Der Programmatiker einer Bewegung hat das Ziel derselben festzulegen, der Politiker seine Erfüllung anzustreben. Der eine wird demgemäß in seinem Denken von der ewigen Wahrheit bestimmt, der andere in seinem Handeln mehr von der jeweiligen praktischen Wirklichkeit. Die Größe des einen liegt in der absoluten abstrakten Richtigkeit seiner Idee, die des andern in der richtigen Einstellung zu den gegebenen Tatsachen, wobei ihm als Leitstern das Ziel des Programmatikers zu dienen hat. Adolf Hitler, Mein Kampf *) Es kommt immer darauf an, welche Macht man tatsächlich besitzt und wie stabil diese Macht ist, um die genau zu berechnenden Krisen zu überwinden. Man muß begreifen, um was es geht, man darf nicht Utopien nachjagen, sondern muß notfalls das Ziel in Etappen zu erreichen versuchen. Josef Goebbels am 5. April 1940 vor Vertretern der deutschen Presse Nach der Machtergreifung ging Hitler zielstrebig daran, sich mit der totalen Indoktrination des deutschen Volkes, der Wiederaufrüstung und der Lösung der Versailler Vertrags-fesseln das wichtigste machtpolitische Instrument zu verschaffen, welches zur Durchführung seiner auf die Gewinnung neuen Lebensraumes abzielenden Pläne nötig war. Das militärische Erstarken Deutschlands galt als Basis für jede aktive Außenpolitik
Die erfolgreiche Schaffung dieser Voraussetzung wurde durch die Bildung der sogenannten Stresa-Front, mit welcher Italien, England und Frankreich auf die deutsche Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (16. März 1935) reagierten, lediglich für kurze Zeit gebremst. Der deutsch-englische Flottenvertrag (18. Juni 1935) und der von Mussolini am 3. Oktober 1935 unter Mißachtung des Völkerbundes begonnene Krieg gegen Abessinien brachten bald eine so tiefe Unruhe und Verwirrung ins europäische Mächtesystem, daß Hitler es am 7. März 1936 wagen konnte, mit dem Einmarsch deutscher Truppen in die entmilitarisierte Rheinlandzone das letzte Bollwerk der westlichen Status-quo-Politik zu beseitigen
I. Die allgemeine Erwartung einer deutschen Aktion
Als Mussolini trotz englischer Warnungen von seinem Vorhaben, der Eroberung Abessiniens, nicht abzubringen war und die französische Regierung aus Furcht vor Deutschland es weder mit Italien noch England verderben wollte, wurde der Völkerbund zunehmend geschwächt. Der Primat nationaler Sonderinteressen gegenüber der Pflicht zur kollektiven Friedenssicherung trat immer deutlicher zutage. Während sich an Abessiniens Grenzen seit dem Sommer 1935 der Strom italienischer Truppen und Waffen höher und höher staute, scheute man in Genf durchgreifende Maßnahmen gegen Mussolinis bevorstehenden Angriff auf ein anderes Völkerbundsmitglied. Die unterschiedliche Interessenlage der führenden Völkerbundsmächte Frankreich und England paralysierte alles, was über die halbherzige Anwendung von Wirtschaftssanktionen gegen Italien hinausging. Während das um seine Stellung im östlichen Mittelmeer besorgte Großbritannien offensichtlich zum schärferen Vorgehen gegen den Duce bereit war, tat Frankreich das genaue Gegenteil. Paris wollte einerseits dem Völkerbund gehorchen, andererseits aber den Duce nicht durch feindselige Handlungen (Olsperre) an die Seite Hitlers treiben. Bald stand die europäische Politik im Zeichen betriebsamer Ratlosigkeit.
Je mehr sich aufgrund der Intransigenz Mussolinis die Beziehungen der Stresa-Partner untereinander verschlechterten, desto größer wurde in den europäischen Hauptstädten die Sorge, Hitler könne die verworrene Situation ausnutzen und die militärische Hoheitsbeschränkung an der Westgrenze des Reiches beseitigen. In London fand man schon Monate zuvor die Ansicht weit verbreitet, daß Hitler „der lachende Dritte" im Streit zwischen Mussolini und dem Negus sein würde
In Paris herrschte naturgemäß die größte Unruhe. Botschafter Franpois-Poncet äußerte während des Neujahrsempfanges am 10. Januar 1936 zu AA-Staatssekretär von Bülow, Deutschland bereite offenbar den Boden für eine Uberraschungstat vor. Drei Tage später wurde der französische Botschafter noch deutlicher. Bei einem Besuch in der Wilhelmstraße hielt er von Bülow vor, daß die deutsche Regierung offensichtlich nach einem Vorwand suche, um den Locarno-Vertrag als von Frankreich verletzt hinzustellen und dann die entmilitarisierte Zone zu besetzen.
Dieser Verdacht des Botschafters exemplifizierte die allgemeine Erwartung eines deutschen Coups. Sie spiegelte sich besonders eindrucksvoll in den vom sogenannten Luftwaffenforschungsamt Görings angefertigten Interzepten des telephonischen und telegraphischen Nachrichtenverkehrs fast aller in Berlin akkreditierten Missionen
Der deutsche Botschafter in Rom, Ulrich von Hassell, war darum kaum überrascht, als ihn Hitler am 14. Februar nach Berlin kommen ließ und ihm eröffnete, den Statuts quo am Rhein beseitigen zu wollen. Er hätte, so bemerkte der Botschafter daraufhin, bei seinem plötzlichen Abruf aus Rom sofort an die Erörterung dieser Frage gedacht. Sie läge offenbar „in der Luft". Schon zweimal hätte ihm der japanische Botschafter in Rom zu verstehen gegeben, daß man auf eine deutsche Aktion direkt warte, „um sich darauf stürzen zu können". Auch Baron Aloisi (Kabinettschef im italienischen Außenmininsterium und Ratsvertreter im Völkerbund) hätte erst vor zwei Tagen gefragt, was Deutschland im Fall einer Ratifikation des russisch-französischen Beistandspaktes tun wolle
Im Verlauf dieser Unterredung führte Hitler aus, daß er mit einer „außerordentlich weittragenden Frage" beschäftigt sei. Es handele sich darum, ob Deutschland die Ratifizierung des russisch-französischen Beistandspaktes bzw. auch schon einen zustimmenden Kammerbeschluß zum Anlaß nehmen solle, den Locarno-Vertrag zu kündigen und die entmilitarisierte Zone wieder mit Truppen zu belegen. Bisher hätte er als Termin für eine solche Aktion immer das Frühjahr 1937 ins Auge gefaßt. Die Entwicklung lege aber den Gedanken nahe, ob nicht der psychologiche Augenblick jetzt gekommen sei. Für einen Aufschub spräche zwar die Tatsache, daß das gegenwärtig noch unzulänglich gerüstete Deutschland 1937 über größere Kräfte verfügen würde. Denkbar sei auch ein möglicher russisch-japanischer Konflikt, der dann Deutschlands Aktion gegen den Locarno-Vertrag entlasten könnte. Indessen, so schränkte Hitler ein, erschiene diese Möglichkeit sehr unsicher. Auch die Stärke der anderen Staaten nähme ständig zu. England befände sich noch in militärisch schlechtem Zustand und wäre durch andere Probleme stark gefesselt. Frankreich leide unter innenpolitischen Schwierigkeiten. In beiden Ländern gebe es zudem eine starke Gegnerschaft gegen den „Russenpakt"
Demnach veranlaßte die allgemeine politische Entwicklung Hitler zur Vorverlegung der Rheinlandaktion. Es ergibt sich die Frage, in welcher Weise die durch den Abessinienkonflikt bestimmte internationale Politik Hitler zur Änderung des Termins bewog.
