer gemeinsamen Abneigung gegen jegliche Freiheit des einzelnen und gegen die Demokratie. In beiden Fällen war es eine Minderheit, welche die durch den Krieg geschaffenen Zustände benutzte und sich mit Waffengewalt durchsetzte, . . . die Freiheit mehr oder weniger unterdrückte und nur Abneigung und Verachtung für die demokratische Organisation zur Schau trug."
Nitti bleibt sich jedoch bewußt, daß neben diesen strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Faschismus und Bolschewismus erhebliche Unterschiede in den ideologischen Zielvorstellungen bestehen, die geradezu eine unterschiedliche politische Bewertung verlangen. So mangele es dem Faschismus an einer „Lehre" und einem „festen Programm", er sei vielmehr eine „Bewegung", die ihre Anhänger lediglich unter der Idee des Nationalismus um den Führer als Mittelpunkt sammle. „Alle Macht vereinigt sich in dem Führer des Faschismus. Er ist das Haupt der Partei, der nationalen Miliz, des Heeres."
Trotz dieser Einsichten in die gemeinsame Ausgangslage und die gemeinsame Frontstellung von Faschismus und Bolschewismus gegen die liberale Demokratie, wie sie sich einem Verteidiger dieser politischen Position eröffnet, bleibt Nittis Urteil eigenartig beschränkt, wenn er beide Bewegungen als isolierte nationale Phänomene ohne Aussicht auf Verbreitung auffaßt
Auch Beckerath geht von der zerrütteten innenpolitischen Nachkriegssituation Italiens aus. Die Gemeinsamkeit der zusammengewürfelten Mitgliedschaft der faschistischen Bewegung sieht er „fast ausschließlich in einem im Grunde romantischen und antibourgeoisen Lebensgefühl"
Die Struktur dieses faschistischen Staates glaubt Beckerath durch einen Vergleich zum Bolschewismus kennzeichnen zu können, weil wesentliche Übereinstimmungen in der Konzeption des Staates und der Struktur und Po-6 litik der herrschenden Klasse festzustellen seien. Beiden Bewegungen sei die ideologische Zielsetzung gemeinsam, die gesellschaftliche Ordnung grundlegend zu verändern, es seien revolutionäre Bewegungen. Beide Gesellschaftskonzeptionen ordneten die Rechte des Individuums der Gesellschaft unter, „beiden Ideologien ist die Abneigung gegen das parlamentarische System gemeinsam"
Mit dieser vergleichenden Betrachtung von Faschismus und Bolschewismus will Beckerath nicht die bestehenden Unterschiede beider Systeme verwischen, die sich vor allem in der inhaltlichen Ausprägung ihrer Ideologie zeigen. Gegenüber dem gesellschafts-revolutionären Bolschewismus hält er den Faschismus nach seiner Zielsetzung vielmehr für eine historisch rückschrittliche Bewegung, die mit den organisatorischen und technischen Hilfsmitteln des modernen Lebens einen „autoritären Staat im Stil des 18. Jahrhunderts" zu verwirklichen suche
Trotz solcher gewichtigen Unterschiede in der konkreten Ausprägung hält Beckerath gleichwohl die Berechtigung einer vergleichenden Beschreibung des faschistischen und bolschewistischen Systems für gerechtfertigt und geboten, weil sich daraus eben „bestimmte Gleichförmigkeiten als typische Struktur" ableiten lassen
Mit diesen Analysen von Nitti und Beckerath wird also frühzeitig eine vergleichende Betrachtungsweise von Faschismus und Bolschewismus in die Erörterung eingeführt. Dabei kommt vor allem die Gegenüberstellung dieser Herrschaftssysteme zur liberalen Auffassung von politischer Gestaltung zum Ausdruck. Diese frühen Vergleiche von Faschismus und Bolschewismus stellen gegenüber der liberalen Staats-und Geselschaftsordnung allgemeine Gleichförmigkeiten im Herrschaftsgefüge dieser beiden Systeme fest, vernachlässigen dabei aber keineswegs deren faktische Unterschiede im einzelnen. 2. Der Faschismus als . totalitäres'System Die Arbeiten, die in diesem zweiten Kapitel zusammengefaßt werden können, setzen in ihrer Analyse des Faschismus schon deutlichere Akzente und versuchen, tiefer in die Struktur und den Wirkungszusammenhang dieses Flerrschaftssystems einzudringen. Das gilt für Turatis 1928 erschienenen Aufsatz „Faschismus, Sozialismus und Demokratie"
In zwei Gedankengängen versucht Turati den universellen Charakter dieses seinerzeit noch auf Italien beschränkten politischen Phänomens zu belegen. Der erste bringt die These: „Der Faschismus ist der ständig drohende Krieg."
Dieser faschistischen Aggressionsgefahr für die anderen Staaten entspricht Turatis Befund der inneren Struktur dieses Herrschaftssystems und seiner Herrschaftsvorstellung. Das italienische Beispiel zeige, daß der Faschismus eine völlige Umwälzung aller bekannten politischen Ordnungen sei. Keineswegs sei die faschistische Ordnungsvorstellung nur gegen den Sozialismus gewandt, sondern gegen „alle Parteien und alle Klassen"
Mit Turatis prononcierter Kennzeichnung der faschistischen Herrschaftsstruktur als totalitäre Herrschaft ist die Erörterung zweifellos einen Schritt weitergekommen nach jener Differenzierung der faschistischen und bolschewistischen Systeme von der liberal-demokratischen Herrschaftsordnung, wie sie im ersten Kapitel vorgestellt wurde. Hermann Hellers schon angeführte Untersuchung vertieft die Analyse der totalitären Organisationsstruktur des faschistischen Staates noch weiter. Zunächst wird auch hier die Krise der europäischen Politik dargestellt und der Irrweg des europäischen Staatsdenkens erörtert, der schließlich in die Ideologie der faschistischen Bewegung Mussolinis gemündet sei.
Heller sieht ebenfalls die Ungeschlossenheit dieser Ideologie, die er als „programmatische Programmlosigkeit" beschreibt, bei der Aktion'und . Gefühl'Vorrang vor der Theorie haben
Wie Heller die faschistische Ideologie als Instrument in der Hand des Diktators beschreibt, so erkennt er die Wirklichkeit des faschistischen Staats-und Gesellschaftsaufbaus als eine absolute zentralistische Diktatur. „Die faschistische Diktatur ersetzt den Parteien-staat durch den stato partito ..."
In diese dualistische Organisationsstruktur der totalitären Parteidiktatur seien auch die korporativen und syndikalistischen Elemente aus der faschistischen Staatsideologie eingegliedert. Entgegen der ideologischen Proklamation führten sie nämlich nicht zur gegliederten Beteiligung der Bevölkerung an der Willensbildung im neuen Staate, sondern gerade zur „zentralistisch-diktatorischen Entpolitisierung des gesamten Volkes"
Hellers Analyse unternimmt also den Versuch, über die verschwommene faschistische Ideologie, der er nur eine sekundäre Funktion im Vergleich zur eigentlichen politischen Aktion beimißt, auf die reale Struktur der totalitären Herrschaftsorganisation des faschistischen Staates vorzudringen. Als Kennzeichen dieser totalitären faschistischen Herrschaft nennt er die Parteidiktatur, den organisatorischen Dualismus von Partei und Staat, die Eingliederung der Massenorganisationen. Heller zieht daraus den Schluß, der Faschismus könne „durchaus nicht als eine neue Staatsform gelten, sondern als die der kapitalistischen Gesellschaft entsprechende Form der Diktatur"
An Hand des Erfahrungsmaterials des schon hoch entwickelten deutschen Nationalsozialismus führt Franz L. Neumann die Erörterung über die Elemente der totalitären Herrschaft mit seiner Untersuchung „Behemoth" weiter
In drei Teilen untersucht Neumann im einzelnen die ideologisch-politischen Hauptelemente, das Wirtschaftssystem und schließlich das politisch-soziale Gesamtsystem des Nationalsozialismus. Obwohl seiner Auffassung nach der Nationalsozialismus keine eigentliche geschlossene Gesellschaftstheorie hat und nur operationellen Charakter trägt, stellt er bestimmte ideologische Hauptelemente heraus. Dazu gehören die Idee des totalen Staates, das Prinzip des Führerstaates, die Rassentheorie und die Lebensraum-Politik.
Mit der Theorie des totalen Staates begründe der Nationalsozialismus die unbeschränkte Herrschaft des völkischen Staates über alle Bereiche der Gesellschaft und die politische und soziale Gleichschaltung
Weil der Nationalsozialismus dergestalt auf den sozialen Imperialismus ausgerichtet ist, hält Neumann dessen Wirtschaftssystem für einen entscheidenden Faktor, zumal es kaum ideologisch, sondern von seiner Effizienz für die Kriegführung bestimmt werde
Schließlich beschreibt Neumann das politisch-soziale Gesamtsystem des Nationalsozialismus als ein System, in dem die sozialen Gegensätze gesteigert sind zur Dominanz der herrschenden Klasse des totalitären Staates aus Partei, Armee, Wirtschaft, Bürokratie und Technik
Aus dieser differenzierten Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems zieht F. L. Neumann den Schluß, daß mit dem totalitären Staat des Nationalsozialismus eine ganz neuartige Form der Gesellschaft vorliege
Die in diesem Kapitel behandelten Untersuchungen des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus belegen beispielhaft, wie die wissenschaftliche Erörterung dieser neu aufgetretenen politischen und sozialen Phänomene auf dem Weg der historisch-soziologischen Analyse versucht, die besonderen Strukturen dieser Herrschaftssysteme in den Blick zu bekommen. Wenn es auch nicht zu erwarten war, daß die Wissenschaft in diesem Frühstadium der Beschäftigung mit diesem Gegenstand schon eine einheitliche Begriffsbildung entwickelte, so ist doch die Annäherung im Urteil über wesentliche Strukturelemente eines totalitären Systems beachtlich. Dieser Abschnitt über die ersten Ansätze zu einem Begriff des Totalitarismus kann deshalb abgeschlossen werden mit der Arbeit von Sigmund Neumann, die in sehr übersichtlicher, systematischer Form die Ergebnisse über die Elemente totalitärer Herrschaft zusammenfaßt und ein geschlossenes Modell der totalitären Herrschaft am Material des italienischen Faschismus, des deutschen Nationalsozialismus und des russischen Bolschewismus entwickelt. 3. Elemente totalitärer Herrschaft Sigmund Neumann versucht in seiner Studie „Permanent Revolution"
Dabei ist sich S. Neumann der Grenzen seines Modells der . permanenten Revolution'bewußt und will es voll nur auf die europäischen totalitären Diktaturen angewandt wissen
Diktatorische Regime sind für S. Neumann zwar keine völlig neuen politischen Phänomene, dennoch sind die modernen Diktaturen wesentlich anders als vorangegangene autokratische oder absolutistische. Sie sind nämlich nicht lediglich irgendwelche Abweichungen vom demokratischen Modell der politischen Ordnung, sondern stellen eine tatsächlich unbeschränkte „totalitäre Herrschaft über praktisch jeden Bereich menschlicher Belange Und Aktivitäten" dar
S. Neumann stellt weiter fest, daß die durch diese gemeinsamen Grundzüge gekennzeichneten totalitären Systeme ihre Herrschaft über die Gesellschaft mittels eines Kanons bestimmter Herrschaftsinstrumente und Herrschaftstechniken durchsetzten und aufrechterhielten. Dazu zählt er als erstes die totalitäre Elite, die „political lieutenants", denen neben dem Führerprinzip die wichtigste Rolle im Herrschaftssystem zukomme
Nach diesem Modell der . permanenten Revolution'weiden die modernen europäischen Diktaturen somit als totalitär strukturierte Herrschaft-und Gesellschaftssysteme beschrieben, die sich durch die fünf Merkmale kennzeichnen lassen und sich mit Hilfe der totalitären Elite, der totalitären Partei, der Propaganda und des Terrors an der Herrschaft erhalten, indem sie die Gesellschaft in einem gelenkten Prozeß ständiger Revolution bewegen. Die von S. Neumann herausgestellten Merkmale der totalitären Herrschaft sind demzufolge vor allem, dynamische Elemente. Die strukturellen Elemente der totalitären Diktatur beschreibt er in seiner vergleichenden Untersuchung erst in zweiter Linie als „institutional framework" totalitärer Herrschaft, weil es ihm primär auf die revolutionäre Qualität dieser Systeme ankommt. 4. Zusammenfassung Mitte der vierziger Jahre liegt damit nach knapp zwei Jahrzehnten der wissenschaftlichen Beschäftigung mit zeitgenössischen politischen Phänomenen, deren Entwicklungstendenzen und Strukturen im Laufe dieses Zeitabschnit-tes überhaupt erst erkennbar wurden, ein systematisches Deutungsmodell der totalitären Herrschaft vor, das entscheidende Haupt-merkmale dieser Herrschaftsform formuliert und wichtige Einrichtungen für ihre Durchsetzung und Sicherung beschreibt. Es grün-det sich auf eine Reihe von Studien, welche die Erkenntnis der einzelnen Elemente dieser modernen Erscheinungsformen der Diktatur vorbereitet und die vergleichende Betrachtungsweise von Faschismus und Bolschewismus eingeführt haben.
III. Die Entwicklung der allgemeinen Totalitarismus-Theorie
In diesem dritten Abschnitt werden nach den vorbereitenden wissenschaftlichen Erörterungen zum Begriff des Totalitarismus die Konzeptionen einer allgemeinen Totalitarismus-Theorie von Hannah Arendt und C. J. Friedrich vorgestellt, die erstmals in den fünfziger Jahren erschienen sind. Mit diesen Arbeiten ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Phänomenen faschistischer und bolschewistischer Herrschaftsund Gesellschaftsordnung in die entscheidende Phase eingetreten. Der politische Zusammenbruch des Nationalsozialismus 1945 und der Ausbau der Machtstellung des sowjetischen Regimes sowohl im Lande selbst als auch in seiner politischen Einflußzone in Osteuropa während der Nachkriegszeit haben neue Voraussetzungen für die wissenschaftliche Analyse ergeben, die nach Erkenntnisstand und Materiallage vordem nicht gegeben waren. 1. H. Arendts Bestimmung der totalitären Herrschaft Die 1951 veröffentlichte Arbeit von Hannah Arendt über die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft"
Wesen der totalitären Herrschaft: Terror und Ideologie Hannah Arendt will diese Analyse der totalitären Herrschaft nicht als bloße Beschreibung der geschichtlichen Entwicklung des Totalitarismus und seiner Institutionen und Herrschaftsweisen verstehen. Vielmehr will sie versuchen, „das wesentlich Neue, das nämlich, was diese Herrschaft wirklich zu einer totalen Beherrschung macht, in den Blick zu bekommen"
Der totalitäre Terror enthülle sich somit als das eigentliche Wesen der otalitären Herrschaft. „Das Wesentliche der totalitären Herrschaft liegt . . . einzig darin, daß sie Menschen, so wie sie sind, mit solcher Gewalt in das eiserne Band des Terrors schließt, daß der Raum des Handelns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet."
