I. Das Problem
— Kontinuität in der Führung unter Verwendung von „Doppelherrschaft", d. h. ständige Besetzung und volle Aktionsfähigkeit der finalen Entscheidungsposition; — Übereinstimmung in der politischen Grund-konzeption und vergleichbarer Informationsstand der prinzipiell austauschbaren Amtsträger; — Fähigkeit zur Selbstorganisation, damit die Umweltanpassung und die Selbstreparatur ohne große „time lags" vor sich gehen und damit eine relative Stabilität des Gesamtsystems erreicht werden kann.
Diese Kriterien sollen nun als ein Untersuchungsgitter für die Analyse des Vizepräsidentenamtes dienen. Die generelle Rahmen-frage für diese Untersuchung lautet: Wie kann sich eine historisch gewachsene und verfassungsrechtlich vorgeprägte Führungsorganisation an die sich verändernde Umwelt so anpassen, daß sie jederzeit funktionsfähig sowie effizient bleibt und ihre Handlungen bzw. die Anpassungsprozesse als legitim anerkannt werden?
II. Zur historischen Entwicklung der präsidentiellen Führungsorganisation
Die eingangs dargestellte Problematik soll nun vor diesem Hintergrund zunächst in ihrer historischen Dimension erfaßt werden 3). Wie jede politische Institution hat auch das Vizepräsidentenamt eine mit der Entwicklung des gesamten Regierungssystems verbundene Geschichte, die den Bedeutungswandel erklären hilft. Die verfassunggebende Versammlung der Vereinigten Staaten schuf 1787 unter Zeitdruck das Amt des Vizepräsidenten. Durch den damaligen Wahlmodus: der Kandidat mit der höchsten Stimmenzahl wird Präsident, der mit der zweithöchsten Vizepräsident, besaß das Amt beachtliches politisches Gewicht, wenn und solange es von Persönlichkeiten wahrgenommen wurde, die ebensogut die „erste Wahl" hätten sein können. Dem Vizepräsidenten wurden nur zwei Aufgaben übertragen: er amtiert als nicht stimmberechtigter Vorsitzender des Senats (hat aber bei Stimmengleichheit das Recht zum „brechenden Votum") und er steht zur Nachfolge bereit im Falle der Amtsenthebung, des Todes und des Rücktritts des Präsidenten oder bei dessen „Unfähigkeit", die Befugnisse und Obliegenheiten seines Amtes wahrzunehmen. Aus dieser „Hab-Acht-Stellung" allein war eine bedeutsame Rolle in dem auf einen obersten Entscheidungsträger zentrierten System nicht zu erwerben, zumal die Stellvertretung im wichtigen Fall der Amtsunfähigkeit sachlich und zeitlich nicht näher definiert wurde. Ambitionierte Politiker lehnten deshalb eine Kandidatur ab, weil sie „nicht begraben sein wollten, bevor sie nicht wirklich tot" seien, wie es Daniel Webster ausdrückte
— die getrennte Wahl von Präsident und Vizepräsident (seit 1804) und — die Herausbildung des amerikanischen Parteiensystems. In der Folgezeit mußte nun innerhalb der Parteikonvente versucht werden, die widerstreitenden Parteiflügel über die Kandidatenauswahl auszugleichen. Ein Ergebnis dieses soge-nannten„ticket-balancing" war, daß der Vizepräsident häufig in politischem Widerspruch zum Präsidenten stand und damit in die Staatsgeschäfte nicht oder nur ungenügend eingeweiht wurde; obwohl das eigentlich ein Ziel des „Ausbalancierens" gewesen war; denn wie anders hätte der Vizepräsident sonst wirkungsvoll den anderen Flügel vertreten sollen? Als weitere Folge ergab sich, daß der Vizepräsident zumeist ein Mann der „zweiten Linie" wurde, weil sich die erste Garnitur einflußreichere Positionen und Aufstiegschancen vorbehielt 5). So ist es wenig verwunderlich, daß das Amt des Vizepräsidenten schnell politisch uninteressant wurde und — bis vor kurzem — auch blieb, obwohl diese Entwicklung den Umweltveränderungen nicht entsprach. Aus der Beobachtung der bisher erörterten Probleme ergeben sich somit vor allem zwei Schwierigkeiten, die im einzelnen zu untersuchen sind:
— die Regelung der jederzeitigen und legitimen Funktionsfähigkeit und — die Möglichkeit stetig effizienter Aufgaben-bewältigung.