II. Hitlers Gründe für die Beseitigung der entmilitarisierten Zone und der Anlaß für die Aktion
Abkürzungsverzeichnis APA BA DGFP DDF DZA FO FOL IfZg MGFA PA PRO RAM St. S. VB = = = = = = = = = = = = = = Außenpolitisches Amt Rosenberg Bundesarchiv Koblenz Documents on German Foreign Policy Documents Diplomatiques Franais
Deutsches Zentralarchiv Potsdam Foreign Office Archives Foreign Office Library London Institut für Zeitgeschichte München Militärgeschichtliches Forschungsamt Freiburg i. Br.
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn Public Record Office London Reichsaußenminister Staatss✈ٕ?
Abkürzungsverzeichnis APA BA DGFP DDF DZA FO FOL IfZg MGFA PA PRO RAM St. S. VB = = = = = = = = = = = = = = Außenpolitisches Amt Rosenberg Bundesarchiv Koblenz Documents on German Foreign Policy Documents Diplomatiques Franais
Deutsches Zentralarchiv Potsdam Foreign Office Archives Foreign Office Library London Institut für Zeitgeschichte München Militärgeschichtliches Forschungsamt Freiburg i. Br.
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1. Die Gründe Die entmilitarisierte Zone stellte für die Wehrmacht bei der Erfüllung der ihr von Hitler übertragenen Aufgabe, „die Organisierung der gesamten Nation für die Reichsverteidigung . . . in gesteigertem Tempo" zu vollziehen, ein großes Hindernis dar
Neben diesen strategischen Erwägungen waren offenbar auch innenpolitische Überlegungen für Hitlers Entschluß relevant. Von Neurath sogar maß diesen entscheidende Bedeutung zu. Nach Ansicht des Ministers fühlte Hitler das allgemeine Herabsinken der Begeisterung für das NS-Regime, was ihn zwang, nach einer weiteren nationalen Parole zu suchen und die Massen erneut zu entflammen. Für die Aktion sollte der Heldengedenktag
In einer deswegen im Auswärtigen Amt abgehaltenen Konferenz bezeichnete Ministerialdirektor Gaus, der Leiter der Rechtsabteilung, die neue Lage des Reiches als „recht ernst". Nach den Vertragsbestimmungen verfügten Frankreich und Rußland über ihre volle Handlungsfreiheit im Falle einer Bedrohung oder eines Angriffs von seifen eines europäischen Staates. Damit sei dem Locarno-Vertrag der „Todesstoß" versetzt worden. Staatssekretär von Bülow habe bereits den Pakt mit seiner eindeutig gegen Deutschland gerichteten Spitze als „Ungeheuerlichkeit" gebrandmarkt. Die Presse sei angewiesen, „scharf gegen den Vertrag vorzugehen". Zwei Tage später warf von Neurath dem französischen Botschafter vor, „daß der Vertrag ausschließlich gegen Deutschland gerichtet sei"
Am 25. Mai 1935 sandte die Reichsregierung eine scharfe Protestnote an die Signatare des Locarno-Paktes, nachdem Hitler vier Tage zuvor in einer großen Rede vor dem Bruch des Abkommens gewarnt hatte. In dieser Note wurde der Pakt unter Hinweis auf Ziffer 1 des französisch-russischen Zeichnungsprotokolls als unvereinbar mit den Bestimmungen des Locarno-Vertrages erklärt. Wenn auch die englische (5. Juli), die italienische (15. Juli) und die belgische Regierung (19. Juli) darauf antworteten, daß sie sich der deutschen Auffassung nicht anschließen könnten, so hielt das Reich dennoch seinen Einspruch aufrecht. Ende Juli teilte die Reichsregierung in einem Kommunique mit, daß sie die Angelegenheit noch nicht als erledigt betrachte, sich aber vom weiteren Austausch juristischer Memoranden keinen praktischen Nutzen verspräche. Dies sollte Botschafter Köster auch dem französischen Ministerpräsidenten und Außenminister Laval deutlich zu verstehen geben
Noch am selben Tag unterrichtete Hitler sein Kabinett ausführlich von seinem Gespräch mit Sir Eric Phipps. Danach hatte er dem englischen Botschafter gesagt, daß die Einbeziehung Rußlands in ein westliches Vertragssystem, an dem Deutschland maßgeblich beteiligt wäre, nicht in Frage käme. Auf den Einwand des Diplomaten, ob bei einer solchen Einstellung Abrüstungsverhandlungen überhaupt denkbar wären, hatte er erwidert, daß Verhandlungen durchaus stattfinden könnten, die der Feststellung der Rüstungsgrenze nach den Bedürfnissen der Vertragspartner dienten. Hierbei würde es sich dann wahrscheinlich herausstellen, „daß es im Interesse sowohl Englands wie Frankreichs liegen dürfte, in die Aufhebung der Bestimmungen über die entmilitarisierte Zone einzuwilligen"
Mit der Vergrößerung dieser Chance wandelte sich die Bedeutung des russisch-französischen Beistandspaktes für Hitlers Außenpolitik. War der Pakt zunächst ausschließlich als gefährlicher französischer Isolationsversuch erschienen, so konnte man ihn nun gewissermaßen als „willkommenen Vorwand" benutzen
Dieser Verdacht von Hassells bestätigte Hitlers Verhalten bei seiner Begegnung mit Fran-
ois-Poncet am 2. März. Obgleich der Beistandspakt wenige Tage zuvor, am 27. Februar, in der französischen Kammer gebilligt worden war, zeigte Hitler keineswegs eine Haltung, die den Botschafter für den Fall einer Ratifikation des Vertrages im Senat bedenklich stimmen mußte. Zwar verurteilte Hitler das französische Vorgehen wiederum als unvereinbar mit den Locarno-Bestimmungen, ohne jedoch mit dieser Kritik eine ernsthafte Warnung zu verbinden. Selbst die neuen Vorschläge für eine deutsch-französische Verständigung, die er im Gespräch mit dem französischen Journalisten Bertrand de Jouvenel einige Tage zuvor in Aussicht gestellt hatte, nannte Hitler nicht überholt. Er hätte zwar noch kein fertiges Angebot in der Tasche, antwortete er dem Botschafter, wolle aber die Angelegenheit weiterhin genau durchdenken. Dies sagte Hitler am selben Tag, an dem der Bereitstellungsbefehl für das Rheinlandunternehmen ausgefertigt wurde 14).