Technik und Organisation der totalitären Bewegung Die Grundlage dieser totalitären Bewegungen sieht Arendt in der Entwicklung zur modernen Massengesellschaft nach der Auflösung der traditionellen Klassenordnung. Dadurch werde auch ihre Struktur bestimmt. „Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen, und sie sind bis heute die einzige Organisationsform, welche die modernen Massen gefunden haben und die ihnen adäguat scheint."
Zum Erfolg der totalitären Bewegungen gehört nach Arendt neben dieser allgemeinen Grundlage in der politisch-gesellschaftlichen Situation jedoch unabdingbar eine bestimmte Technik und Organisation, von deren Einsatz die Errichtung und Aufrechterhaltung der Macht abhängig sei. Die Propaganda vor allem ist die Technik, mit der die totalitäre Bewegung die Massen erobert, weil sie genau auf die Mentalität der modernen Massen abgestimmt ist: Sie bietet mit ihren ununterbrochenen Wiederholungen eine einfache Orientierung für das Denken und Handeln der Massen. Totalitäre Propaganda ist ein Bestandteil der psychologischen Kriegführung der totalitären Bewegung; ihre Aufgabe ist die Eroberung der Masse für die Bewegung, die Organisierung ihrer Macht in der Zeit vor der Machtübernahme, in der noch die realen Machtmittel fehlen
Als zweites Kennzeichen der totalitären Bewegung neben der Propaganda nennt Arendt die besondere Organisationsform der Anhänger vor der Machtübernahme
Der Apparat der totalitären Herrschaft Der totalitäre Staat weist nach der Etablierung der Herrschaft scheinbar eine monolithische Struktur auf, die Arendt aber nicht für charakteristisch hält. Der totalitäre Staats-aufbau sei vielmehr durch einen Dualismus von Staats-und Parteiinstitutionen gekennzeichnet, der sich aus den Problemen beim Übergang der totalitären Bewegung zur totalen Herrschaft ergebe, zwischen der Stabilität des Erreichten und der Fortführung der revolutionären Bewegung zu vermitteln. Die Folge sei das „Phänomen der Multiplikation" von Funktionen und Zuständigkeiten im neuen Herrschaftssystem, eine Unsicherheit über den jeweiligen tatsächlichen Machtträger. Zugleich bedeute dies aber auch eine Stärkung des organisatorischen Machtmonopols der Führung, die diese internen Machtverschiebungen wieder ausgleiche
Diese „Strukturlosigkeit des totalitären Staates" wird nach Arendt aber wieder aufgehoben durch die Rolle der Geheimpolizei im Herr-schaftsgefüge. In der Geheimpolizei falle die Macht des Staats-und Parteiapparates wieder zusammen
Das eigentliche Wesen dieser totalitären Herrschaft sieht Arendt deshalb in der unbeschränkten terroristischen Umsetzung der totalitären Fiktionen in die alltägliche Wirklichkeit durch die Geheimpolizei und die vorbereitende Präparierung der totalitären Ideologie. Die konsequenteste Einrichtung totalitärer Herrschaft sei infolgedessen das Konzentrationslager. Dieser Wirkungszusammenhang bilde den grundlegenden Unterschied totalitärer Herrschaft zu anderen Formen der Despotie
Friedrichs Überlegungen gehen davon aus, daß die Erscheinungsformen der modernen „totalitären Diktatur" mit den historisch bekannten Formen despotischer Herrschaft nicht gleichgesetzt werden könnten, daß selbst eine allgemeine Abgrenzung dieser Staatsformen als „Autokratie" von den Formen des Rechts-und Verfassungsstaates zu ihrer Charakterisierung nicht ausreiche. Er faßt deshalb die totalitäre Diktatur als eine besondere Staatsform neben der autokratischen und verfassungsstaatlichen Form auf und stellt fest, „daß die totalitäre Diktatur historisch einzigartig und sui generis ist und daß auf Grund der uns jetzt vorliegenden Tatbestände behauptet werden kann, daß die faschistischen und kommunistischen totalitären Diktaturen in ihren wesentlichen Zügen gleich sind, d. h., daß sie sich untereinander mehr ähneln als andere Systeme staatlicher Ordnung, einschließlich der älteren Formen der Autokratie."
Die Wesenszüge der totalitären Diktatur „Die entscheidenden Wesenszüge, von denen wir behaupten, daß sie allen totalitären Diktaturen gemeinsam sind und ihre Gestalt ausmachen, sind die sechs folgenden: eine Ideologie, eine Partei, eine terroristische Geheimpolizei, ein Nachrichtenmonopol, ein Waffen-monopol und eine zentral gelenkte Wirtschaft."
Hält Friedrich die Berücksichtigung dieser Zusammenhänge für das richtige Verständnis der genannten sechs Wesenszüge der totalitären Herrschaft für notwendig, so ist sein grundlegendes Argument für die Rechtfertigung seines Modells eigentlich ein methologisches. Er betont, daß die sechs Grundelemente, auf denen sein spezielles Modell des Totalitarismus aufbaut, einen geschlossenen Erklärungszusammenhang darstellen sollten, in dem die einzelnen Faktoren als voneinander abhängig verstanden werden müßten, so daß eine Isolierung einzelner Elemente diesen Aussagezusammenhang zerstöre. Die Einzigartigkeit der mit seinem Modell beschriebenen totalitären Diktatur ergibt sich für Friedrich dann vor allem daraus, daß in keiner der bekannten traditionellen politischen Herrschaftsformen diese sechs Merkmale zugleich vorhanden gewesen seien, deren Zusammenhang den spezifischen totalitären Charakter der modernen Diktaturen ausmache
Die sechs Faktoren des Totalitarismus Friedrich weist in ausführlichen Untersuchungen diese sechs Grundelemente der totalitären Diktatur in ihren historischen Ausprägungen im italienischen Faschismus, im deutschen Nationalsozialismus und im sowjetischen Bolschewismus nach und gibt dabei eine genauere Bestimmung dieser Faktoren seines theoretischen Erklärungsmodells.
Die totalitäre Ideologie wird als ein geschlossenes System von Ideen beschrieben, die Vorstellungen von gewaltsamen einem totalen Umsturz der Gesellschaft enthalten und sich auf eine allumfassende Ablehnung der bestehenden oder vorhergehenden Gesellschafts
Ordnung stützen
Die totalitäre Massenpartei als organisatorischer Eckpfeiler totalitärer Herrschaft beschreibt Friedrich als ein den staatlichen Institutionen übergeordnetes oder mit ihnen verbundenes Organisationsgeflecht zur Kontrolle der Gesellschaft. Sie sei hierarchisch strukturiert von der Führung über verzweigte totalitäre Eliten zur Masse der einfachen Parteimitglieder, die als die ideologisch bewußte Minderheit der Gesellschaft aufzufassen sei
Der totalitäre Terror der Geheimpolizei ist nach Friedrich das Instrument der revolutionären Machterrichtung der Partei. Er sei eine grundlegende Methode des Regimes zur Verwirklichung seiner ideologischen Doktrinen
Das totalitäre Nachrichtenmonopol versteht Friedrich als das Mittel, die totalitäre Propaganda technisch zur äußersten Effektivität zu entwickeln. Dadurch schaffe sich das Regime ein bisher unerhörtes Instrumentarium der Massenbeeinflussung und geistigen Manipulation, dessen letzter Zweck die Aufrechterhaltung der Macht der herrschenden Partei sei
Die totalitäre zentral gelenkte Wirtschaft sei die notwendige Folge eines totalitären Herrschafts-und Gesellschaftssystems
IV. Wandlungen des Totalitarismus-Begriffs
Im Anschluß an die ausführlichen Darstellungen der ersten Ansätze wissenschaftlicher Begriffsbildung zu den Phänomenen „totalitärer" Herrschaft und der Entwicklung eines allgemeinen Begriffs des Totalitarismus in den klassischen Totalitarismus-Theorien von Arendt und Friedrich soll dieser Abschnitt der Rezeption gewidmet sein, die dieser Totalitarismus-Begriff in der wissenschaftlichen Erörterung erfahren hat. Es versteht sich aus dem Sinn von Wissenschaft von selbst, daß diese Rezeption und diese weitere wissenschaftliche Erörterung eine kritische ist. So ist die wissenschaftliche Rezeption des Totalitarismus-Begriffes angemessen darzustellen als ein Prozeß der Wandlungen dieses Begriffes.
Diese Wandlungen des Totalitarismus-Begriffes, wie sie im Folgenden beschrieben werden sollen, setzen in der wissenschaftlichen Diskussion um diese Probleme schon unmittelbar mit der Vorlage von Arendts und Friedrichs Totalitarismus-Konzeptionen ein. Es ist dabei natürlich zu berücksichtigen, daß die Klassifizierung dieser Konzeptionen als die klassische Phase der Begriffsbildung nach einer vorbereitenden Anfangsphase der wissenschaftlichen Begriffsbildung chronologisch gesehen willkürlich ist. Sie begründet sich nach dem inhaltlichen Kriterium, daß mit diesen Entwürfen einer allgemeinen Theorie des Totalitarismus die wissenschaftliche Begriffsbildung einen bestimmten ausgereiften Grad an systematischer Durchformung und theoretischer Allgemeinheit erlangt hat.
In der daran anschließenden wissenschaftlichen Diskussion wird diese Begriffsbildung selbst zum Gegenstand. Sie wird kritisch reflektiert und auf die Phänomene bezogen, zu deren theoretischer Klärung sie entwickelt wurde. So lassen sich denn auch für diesen Entwicklungsgang der wissenschaftlichen Auseinandersetzung unterschiedliche Phasen ansetzen. Bei der Verdeutlichung solcher Phasen der Weiterführung des Totalitarismus-Begriffes ist eine Beschränkung auf wenige Arbei-ten erforderlich, die gleichwohl den Prozeß der Wandlungen des Totalitarismus-Begriffs anzeigen können. In den folgenden drei Kapiteln sollen drei solcher Phasen der weiteren Entwicklung dieses Begriffs dargestellt werden. Das erste Kapitel zeigt Versuche einer Reduktion der Reichweite des allgemeinen Totalitarismus-Begriffs vor allem Friedrichscher Prägung. Im zweiten Kapitel werden einige Ansätze zu einer Neuorientierung der Totalitarismus-Forschung vorgestellt, die verstärkt zu Beginn der sechziger Jahre in die Diskussion kommen. Zum Abschluß dieses Abschnittes wird an zwei charakteristischen Beispielen die Auflösung der Totalitarismus-Konzeption dargestellt. 1. Reduktion des allgemeinen Totalitarismus-Begriffs In diesem Kapitel werden drei Studien behandelt, die wesentliche Gemeinsamkeiten in zwei Aspekten aufweisen: Da ist einmal ihr Versuch, grundsätzlich die Möglichkeiten auszuleuchten, die sich methodologisch der wissenschaftlichen Analyse bieten, eine empirisch fundierte allgemeine Theorie des Totalitarismus aufzustellen. Zum zweiten ist es die Frage der Anwendbarkeit der Totalitarismus-Konzeption auf konkrete Herrschafts-und Gesellschaftssysteme. Diese Studien stehen nämlich im Zusammenhang empirischer Einzeluntersuchungen politischer Systeme, die nach der klassischen Totalitarismus-Konzeption diesem Begriff zugeordnet werden.
Gurland: Vollständige Gegenstandsanalyse vor Theorienbildung Gurlands Studie zum Totalitarismus-Begriff erschien 1954 als Einleitung einer Untersuchung über die „totalitäre Erziehung" in der SBZ/DDR
Ihrer Anlage nach kann eine solche Spezialstudie Gurland zufolge jedoch selbst keine allgemeinen Begriffsdefinitionen über das gesamte Herrschaftssystem entwickeln, sondern lediglich einzelne spezielle Hypothesen zu ihrem überschaubaren Teilbereich des Objekts zu verifizieren versuchen. Sie kann danach also nur einzelne Elemente einer Theorie des Gesamtsystems, einzelne Elemente einer allgemeinen Theorie des Totalitarismus entwickeln. Gurland begründet dies mit der These, daß „man einen Gegenstand in seiner Gänze analysiert haben muß, um seinen Begriff bestimmen zu können"
Gurland fordert deshalb „eine Darstellung des Gegenstandes, die so vielseitig ist, daß sie sein Spezifisches plastisch zu reproduzieren vermag"
Aus der besonderen Situation der Totalitarismus-Forschung, die sich in den fünfziger Jahren mit dem noch neuen Phänomen der sozialistisch beherrschten Staaten in der sowjetischen Einflußsphäre wissenschaftlich zu beschäftigen beginnt, ist Gurlands Forderung, die Analyse auf üoerschaubare Einzelbereiche zu begrenzen und erst diese genau zu erforschen, zweifellos für die Praxis des Forschungsprozesses von Bedeutung. Sie verbirgt aber ihre eigentlichen methodologischen Schwierigkeiten und klärt deshalb die Problematik der traditionel-len Totalitarismus-Forschung nicht, von der sie ausgegangen war. Dieser Ausgangspunkt war das Ungenügen an dem Verfahren, das Gesellschaftssystem der SBZ/DDR, ja Teilbereiche hiervon mit der vorgeformten Begriffsbildung der Totalitarismus-Theorie zu analysieren, den schon entwickelten Begriff des Totalitarismus dieser Analyse einfach zugrunde zu legen, ohne daß seine Angemessenheit für dieses Phänomen schon zureichend geklärt sei. Gurlands methodologisch unbedachte These stellt in ihrer Allgemeinheit jedoch das Verfahren empirischer wissenschaftlicher Begriffsbildung in Frage, trägt aber zu dieser Verfahrensfolge von Hypothesenbildung, ihrer Falsifikation durch empirische Analyse und erneuter modifizierter Hypothesenbildung nichts auf der erforderlichen Abstraktionsstufe bei.