III. Anpassung durch Selbstorganisation
1. Die jederzeitige und legitime Funktionsfähigkeit der amerikanischen Führungsorganisation hängt zu einem erheblichen Teil von der eindeutigen Regelung der Nachfolge ab
Damit wurde ein wesentlicher Mangel de facto beseitigt. Doch blieben diese Absprachen zunächst rechtlich „private Vereinbarungen" und politisch umstritten. Sie lösten vor allem das schwerwiegende Problem nicht, daß auch ein amtsunfähiger Präsident die zeitweilige Geschäftsführung durch den Vizepräsidenten überhaupt verhinderte oder zu früh die Rückkehr ins Amt begehrte. Der Selbstreparaturversuch der Führungsorganisation war also nicht konsequent; er war ohne die Mitwirkung anderer Organe wegen des Legitimitätskriteriums auch schlecht möglich.
2. Das erste Problem: die Feststellung und Erklärung der Amtsunfähigkeit des Präsidenten ist in diesem Regierungssystem stets eine eminent politische Handlung. So ist es sehr wichtig, wer die Amtsunfähigkeit des Präsidenten feststellen darf (Kabinett, Kongreßausschuß, Vizepräsident, mehrere Gremien zusammen). Das zweite Problem: die zeitliche Begrenzung der Amtsunfähigkeit und die Wiederaufnahme der Tätigkeit ist ähnlich gelagert. Um auszuschalten, daß der bisher amts-unfähige Präsident zu Unrecht den-Vizepräsidenten ablöst, sind gleichfalls legitimierte Prozeduren erforderlich. In dem erst 1967 ratifizierten 25. Zusatzartikel zur Verfassung wurde schließlich folgende, von den Privat-vereinbarungen beeinflußte Regelung getroffen: — Der Vizepräsident übernimmt die präsidentiellen Rechte und Pflichten, sobald und solange der Präsident seine Amtsunfähigkeit selbst erklärt.
— Der Vizepräsident und eine Mehrheit der Minister (bzw. eines anderen Gremiums, das der Kongreß durch Gesetz bestimmen mag) können ferner den Vorsitzenden beider Häuser des Kongresses die schriftliche Erklärung übergeben, daß der Präsident gegenwärtig nicht in der Lage ist, seine Rechte und Pflichten wahrzunehmen.
— Daraufhin übernimmt der Vizepräsident sofort die Rolle eines geschäftsführenden Präsidenten. — Falls der gewählte Präsident seine solchermaßen erklärte Amtsunfähigkeit bestreitet, darf er in sein Amt zurückkehren; es sei denn, daß der Vizepräsident und die Mehrheit der Minister innerhalb von vier Tagen nochmals bestätigen, daß der Präsident amtsunfähig ist.
— In diesem Fall muß der Kongreß sofort (spätestens aber nach 48 Stunden) zur Beratung zusammentreten und innerhalb von 21 Tagen mit 2/3-Mehrheit beider Häuser erklären, ob der Präsident amtsunfähig ist (zwischenzeitlich regiert der Vizepräsident).
— Stellt der Kongreß Amtsunfähigkeit fest, amtiert der Vizepräsident weiterhin, im anderen Fall nimmt der ursprüngliche Amtsinhaber seine Tätigkeit wieder auf.