Seine Verschleierungstaktik, der Einmarsch in die Zone vor der endgültigen Ratifikation des Paktes im französischen Senat sowie die Rücksichtslosigkeit gegenüber dem am Beistandspakt unbeteiligten Locarno-Partner Belgien charakterisierten Hitlers wahre Absicht. Sie bestand darin, den Beistandspakt zum Anlaß für die Aufhebung der entmilitarisierten Zone zu nehmen, weil die Gelegenheit günstig schien.
III. Die internationale Politik im Frühjahr 1936 und Hitlers Entschluß zum Einmarsch in die entmilitarisierte Zone
1. Hitlers Beurteilung Englands Hitlers Annahme, England befinde sich in militärisch schlechtem Zustand und sei durch andere Probleme stark gefesselt, war nicht aus der Luft gegriffen. Mit „ungläubigem Staunen"
hatte er bereits im September 1935 beobachtet
Während sich die zunächst bekundete Entschlossenheit Londons, Mussolini zur Mäßigung zu zwingen, in eine mehr tastende Politik verwandelte, wurde ein neues Rüstungs-Programmerstellt. Für Schutzvorkehrungen im östlichen Mittelmeer stellte die Regierung 7, 8 Millionen Pfund bereit. Der ordentliche Wehrhaushalt für 1936/37 wurde gegenüber 1935/36 um 95 Millionen Pfund erhöht. Diese Ausgaben und ein zusätzliches Rüstungsprogramm bestätigten Hitlers Prognose, daß 1937 nicht nur Deutschland, sondern auch seine Nachbarländer stärker sein würden, zumal Frankreich dem englischen Beispiel folgte und seine Aufrüstung weiter intensivierte.
Der Abessinienkonflikt offenbarte Hitler jedoch nicht allein die mangelnde Kriegsbereitschaft Englands. Die Hinnahme der „moralischen Niederlage" nach dem Debakel der Flottendemonstration im Mittelmeer war für Hitler, der nur in machtpolitischen Vorstellungen dachte, zudem ein Beweis für die innere Schwäche und Entschlußlosigkeit der britischen Regierung. Der negative Eindruck vertiefte sich, als Mitte Dezember der sogenannte Hoare-Laval-Plan bekannt wurde, der eine friedliche Beilegung des Abessinienkonflikts vorsah und laut dem Italien etwa drei Fünftel Abessiniens erhalten sollte. Aufgrund des bis dahin propagierten vorbehaltlosen Bekenntnisses Englands zum Völkerbund hätte nur eine kollektive Bestrafung Italiens die logische Folge der britischen Politik sein können. Statt dessen sollte Mussolini plötzlich für die Mißachtung des Völkerbundes mit der Zuteilung abessinischer Gebiete belohnt werden. Diese Desavouierung des Prinzips der kollektiven Sicherheit rief bei Hitler erhebliche Zweifel an der Vertragstreue der Westmächte hervor und erleichterte vermutlich seinen Entschluß zum Bruch des Rheinpaktes
Ein weiteres Moment, das Hitlers Entschluß festigen mußte, kam hinzu, als England als Gegenleistung für den deutschen Eintritt in die antiitalienische Front ein Objekt in Aussicht stellte, dessen politische Bedeutung das entmilitarisierte Rheinland weit überragte. Es handelte sich um die Aufgabe des britischen Widerstandes gegen die österreichischen „Anschluß " -Pläne Hitlers. Wurde diese Bereitschaft auch nur andeutungsweise sichtbar, so ließ allein die Einbeziehung dieser Möglichkeit in den politischen Kalkül der Briten die Erwartung eines militärischen Gegenschlages gegen die weitaus unbedeutendere Veränderung des Status quo am Rhein kaum mehr zu. Und dies noch weniger, wenn man den antiitalienischen Bestrebungen Englands geschickt entgegenkam. Zu diesem Zweck wollte Hitler mit der Kündigung des Locarno-Vertrages Vorschläge verbinden, die in ihrer praktischen Bedeutung der Wiederherstellung des Locarno-Paktes unter Aufhebung der entmilitarisierten Zone gleichkamen. Besonders bemerkenswert war dabei das Angebot der Rückkehr in den Völkerbund, das bewußt auf die englische Vorliebe für den Völkerbund, den Eckpfeiler britischer Außenpolitik, abgestimmt war.
Demgemäß wurde von Hoesch, der deutsche Botschafter in London, angewiesen, am 7. März gegenüber Außenminister Eden „besonders hervorzuheben, daß der Reichsregierung der Entschluß, sich zum Wiedereintritt in den Völkerbund bereit zu erklären, nicht leicht geworden und daß dabei nicht zuletzt die Erwägung maßgebend gewesen sei, der Politik der Britischen Regierung, die sich so eng an den Völkerbund attackiert hat, nach Möglichkeit entgegenzukommen". Der angebotene Wiedereintritt in den Völkerbund sollte offenbar die englische Regierung zur Diskussion dieser Offerte reizen und damit von einer spontanen militärischen Reaktion auf den geplanten deutschen Vertragsbruch abhalten. Daß England darauf einging, schien um so wahrscheinlicher, als das deutsche Angebot eine Stärkung des Völkerbundes und damit der antiitalienischen Isolationsbestrebungen Englands in Aussicht stellte.