Drath: Primärphänomen des Totalitarismus Die von Gurland aufgeworfene Frage nach dem zulässigen Verhältnis von Einzelanalyse und allgemeiner Theorienbildung in der Totalitarismus-Forschung führte Martin Drath in seiner Untersuchung zum Totalitarismus-Begriff fort, die gleichfalls als Einleitung zu einer Spezialstudie über das Herrschaftssystem der DDR erschienen ist
Für Drath bleibt der Totalitarismus-Begriff trotz seiner wertenden Elemente ein Erkenntnisbegriff. Sein Bezug auf das Wertsystem der freiheitlichen Demokratie beeinträchtige seine Erkenntnisqualität nicht, denn jede Begriffsbildung, zumal der politischen Wissenschaft, sei „nie ganz voraussetzungslos"
Er entwickelt zu diesem Zweck ein „zentrales Prinzip des Totalitarismus" und bezeichnet es als „Primärphänomen". Dieses Primärphänomen soll als das „fundamentale charakteristische Merkmal" verstanden werden, dem gegenüber alle anderen Merkmale des Totalitarismus-Begriffs sekundär sind, da sie sich erst aus diesem eigentlichen Wesensmerkmal ergeben
Drath glaubt, daß sich die Begriffsbestimmung des Totalitarismus durch ein Primärphänomen in der Analyse des Herrschaftssystems der DDR schon bewährt habe, zumal sie nicht die komplexen Zusammenhänge der Entstehung eines bestimmten totalitären Systems erklären wolle, sondern nur die Wirksamkeit des primären Wesensmerkmals des Totalitarismus angebe. Die jeweils besonderen Wirkungszusammenhänge des Primärphänomens bewirkten dann die Differenzen in der Ausprägung der konkreten totalitären Systeme. Deshalb könnten mit dieser formalisierten Bestimmung des Totalitarismus-Begriffs auch Erscheinungen wie das italienische, deutsche und kommunistische totalitäre System, die in Einzelheiten differieren, als gleichartig bezeichnet werden.
Die kritische Überprüfung der Merkmale des Totalitarismus-Begriffs in Draths Untersuchung hat also zu einer Formalisierung der Begriffsbestimmung geführt. Den traditionellen idealtypischen Begriff mit seinen verschiedenen Merkmalen (bei Friedrich sechs Grund-merkmale der totalitären Diktatur) konzentriert Drath auf sein Primärphänomen totalitärer Systeme, die Durchsetzung eines neuen gesellschaftlichen Wertungssystems, das allen anderen Begriffsmerkmalen als konstitutiv zugrunde liegt. Er glaubt mit dieser modifizierten Bestimmung des Totalitarismus-Begriffs seine Anwendung auf die faschistische, nationalsozialistische sowie die verschiedenen kommunistischen Erscheinungsweisen aufrechterhalten zu können, da durch den Nachweis dieses Primärphänomens die Subsumtion dieser Phänomene unter den Begriff des Totalitarismus gewährleistet sei, während die Analyse mit den sekundären Merkmalen dann differenzierter die besonderen Wirkungszusammenhänge in den einzelnen totalitären Systemen berücksichtigen könne.
Bracher: Gemeinsamkeiten wesentlich in der Herrschaftstechnik Karl-Dietrich Brachers Beitrag zu der von Gur-land und Drath bisher verdeutlichten Problematik ist in seiner Einleitung zu der bekannten Studie über die „Nationalsozialistische Machtergreifung" enthalten
Bracher geht davon aus, daß „erst auf dem empirischen Weg historisch differenzierender Bestandsaufnahme und durch die Analyse konkreter Erscheinungsformen . . . bestimmte Grundelemente totaler Herrschaft erschlossen (werden), die allgemeinere Aussagen über Bedingungen, Wesen und Grenzen des Totalitarismus erlauben"
Auf diesen Aspekt der Ähnlichkeit in der Technik der Herrschaftsausübung stützt sich dann Brachers Argumentation, wenn er schließlich eine generelle Bestimmung des Totalitarismus als Gesamtphänomen für möglich hält trotz der verschiedenen individuellen Voraussetzungen und Zielsetzungen der einzelnen konkreten Erscheinungsformen. Bracher betont die Gleichartigkeit der negativen, antidemokratischen, wie der . positiven', totalitären, Hauptmerkmale dieser einzelnen Herrschaftssysteme, durch die sich die wichtigsten Merkmale der totalitären Herrschaftsform angeben ließen, „die sie zugleich von allen früheren Formen der Diktatur oder des Absolutismus grundlegend unterscheiden und zu einem eigenen Phänomen unseres Zeitalters machen"
Durch diese Überlegungen Brachers zur Problematik des Totalitarismus-Begriffs wird die Möglichkeit einer einheitlichen wissenschaftlichen Begriffsbildung für die Erscheinungs-formen nationalsozialistisch-faschistischer und kommunistischer Herrschaftssysteme nachdrücklich unterstrichen. Bracher erwartet von einer ins einzelne gehenden empirisch-historischen Bestandsaufnahme der Wirkungsweise dieser Herrschaftssysteme eine weitere Vervollständigung der Merkmale totalitärer Herrschaftspraxis. Gleichzeitig wird damit aber eine wichtige Einschränkung der theoretischen Reichweite des Totalitarismus-Begriffs formuliert. Entgegen den Ansprüchen der klassischen Totalitarismus-Theorie, mit ihren Modellen das Wesen totalitärer Herrschaft umfassend bestimmen zu können, reduziert Bracher die theoretische Verallgemeinerung dieser konkreten Phänomene durch den Begriff des Totalitarismus auf die herrschaftstechnischen Elemente dieser Systeme. In dieser Rezeption des Totalitarismus-Begriffs wird somit bewußt seine analytische Grenze reflektiert, die Bracher in dem vielfältigen Komplex der individuellen, jeweils besonderen geistigen, historischen und politisch-sozialen Bedingungen und Umstände dieser Herrschaftssysteme sieht. Bracher leitet damit ein Verständnis des Totalitarismus-Begriffs ein, nach dem dieser als generalisierender Begriff zur Bestimmung wichtiger Züge dieser politischen Phänomene didaktisch seine Berechtigung hat. 2. Neuansätze der Totalitarismus-Forschung Nach diesen Überlegungen zur angemessenen Weise der Rezeption des klassischen Totalitarismus-Begriffs werden im folgenden Kapitel einige charakteristische, vor allem in der ersten Hälfte der sechziger Jahre zahlreicher werdende Auffassungen behandelt, die die Verwendbarkeit der Totalitarismus-Konzeption für die Analyse der sozialistischen Herr-schafts-und Gesellschaftssysteme in Frage stellen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus-Begriff ist in diesem Zeitabschnitt erheblich kritischer geworden, zumal unter dem Einfluß der Verschiebung des Interessenschwerpunkts auf die wissenschaftliche Erforschung der seit der Nachkriegszeit weiterentwickelten sozialistischen Staaten.
Die Auswahl der hier vorgestellten Arbeiten sucht dem Rechnung zu tragen, indem sie bestimmte Hauptaspekte dieser wissenschaftlichen Diskussion, an der dann verschiedene Autoren beteiligt werden, zusammenfaßt. Diese Schwerpunkte werden gesehen in dem Versuch, den Ansatz der Totalitarismus-Theorie systematisch zu überprüfen, ferner in den Ansätzen einer Modifizierung des analytischen Verfahrens bei der Erforschung sozialistischer Herrschaftsund Gesellschaftssysteme sowie schließlich in der Entwicklung neuer analytischer Konzeptionen für diesen Forschungsgegenstand.
Kritik am Ansatz der Totalitarismus-
Konzeption Den Autoren dieser Kritik am analytischen Ansatz der Totalitarismus-Theorie und an den Elementen des Totalitarismus-Begriffs geht es keineswegs von vornherein um die Ablösung der traditionellen Begriffsbestimmung des Totalitarismus. Wie schon angedeutet wurde, ist es ihre Absicht, die Probleme des Totalitarismus-Begriffs kritisch zu durchleuchten, die sich aus seiner Anwendung auf die Analyse zeitgenössischer sozialistisch verfaßter Herrschafts-und Gesellschaftssysteme wie etwa der DDR stellen
Zum Ausgangspunkt der Erörterung über die Angemessenheit des Totalitarismus-Begriffs und seiner Kategorien werden Überlegungen zur Perspektive der Totalitarismus-Forschung, wie sie vor allem von P. Ch. Ludz und H. Zimmermann angestellt werden
Es wird die schwerwiegende Befürchtung geäußert, ob denn ein solcherart systemtranszendent gewonnener Begriff, der die Bindung seiner Kategorien an die Wertmaßstäbe der parlamentarischen Demokratie keineswegs verheimlicht, überhaupt dazu dienen kann, einzelne „totalitäre" Systeme angemessen systemimmanent zu interpretieren, oder ob die Verwendung dieses Begriffs des Totalitarismus bei der Analyse sozialistischer Herr-schafts-und Gesellschaftssysteme nicht „tendenziell zu wissenschaftlichen und politischen Fehleinschätzungen führen muß"
Ausgehend von den tatsächlichen Unterschieden in den historischen Voraussetzungen, den politischen Zielsetzungen und den Wirkungszusammenhängen der einzelnen Herrschaftssysteme, die als Erscheinungsformen der totalitären Herrschaft in diesem Begriff zusammengefaßt werden, schätzt Stammer die Möglichkeit gering ein, nach Zahl und Qualität hinreichende gemeinsame Wesensmerkmale zu finden, welche die Vielfalt dieser gesellschaftlich-kulturellen Phänomene in einen einheitlichen Allgemeinbegriff des Totalitarismus zu bringen erlaubten
Ludz kritisiert weiterhin, daß die „Schematisierungen und Typisierungen historischer Erscheinungen in den verschiedenen totalitären Bewegungen und die Aufgipfelung dieser Erscheinungen zu Strukturmomenten jedes totalitären Herrschaftsund Gesellschaftssystems . . .den Anspruch (erheben), das Ganze, also die ideologisch-politische und sozialökonomische Dynamik der verschiedenen totalitären Herrschaftsund Gesellschaftssysteme vornehmlich mit der Analyse der Herrschaftstechnik theoretisch wie historisch-deskriptiv in den Griff zu bekommen"
Die Aspektverengung des Totalitarismus-Begriffs auf die Herrschaftstechnik mache es unmöglich, Entwicklungen innerhalb dieser Systeme angemessen zu erfassen, von denen sich nur sehr fragwürdige Analogien zur nationalsozialistischen und bolschewistischen Herrschaftspraxis bilden ließen
Die hier gedrängt vorgetragenen kritischen Argumente gegen die traditionelle Totalitarismus-Konzeption münden in die Forderung nach einer Revision des Begriffsapparates der Totalitarismus-Forschung. Entscheidend ist neben der angeführten methodologischen Problematik dieser Begriffsbildung die immer wieder vorgebrachte Unzulänglichkeit dieses Totalitarismus-Begriffs für die aktuelle Erforschung bolschewistischer Systeme. Vor allem in der Auseinandersetzung mit den bekannten Grundmerkmalen dieses Begriffs wird am Wandel einzelner dieser Faktoren in den bestehenden sozialistischen Herrschaftsund Gesellschaftssystemen nachzuweisen versucht, daß aufgrund der teilweise erheblich veränderten Verhältnisse in diesen Systemen die traditionellen „Strukturmerkmale des Totalitarismus-Begriffs jedenfalls für empirisch-deskriptive wie auch für theoretische Analysen bolschewistischer Gesellschaftsordnungen nicht hinreichen"
Veränderte analytische Verfahrensweisen Das Interesse der Kritiker der traditionellen Totalitarismus-Forschung richtet sich deshalb folgerichtig auf das Ziel, die bloßgelegten Schwierigkeiten des klassischen Ansatzes zu überwinden. Man verspricht sich dies von einer Veränderung des bisherigen analytischen Ansatzes der Forschung. Die angestrebte neue Perspektive der Totalitarismus-Forschung soll das „starre, im Grunde unhistorische Systemdenken" im idealtypischen Totalitarismus-Begriff mit seinen fixierten Merkmalen ersetzen durch ein „dynamisches, auf den politischen und sozialen Prozeß in bolschewistischen Systemen abgestelltes analytisches Vorgehen"
So betont etwa Ludz, daß die sozialistischen Herrschaftsund Gesellschaftssysteme jeweils als „geschlossenes, historisch und politisch als notwendig zu begreifendes und sich nach objektiven Gesetzmäßigkeiten dynamisch entwickelndes Gebilde" begriffen werden müßten.
Es sei eine „Reflexion auf einen Gesamtzusammenhang" dieser Systeme erforderlich
„Eine Voraussetzung dieser Analysen mit dem Ziel der adäguaten Gewichtung der Grundkategorien für ein möglichst zutreffendes Bild der wirklichen Zusammenhänge (in den sozialistischen Systemen, d. Vers.) ... ist die verstärkte Inangriffnahme vergleichender immanenter Forschungen. Erst solche Arbeiten sind u. E. imstande, eine sinnvolle Deutung der ideologischen und politisch-sozialen Umstrukturierungsprozesse und der gualitativ neuen Ordnung der bolschewistischen Systeme zu geben, nicht nur historische Zustände zu beschreiben, sondern auch die gegenwärtigen Situationen und die in ihnen angelegten Entwicklungstrends aus der jeweilig historisch-politischen Eigendynamik bolschewistischer Systeme abzuleiten."
Neue theoretische Ansätze In diesem Zusammenhang kommt dem „Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaft" von Ludz eine besondere Bedeutung zu, weil diese Abhandlung ebenso wie der ganze Aufsatzband, dessen theoretische Einführung sie darstellt, bahnbrechend für die Diskussion über die DDR-Forschung in der Bundesrepublik gewesen ist
Um einige dieser Prozesse innerhalb sozialistisch verfaßter Gesellschaften differenzierter erfassen zu können, setzt Ludz eine soziologische Analyse der Gesellschaft der DDR an, deren Prozeßhaftigkeit und soziale Dynamik bislang keine besondere Beachtung gefunden hat in den analytisch gröber angesetzten und von der klassischen Totalitarismus-Konzeption bestimmten Darstellungen über das Herrschaftssystem der DDR und seine Einzelapsekte. Ludz faßt die Gesellschaft der DDR als ein eigenständiges politisch-ökonomisch-soziales System auf, in dem unbeschadet seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten politischen Lager und den daraus resultierenden, zum Teil weitgehenden Abhängigkeiten soziale wie politische Prozesse in einer Eigengesetzlichkeit verlaufen, die aus der Analyse des Systemzusammenhangs erkennbar werden können. Veränderungen der Ideologie und Wandlungen in der Sozialstruktur müssen dieser Auffassung zufolge als wichtige Faktoren für das gegenwärtige Erscheinungsbild dieses Herrschaftsund Gesellschaftssystems berücksichtigt werden.
Ludz geht bei seiner soziologischen Analyse der DDR-Gesellschaft, deren Folgerungen den Ansatz der traditionellen Totalitarismus-Theorie in Frage stellen, von zwei Überlegungen aus. Die erste Überlegung bezieht sich auf den Wirkungszusammenhang von sozialen Normen und ihrem Sanktionsvollzug in einem Sozialsystem. Auch eine bolschewistische Partei sei in einem hochtechnisierten Sozialsystem wie die DDR darauf ausgerichtet, die Ausübung der Macht nach bestimmten geltenden Normen auszurichten, denn die Einhaltung dieser Normen durch die Partei selbst sei erforderlich für den reibungslosen Funktionsablauf des Sozialsystems. In einem sozialistischen System sind diese Normen von der herrschenden Partei selbst gesetzt. Ihre Geltung ist deshalb gefährdet, wenn sie von den herrschenden Gruppen manipuliert wird oder wenn die Partei als Träger des Sanktionsmonopols Schwankungen im Vollzug von Sanktionen bei Verstößen gegen die gesetzten Normen zuläß Derartige Schwankungen im Sanktionenvoll zug eines sozialistischen Herrschaftssystems lassen Folgerungen auf die Gültigkeit dieser Normen oder auf den Durchsetzungswillen der herrschenden Partei zu.