Für den „Normalfall" war damit eine befriedigende Lösung gefunden, die den Kriterien einer funktionsfähigen Führungsorganisation hinreichend entspricht: der Übergang der Rechte und Pflichten auf den Vizepräsidenten kann sich in der Regel jederzeit und legitim vollziehen. Im Zweifelsfall behält der für amtsunfähig erklärte Präsident ein (aufschiebendes) Vetorecht. Allerdings kann es in den Grenzfällen zu zeitlichen Verzögerungen und damit zu Unsicherheiten über die Entscheidungsbefugnis kommen. Im Falle einer bedrohlichen außenpolitischen Situation — man erinnere sich an die Kubakrise von 1962 — ist dann die Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Daß nicht auch dieser Mangel beseitigt wurde, ist, von der Verfassungstradition aus gesehen, verständlich, zumal der beabsichtigte Schutz des legitimierten Präsidenten in der letzten Phase des Verfahrens doch von Mehrheitsverhältnissen im Kongreß abhängen mag und so eine politische Abart des „impeachment" denkbar ist.
3. Die jederzeit mögliche und legitime Stellvertretung setzt nun aber auch die ständige Besetzung des Vizepräsidentenamtes voraus
Der 25. Zusatzartikel verwirklichte den letztgenannten Vorschlag. Sobald das Amt des Vizepräsidenten unbesetzt ist, soll der Präsident „seinen" Nachfolger ernennen, der durch die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses bestätigt werden muß. Damit ist sowohl die Teillegitimation durch ein Repräsentativ-organ als auch das exekutive Interesse hinreichend gewahrt. Schwierigkeiten mögen allerdings dann auftreten, wenn die Kongreßmehrheit oppositionell ist und den Vorschlag des Präsidenten ablehnt, womit dann der Sprecher des Repräsentantenhauses designierter Nachfolger würde.
Auch bei diesem institutionellen Anpassungsversuch wurden also nicht alle latenten Mängel beseitigt; für den Normalfall mag die Lösung jedoch ausreichen. Für Krisenzeiten kann der potentielle „time lag“ in der legitimen Nachfolgeregelung die Entscheidungs-und Aktionsfähigkeit allerdings erheblich behindern. Nun ist aber zusätzlich zu fragen, ob diese institutionelle Transmission auch inhaltlich befriedigt. Als weitere Funktionsschwierigkeit ergibt sich nämlich, ob der unvorhergesehene Nachfolger auch qualitativ legitimiert ist, d. h. ob er zur sofortigen und effizienten Führung fähig ist.
IV. Effizienzerhaltung durch „Einbeziehung"
1. Die Effizienz der Führungsorganisation bedeutet hier, daß der Vizepräsident bei der nicht-programmierten Amtsübernahme in der Lage sein muß, unverzüglich und sachverständig die Zielsuch-und realisierungsprozesse in der sich verändernden Umwelt zu verstehen und im wesentlichen weiterzuverfolgen, also die Funktionsfähigkeit zu sichern.
Erste Voraussetzung hierfür ist, daß der Nachfolgende im prinzipiellen Konsens zum Präsidenten steht, gut informiert ist und sich nicht einer Opposition der Mitarbeiter des bisherigen Amtsinhabers gegenüber sieht. Das sind ja die Vorteile beim „normalen" Übergang des Präsidentenamtes auf den neugewählten Inhaber, daß es ein allmähliches Hineinwachsen mit vielen Konsultationen, mit gewisser Hilfestellung und Sachinformation durch den Vorgänger und vor allem mit der „selbstgewählten Mannschaft" ist. Der potentielle Nachfolger sollte deshalb schon vorher politische und fachliche Anerkennung besitzen und sich wirkungsvoll auf die Stellvertretung vorbereiten können. 2. Die Anerkennung und die Mitwirkung des Vizepräsidenten hängt nun zu einem beträchtlichen Teil bereits von der adäquaten Gestaltung des Nominierungsverfahrens ab. Gerade diese Auswahl scheint aber noch nicht dem geforderten Effizienzkriterium zu entsprechen. Das „ticket-balancing" spielt auf den Partei-konventen noch immer eine wichtigere Rolle als die Suche nach dem geeignetsten Stellvertreter und Mitarbeiter für den jeweiligen Präsidentschaftskandidaten. Das wurde im vergangenen Wahlkampf mit der Nominierung Spiro Agnews als „running mate" Nixons deutlich. Agnew fungierte bisher hauptsächlich als eine Art „politischer Blitzableiter"
Bundeswirtschaftminister Ludwig Erhard 1963 im baden-württembergischen Metallarbeiterstreik unter politischen Vorzeichen („Aufbau als Kanzlerkandidat") in den Tarifkonflikt eingriff, so versuchte damals Nixon, sich als „starke Kraft" zu empfehlen, obwohl er mit seinen Aktionen gegen die ihn eigentlich stützenden Industriekreise vorgehen mußte.