In der Tat rief das deutsche Angebot der Rückkehr nach Genf den beabsichtigten Eindruck hervor. Gerade dieser Punkt, so beschrieb der französische Kriegsminister Maurin die Wirkung des deutschen Köders in London, „gefiel den Engländern sehr, da sie fest an die kollektive Sicherheit glaubten"
Demnach darf festgestellt werden, daß Hitlers Erwartung einer ungefährlichen Reaktion der Briten auf den geplanten Coup keineswegs unrealistisch gewesen ist. 2. Hitlers Beurteilung Frankreichs Hitlers Annahme, England sei militärisch schwach und durch andere Probleme stark gefesselt, erschien angesichts der englischen Haltung im Abessinienkonflikt gerechtfertigt. Seine Feststellung, daß Frankreich innerlich zerstritten sei, enthielt hingegen keinen direkten oder indirekten Bezug auf die französische Haltung im Streit um Abessinien, die den deutschen Diktator zu außenpolitischen Initiativen verlocken konnte. Vielmehr schien eine vorsichtige Zurückhaltung in der Rheinland-frage angebracht, wenn man aus der französischen Einstellung zum Abessinienkonflikt Rückschlüsse auf mögliche Maßnahmen der Pariser Regierung gegen einen deutschen Bruch des Locarno-Vertrages zog. Denn Frankreich beurteilte den Konflikt nach seiner kontinentalen Bedeutung und damit nach seiner Rückwirkung auf das deutsch-französische Machtverhältnis. Entsprechend versuchte Laval, jede Schwächung des Stresa-Partners Italien zu vermeiden, da eine solche zur Verschlechterung der französischen Position gegenüber Deutschland führen mußte. Folglich lehnte man in Paris militärische Sanktionen gegen Italien ab. Sanktionen wirtschaftlicher Art sollten nur behutsame Anwendung finden, um sie für Italien erträglich zu machen. Frankreich wollte zwar seiner Völkerbundspflicht genügen, aber ohne sich mit Italien zu verfeinden. Laval tat darum alles, um die Sanktionen auf ein Mindestmaß zu beschränken. Bei den Genfer Auseinandersetzungen zwischen England und Italien unterstützte er Italien „de toutes ses forces"
Als beispielsweise London die Homefleet im September 1935 nach Gibraltar schickte, versicherte Laval den Italienern sofort, daß diese Aktion ohne vorherige Rücksprache mit der französischen Regierung erfolgt sei. Selbst den Beistandsforderungen Londons für den Fall eines italienischen Angriffs gegen England kam man in Paris nur widerstrebend nach. Vansittart, Ständiger Unterstaatssekretär im englischen Außenministerium, bezeichnete die französische Zusicherung, Großbritannien im Falle eines italienischen Angriffs gemäß Art. 16 der Völkerbundscharta zu unterstützen, als ein „Ja in zweitausend Worten"
Das Sicherheitsbedürfnis gegenüber dem Reich ließ in Paris Englands Wunsch nach wirksamen Sanktionen gegen Italien zweitrangig erscheinen. „Die internationale Moral", soll Laval am 11. September 1935 zu Hoare gesagt haben, „ist eine Sache, die Interessen eines Landes sind eine andere."
Die Rückwirkung der genannten Faktoren, die Frankreich von einer entschlossenen Reaktion abhielten, ließ sich indessen kaum vorausberechnen. Für Hitler war die Frage, ob Frankreich mit militärischen Gegenmaßnahmen auf die Beseitigung der entmilitarisierten Zone antworten würde, gänzlich offen. Sein Hinweis auf die inneren Schwierigkeiten Frankreichs war ein Entlastungsmoment, das in Wirklichkeit nicht existierte. Die erregte politische Atmosphäre in Paris hatte ihren vornehmlichen Grund in der Agitation und dem ständigen Machtzuwachs gerade derjenigen Kräfte, die in einigen Monaten die Regierung der so-genannten Volksfront bilden sollten. Es waren ideologische Gegner Hitlers, von denen er weit geringere Zurückhaltung erwarten durfte als von der Regierung Sarraut. Daß aber auch von ihrer Seite gefährliche Reaktionen kommen würden, erschien angesichts des französischen Widerstands gegen die sich während des Abessinienkonflikts vollziehende Auflösung der Stresa-Front als naheliegend. Die Vordergründigkeit seiner gegenüber von Hassell ausgestellten Behauptung, von Frankreich drohe aufgrund seiner inneren Wirren keine ernstliche Gefahr, decouvrierte Hitler selber, indem er andernorts seine große Besorgnis über mögliche Gegenschläge Frankreichs ein-gestand
Bis Ende 1935 war es den Italienern nicht gelungen, einen bedeutenden Sieg gegen den Negus zu erringen. Um die Jahreswende 1935/36 diktierten die abessinischen Truppen sogar das Kamplgeschehen, als sie die Takaze-Linie durchstießen und in Abbi Adi eindrangen. Nachdem sie in der ersten Januarhälfte fast die ganze Provinz Tembien zurückgewonnen hatten, erwog man im Hauptquartier des Oberbefehlshaber Badoglio vorübergehend den allgemeinen Rückzug
Noch am 10. Februar 1936 äußerte Mussolini die Ansicht, der Krieg könne frühestens nach zwei Jahren ein Ende finden. Entsprechend . waren alle militärischen Stellen auf einen mehrjährigen harten Kolonialkrieg eingestellt.
Marschall Balbo, der Generalgouverneur von Libyen, befürchtete große Schwierigkeiten beim Nachschub und militärische Rückschläge.
Wie er dem deutschen Konsul in Neapel, Immelen, zu verstehen gab, konnte der Krieg günstigstenfalls in einigen Jahren zu einem leidlichen Ende geführt werden. Nichts ließ in der Tat zu Beginn des Jahres 1936 auf den völligen Sieg der Italiener innerhalb kurzer Zeit schließen. Der schnelle Erfolg im April 1936 kam völlig überraschend. „Der Jubel Italiens", schrieb von Hassell nach der Besetzung der abessinischen Hauptstadt, „ist begreiflich, denn das, was erreicht wurde, übertrifft weit die Erwartungen. Man hatte wohl an die Abtretung bedeutender Gebietsteile geglaubt, niemals aber an eine Eroberung ganz Abessiniens."
Für Badoglio kam der Zusammenbruch des äthiopischen Kaiserreichs offenbar ebenso unerwartet
Italiens Berliner Botschafter Attolico nannte im Gespräch mit seinem deutschen Kollegen von Hassell die Lage Italiens „im höchsten Grade schwierig". Sollte jemand einen annehmbaren Kompromißvorschlag machen, fügte Attolico hinzu, würde man in Rom „diesen Herrn nicht ins Gesicht spucken"
Nur für kurze Zeit schien es, als ob sich dennoch Hitlers Hoffnung auf eine italienische Unterstützung in seinem Kampf gegen den Versailler und Locarno-Vertrag erfüllen sollte. Einige Stunden nach Alfieris Anruf überbrachte nämlich der deutsche D. N. B. -Vertreter in Rom, Scheffer, dem Botschafter in großer Aufregung eine wichtige Information. Ihr zufolge war Scheffer von einem Vertrauensmann bestürmt worden, dem deutschen Botschafter noch vor seiner Abreise nach Deutschland mitzuteilen, daß „Italien sich seiner Verpflichtungen für los und ledig halten (?) oder erklären (?)" würde, wenn Deutschland den Locarno-Vertrag aufkündigte
Das Ergebnis teilte Baron Plessen dem inzwischen in der Reichshauptstadt eingetroffenen Botschafter telegrafisch mit. Danach hatte der Vertrauensmann zwar seine Scheffer gegebene Erklärung wiederholt und andeutungsweise auf Alfieri als deren Urheber hingewiesen; jedoch hatte er einschränkend hinzugefügt, Deutschland möchte den Vertrag doch noch nicht kündigen, sondern erst das „sicher zu erwartende weitere Ansteigen der europäischen Verwirrung abwarten"
Auch Botschafter Attolico gab sich reserviert, als ihn von Hassell vor seiner Audienz bei Hitler auf eine mögliche Kündigung des Locarno-Vertrags durch Italien ansprach. Potentiell wäre diese Absicht vorhanden, antwortete Attolico, ob die Frage jedoch in Rom Aktualität besäße, wüßte er nicht zu sagen. Von Hassell versuchte, eine genauere Stellungnahme zu provozieren, indem er die Antwort Attoli-cos als Ablehnung des deutschen Ansinnens hinstellte. Der Italiener betonte, dies ginge zu weit, beschränkte sich jedoch im übrigen auf die Erklärung, nichts Näheres zu wissen.