So könne die Feststellung solcher Schwankungen einen Wandel der Normenstruktur anzeigen und die Übernahme gewisser, von der Partei gesetzter Normen durch bestimmte Gruppen der Gesellschaft bzw. die Anpassung von bestimmten Parteigruppen an traditionelle und neu in der Gesellschaft sich bildende Gebote und Verbote bedeuten. Sie könne auch Ausdruck der Unsicherheit der Partei in ihrer Einschätzung der Nützlichkeit und Verwendbarkeit traditioneller, von der Partei vertretener Normen sein oder eines Wandels des ideologischen Dogmas überhaupt
Die zweite Überlegung von Ludz knüpft daran an und bezieht sich auf den Wirkungszusammenhang von sozialen Konflikten und dem Wandel in sozialistischen Gesellschaftsund Herrschaftssystemen. Ihr Ausgangspunkt ist die Annahme, daß auch sozialistische Gesellschaften Veränderungen unterworfen sind, die „von verschiedenen sozialen Kräften, allgemein: von der Partei und den von ihr initiierten sozialen Prozessen wie vom Eigengewicht dieser Dynamik" ausgehen
Es zeigt sich schon darin, daß diese theoretischen Ausgangsüberlegungen Konsequenzen für die Analyse des Herrschaftsund Gesellschaftssystems der DDR haben. Der Zusammenhang von Wandel der Ideologie und Wandel der Gesellschaft verweist nach Ludz nämlich auf eine gewisse Gemeinsamkeit von Normen der Partei und Normen der Gesellschaft in einem sozialistischen System. Die Schwankungen im Vollzug von Sanktionen gegen Verletzungen kodifizierter Normen des Systems ließen nämlich eine Schwäche der herrschenden Partei in der „Durchsetzung der eigenen rechtlichen und sozialen Normen und (ihre) Anpassung an die in der Gesellschaft bereits vorhandenen Leitbilder" erkennen
Eine bolschewistische Partei ist nach Ludz durch ihre soziale Marginalität, ihre gesellschaftliche Außenseiterrolle geprägt, aus der sie ihre politische Ideologie, ihre sozialen Normen und ihre Organisationsform entwickelt, die denen der sie umgebenden Gesellschaft entgegengesetzt sind. Ihr Ziel sei die Durchsetzung dieser Ideologie, dieser Normen und Organisation in dieser Gesellschaft, und mit der Machtübernahme betreibe sie dann die Umge-staltung der Gesellschaft. Die von der herrschenden bolschewistischen Partei gesetzten sozialen Werthaltungen und kodifizierten Normen werden in einer langen Phase des Bestehens eines sozialistischen Systems jedoch nur von der Parteiminorität getragen; sie stehen in Konflikt mit den traditionellen Wertorientierungen der Gesellschaft, der sie mit Gewalt oktroyiert werden. Daraus resultiert ein Konflikt zwischen den tradierten sozialen Normen, den vom System gesetzten Normen und solchen Normen, die sich aus der Struktur der neuen Gesellschaft erst bilden. Ein Großteil dieser Konflikte spiele sich ebenso innerhalb der Partei ab, deren Mitglieder noch stärker sich überkreuzenden Normenkonflikten ausgesetzt seien.
Der „Leerformelcharakter''der kommunistischen Ideologie ist für Ludz das Medium, das diese Konflikte wieder in das System integrieren könne. Er eröffne die Möglichkeit, flexibel Ansprüche der Gesellschaft, wie sie sich aus den neu sich bildenden sozialen Normen des Systems ergeben, etwa die Orientierung an technischem und sozialem Fortschritt, in die offizielle Ideologie und in die kodifizierten Normen des Systems zu übernehmen und so langfristig einen sozialen Konformismus zwischen den Zielen der herrschenden Partei und den Bedürfnissen der Gesellschaft herzustellen. Die Leerformei-Ideologie sei „Medium der Funktionstüchtigkeit des sozialen Systems . . ., einmal als Orientierungsmittel von Eliten und Massen, zum anderen als Lenkungsinstrument der Gesellschaft durch die herrschenden Gruppen, schließlich als Kanon von Geboten und Verboten, die von den Betroffenen bis zu der Grenze, die durch die Rechtfertigung der gegebenen Herrschaft der Partei bestimmt ist, negiert und/oder in eigene Interessen umgedeutet werden können"
Aus den dargelegten Elementen von Funktionsänderungen der SED-Ideologie und sozialem Wandel und sozialer Konflikte im Gesellschaftssystem der DDR zieht Ludz die Folgerung, daß durch diese Entwicklungen das Primärphänomen des Totalitarismus im Sinne Draths in Frage gestellt sei, daß „ein bolschewistisches System unter den Bedingungen der Industriegesellschaft damit eher zu einer autoritären als zu einer totalitären Verfassung tendierte, daß die totalitäre soziale Kontrolle abgelöst würde von einer autoritären sozialen Kontrolle, die in Einzelbereichen eine spontan von der Gesellschaft ausgehende, nicht zentral von der Partei organisierte soziale Kontrolle nicht ausschließt"
Diese soziologische Umformulierung der Totalitarismus-Theorie, die Ludz in seiner Abhandlung vornimmt, stellt die Gültigkeit des traditionellen Totalitarismus-Begriffs entscheidend in Frage. Das Verständnis und die Analyse sozialistischer Herrschaftsund Gesellschaftssysteme wird dadurch auf eine veränderte Grundlage gestellt, daß Ludz über die bloße Analyse der strukturellen Aspekte einer totalitären Gesellschaft, wie sie der Totalitarismus-Begriff vermittelte, hinausgeht. Es gelingt ihm, bestimmte soziale Prozesse innerhalb dieses Gesellschaftssystems mit seinem Ansatz sichtbar zu machen und andere Faktoren als herrschaftstechnische in die theoretische Deutung des sozialistisch verfaßten Systems einzubeziehen.
Auch in einer zweiten Hinsicht geht der soziologische Ansatz von Ludz über die traditionelle Totalitarismus-Konzeption hinaus. Seine Untersuchung der Zusammenhänge zwischen sozialen Normen und ihrem Sanktionenvollzug sowie zwischen sozialen Konflikten und gesellschaftlichem Wandel innerhalb sozialistischer Gesellschaftssysteme wendet analytische Kategorien von größerer analytischer Reichweite als die Kriterien der Totalitarismus-Konzeption auf sozialistische Herrschaftsund Gesellschaftssysteme an. Ludz versucht mit diesen analytischen Kategorien den gegebenen Stand der Lösung im Konflikt sozialistischer Systeme erkennbar zu machen, der zwischen ihrer vorgegebenen ideologischen Bestimmtheit und ihrem Ziel besteht, eine funktionsfähig organisierte industrielle Gesellschaft zu entwickeln. Diese analytischen Kate-gorien sind nicht von einem bestimmten politischen Gesellschaftsbild vorbestimmt, sondern allgemein anwendbar in der Analyse politischer Systeme, bei der es um den je spezifischen Wirkungszusammenhang von ideologischen Voraussetzungen und Zielvorstellungen und politisch-sozialen Strukturelementen des Sozialsystems geht. 3. Die Auflösung der Totalitarismus-Konzeption Es wurde im letzten Kapitel schon auf den Prozeß einer Objektivierung der analytischen Kategorien beim Versuch, einen Neuansatz für die traditionelle Totalitarismus-Theorie zu finden, hingewiesen. Dabei konnte auch schon verdeutlicht werden, daß ein solcher Prozeß notwendig auf eine Ablösung des Totalitarismus-Begriffs zielt, da die Ergebnisse der veränderten analytischen Annäherung an sozialistische Herrschaftsund Gesellschaftssysteme — und auf diese verengt sich die wiedergegebene Diskussion des Totalitarismus-Begriffs — eine modifizierte begriffliche Bestimmung dieser Systeme nahelegt. Die vorerst letzte Station im Entwicklungsgang der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus-Begriff, die sich derzeit schon übersehen und beschreiben läßt, führt den Prozeß der Ablösung der Konzeption des Totalitarismus weiter und versucht theoretische Modelle für die Interpretation der zeitgenössischen sozialistischen Staaten zu entwickeln, die deren analytische Reichweite übertreffen. Ihre Darstellung muß im folgenden auf zwei Beispiele beschränkt werden, die wichtige Aspekte des analytischen Instrumentariums und der theoretischen Konzeption zeigen können.
Deutung des Sowjetsystems als autoritäres System Mit dem ersten Beispiel wird deutlich, daß die Veränderungen der Analyse sozialistischer Herrschafts-und Gesellschaftssysteme, die zum Abrücken vom Totalitarismus-Begriff für diese Erscheinungsform politischer Systeme führt, nicht auf die . Volksdemokratien'beschränkt ist. Vielmehr ist dieser wissenschaftsgeschichtliche Prozeß die Folge von Entwicklungsvorgängen in diesen Herrschaftssystemen, die seit den sechziger Jahren zunehmend von der Wissenschaft zur Kenntnis genommen werden und selbst einen neuen Zugang der Forschung erforderlich machen. Eine derartige Untersuchung eines sozialistischen Herrschafts-und Gesellschaftssystems und seiner neuen Entwicklungszüge, die zur Konsequenz einer neuen theoretischen Konzeption führen, ist Arnold G. Meyers Studie über das sowjetische politische System
Meyer geht zunächst davon aus, daß das wesentliche Kennzeichen des sowjetischen Systems die zentrale Kontrolle aller gesellschaftlich relevanten Bereiche durch die bolschewistische Partei sei. Dieses totalitär verfaßte bolschewistische System unterscheide sich von der eingeschränkten und kontrollierten Herrschaft demokratisch-parlamentarischer Systeme durch die gelenkte Organisierung und Politisierung des gesellschaftlichen Lebens, deren Ziel die Durchsetzung des in der bolschewistischen Ideologie vorgegebenen sozialen Wert-systems sei
Das gegenwärtige Erscheinungsbild des sowjetischen Herrschafts-und Gesellschaftssystems mache ein differenzierteres Begriffsschema als das starre des Totalitarismus-Begriffs erforderlich. Meyer lehnt sich bei seiner Interpretation des Sowjetsystems deshalb an ein Klassifikationsschema an, das in der Organisationssoziologie von Rensis Likert entwickelt wurde
Meyer formuliert ein Kontinuum von vier politischen Herrschaftsformen: den Ausbeutungs-Autoritarismus (exploitative), den Wohltätigkeits-Autoritarismus (benevolent), den konsultativen Autoritarismus und schließlich den partizipativen Autoritarismus
Meyer vertritt die Auffassung, daß das sowjetische Herrschaftsund Gesellschaftssystem in dieses Begriffsschema angemessener eingeordnet werden könne. Dieses Urteil bezieht er auf die verschiedenen Entwicklungsstadien des Sowjetsystems wie auf die gegenwärtige Erscheinungsform, deren Tendenzen sichtbar würden. Die gegenwärtige Erscheinungsform ordnet Meyer dem Typ des konsultativen Autoritarismus zu, wogegen frühere Entwicklungsphasen des Sowjetsystems dem Aus-beutungs-bzw. Wohltätigkeits-Autoritarismus zugerechnet werden müßten. Er begründet diese Begriffsbestimmung mit den im einzelnen weiter ausgeführten Entwicklungsvorgängen innerhalb der sowjetischen Gesellschaft, die die Ablösung einiger traditioneller Elemente mit sich gebracht hätten, die bisher als Merkmale einer totalitären Herrschaftsordnung dienten.
Die DDR als konsultativ-autoritäTes Herrschaftssystem Einen breiteren Raum soll die Darstellung einer neueren Interpretation des Herrschaftsund Gesellschaftssystems der DDR einnehmen, die sich an dieses Klassifikationsschema von Meyer anlehnt und eine komplexe Theorie des Wandels der DDR-Gesellschaft zu geben versucht. Es handelt sich dabei um die empirisch-systematische Untersuchung von Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-führung von P. Ch. Ludz
Sind diese Ausgangsthesen der Untersuchung zunächst lediglich auf die SED als die herrschende Partei und damit maßgebliche Gruppierung des DDR-Systems bezogen, so schließen sie doch auch gesamtgesellschaftliche Aspekte dieses industriegesellschaftlich bestimmten Herrschaftssystems ein. Ludz folgt dem Konfliktansatz in der soziologischen Analyse, wenn er die DDR als ein Sozialgebilde versteht, in dem sich „gesamtgesellschaftliche und partielle Entwicklungstendenzen durchkreuzen und überlagern" und dadurch Prozesse politischen und sozialen Konfliktes freisetzen. Die SED als Auslöser solcher Konflikte sei selbst infolge ihrer Geheimbund-tradition solchen Konflikten ausgesetzt, die nach außen als Anpassungskonflikte an die unter ihrer Führung entstandene Gesellschaft erschienen: dem Konflikt zwischen der politisch maßgeblichen traditional orientierten
Gesamtgesellschaftlich verlaufe der Konflikt zwischen der älteren Generation und der in der DDR ausgewachsenen Nachkriegsgeneration, die schon aus der entwickelten neuen Gesellschaft Verhaltensmuster und Leitbilder gewonnen habe. Wie bei den partei-internen Konflikten, bei denen sich eine Ablösung der älteren Funktionärsgeneration und ein Aufstieg neuer fachgeschulter Eliten zeige, stehe auch gesamtgesellschaftlich eine traditionale Verhaltensorientierung einer Ausrichtung an neu entwickelten Normen der Gesellschaft gegenüber. Allgemeingesellschaftliche Tendenzen als Folge der industriegesellschaftlichen Entwicklung, etwa das Anwachsen groß-bürokratischer Apparaturen und die zunehmende Verselbständigung der staatlichen und wirtschaftlichen Großbürokratien gegenüber dem Parteiapparat, schaffen zudem nach Ludz eine institutionelle Basis für die aufstrebenden neuen Eliten des Systems.
Ludz faßt diese Thesen über den politischen und sozialen Wandel in der DDR zu einer Grundhypothese über das Herrschaftsund Gesellschaftssystem der DDR zusammen, die den Rahmen des traditionellen Totalitarismus-Begriffs sprengt. „Die SED als eine in ihrem Ursprung totalitäre Partei tendiert unter den Bedingungen des politischen, sozialen und geistigen Wandels, wie er sich in den Jahren nach Stalins Tod im Ostblock und mit einer gewissen Verzögerung auch in der DDR abzeichnet, zur autoritären Partei. Die autoritäre Partei etabliert autoritäre Herrschaft, die hier, wie die totalitäre, als eine bestimmte Herrschaftsform industrieller Gesellschaft verstanden wird."