V. Würdigung
Was ergibt sich nun bei einer zusammenfassenden Beurteilung der Funktionsmängel der amerikanischen Führungsorganisation und der verschiedenartigen Behebungsversuche?
1. Im Hinblick auf die eingangs gestellten Fragen hat die Analyse gezeigt, daß die auf die Relation Präsident/Vizepräsident bezogenen Lösungen von Anfang an mangelhaft waren. Institutioneile Anpassungen wurden durch bedeutsame politische Umweltveränderungen erst nach erheblichem „time lag" induziert. 2. Die Führungsorganisation hat dann durch einen später sanktionierten und verbesserten Akt der Selbstreparatur eine dringend erforderliche Anpassung an neue Umweltbedingungen vollzogen und erfüllt nunmehr im Normalfall ausreichend die Kriterien der jederzeitigen und legitimen Funktionsfähigkeit. Die vollständige Mängelbeseitigung ist allerdings noch nicht gelungen. In wenigen Grenzfällen kann es zu gefährlichen übertragungs-und Besetzungsschwierigkeiten kommen. Eine Ursache für die verbleibenden Funktionsmängel ist hier in der vorrangigen Beachtung des Legitimitätskriteriums zu suchen. 3. Im Gegensatz zur immerhin ausreichenden institutionellen Anpassung blieb die inhaltliche Erneuerung noch unbefriedigender. Die effiziente Aufgabenbewältigung durch den Nachfolger ist weder personell noch sachlich gewährleistet. Neuartige Problemlösungen wurden nicht erwogen oder setzten sich nicht durch. Die Innovationsfähigkeit der Führungsorganisation und des Gesamtsystems blieb hier gering. 4. Auf diese Weise wurde allerdings nicht nur eine Änderung der Grunzüge des präsidentiellen Systems vermieden, sondern auch ein partieller Systemwandel durch eine Funktionssteigerung der Führungsorganisation, was die „Ultrastabilität" des Systems hätte verbessern helfen können. 5. Die Rahmenfrage dieser Untersuchung lautete: Wie kann sich eine historisch gewachsene und verfassungsrechtlich vorgeprägte politische Führungsorganisation an die sich ändernde Umwelt so anpassen, daß sie — auch bei nichtprogrammierten Ereignissen — jederzeit funktionsfähig sowie effizient bleibt und ihre Handlungen bzw. Anpassungsprozesse als legitim anerkannt werden? Offenbar sind dazu institutionelle und — oft neuartige — inhaltliche Lösungen erforderlich, um bei Erhaltung der Grundzüge des Regierungssystems funktionsgerechte Anpassungen an die veränderten Umweltbedingungen ohne große „time lags" zu vollziehen.
Da die Stabilität eines politischen Systems zu einem beträchtlichen Teil von der Funktionsfähigkeit seiner Führungsorganisation abhängt, sollten vor allem deren Anpassungsund Innovationsschwierigkeiten erkannt und Funktionsmängel beseitigt oder — unter Beachtung von Legitimitätswiderständen — wenigstens gemildert werden.
Gewiß, perfekte Lösungen sind in freiheitlich-demokratischen Systemen schwierig, doch lassen sich wohl befriedigende Ergebnisse erzielen. Die Politische Wissenschaft sollte jedenfalls noch mehr als bisher mit Diagnose, Vor-denken und Empfehlungen bei der Analyse und bei der Beseitigung von Funktionsmängeln mitwirken und damit die Reaktionsmöglichkeit und -geschwindigkeit der Führungsorganisation wie des Gesamtsystems auf bedeutsame Umweltveränderungen verbessern helfen.