In Rom schien man über eine unverbindliche Ermunterung nicht hinausgehen zu wollen. Wie aus den Arbeitsergebnissen des deutschen Luftwaffenforschungsamtes hervorging, leistete die italienische Diplomatie, insbesondere Attolico, den deutschen Plänen nur diskret Vorschub
Offenbar suchte Italien eine deutsche Kollision mit den Westmächten als Ablenkungsmanöver für Afrika herbeizuführen, ohne sich selbst politisch zu exponieren. Von Hassell gewann die Überzeugung, daß sich Italien nicht an militärischen Maßnahmen der Westmächte gegen den deutschen Einmarsch ins Rheinland beteiligen würde. Ein „Vorausgehen", wie es Hitler noch am 14. Februar für möglich hielt, erschien dem Botschafter jedoch „ausgeschlossen". Dieses Urteil gründete sich nicht allein auf Attolicos und Alfieris ausweichende Zu -rückhaltung:
Am 6. Januar 1936 empfing Mussolini den deutschen Botschafter zu einem Gespräch über die italienische Situation in Europa. Dabei avisierte der Duce die Aufgabe seiner bisherigen Einstellung zur österreichischen Frage. Er bezeichnete nicht nur die Stresa-Front aufgrund der enttäuschenden Erfahrungen mit England und Frankreich „als ein für alle Mal tot", sondern versicherte auch, keinen Einwand mehr zu erheben, wenn Österreich als formell selbständiger Staat „praktisch ein Satellit Deutschlands würde". Der Duce wies dabei auf die Möglichkeit eines deutsch-österreichischen Freundschaftsvertrages hin, der Österreich „in das Kielwasser Deutschlands bringen würde, so daß es keine andere Außenpolitik als eine parallele zu Deutschland treiben könne". Diese Maßnahme sollte zudem ein Abgleiten Österreichs zur Tschechoslowakei und damit zu Frankreich verhindern. Eine solche Möglichkeit lag nach Mussolinis Ansicht nahe, weil in Wien im Hinblick auf Italiens Engagement in Ostafrika Zweifel an Mussolinis Fähigkeit laut wurden, Österreich „in entscheidender Stunde" helfen zu können. Um profranzösischen Tendenzen vorzubeugen, versprach Mussolini, der österreichischen Regierung die Bereinigung ihres Verhältnisses zu Deutschland nahezulegen. Diese Eröffnungen Mussolinis erschienen Hitler so bemerkenswert, daß er von Hassell am 11. Januar aufforderte, zwecks persönlicher Berichterstattung nach Berlin zu kommen.
Am 17. Januar trafen beide zusammen. Nach den Ausführungen von Hassells erklärte Hitler, fest entschlossen zu sein, „die wohlwollende Neutralität" gegenüber Italien fortzusetzen. Ein Zusammenbruch des Faschismus müsse vermieden werden, weil sonst zur außenpolitischen Isolierung des Reiches noch eine Isolierung moralischer Natur hinzukäme. Er wolle die Wiederherstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Rom und Berlin fördern und unter die Ereignisse von 1934 einen Schlußstrich ziehen. An der Art, in der sich Österreich zu diesem Wandel der deutsch-italienischen Beziehungen stelle, ließe sich dann prüfen, „ob Italien seinen Worten in Wien auch. Taten folgen lasse"
Noch am selben Tag fragte von Hassell seinen italienischen Kollegen, ob Italien mit seiner neuen Einstellung das Reich etwa nur zu einem Vorstoß nach Österreich verleiten wolle, um das Interesse des Westens vom abessinischen Krieg abzulenken. Attolico protestierte heftig und versicherte in „formellster und bestimmtester Weise", daß Italien die Verständigung zwischen Wien und Berlin wünsche. Dabei machte er jedoch die Einschränkung, Deutschland solle „um Gottes Willen jetzt nicht etwa eine Aktion in bezug auf Österreich einleiten". Es möge nur von dieser neuen italienischen Einstellung Kenntnis nehmen und „ganz vorsichtig und allmählich" versuchen, die deutsch-österreichischen Beziehungen zu normalisieren. Daraus konnte man freilich keine sicheren Rückschlüsse auf die Aufrichtigkeit der italienischen Absichten ziehen, zumal sich seit der Unterredung mit Mussolini am 6. Januar in Wien keine Anzeichen für eine italienische Intervention zugunsten des Reiches erkennen ließen.
Um über die neue italienische Einstellung größere Gewißheit zu erlangen, schlug von Hassell ein Gespräch mit Mussolini vor, das von drei Gesichtspunkten bestimmt sein sollte. Erstens sollte man dem Duce versichern, daß der Reichskanzler von den am 6. Januar gemachten Ausführungen des italienischen Regierungschefs „mit großem Interesse Kenntnis genommen habe und sie im Interesse der deutsch-italienischen Beziehungen nur begrüßen könne". Zweitens sollte dem Duce nahe-gelegtwerden, keine Zweifel mehr an einer Befürwortung der deutsch-österreichischen Verständigung zu lassen, indem er sich an der Schaffung der dafür notwendigen Voraussetzungen beteiligte. Drittens gälte es, Mussolini zu erklären, „daß der Führer und Reichskanzler von dem Wunsche beseelt, daß der Faschismus und Italien die gegenwärtige Prüfung unerschüttert bestehen möchten, entschlossen sei, die bisherige, von Mussolini als für Italien wohlwollend bezeichnete Neutralitäts-Politik fortzusetzen". Deutschland erwarte sich dafür die italienische Aufkündigung der Stresa-Abmachungen. Dieser Vorschlag von Hassells wurde am 24. Januar in Berlin genehmigt. Drei Tage später bildete er die Grundlage eines Gespräches zwischen dem deutschen Botschafter und Mussolini. Dabei gestand dieser ein, bislang noch keinen Wink nach Wien gegeben zu haben; er hätte erst die Rückkehr des Botschafters abwarten wollen. Offenbar unter dem Eindruck der Versicherung von Hassells, Italien dürfte auch weiterhin mit der Sympathie des Führers und der wohlwollenden Neutralität des Reiches rechnen, versprach er, nunmehr die deutscherseits gewünschte Weisung nach Wien gehen zu lassen.