Als die entscheidende Grundproblematik der herrschenden Partei in diesem Prozeß sozialen und politischen Wandels innerhalb einer sozialistisch verfaßten Gesellschaftsordnung sieht Ludz die Kontrolle der dynamischen wissenschaftlichen und wirtschaftlich-technischen Entwicklung an, wie sie auch sozialistischen Gesellschaften aus den Bedingungen der Industriegesellschaft und der Funktionsfähigkeit des Systems aufgegeben ist, wobei als ihre Grenze die Sicherung der Macht der Parteiführung angesehen werden müsse. In einem sozialistischen Herrschaftssystem verlaufe diese Entwicklung also in der Spannung zwischen zwei Zielen: der Bewahrung des Führungsanspruchs der Partei und dem Aufbau einer fortschrittlichen industriellen Gesellschaft. Ludz läßt keinen Zweifel, daß dieses zweite Ziel von entscheidender Bedeutung für die Neuinterpretation des Herrschaftsund Gesellschaftssystems der DDR und die Aufgabe des Totalitarismus-Begriffs ist: „Wenn konstitutive Merkmale der industriellen Gesellschaft, in erster Linie der in ihr vorherrschende Organisationstyp, von der Parteiführung der SED implizite oder explizite anerkannt werden, dann wandelt sich die totalitäre Herrschaft zur autoritären. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt setzt eine Reihe von Kräften frei, die funktionale und dysfunktionale Konflikte für das Herrschaftssystem der DDR mit sich bringen. Er begünstigt die Differenzierung der politischen Führungsgruppe und führt neue, konkurrierende Eliten herauf, so daß die totale Durchdringung der Gesellschaft durch das ideologische Wollen einer Partei gegenwärtig in weit schwächerem Maße gegeben ist und Schwankungen im Sanktionenvollzug der herrschenden Gruppen fast unvermeidlich werden."
Nach dieser ausführlichen Darstellung der Grundkonzeption und ihrer Hypothesen für diese Interpretation des Gesellschafts-und Herrschaftssystems der DDR können die verschiedenen theoretischen Aspekte der empirischen Untersuchungen, die im umfangreichen empirischen Teil der Arbeit diese Hypothesen genauer belegen, nun knapper behandelt werden. Sie haben nicht nur ihre Bedeutung im Rahmen dieser Arbeit, sondern sind in unserem Zusammenhang der Modifizierung der Totalitarismus-Konzeption vor allem auch geeignet, die analytischen Möglichkeiten eines differenzierten Forschungsansatzes zu demonstrieren. Ludz verfolgt mit seiner Untersuchungskonzeption die Auffassung, den sozialen, politischen und geistigen Wandel innerhalb sozialistischer Gesellschaftssysteme mit einer Studie über die politischen Führungsgruppen der herrschenden Partei faßbar zu machen, da Veränderungen innerhalb dieser herrschenden Eliten ein Indikator für Veränderungen des Gesamtsystems seien.
Sein umfangreiches empirisches Material zum Wandlungsprozeß innerhalb der SED-Partei-elite und des DDR-Systems geht er unter drei theoretischen Gesichtspunkten an: einem organisationssoziologischen Aspekt, einem elitentheoretischen Aspekt und einem ideologie-kritischen Aspekt. Hier können nur die wichtigsten Thesen zusammengefaßt werden. Aus seiner Analyse der Organisationsstrukturen in der Gesellschaft der DDR kommt Ludz zu dem Ergebnis, daß sich die SED als die herrschende Partei des Systems von der traditionellen Organisationsform kommunistischer Bewegungen abzuwenden beginne. Auch als herrschende Parteien hätten kommunistische Parteien aus ihrer Gründung in der vorindustriellen Gesell-schäft die Struktur von Geheimbünden beibehalten, die eine strenge Abkapselung der Führungskader und die unbedingte Vorrangstellung der ideologischen Ausrichtung auf alle Bereiche von Staat und Gesellschaft bedeute, die in den obersten Parteigremien festgelegt worden sei. Vornehmlich unter dem Einfluß wirtschaftlicher Entwicklungen, zumal seit Anfang 1963 mit der Einführung des „Neuen ökonomischen Systems", seien jedoch zunehmend Tendenzen der Versachlichung im Organisationsaufbau der SED festzustellen.
Diese Tendenzen zeigten sich deutlich in der verstärkten Berücksichtigung von ökonomischen und technischen Fachleuten bei der Besetzung von Entscheidungspositionen in weiten Bereichen von Staat und Wirtschaft und ebenso schon der Parteiorganisation. Ludz interpretiert diesen Prozeß als eine Anpassung des Organisationstyps der DDR an die „Dynamik der industriellen Gesellschaft". Dadurch werde das Herrschafts-und Gesellschaftssystem zunehmend von Elementen eines „konsultativen Autoritarismus" gekennzeichnet; die DDR lasse sich also als ein Herrschaftssystem bezeichnen, in dem weiterhin der SED als der herrschenden Partei die Prärogative der Macht zukomme, in dem aber die einzelnen Entscheidungen unter Konsultation von Fachleuten, also in einer gewissen Beteiligung der Gesellschaft, vorbereitet würden.
Unter dem elitentheoretischen Aspekt analysiert Ludz die „Wandlungs-und Beharrungstendenzen in der sozialstrukturellen Zusammensetzung der SED-Führungsgremien". Seine Ergebnisse stützen die Annahme, daß sich ein sozialer und politischer Wandel innerhalb des Systems der DDR vollzieht. Bei den Angehörigen der obersten Partei-und Macht-elite der SED stellt Ludz deutliche Tendenzen eines Generationenwechsels fest. Der traditionelle Typ des bloßen Parteikämpfers trete zurück zugunsten wissenschaftlich-technisch qualifizierter Parteirepräsentanten. Zudem seien deutliche Ansätze einer Trennung der Staats-und Parteielite festzustellen und institutionell eine gewisse Verselbständigung der Staats-und Wirtschaftsbürokartie vom Parteiapparat. Diese Erscheinungen will Ludz natürlich auch als Folge der Herrschaftsdauer der SED verstanden wissen, die nun auch auf Parteikader mit Hoch-und Fachschulausbildung zurückgreifen könne. Ihre Auswirkung auf den System-wandel als Folge der vermutlich größeren Aufgeschlossenheit dieses Personenkreises für eine reibungslose Funktionsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft und ihrer stärkeren Orientierung am Leistungseffekt sozialistischer Gesellschaftsorganisation seien noch nicht abzuschätzen.
In der ideologiekritischen Untersuchung des offiziell vertretenen Marxismus-Leninismus gelingt Ludz jedoch schon der Nachweis, daß die ideologische Geschlossenheit des Systems der DDR aufgebrochen zu werden beginnt, und zwar gerade unter dem Einfluß der Tendenzen, die auch für den allmählichen Aufstieg neuer Eliten maßgeblich sind. Ludz stellt die Existenz einer „institutionalisierten Gegenelite" zu der traditionellen Führungselite der SED fest, die im Rahmen der Partei neue Denkansätze in die kommunistische Ideologie einzubringen versuche. Diese informelle Gegen-elite als Träger des von Ludz so genannten „institutionalisierten Revisionismus" setze sich zusammen aus Parteifachleuten in Staat und Wirtschaft sowie Parteiideologen und -Philosophen, die das System prinzipiell bejahten, die ideologische Doktrin und die Aktionsprogramme der SED jedoch in eigener Deutung an die Dynamik der industriellen Gesellschaft — wie sie sich auch in der DDR entwickle und als Zielvorstellung des sozialistischen Systems bestehe — anpassen wollten, um sie flexibler und leistungsfähiger, damit aber auch für die Gesellschaft attraktiver zu machen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß diese Konzeption zur Untersuchung des Wandels in der SED-Führung einen komplexen Ansatz bietet, um ein sozialistisches Herrschafts-und Gesellschaftssystem mit sich weiterentwickelnden industriegesellschaftlichen Organisationsformen und daraus folgenden geistigen und sozialen Konflikten empirisch in den Griff zu bekommen. Ludz'Interpretation des zeitgenössischen DDR-Systems als eines tendenziell konsultativ-autoritären Herrschaftssystems, mit der die Anwendung des traditionellen Totalitarismus-Begriffs überholt wird, scheint insgesamt angemessener zu sein in dem Versuch, ein komplexes sozialistisch'verfaßtes Herrschaftsund Gesellschaftssystem begrifflich einzuordnen zwischen totalitärer politischer Ordnung als monopolisierter Machtausübung und politischer Entscheidungsbefugnis einer Parteielite einerseits und demokratisch-parlamentarischer politischer Ordnung als Teilnahme der pluralistischen gesellschaftlichen Kräfte an der politischen Entscheidung und ihrer Kontrolle andererseits. Die von Ludz festgestellten Wandlungstendenzen im politischen und sozialen System der DDR, die seiner Interpretation als konsultativ-autoritäres System zugrunde liegen, versteht er als Bedingung einer langfristigen Festigung des sozialistischen Systems der DDR. Sie geben keinen Anlaß, diese mit einem neuen Klassifikationsbegriff beschriebene Wandlung als einen geistigen, sozialen und politischen Wandel in das „westliche Lager" zu mißdeuten. 4. Zusammenfassung In diesem Abschnitt sollten an Beispielen aus dem Komplex der Totalitarismus-Forschung die Wandlungen verdeutlicht werden, die der traditionelle Totalitarismus-Begriff Arendt-seher und Friedrichscher Prägung in der wissenschaftlichen Diskussion der letzten anderthalb Jahrzehnte erfahren hat. Dieser Wandlungsprozeß des Totalitarismus-Begriffs wurde zur besseren Übersicht in drei Entwicklungsschritte mit jeweils graduell abgestuften Zielsetzungen aufgegliedert. Die bestimmende Frage der gesamten kritischen Rezeption des Totalitarismus-Begriffs-war die Überlegung, ob mit dieser Konzeption tatsächlich die einzelnen als . totalitär'begriffenen Herrschafts-und Gesellschaftssysteme angemessen analytisch erfaßt werden könnten.
Unbeschadet möglicher Unterschiede in den individuellen historischen Voraussetzungen, sozioökonomischen Gegebenheiten und politischen Zielsetzungen des italienischen Faschismus, deutschen Nationalsozialismus und sowjetischen Kommunismus hatte der Totalitarismus-Begriff diese Phänomene anhand einiger gemeinsamer Merkmale zu Erscheinungsformen eines einheitlichen Herrschaftstyps des Totalitarismus erklärt und ihre wesentliche Übereinstimmung in der allgemeinen Grundstruktur hervorgehoben. Dieser Geltungsan-spruch des Totalitarismus-Begriffs wie die Methode seiner Begriffsbildung werden im Verlauf seiner Rezeption kritisch überprüft. Vor allem mit der Verlagerung des Forschungsschwerpunktes auf die sozialistischen Herrschaftssysteme wird die Anwendbarkeit eines so konzipierten einheitlichen Begriffs in Frage gestellt.
Die erste Entwicklungsstufe der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus-Begriff zeigte das Ungenügen an seiner methodologischen Struktur und seinem analytischen Geltungsanspruch. Nach dem Umweg über die Forderung Gurlands, die sozialistischen Herrschafts-und Gesellschaftssysteme erst einmal nach allen Aspekten zu untersuchen, um dann daraus einen angemessenen theoretischen Begriff zu entwickeln und die Schwierigkeiten aus der Anwendung des Totalitarismus-Begriffs auf diese Weise zu vermeiden, führte sie zu einer Modifizierung der ursprünglichen Konzeption. Mit seiner Formulierung des „Primärphänomens" des Totalitarismus glaubt Drath eine größere Flexibilität für die Analyse der .sekundären Merkmale', die nach dieser Auffassung die jeweils konkrete Ausprägung des einzelnen totalitären Systems bestimmen, erreichen zu können. Er leitet damit eine Reduktion des traditionellen Totalitarismus-Begriffs ein, die mit den Überlegungen Brachers fortgeführt wird. Darin wird der Begriff des Totalitarismus auf die Beschreibung von Ähnlichkeiten in der Herrschaftstechnik und -praxis der einzelnen politischen Phänomene beschränkt und als didaktisches Instrumentarium zur Bestimmung wichtiger einheitlicher Züge der faschistischen, nationalsozialistischen und kommunistischen Herrschaft gerechtfertigt. Diese eingeschränkte, aber doch grundsätzliche Rezeption des Totalitarismus-Begriffs scheint in der dargestellten zweiten Entwicklungsstufe überwunden, die eine intensive Auseinandersetzung mit dem analytischen Ansatz und den analytischen Kategorien der Totalitarismus-Theorie führt. Die Vorbehalte gegen einen Allgemeinbegriff totalitärer Herrschaft zur Beschreibung von politischen Systemen mit heterogenen Voraussetzungen und Zielsetzungen, der sich nur auf wenige Aspekte ihrer politisch-sozialen geistigen Wirkungszusammenhänge stützt, gehen auf im Versuch, eine neue Forschungsperspektive und neue analytische Wege zu finden für den Komplex der noch in der Entwicklung stehenden sozialistischen Herrschafts-und Gesellschaftssysteme. Diese Forschungsansätze gehen von der Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit dieser politisch-gesellschaftlichen Systeme aus und qualifizieren sich in dem soziologischen Versuch über das DDR-System von Ludz, in welchem spezifische Faktoren aus dem Wirkungszusammenhang dieses Herrschafts-und Gesellschaftssystems zur Grundlage ihrer begrifflichen Klassifizierung werden.
Die Totalitarismus-Konzeption als Deutung der Grundstruktur eines politischen Systems aus dem strukturellen und funktionellen Vergleich mit faschistisch-nationalsozialistisch-bolschewistischen Herrschafts-und Gesellschaftssystemen und der Typisierung bestimmter Merkmale zum generellen Begriff des Totalitarismus ist mit dieser Analyse und Interpretation des sozialistischen Systems in der DDR schon überschritten. Sie wird vollends aufgelöst als Instrument für die Erforschung und Beschreibung sozialistisch verfaßter Systeme im Prozeß sozialer und politischer Entwicklungen mit dem Fortgang der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um den Totalitarismus-Begriff.
Die hier vorgestellte letzte überschaubare Stufe dieses wissenschaftshistorischen Prozesses bringt die Entwicklung komplexer theoretischer Ansätze zur Analyse sozialistischer Systeme, die ausgehen von den politischen, sozialen und geistigen Wandlungstendenzen, denen die herrschende Partei eines solchen Systems ausgesetzt ist wie die Gesamtgesellschaft, wenn sie das Ziel der Entwicklung und leistungsfähigen Organisierung einer modernen industriellen und damit wahrscheinlich sozial komplexen Gesellschaft verfolgt. Die Konsequenz dieser analytischen Verfahren ist das Aufgeben des traditionellen Begriffsschemas politischer Herrschaftsformen und des Geltungsanspruchs allgemeiner Theorien wie der Totalitarismus-Theorie, die das , Wesen" totalitärer Herrschaft allgemeingültig begrifflich fassen wollte. An ihre Stelle sind danach be31 schreibende und erklärende Theorien politischer Systeme von „mittlerer Reichweite" getreten, welche die feststellbaren unterschiedlichen Formen politischer Herrschaft in diffe-renziertere Begriffschemata einordnen, die auch graduelle Abstufungen aufgrund erweiterter und differenzierterer Merkmalbestimmungen begrifflich angeben.
V. Kritische Aspekte des Totalitarismus-Begriffs
In diesem letzten Abschnitt soll versucht werden, wesentliche kritische Aspekte des Totalitarismus-Begriffs, die auch schon in der bisher nachgezeichneten wissenschaftlichen Diskussion um diese Konzeption zum Ausdruck gekommen sind, in einem nun systematischen Zusammenhang zu behandeln. Dadurch ist dann auch die Möglichkeit gegeben, solche Aspekte des Totalitarismus-Begriffs, die in der chronologischen Darstellung verschiedener Stufen seiner Entwicklung etwas in den Hintergrund treten mußten oder aber aus dem jeweiligen Zusammenhang der Erörterung vorausgesetzt wurden, nachdrücklicher hervorzuheben, soweit ihr Verständnis unerläßlich erscheint für ein Urteil über die Anwendungsmöglichkeiten und -grenzen dieses Begriffs.
Die Erörterungen dieses Abschnitts werden zunächst eine Antwort auf die Frage zu geben versuchen, welche Stelle der Totalitarismus-Begriff und seine Modifizierungen im Begriffs-schema der Staatsformenlehre einnehmen. Daran schließt sich eine Untersuchung der Funktion des Totalitarismus-Begriffs an, die er aus dem engen Bezug seines Gegenstandes zur wissenschaftlichen wie politischen Auseinandersetzung bekommen hat. Das macht wiederum eine Analyse des methodischen Ansatzes dieser Begriffsbildung im folgenden Kapitel notwendig. Es wird dann darum gehen, die analytischen Grenzen eines allgemeinen Totalitarismus-Begriffs zu erörtern. Schließlich wird das letzte Kapitel den Problemen einer Typologie politischer Herrschafts-und Gesellschaftssysteme im Zusammenhang des Totalitarismus-Begriffs und seiner Wandlungen nachgehen. 1. Der Totalitarismus-Begriff in der Staats-formenlehre Die Darstellung der ersten Entwicklungsstufe des Totalitarismus-Begriffs hatte gezeigt, wie aus verschiedenen Ansätzen zur Analyse der Phänomene von Faschismus und Bolschewismus ein begriffliches Instrumentarium gebildet wurde, mit dem diese in immer deutlicheren Umrissen erkennbar werdenden Herrschaftssysteme klassifiziert werden sollten in ihrem Unterschied und in ihrer Verwandtschaft zu anderen bereits bekannten Herrschaftssystemen. Um diese begriffliche Kennzeichnung vornehmen zu können, wurden in den Untersuchungen der damals zeitgenössischen und in ihrer Zielsetzung und Struktur erst allmählich erkennbaren politischen Systeme von Faschismus und Bolschewismus Begriffe verwendet, die im wissenschaftlichen Sprachgebrauch schon vorlagen. Von diesen Begriffen konnte man erwarten, daß ihre Anwendung auf bestimmte Staaten ohne besondere Explikation die Einschätzung ihrer politischen Institutionen und rechtlichen Ordnung verständlich machte.
Gemeint sind die Begriffe der Staatsformen-lehre, deren Ursprünge weit in die Tradition politischen Denkens zurückreichen. Sie brachten die Unterscheidung in die Regierungsformen der Monarchie, Aristokratie und Politie sowie ihrer negativen Entwicklungsformen Tyrannis, Oligarchie und Ochlokratie bei Aristoteles, die dem Kriterium der Anzahl der Machtträger in einem Staat folgt. Dieses relativ einfache Schema blieb lange Zeit die Grundlage für die Beschreibung der Staatsformen, bis es etwa bei Montesquieu weiterentwickelt wird. Montesquieu unterscheidet die Herrschaftstypen der Republik, der Monarchie und der Despotie aufgrund der Zahl der in einem Staat Regierenden und der Art dieser Herrschaftsausübung — dem „Geist der Gesetze". In den politischen Wissenschaften hat sich schließlich auf der Grundlage dieser Unterscheidungen und in der Folge von Aspekterweiterungen des politisch-sozialen Denkens ein Klassifikations-B Schema der Regierungsformen herausgebildet, in dem demokratisch-rechtsstaatliche, autoritäre und diktatorische Herrschaftsweisen unterschieden werden.
Die Untersuchungen des italienischen Faschismus und des Sowjetbolschewismus konnten sich auf diese Unterscheidungen beziehen in ihren Versuchen, diese Herrschaftsausprägungen begrifflich zu klassifizieren. Schon in den ersten Ansätzen einer Klassifikation von Faschismus und Bolschewismus mit diesem Begriffsschema der Staatsformenlehre ergaben sich jedoch Schwierigkeiten, diese Herrschaftssysteme zwischen Demokratie und Diktatur einzuordnen. Der unterschiedliche politische Standort des Beurteilenden in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus vergrößerte diese Schwierigkeiten, war aber nicht ihre Ursache. Sie ergab sich vielmehr aus diesen politischen Phänomenen selbst, die es begrifflich zu erfassen galt. Im Rahmen der hier untersuchten Totalitarismus-Forschung wurde ihre Lösung in der Entwicklung eines eigenen Klassifikationsbegriffs für diese Form der Herrschaft gefunden, deren Eigenständigkeit man herausarbeitete. Dieser Begriff des Totalitarismus wurde dann selbst in das Begriffsschema der Staats-formenlehre eingegliedert, bis neuere Überlegungen ihn wieder in Frage stellten.
Dieser große Entwicklungsgang bleibt undeutlich ohne eine Konkretisierung seiner einzelnen Schritte, die hier skizziert werden sollen. Die Begriffsentwicklung in der Totalitarismus-Forschung schritt nur allmählich in der analytischen Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand voran, wie auch die Auflösung des Totalitarismus-Begriffs sich allmählich durch ‘ie Auseinandersetzung mit diesem nunmehr veränderten oder anders aufgefaßten Gegenstand vollzog. In den frühen Ansätzen zu einem Begriff des Totalitarismus wird zur Beschreibung der politischen Regime in Italien, Rußland und später Deutschland zunächst lediglich der traditionelle Begriff der Diktatur herangezogen. Erst bei genauerer Prüfung werden zusätzliche Bestimmungen zu diesem allgemeinen Diktatur-Begriff erkennbar, die den besonderen Stellenwert dieser modernen Erscheinungsformen von Diktatur zu ihren historischen Ausprägungen angeben sollen.
So spricht Beckerath im Zusammenhang des italienischen Faschismus von dessen Versuch, „einen autoritären Staat im Stil des 18. Jahrhunderts zu verwirklichen, der gleichwohl von den Energien des modernen Lebens durchflutet wird"
Mit zwei anderen Beispielen aus dieser ersten Phase der Begriffsentwicklung verhält es sich ähnlich. Turati gibt zwar eine sehr nachdrückliche Beschreibung des Faschismus als eines totalitären Systems, das mit keiner anderen historisch bekannten politischen Ordnung zu vergleichen sei. Den daraus notwendig werdenden Schritt zur Entwicklung eines entsprechenden systematischen Begriffs für dieses Herrschaftssystem vollzieht er jedoch nicht. Auch Heller bleibt nach seiner detaillierten Analyse der Organisationsstruktur des italienischen Faschismus beim Begriff der Diktatur stehen, modifiziert ihn aber — entgegen seiner Feststellung, dieser faschistische Staat sei durchaus keine neue Staatsform
In diesen mehr oder weniger deutlichen Interpretationsversuchen an dem herkömmlichen Begriffsinstrumentarium zur Bestimmung von Herrschaftsformen artikuliert sich jedenfalls schon der Eindruck, daß diese in ihrer Bedeutung historisch vorgeprägten Begriffe nicht einfach übertragbar sind auf diese Herrschaftsund Gesellschaftssysteme, deren besondere Strukturen im Vergleich mit den bekannten Staatsformen von diesen verschiedenen Untersuchungen gerade herausgearbeitet werden. Im Fortgang der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen faschistisch-nationalsozialistischer und kommunistischer Herrschaft wird das auch nachdrücklich formuliert. Vor allem aber tritt nun der Versuch in den Vordergrund, aus dieser Erkenntnis Konsequenzen für die Begriffsbildung zu ziehen. Diese Versuche führen schließlich zur Entwicklung eigenständiger systematischer Begriffe, die diese Formen der Herrschaft in ihrer Gemeinsamkeit untereinander und in ihren Unterschieden zu anderen Regierungsformen kennzeichnen sollen.
Franz L. Neumann kommt so aus seiner Analyse der besonderen ideologischen, ökonomischen und allgemein gesellschaftlicher Elemente des Nationalsozialismus zu dem Ergebnis, daß dieses Herrschaftsund Gesellschaftssystem nicht angemessen mit den traditionellen Begriffen der Staatsformenlehre erfaßt werden könne. Der Nationalsozialismus sei vielmehr eine neuartige Form der Gesellschaft, die dem herkömmlichen Begriff von Staat überhaupt widerspreche. Er bezeichnet das nationalsozialistische Herrschaftssystem deshalb als „Nicht-Staat", als „Behemoth"
Mit S. Neumanns theoretischem Modell der . permanenten Revolution'zur begrifflichen Bestimmung der gemeinsamen Wesensmerkmale dieser Herrschaftssysteme ist die Begriffsbildung vorbereitet, die in den Theorien von Arendt und Friedrich zu einer umfassenden Begriffsdefinition des Totalitarismus führt. Diese Theorien beziehen sich in ihren systematischen Überlegungen ausdrücklich auf die vorliegende Staatsformenlehre, halten aber ihre Begriffe für ungeeignet, das spezifische Wesen der faschistischen, nationalsozialistischen und bolschewistischen Herrschaft zu bezeichnen. Sie entwickeln deshalb den neuen Klassifikationsbegriff des Totalitarismus, von dem sie überzeugt sind, daß er anhand gemeinsamer Merkmale dieser politischen Systeme ihre strukturelle Einheitlichkeit kennzeichnen kann. Mit diesem allgemeinen Begriff des Totalitarismus werden also zur Zeit dieser Begriffs-entwicklung schon historische Herrschaftsund Gesellschaftssysteme Italiens und Deutschlands sowie das noch fortbestehende sozialistische System der Sowjetunion einschließlich seiner sich erst konsolidierenden „Satelliten" in Europa als eigenständige Staatsform bezeichnet. Der Begriff des Totalitarismus hat damit eine systematische Ausprägung erreicht, die ihn auf die Abstraktionsstufe der Klassifikationsbegriffe in der traditionellen Staatsformenlehre stellen soll.
Dieser Anspruch des klassischen Totalitarismus-Begriffs hat sich jedoch nicht voll erfüllt. Er ist zwar in die Lexika und Handbücher eingegangen und auch im allgemeinen Sprachgebrauch verbreitet, aber eine eindeutige und unbestrittene Definition, wie sie in den zuletzt genannten allgemeinen Theorien des Totalitarismus angelegt ist, hat sich in der Wissenschaft nicht durchsetzen können. Daß derart eine geschlossene Definition des Totalitarismus weiterhin ein offenes Problem ist, geht allerdings nicht nur zu Lasten der kritischen Diskussion, die sich der Vorlage dieser Totalitarismus-Konzeptionen angeschlossen hat. Gleichwohl lieferte diese Diskussion gewichtige Argumente, den Geltungsbereich des allgemeinen Totalitarismus-Begriffs einzuschränken. Unsere Darstellung der Wandlungen dieses Begriffs konnte verdeutlichen, daß damit eine Änderung in der Zielrichtung der Begriffsbildung verbunden ist. Dieser Zusammenhang verdient verfolgt zu werden, bevor in den nächsten Kapiteln den speziellen methodischen und analytischen Problemen des Totalitarismus-Begriffs nachgegangen wird, die in erster Linie für den geschilderten Tatbestand verantwortlich sind. Es wurde schon hervorgehoben, daß die intensive Totalitarismus-Diskussion vor allem mit der Verlagerung des Forschungsschwerpunktes auf die sozialistischen Staaten zusammenhängt. Die Entstalinisierung mit der daraus folgenden Auflockerung im Ostblock stellten der Totalitarismus-Forschung die Aufgabe, in der Analyse der sozialistischen Herrschaftsund Gesellschaftssysteme diese neuen Entwicklungstendenzen mit zu verarbeiten. Der Aspekt der Einheitlichkeit dieser Erscheinungsformen mit den historischen Phänomenen des Faschismus-Nationalsozialismus und ebenso des stalinistischen Bolschewismus trat dabei in den Hintergrund. Martin Draths Versuch, den Anspruch des Totalitarismus-Begriffs zu retten durch eine Umformulierung auf das entscheidende „Primärphänomen" des Totalitarismus und variablere „sekundäre" Merkmale entspricht schon dieser Blickrichtung. Die Konzentration der Begriffsdefinition auf das Phänomen der „Durchsetzung eines neuen Wert-systems in der Gesellschaft" wirkt als eine Formalisierung des Begriffs, die ihn von der Festlegung auf allzu konkrete Merkmale der Organisation und des Vollzugs der politischen Herrschaft, die durch dieses Primärphänomen bestimmt ist, befreit. Mit dieser Definition wird der Totalitarismus-Begriff auch anwendbar auf revolutionäre politische Bewegungen mit anderen Voraussetzungen und Vollzugsformen als den am historischen Beispiel von Faschismus und Bolschewismus beschriebenen.
Freilich wurde dieser Totalitarismus-Begriff in der Umformulierung durch Draths Primär-phänomen der veränderten Aufgabe der Totalitarismus-Forschung bei der Analyse sozialistischer Herrschafts-und Gesellschaftssysteme auch noch nicht gerecht. Sie stellte nämlich gerade die Geltung dieses Primärphänomens in Frage. Wenn diese Konzeption auch Anwendung finden kann in einem — möglicherweise sehr langen — Anfangsstadium politischer Herrschaft, die eine derartige revolutionäre Umorientierung des sozialen Wertsystems in der Gesellschaft vornimmt, so wird ihre Brauchbarkeit problematisch in einem Stadium der Entwicklung dieses Herrschaftssystems, in dem sich ein neuer sozialer Konformismus auszuwirken beginnt. Diese Problematik verweist zurück auf die Tatsache, daß sich der Drathsche Totalitarismus-Begriff wie auch seine Definition bei Arendt und Friedrich im wesentlichen aus seiner Unterscheidung zu . autoritärer'Herrschaft bestimmt.