Einige Tage darauf versuchte von Hassell, den angekündigten Wechsel der italienischen Haltung in einer umfassenden Darstellung zu ergründen. Dabei beschäftigte ihn besonders die Frage, ob dieser Wandel auf einer veränderten politischen Einstellung des Duce beruhte oder auf der durch den Abessinienkrieg bedingten Notwendigkeit, überall „gut Wetter" (von Hassell) zu machen. Er kam zu dem Schluß, daß erst die weitere Entwicklung in Österreich einen wirklichen Beweis für Mussolinis Aufrichtigkeit erbringen könnte. Nach Ansicht des Botschafters mußte aufgrund der bedrängten Lage Italiens in Ostafrika bei der in Aussicht gestellten italienischen Aufgabe der Stresa-Politik geradezu zwangsläufig der Gedanke mitgewirkt haben, damit auf Frankreich einen gewissen Druck auszuüben.
Wenngleich von Hassell in dieser Absicht nicht das beherrschende Motiv des italienischen Kurswechsels sehen wollte, blieb man in Berlin argwöhnisch. Grund dazu gab eine gezielte Indiskretion der Italiener, welche die Absicht eines Pressionsversuchs gegenüber Frankreich durch die Betonung des zwischen Rom und Berlin in Gang befindlichen Gedankenaustausches deutlich erkennen ließ. Hiery über hatten die Russen, wie das Auswärtige Amt erfuhr, in Prag Mitteilung gemacht und als Quelle vertrauliche Äußerungen Attolicos zu Boris Stein, Botschafter der UdSSR in Rom, angegeben. In Berlin sah man den Verdacht bestätigt, daß Italien zugunsten seines abessinischen Abenteuers Deutschland wieder stärker in den Blickpunkt der europäischen Politik rücken wolle. Dies hatte offensichtlich auch Attolico im Sinn, als er am 19. Januar von Neurath zu bewegen suchte, gemeinsam mit Italien gegen die französisch-englische Allianz vorzugehen. Der Italiener verwies dabei auf einen Bericht Grandis, des italienischen Botschafters in London, laut dem die englisch-französische Intimität bereits den Grad einer Militärkonvention erreicht hatte, die nicht nur für den Abessinienkonflikt, sondern auch für die weitere Zukunft Geltung haben sollte. Attolico referierte Grandis Ansicht, wonach England eine für Italien erträgliche Lösung der Abessinienfrage anstrebe, um anschließend gemeinsam mit Frankreich und Italien den Locarno-Vertrag aufzuheben und Deutschlands Einkreisung zu vollenden.
Diese Prognose verstärkte den seit dem 6. Januar in der Wilhelmstraße herrschenden Eindruck, daß Mussolini das Reich durch Avancen hinsichtlich Österreichs zur Aufgabe seiner abwartenden Haltung verlocken wollte, um durch eine deutsch-österreichische Konfrontation die Aufmerksamkiet der Westmächte von Abessinien abzulenken.
Die Tendenz, Deutschland als den eigentlichen Unruheherd in Europa hinzustellen, spiegelte sich besonders in der italienischen Presse. Wenn Graf Rogeri auf von Hassells Vorstellungen entgegnete, die monierten Artikel seien nur taktischer Natur und durch die schlechte Lage Italiens veranlaßt, so konnte gerade dieses Argument das deutsche Mißtrauen gegenüber den Versprechungen nicht beseitigen, die der Duce am 6. Januar, auf dem Tiefpunkt seines abessinischen Abenteuers, gemacht hatte.
In der Wilhelmstraße liefen zudem Nachrichten ein, die kaum geeignet waren, den Argwohn zu beschwichtigen. Obgleich Mussolini am 27. Januar von Hassell zugesagt hatte, zugunsten Deutschlands in Wien zu intervenieren, konnte der dortige deutsche Gesandte von Papen keine Änderung in der österreichischen Politik bemerken. Vielmehr erfuhr er aus einer zuverlässigen Quelle, daß der italienische Gesandte in Wien, Preziosi, Außenminister Berger-Waldenegg versichert hatte, Italien würde mit Deutschland keine Vereinbarungen treffen, die nicht Österreichs Billigung fänden. Diese Nachricht wog um so schwerer, als von Papen auch durch den ungarischen Außenminister Kanya hinterbracht worden war, Baron Berger hätte ihm auf die Frage, ob Mussolini auf eine Aussöhnung mit Deutschland dränge, mit einem glatten „Nein" geantwortet. Als von Papen einige Tage danach mit dem österreichischen Vizekanzler Fürst Starhemberg zusammentraf, bestätigten dessen Äußerungen Kan-yas Information, derzufolge Mussolini bislang noch nicht mit der Wiener Regierung wegen eines deutsch-österreichischen Ausgleichs in Verbindung getreten war.
Eine andere Nachricht, die von Neurath aus absolut sicherer Quelle erhielt, erhöhte den im AA gehegten Argwohn noch weiter. Danach hatte Suvich dem tschechoslowakischen Gesandten in Rom gesagt, daß ihm die Furcht der Kleinen Entente vor einer Restauration des Habsburger Hauses unverständlich wäre. Zwar wäre auch er gegen die Wiederaufrichtung der Monarchie in Österreich, doch würde sie ein starkes Bollwerk gegen die Anschlußbewegung bilden.