Totalitäre Herrschaft wird dabei ausdrücklich allerdings nicht nur als eine Steigerung autoritärer Kennzeichen angesehen, sondern als eigenständige . andere Form von Herrschaft
Solche Klassifikationsbegriffe sind jedoch theoretische Begriffskonstruktionen, deren methodische Anlage hier noch am Beispiel der Bildung des Totalitarismus-Begriffs erörtert werden soll. Sie geben bestimmte charakteristische Züge eines Herrschaftssystems an, an denen sich die Bestimmung eines konkreten Herrschafts-und Gesellschaftssystems orientieren kann. Die Untersuchungen der veränderten Gegebenheiten im politischen und sozialen System sozialistischer Staaten, von denen die Revision des Totalitarismus-Begriffs ausging, hatten eine andere Zielsetzung. Ihr Konflikt mit der Totalitarismus-Konzeption ist jedoch von grundlegender Bedeutung, weil er maß-gebliche Gesichtspunkte liefern kann zur Beantwortung der Frage, welche Stellung dem Begriff des Totalitarismus in der Staatsformen-lehre bleibt und welcher Art dieser Totalitarismus-Begriff ist
Der Totalitarismus-Begriff entstand zu einer Zeit, da sich in Europa der Begriff des „totalen Staates" zunehmend eine reale Basis zur Umsetzung in den Bereich tatsächlicher politischer Gestaltung zu schaffen begann. Die Idee des totalen Staates, wie sie in den Vorstellungen des italienischen Faschismus vorhanden war und sich vor allem im nationalsozialistischen Staatsverständnis ausdrückte, ist selbst als Gegenbegriff zum liberalen Staats-und Verfassungsverständnis entstanden. Gegen die Prinzipien der demokratischen Legitimität und des parlamentarischen Entscheidungsvollzugs in der Politik setzt er die Totalität des Politischen:
Der Staat ist ein organisch gewachsenes Ganzes, das Individuum einbezogen in die Homogenität der Gemeinschaft, deren Souveränität sich in der gewachsenen Gliederung in Regierende und Regierte ausdrückt, die allein dem Staat echte Autorität verleiht
Die politische Auseinandersetzung mit dem Faschismus ist allerdings älter als dieser politische Kampfbegriff. Nolte weist darauf hin, daß es zur Zeit von Mussolinis „Marsch auf Rom" schon eine kleine Bibliothek von Schriften über den Faschismus gegeben habe
Trotz der angeführten Verwendung hat der Totalitarismus-Begriff in diesen Arbeiten aber auch eine wissenschaftliche, eine analytische Relevanz, die mit seinem polemischen Akzent in Konflikt steht. Es hat sich gezeigt, daß der Totalitarismus-Begriff seit seinem Auftreten in der wissenschaftlichen Literatur eine doppelte Funktion als politisch wertender und als wissenschaftlich-analytischer Begriff hat, daß er also auf eine problematische Weise dichotomisch angelegt ist. Diese Zwiespältigkeit birgt die Gefahr in sich, daß die analytische Funktion des Begriffs von der politisch-wertenden in einem Maß beeinträchtigt wird, das ihn blind macht für die abgewogene Beurteilung der politischen Realität. Zumal bei einem Begriff, der der Analyse zeitgenössischer politischer Systeme dienen soll, kann dies auch zu verhängnisvollen praktischen Fehlbeurteilungen beitragen. Deshalb hat der Rechtfertigungsversuch dieser Begriffsstruktur nur begrenzte Gültigkeit, der die politische Wertbezogenheit des Totalitarismus-Begriffs auf eine pädagogische Verpflichtung der Wissenschaft zur Berücksichtigung demokratischer Werte begründen will.
Zweifellos ließe sich eine derartige Verpflichtung zur kritischen Selbstaufklärung der Demokratie begründen, von der im Zusammenhang mit der Kritik des Totalitarismus-Begriffs auch H. J. Lieber spricht
Bei diesen sehr weitgehenden Folgerungen aus der unbestreitbaren politisch-analytischen Doppelfunktion des traditionellen Totalitarismus-Begriffs muß allerdings die schon angeführte unterschiedliche Erwartung in bezug auf diesen Begriff in Erinnerung gebracht werden. Will man mit einem Begriff des Totalitarismus ebenso wie mit einem allgemeinen Modellbegriff von Demokratie, der seinerseits in einem noch sehr unzulänglich reflektierten problematischen Verhältnis zu den gegebenen Bedingungen und Möglichkeiten seiner Realisierung steht, in erster Linie einige
/3. Der methodische Ansatz der Begriffsbildung Mit der Erörterung des methodischen Ansatzes; der der Bildung des Totalitarismus-Begriffs zugrunde liegt, werden notwendig auch wieder Fragestellungen ausgenommen, die im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Stellung dieses Begriffs im Schema der Staatsformenlehre noch offenbleiben mußten Es wird schwer zu leugnen sein, daß die Totalitarismus-Forschung ihre Erfolge vornehmlich dieser methodischen Anlage ihrer Begriffs-bildung zu verdanken hat. Immerhin gelang es ihr in knapp drei Jahrzehnten der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Phänomenen des italienischen Faschismus, des deutschen Nationalsozialismus sowie des sowjetischen Bolschewismus, deren Beschreibung und Erklärung unter allgemeine Kategorien zu bringen und ein Begriffssystem zu entwickeln, das zu einem einheitlichen Verständnis in den Aufbau und die Praxis dieser Herrschaftssysteme führte.
Der methodische Ansatz der allgemeinen Totalitarismus-Theorie, von der hier zuletzt ausgegangen wurde als der bestimmenden Ausprägung des Totalitarismus-Begriffs, ist schon in den frühesten Stadien der Begriffs-entwicklung angelegt. Es genügt hier zunächst, zwei Aspekte dieses Ansatzes hervorzuheben und in dieser Entwicklung zurückzuverfolgen: die komparative und die strukturelle Blickrichtung. Die im ersten Abschnitt dargestellten Untersuchungen des Faschismus-Nationalsozialismus und Bolschewismus bieten hinreichend Beispiele für diese Auffassung.
Schon Nitti stellt die faschistische und bolschewistische Bewegung in einen gemeinsamen Gegensatz zur Demokratie und ihren Verfassungswerten und kennzeichnet sie als revolutionäre Systeme, in denen Minderheiten ihre absolute Gewalt ausüben. Bei Beckerath ist die vergleichende Strukturanalyse von Faschismus und Bolschewismus schon ein reflektierter
Untersuchungsansatz, nach dem er . Gleichförmigkeiten'der . typischen Strukturelemente'feststellen will, nämlich: strukturelle Gemeinsamkeiten des faschistischen und bolschewistischen Systems hinsichtlich ihres revolutionären Ursprungs, ihres Herrschaftsaufbaus und der Funktion ihrer Parteien und Ideologien.
Turati, Heller und Franz L. Neumann können trotz gradueller Unterschiede, vor allem nämlich zunehmender Systematisierung, zusammen betrachtet werden. Bei ihren Untersuchungen des italienischen Faschismus bzw.deutschen Nationalsozialismus verfolgen sie eine strukturanalytische Betrachtungsweise. Das Ergebnis ist eine Beschreibung grundlegender Strukturelemente, auf die sich ihrer Auffassung zufolge die analytische Bestimmung der jeweiligen Herrschafts-und Gesellschaftssysteme reduzieren lasse. Sigmund Neumann schließlich verbindet diesen strukturanalytischen mit dem komparativen Aspekt und formuliert eine Anzahl von . basic patterns'der modernen Diktatur, auf die er sein Deutungsmodell typischer Elemente des Faschismus-Nationalsozialismus und Bolschewismus, das Modell der permanenten Revolution'innerhalb dieser Herrschaftsform, aufbaut.
Dieser Ansatz wird in den Theorien von Arendt und Friedrich als bewußte Untersuchungsmethode durchreflektiert und fortentwickelt. Sie untersuchen ihren Gegenstand, das faschistische, nationalsozialistische und das bolschewistische Regime, unter dem vergleichenden Aspekt, allgemeine „Gleichförmigkeiten von Struktur, Institutionen und Prozessen der Herrschaft"
Nach Max Weber, der den Idealtypus’ in vorbildlicher Weise definiert und für die Analyse verwendbar gemacht hat
Es kann nun kurz erläutert werden, inwiefern die Bildung des Totalitarismus-Begriffs mit dieser Bestimmung idealtypischer Begriffsbildung übereinstimmt. Die hier im einzelnen behandelten Beispiele der Totalitarismus-Theorie gehen ihr Material mit der Konzeption an, daß die Formulierung eines Typs der totalitären Herrschaft möglich sei. Aus den gegebenen Erscheinungsformen faschistischer, nationalsozialistischer und bolschewistischer Herrschaft greifen sie einzelne Faktoren heraus, die sie in allen Herrschaftssystemen in ähnlicher Weise vorzufinden glauben: die Ideologie, die monopolistische Partei, das hierarchische Führerprinzip, den gelenkten Terror. Diese gemeinsamen Faktoren aus dem historischen Erfahrungsmaterial definieren sie als allgemeine Merkmale totalitärer Herrschaft: das Auftreten solcher Merkmale in einem konkreten Herrschafts-und Gesellschaftssystem erlaubt es danach, dieses System als eine Erscheinungsform des Totalitarismus zu begreifen. Der idealtypische Begriff des Totalitarismus ist in der besonders ausgeprägten Form bei Friedrich bestimmt durch den Zusammenhang der sechs Faktoren „eine Ideologie, eine Partei, eine terroristische Geheimpolizei, ein Nachrichtenmonopol, ein Waffenmonopol und eine zentral gelenkte Wirtschaft"
In der Deutung des Totalitarismus-Begriffs bei Arendt und Friedrich, zu der auch noch Draths Umformulierung zum Primärphänomen des Totalitarismus hinzugenommen werden kann, als einem idealtypischen Begriff ergeben sich jedoch Schwierigkeiten, die zu den vorher erörterten Problemen infolge der Doppelfunktion dieser Begriffsbildung hinzutreten. Mit diesem Begriff des Totalitarismus wird nämlich der doppelte Anspruch erhoben, er sei eine zureichende empirische Theorie der konkreten politischen Systeme Italiens, Deutschlands und Rußlands sowie zugleich die übertragbare allgemeine Kennzeichnung des Typs totalitärer Herrschaft. Wie wir gesehen haben, war dieser Anspruch ein entscheidender Ansatzpunkt für die Kritik am traditionellen Totalitarismus-Begriff. Zum einen setzte er sich damit nämlich der Möglichkeit aus, von der Entwicklung in der Erforschung des Faschismus und Bolschewismus korrigiert zu werden, da er deren historisch-empirische Fundierung noch gar nicht haben konnte
Dieser Anspruch machte also die Rezeption des Totalitarismus-Begriffs so problematisch, weil er ihn der erfahrungswissenschaftlich üblichen Falsifizierung durch empirische Über-prüfung an dem Gegenstand, an dem er gewonnen worden war, gleichzeitig aussetzte und wieder entzog. In dieser ersten Hinsicht mußte er sich Differenzierungen seines historischen Urteils über den Faschismus-Nationalsozialismus und die sozialistischen Systeme gefallen lassen, zumal aufgrund der verstärkt einsetzenden Analysen der Entwicklung der sozialistischen Herrschaftsund Gesellschaftssysteme. In der anderen Hinsicht schließlich begründete er das Urteil, daß noch keine ausgereifte endgültige idealtypische Definition des Totalitarismus erarbeitet sei. Das macht die Begrenzung auf empirisch besser überprüfbare Theorien mittlerer Reichweite und die Zurückhaltung vor der Bildung idealtypischer Klassifikationen verständlich. Vornehmlich bei der Untersuchung sozialistischer Regime wirkt sich diese Tendenz aus, und ihr Hauptargument ist die analytische Begrenztheit des traditionellen allgemeinen Totalitarismus-Begriffs. 4. Analytische Grenzen eines allgemeinen Totalitarismus-Begriffs Der idealtypisch gebildete allgemeine Totalitarismus-Begriff stützt seine Bestimmung der totalitären Herrschaft auf bestimmte Faktoren dieser Herrschaftssysteme, die er als die typischen Grundmerkmale totalitärer Herrschaft versteht. Aus der Darstellung der Wandlungen des Begriffs ist deutlich geworden, daß vor allem auch der begrenzte Gesichtspunkt bei der Auswahl der maßgeblichen Faktoren kritisiert wurde. Die dabei verfolgte strukturanalytische Betrachtungsweise erfaßt nämlich nur Elemente der Herrschaftsstruktur und Herrschaftstechnik dieser Regime, die auch nur ein formales Bild der einzelnen Herrschafts-und Gesellschaftssysteme zu zeichnen erlauben. Die bekannten Merkmale wie Ideologie, Monopolpartei, zentralisierter Herrschaftsaufbau etc. werden nur unter dem Aspekt in Anspruch genommen, daß sie im Wirkungszusammenhang der einzelnen Systeme erkennbar sind und demzufolge eine formale gemeinsame Bestimmung all dieser Systeme zulassen. Bei dieser Feststellung der Gleichartigkeit bestimmter Struktur-und Funktionselemente der einzelnen Herrschaftsund Gesellschaftssysteme wird bewußt von allen individuellen Bezügen, in denen sie stehen, abgesehen.
Dieses analytische Verfahren läßt es also nicht zu, die besonderen Zusammenhänge zu berücksichtigen, in denen die verschiedenen Elemente innerhalb der einzelnen politisch-sozialen Systeme jeweils stehen, also die spezifischen Bezüge dieser Faktoren aus der historischen Entwicklung, der sozioökonomischen Struktur, der sozialen Funktion und politischen Zielsetzung dieser Einzelsysteme. Bei der in Frage stehenden formalen Zurechnung dieser Faktoren zu einem Strukturmodell totalitärer Herrschaft geht die Gewichtung des Stellenwertes verloren, den sie im Zusammenwirken mit den anderen Elementen in ihrem politisch-sozialen Wirkungszusammenhang haben. Denn Elemente wie Ideologie und Partei haben etwa im Nationalsozialismus und in sozialistischen Regimen sehr verschiedene Dimensionen, die in keiner Weise bei einer formalen Reduktion auf die Gemeinsamkeit, daß sie in beiden Systemen eine Funktion haben, in Betracht gezogen werden können. Eine solche Beschränkung auf den formalen Aspekt von Struktur und Technik der Herrschaft reicht dieser kritischen Auffassung zufolge überhaupt nicht aus, um einen angemessenen Begriff des Totalitarismus zu begründen. Hier deckt sich dieses Urteil mit dem vorher wiedergegebenen, daß von einer ausgereiften idealtypischen Definition des Totalitarismus nicht die Rede sein könne. Die Kritik an der analytischen Begrenztheit des traditionellen Totalitarismus-Begriffs, nimmt man ihn als eine empirische Theorie der konkreten Herrschaftsund Gesellschaftssysteme faschistisch-nationalsozialistischer und sozialistischer Prägung, richtet sich jedoch noch tiefer auf die analytische Konzeption. Es wird das umfassendere Argument herangezogen, daß die struktur-funktionale, statische Gesellschaftskonzeption, wie sie den Analysen der traditionellen Totalitarismus-Forschung zugrunde liege, unzureichend sei, auch die dynamischen Aspekte politischer Herrschafts-und Gesellschaftssysteme angemessen zu analysieren. In der Einschränkung auf die Erforschung der sozialistischen Systeme konkretisiert sich das in dem Vorwurf, sie sei nicht hinreichend in der Lage, über die bloße Herrschaftsstruktur hinaus interne Entwicklungsvorgänge aus dem dynamischen Gesamtzusammenhang der vielfältigen systemrelevanten Faktoren analytisch zu erfassen und demzufolge begrifflich darzustellen.