Weder in der österreichischen, wie diese Beispiele unterstrichen, noch in der Locarno-Frage, wie Suvichs, Alfieris und Attolicos Verhalten zeigte, war demnach eine sichere Voraussage über die Haltung möglich, die Italien im Falle einer deutschen Aktion gegen den Status quo am Rhein einnehmen würde. Von Hassells Gespräch mit Attolico am 19. Februar lieferte für diese Undurchsichtigkeit der italienischen Politik den besten Beweis. Zwar konnte Attolico auf den offenbar von Mussolini selbst geschriebenen Artikel im Popolo d'Italia verweisen, in dem der Locarno-Vertrag als bedenklich „angeknakst" bezeichnet wurde, doch mußte er sich von seinem deutschen Kollegen sagen lassen, daß die Sprachregelung des italienischen Presseamtes anders lautete. Dort bezeichnete man den Locarno-Vertrag als gültig und betonte, Italien fühle sich durch den französisch-russischen Beistandspakt nicht betroffen. Attolico machte für diesen Widerspruch die Uneinigkeit zwischen den Völkerbunds-bzw. Locarno-Gegnern einerseits und den leitenden Persönlichkeiten im Palazzo Chigi andererseits verantwortlich. Damit ließen sich von Hassells Bedenken jedoch nicht entkräften. Gerade die Verwirrung innerhalb der italienischen Regierung erlaubte kaum einen sicheren Rückschluß auf ihre Haltung im Falle einer deutschen Kündigung des Locarno-Paktes. Dies brachte von Hassell bei seiner Unterredung mit Hitler am 19. Februar deutlich zum Ausdruck. Er schilderte „den höheren Barometerstand in Italien wegen der erzielten militärischen Erfolge und des Eindruckes eines leisen Desinteressements Englands, Fortfalls der Petroleumssanktionen und Sanktionsmüdigkeit vieler Länder". All das erhöhte nach Ansicht des Botschafters „nicht die Chancen für ein Mitgehen der Italiener". Unter Zustimmung von Neuraths, der neben von Ribbentrop an diesem Gespräch zwischen von Hassell und Hitler teilnahm, empfahl der Botschafter deshalb, erst eine sich später bietende Gelegenheit für die Beseitigung der entmilitarisierten Zone wahrzunehmen. Hitler blieb jedoch anderer Meinung. Nach von Hassells Aufzeichnung vertrat der Reichskanzler folgenden Standpunkt: „ 1) Die Gefahr bestände, daß die entmilitarisierte Zone allmählich eine Art unantastbarer Einrichtung würde, die anzutasten dann immer schwieriger würde. 2) Er glaube, daß die italienischen Erfolge die Engländer eher zu größerer Härte anstacheln würden als umgekehrt. 3) Anderseits wäre es psychologisch falsch zu glauben, ein Mann, wie Mussolini, würde nach erzieltem Erfolge kompromißgeneigter sein; er würde im Gegenteil dann erst recht aufs Ganze gehen. 4) In der Lage der beiden faschistischen bzw. nationalsozialistischen Staaten, die umgeben seien von den bolschewistisch verseuchten Demokratien, sei Passivität auf die Dauer keine Politik . . . Der Angriff sei auch in diesem Falle die bessere Strategie (lebhafte Zustimmung Ribbentrops). Deshalb glaube er, man solle jetzt den Russenpakt zum Anlaß nehmen."
Während Punkt 1 und 4 typische Argumente der ideologischen Machtpolitik Hitlers darstellten, machten Punkt 2 und 3 die Interdependenz zwischen dem Abessinienkonflikt und der geplanten Aktion gegen die entmilitarisierte Zone noch deutlicher sichtbar als die Überlegungen, die Hitler während der Besprechung am 14. Februar angestellt hatte. 5. Die Unterredung von Hassells mit Mussolini am 22. Februar über die voraussichtliche Reaktion des Reiches auf die Ratifikation des französisch-russischen Beistandspaktes
Wie bereits erwähnt, konnte von Hassell der am 14. Februar von Hitler ausgesprochenen Erwartung einer italienischen Beteiligung an der Aufhebung des Locarno-Vertrags nicht beipflichten. Er wandte ein, daß die italienische Politik zwar einerseits von dem Gedanken beherrscht würde, „in eine furchtbare Patsche geraten zu sein", aus der jeder gangbare Ausweg ergriffen werden müßte, daß aber andererseits dieses Bestreben Italiens auch das Tasten nach Möglichkeiten einbezöge, die dem Reich unangenehm sein mußten. Dabei verwies von Hassell auf die römischen Bestrebungen, es zu einem vollständigen Bruch mit dem Westen zumindest so lange nicht kommen zu lassen, bis die Genfer Sanktionen verschärft würden. Nach Ansicht des Botschafters zeigte besonders das Verhalten Grandis in London deutlich diese Tendenz. Von Hassell bat deshalb Hitler, zu bedenken, daß angesichts der überaus schwierigen Lage Italiens „keinerlei sichere Gewähr" für ein Eingehen Mussolinis auf Hitlers Plan gegeben wäre. Auch hielt er die von Hitler erwogene Mission Görings, der Mussolini die Wünsche des Führers überbringen sollte, für verfehlt. Die Geheimhaltung einer solchen Reise erschien dem Botschafter ausgeschlossen; statt dessen, so schlug von Hassell vor, sollte ihm selber der Auftrag erteilt werden. Er versprach, die Unterredung im persönlichen Auftrag des Führers mit Mussolini so zu führen, daß dieser keine Gelegenheit fände, den deutschen Plan „an die Gegenseite zu verkaufen". Diesem Plan gab man am 19. Februar den Vorzug. Sowohl von Hitlers Vorhaben, Mussolini die Kündigung des Locarno-Vertrags nahezulegen, als auch von der geheimen Reise Görings war keine Rede mehr.
Für die Annahme des Vorschlags von Hassells waren jedoch weniger dessen vorgebrachte Bedenken maßgebend als eine Information aus Paris, die Hitler am selben Tag erhielt. Derzufolge hatte der italienische Botschafter in Paris, Cerruti, Flandin gegenüber erklärt, Italien stehe fest zu seinen Abmachungen von Stresa und Locarno. Hitler zeigte sich tief beeindruckt und schlug vor, bei der Fühlungnahme mit Mussolini besonders vorsichtig zu sein und „gerade von dieser Meldung auszugehen". Von Ribbentrop sekundierte, daß Suvich den deutschen Plan sofort an die Franzosen „verpfeifen" würde. Von Hassell betonte, es gäbe nichts zu „verpfeifen", denn erstens läge das Problem „sowieso in der Luft" und zweitens würde er in Rom von deutschen Plänen oder Entschlüssen nichts Näheres verlauten lassen. Auch er wäre durchaus für eine vorsichtige Anlage des Gesprächs mit dem Duce
Mussolini nahm zu den genannten Problemen sofort Stellung. Daß Cerruti eine solche Äußerung in amtlichem Auftrag getan hätte, bezeichnete der Duce als ausgeschlossen, denn Stresa wäre für Italien „endgültig tot". Was Locarno beträfe, so sei es nur ein Anhängsel des Völkerbundes, das sofort von selbst entfiele, wenn Italien den Völkerbund verlassen würde Das wäre bei einer kommenden Sanktionsverschärfung, mit der er fest rechne, der Fall. Hinsichtlich des Beistandspakts bestätigte Mussolini die Verlautbarung seines Presseamtes, nannte ihn aber '„durchaus unsympathisch", „schädlich" und „gefährlich".
Von Hassell bemerkte darauf, daß er, Mussolini, sich wohl die Art der Überlegungen vorstellen könnte, die den Führer angesichts einer möglichen Ratifikation des Beistandspaktes beschäftigten. Sollte der Pakt angenommen werden, sähe sich der Reichskanzler „vor sehr ernste Entschlüsse" gestellt. Das Reich würde „diese Verletzung von Locarno nicht ohne irgendeine Reaktion hinnehmen können", wenngleich der Führer auch noch keine Entscheidung gefällt hätte. Dies träfe er erst in den letzten 36 Stunden vor ihrer Ausführung und ganz für sich allein.