Mit dem traditionellen Totalitarismus-Begriff werden diese Regime nämlich als ein politisch-sozialer Struktur-und Funktionszusammen-hang gedeutet, der durchgängig integriert ist. Die besondere totalitäre Qualität dieser Herrschaftssysteme ergibt sich gerade aus der Deutung als ein politisch-soziales System, das unter dem umfassenden Zwang der herrschenden Partei alle politischen und Sozialvollzüge seiner Einzelbereiche an den vom System gesetzten Normen ausrichtet. Daraus folgt die Auffassung, daß sich die totalitäre Herrschaftsund Gesellschaftsstruktur im Systemvollzug ständig selbst stabilisiert, also aus sich selbst heraus nicht veränderlich ist, allenfalls durch eine von außerhalb des Systems herangetragene revolutionäre gewaltsame Umwälzung, die aber wegen der Machtmittel des Systems faktisch unmöglich ist. So können bei dieser Deutung graduelle Funktionsveränderungen einzelner Grundelemente des totalitären Systems, etwa der Ideologie oder der Kontrollmechanismen (Terror), unberücksichtigt bleiben, soweit dadurch das Strukturgefüge des Systems, das in den formalen Kriterien der Grundmerkmale totalitärer Herrschaft zum Ausdruck gebracht ist, nicht betroffen wird.
Zur Verdeutlichung dieses Sachverhalts, der sich vornehmlich aus der Analyse sozialistischer Herrschafts-und Gesellschaftssysteme ergibt, sei hier nur auf die Beispiele verwiesen, die B. Meissner und R. Loewenthal bieten
Diese Überlegungen zeigen, daß der traditionelle allgemeine Totalitarismus-Begriff der Untersuchung politischer Herrschaftsund Gesellschaftssysteme bestimmte Grenzen setzt. Er wurde gebildet zur Beschreibung und Erklärung der strukturellen und funktionalen Grundzüge totalitärer Herrschaft in ihrem Unterschied zu anderen, vor allem traditionellen autoritären und demokratischen, Herrschaftssystemen als eine allgemeine Deutung der faschistisch-nationalsozialistischen und bolschewistischen Regime. Die kritische Analyse der Struktur und methodischen Anlage dieses Begriffs konfrontierte seinen Anspruch allerdings mit der hier deutlich gewordenen Grenze seiner analytischen Möglichkeiten: der angemessenen Berücksichtigung dynamischer Aspekte dieser Herrschafts-und Gesellschafts-Systeme neben der formalen von Herrschaftsstruktur und -technik. Wie die Darstellung der Wandlungen des Totalitarismus-Begriffs vor Augen geführt hat, kommt es deshalb zur Entwicklung von Forschungsansätzen, die eine neue analytische Perspektive verfolgen.
Diese Entwicklung vollzieht sich vor allem im Bereich der Sozialismus-Forschung, wofür wiederum die Untersuchungen des Herrschaftsund Gesellschaftssystems der DDR von Lutz als Beispiel stehen können
An diesem Beispiel wird auch deutlich, in welcher Weise die intendierte Allgemeinheit des traditionellen Totalitarismus-Begriffs aufgelöst ist. Galt er zunächst als umfassende Deutung des allgemeinen Wesens totalitärer Herrschaft, so bleibt er am Ende der hier behandelten Phase seiner kritischen Rezeption in der Wissenschaft als ein historischer Begriff zurück. In dieser Auffassung des Totalitarismus-Begriffs als historischer Begriff ist die heuristische Bedeutung anerkannt, die er für die Erkenntnis allgemeiner Struktur-und Funktionselemente historisch abgrenzbarer Phänomene wie des italienischen Faschismus, des deutschen Nationalsozialismus und der stalinistischen Ausprägung des Bolschewismus hat. Darin drückt sich aber gleichermaßen aus, was die Erörterungen der kritischen Aspekte dieses Begriffs ergeben haben: seine fragwürdige Struktur infolge seines polemischen Akzents, die analytische Begrenztheit seines methodischen Ansatzes, die Unzulänglichkeit seiner Definition als idealtypischer Begriff. Es bleibt die Frage offen, welche Rolle ein solcher Begriff in einer Typologie politischer Herrschaftsund Gesellschaftssysteme haben kann.
VI. Probleme der Typologie politischer Herrschaftsund Gesellschaftssysteme
Die Erörterung des Totalitarismus-Begriffs ist mit dieser Fragestellung in einen größeren Problemkreis gestellt, von dem die bisherigen Überlegungen immer schon beeinflußt wurden. Es ist die über den hier gegebenen Anlaß der Analyse des Totalitarismus-Begriffs hinausgehende Problematik der angemessenen Typologie politischer Herrschaftsund Gesellschaftssysteme, in die aber die Beurteilung dieser Begriffsbildung einbezogen werden muß. In einer gewissen Vereinfachung lassen sich zwei Positionen unterscheiden, wie eine Lösung dieser Fragen auszusehen habe: eine traditionalistische und eine progressive. Beide Positionen sind auch schon in der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus-Begriff zum Ausdruck gekommen. Die eine Position wird gekennzeichnet durch ihren Bezug auf die traditionelle Staatsformen-lehre, deren Umrisse vorher schon kurz vergegenwärtigt worden sind. Eine Lösung der der Wissenschaft gestellten Aufgabe, die konkreten historischen Erscheinungsformen politischer Herrschaftsund Gesellschaftssysteme rational überschaubar zu machen und einer geB ordneten Erkenntnis aufzuschließen, erwartet sie von der Bildung idealtypischer Begriffe zur Bezeichnung von Herrschaftstypen. Die empirischen Erscheinungsformen politischer Systeme sollen danach in ein übersichtliches Schema allgemeiner Begriffe eingeordnet werden. Diese Typenbegriffe sollen als eine logische Abstraktion, als rationales Gedanken-gebilde, die wesentliche Züge der unterschiedlichen Formen politischer Systeme wiedergeben und auf diese Weise als ein Orientierungsmittel für die empirische Analyse der einzelnen, jeweils historisch-individuellen Herrschafts-und Gesellschaftssysteme fungieren. Die allgemeinen Begriffe einer solchen Typologie der Herrschaftsformen werden also primär gesehen in ihrer heuristischen Funktion für die Untersuchung realer politischer Systeme und ihrer didaktischen Funktion für die Übersichtlichkeit ihrer begrifflichen Einordnung. Im Ergebnis führt dies zur Formulierung von Klassifikationsschemata, deren typologisches Begriffssystem abhängig ist von den zugrunde gelegten Kriterien der Typenbildung. Die in der Literatur vertretenen zahlreichen untereinander differierenden Typologien politischer Ordnungsformen brauchen hier nicht verfolgt zu werden, es genügt der Hinweis auf die nach dieser Position gebräuchliche typologische Unterscheidung in demokratisch-rechtsstaatliche, autoritäre und diktatorisch-totalitäre Regime
Die andere Position, die hier unterschieden werden soll, geht von ganz anderen Überlegungen aus und stellt andere Erwartungen an eine solche Typologie politischer Herrschafts-und Gesellschaftssysteme. Von entscheidender Bedeutung dafür sind die Probleme, die sich hinsichtlich der begrifflichen Bestimmung konkreter politischer Regime stellen. Eine exakte Bestimmung eines solchen Systems verlangte nämlich die Berücksichtigung so vielfältiger Faktoren und Zusammenhänge, daß ein Klassifikationsschema der beschriebenen Art überfordert wäre, wollte es alle denkbaren graduellen Abstufungen aufnehmen. Diese Auffassung zielt aber darauf ab, C en ungeheuer großen Entscheidungsspielraum einzuengen und kontrollierbar zu machen, den allgemeine Klassifikationsschemata wegen der für ihre Typenbildung notwendigen hohen Abstraktion ihrer Begriffe haben. Diese Kontrolle soll dadurch erreicht werden, daß die Begriffe weitgehend operationalisiert und quantifiziert werden, beides sozialwissenschaftliche Verfahren, die nun in den bisher geistes-
wissenschaftlich bestimmten Bereich der politischen Theorie eingebracht werden. Danach werden verschiedene Merkmalreihen, die sich auf die Strukturen und sozialen Prozesse der politisch-gesellschaftlichen Systeme beziehen, aufgestellt und in sich quantitativ abgestuft. Sie geben somit nicht verallgemeinerte Grundelemente der Herrschafts-und Gellschaftssysteme wieder, sondern machen quantifizierte Angaben über das Auftreten dieser Faktoren in den verschiedenen Regimen. Das Schema der allgemeinen Herrschaftstypen differenziert sich dadurch zu einem Begriffs-Kontinuum, dessen variable Merkmale tendenziell mit fortschreitender empirischer Kenntnis über die Erscheinungsformen politisch-sozialer Systeme immer komplexer werden. Ein Beispiel dafür hat in unserem Zusammenhang schon der typologische Ansatz von A. G. Meyer gebracht, auf den sich auch die Begriffsbildung von Ludz stützt
Die hier gekennzeichneten Positionen sind freilich zugespitzte Ansätze, auf dem Weg wissenschaftlicher Analyse und Begriffsbildung zu einer gesicherten wissenschaftlichen Kenntnis über die Erscheinungsformen politisch-gesellschaftlicher Ordnung zu gelangen, die stets eine Leistung der abstrahierenden Rationalisierung der gegebenen phänomenalen Vielfalt ist. Dem Vorzug der didaktischen Überschaubarkeit von idealtypischen Begriffen zur allgemeinen Bestimmung klar abgrenzbarer Typen politischer Herrschaft steht die Möglich-keit gegenüber, sich der Komplexität moderner Gesellschaften und ihrer politischen Ordnung durch differenziertere Begriffssysteme anzunähern. Die Erörterung des Totalitarismus-Begriffs und seiner Aspekte zeigte ihn in diese Spannung aus den unterschiedlichen Erwartungen an die Begriffsbildung gestellt. Danach bleibt für den Begriff des Totalitarismus nur die Alternative, in einer differenzierten Begriffssystematik politischer Herrschafts-und Gesellschaftssysteme aufzugehen als eine — freilich analytisch noch unzulängliche — Markierung eines historischen Entwicklungsstandes solcher Herrschaftsformen; oder aber auf den Ansätzen der traditionellen Begriffsbildung weiterentwickelt zu werden zu einem Idealtypus totalitärer Herrschaft, der, aus den Beschränkungen auf ein bestimmtes historisches Erfahrungsmaterial gelöst, die Kenntnis . totalitärer'Züge in politischen Regimen mit unterschiedlichem Selbstverständnis erleichtern kann.
In jedem Fall ist es unerläßlich, daß sich eine kritische Wissenschaft, die mit derartigen Begriffen operiert, aber ebenso eine Öffentlichkeit, die sie in ihren Sprachgebrauch übernimmt, von traditionellen Vorstellungen über die Gesellschaft und ihr politisches System löst. In einer Entwicklungsphase, in der die sozialen und ökonomischen Interdependenzen in allen Gesellschaften größer und die Steuerungsund Kontrollmöglichkeiten als Konseguenz der fortschreitenden Technisierung und Organisierung des Sozialsystems durch Verwaltung und Planung seiner Abläufe komplexer werden, in einer solchen Situation erscheint es wissenschaftlich als unangemessen und politisch als Romantisierung, ein verläßliches Urteil über die politische Herrschaftsform einer Gesellschaft nur aus der Berücksichtigung einiger Institutionen der Gesellschaftsstruktur und Verfassungsform ableiten zu wollen. . Totalitäre'Züge müssen angesichts dieser umfassenden Wirkungszusammenhänge in hochindustrialisierten Gesellschaften, die das Sozialverhalten des Menschen bestimmen, keineswegs ausgeschlossen sein in Herrschaftsund Gesellschaftssystemen, die traditionell als demokratisch verfaßt gelten. Gleichermaßen darf durch ein traditionelles politisches Bewußtsein nicht der Blick auf Veränderungen in einem politischen System verstellt werden, welche die Mitbestimmung des Menschen über sein Sozial-verhalten berühren, ohne sich demonstrativ in Institutionen des Herrschaftsund Gesellschaftssystems auszudrücken. Einer „Totalitarismus-Forschung" kommen in diesem Sinn sicherlich erhebliche Aufgaben zu.
Anhang: Auswahlbibliographie zur Totalitarismus-Forschung
Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, (dt.) Frankfurt (1955)
— Elemente totaler Herrschaft, Frankfurt (1958)
Aron, R., Demokratie und Totalitarismus, (dt.) Hamburg (1970)
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Buchheim, Hans, Totalitäre Herrschaft. Wesen und Merkmale, München (21962)
Drath, Martin, Totalitarismus in der Volksdemokratie. Einleitung zu Ernst Richert, Macht ohne Mandat. Der Staatsapparat der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Köln-Opladen (21963)
Friedrich, Carl J., Brzezinski, Z. K., Totalitäre Diktatur, Stuttgart (1957)
— Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Second Edition, revised by C. J.
Friedrich, Cambridge (1965)
— Totalitarianism. Proceedings of a Conference Held at the American Academy of Arts and Sciences, Cambridge (1954)
Greiffenhagen, Martin, Der Totalitarismusbegriff in der Regimenlehre, in: PVS 3 (1968)
Henning, E., Zur Dialektik von Pluralismus und Totalitarismus, in: Der Staat, Bd. 7 (1968)
Hildebrand, Klaus, Stufen der Totalitarismusforschung, in: PVS 3 (1968)
Inkeies, A., Soziologie und Sowjetforschung, in: Moderne Welt 2 (1966)
Leibholz, Gerhard, Das Phänomen des totalen Staates, in: Ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe (1958)
Ludz, Peter Ch., Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaft, in: Ders. (ed.), Soziologie der DDR. Studien und Materialien zur Soziologie der DDR. Sonderheft 8 des KZfS, Köln-Opladen (1964)
— Offene Fragen in der Totalitarismusforschung, in: PVS 2 (1961)
— Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung, Köln-Opladen (1968)
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