Dann kam von Hassells entscheidende Frage: Wenn sich Italien von dem Beistandspakt nicht betroffen fühle, so wolle er wissen, ob die Annahme erlaubt sei, daß Italien auch im umgekehrten Sinne unbeteiligt bleiben, also im Falle einer „wie auch immer gearteten deutschen Reaktion auf die Ratifikation" nicht mit Frankreich und England zusammenwirken würde, auch wenn beide Länder glaubten, als Locarno-Mächte in Aktion treten zu müssen. Diese Annahme bestätigte der Duce „zweimal als richtig"
Das Ergebnis dieser Unterhaltung war für die diplomatische Vorbereitung des deutschen Coups in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Erstens war Mussolini von einer kommenden Verschärfung der Sanktionen überzeugt. Für diesen Fall stellte er den Austritt aus dem Völkerbund unter automatischem Fortfall der Locarno-Verpflichtungen in Aussicht. Zweitens brauchte mit einer Beteiligung Mussolinis an eventuellen englisch-französischen Maßnahmen gegen eine deutsche Reaktion auf die Ratifikation des Beistandspakts nicht gerechnet zu werden. 6. Die dilatorische Behandlung der Rheinland-frage durch Italien Zu Beginn der Unterhaltung hatte von Hassell gebeten, in persönlichem Auftrag des Führers seine Fragen „in ganz vertraulicher Form" besprechen zu dürfen. Mussolini hatte zugesagt, die Unterredung ebenfalls diskret zu behandeln. Offenbar in der Absicht, zu verhindern, daß sich der Duce nach der vertraulichen Fühlungnahme durch eine deutsche Uberra-schungstat brüskiert fühlen könne, schloß von Hassell seinen Bericht über dieses Gespräch mit einem Vorschlag. Wie bereits am 14. Februar, bat er auch diesmal in Berlin, Mussolini von einer deutschen, auf die Ratifikation des Russenpaktes hin getroffenen Entscheidung unterrichten zu dürfen, bevor die übrigen Beteiligten und die Öffentlichkeit davon Kenntnis erhielten. Er sicherte zu, für diese Verständigung einen Zeitpunkt zu finden, der jede Verwendung der Information zum Nachteil des Reiches unmöglich machen würde.
Vorsicht schien geboten, wie diese abschließende Bemerkung und von Hassells äußerst zurückhaltende Gesprächsführung erkennen ließen, da Italien nicht allein in der österreichischen, sondern auch in der Locarno-Frage eine verbindliche Stellungnahme vermied. In der offiziösen Presse Roms fand die deutsche Propaganda gegen die Ratifikation des Beistandspaktes wohl ein starkes, jedoch nur referierendes Echo. Sie zeigte zwar ein gewisses Verständnis für den deutschen Standpunkt, ließ aber zugleich auch das Tasten nach anderen Möglichkeiten erkennen.
Die italienische Presse, hieß es in einem Bericht der deutschen Abwehr, setzte während der ganzen Zeit ihre sehr geteilte Haltung in der Weise fort, daß sie sowohl in Berlin als auch gleichzeitig in Paris und London ein freundliches Echo suchte. Diese Labilität der Politik Mussolinis war auch in Aussprachen mit verschiedenen Exponenten der römischen Regierung das Hauptcharakteristikum bei der Behandlung außenpolitischer Themen. Dieses Urteil fand von Hassell in Gesprächen mit Suvich, Graf Rogeri und anderen politischen Persönlichkeiten vielfach bestätigt. Der Botschafter entdeckte sogar verschiedene Anzeichen dafür, daß man auf italienischer Seite offenbar nicht nur „eine verstärkte Vorsicht" zur Parole machte, sondern Deutschland auch „sozusagen etwas bremsen" wollte. Es erschien ihm nicht ausgeschlossen, daß Mussolini nachträglich, etwa durch Beeinflussung seiner Ratgeber im Palazzo Chigi, zu der Ansicht gekommen war, sich am 22. Februar zu entschieden über Italiens Haltung im Falle einer deutschen Reaktion auf die Ratifikation des Beistandspakts geäußert zu haben. Darauf deutete nicht allein der Tenor der italienischen Presse, sondern auch Suvichs Verhalten hin, als er am 26. Februar mit dem deutschen Botschafter die italienische Fassung des Protokolls über die Unterredung vom 22. Februar besprach. In dem Entwurf Suvichs stellte von Hassell eine bemerkenswerte Einschränkung der Zusicherung Mussolinis fest, sich an keinen Maßnahmen Frankreichs und Englands gegen eine deutsche Reaktion auf die Ratifikation des Beistandspaktes zu beteiligen. Laut Suvichs Niederschrift galt dies nur für eine deutsche Reaktion „in legitimen Grenzen". Erst nach von Hassells energischem Protest wurde diese Einschränkung aus dem Text gestrichen, wobei Suvich bemerkte, sich bei der Einfügung dieser Formel nichts Besonderes gedacht zu haben
Die italienische Zurückhaltung in der Frage des Beistandsund Locarno-Pakts erschien auf den ersten Blick unverständlich. Man hätte in Rom eine deutsche Aktion als förderungswürdig empfinden müssen, da man sich von ihr eine erhebliche Entlastung in der abessinischen Frage versprechen durfte, zumal Graf Rogeri noch kurze Zeit vorher den Wunsch nach einer solchen Entlastung geäußert und dabei dem deutschen Botschafter versichert hatte, Italien würde jede sich bietende Chance für ein Ablenkungsmanöver ergreifen.
Offenbar war ein Ablenkungsmanöver, das möglicherweise italienische Gegenleistungen verlangte, in der zweiten Februarhälfte nicht mehr gefragt. Vermutlich hatten die Erfolge Badoglios in Rom die Hoffnung erweckt, das Kolonialunternehmen beenden zu können, ohne dafür Einbußen an seiner kontinentalpolitischen Basis hinnehmen zu müssen. Warum sollte man jetzt eine deutsche Aktion im Rheinland unterstützen, aus der man zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht größeren Nutzen ziehen konnte? Offenbar veranlaßten Überlegungen dieser Art den Duce, die Fragen der europäischen Politik bis zum Ende des Abessinienkrieges dilatorisch zu behandeln und sich zu diesem Zweck einer Pendelstelle zwischen dem Reich und den Westmächten zu bedienen, die sein Kolonialunternehmen vor einer für Italien gefährlichen Einflußnahme der europäischen Großmächte bewahren sollte. Indem er in ihnen die Hoffnung auf die Erfüllung ihrer nationalen Sonderwünsche wach hielt, suchte er gleichzeitig eine milde Behandlung Italiens in Genf zu erreichen. So versicherte der Duce am 22. Februar dem deutschen Botschafter, für Italien sei die Stresa-Politik „endgültig tot", und fünf Tage später dem französischen, daß er gegenüber Deutschland noch die gleichen Gefühle hege wie im April 1935
Von Hassell vermutete daher zu Recht, daß erst die Verschärfung der Sanktionen eine verbindliche Stellungnahme Italiens zur Locarno-Frage herbeiführen würde. Er empfahl daher in Berlin, die Entwicklung abzuwarten, wenn man größere Gewißheit über die italienische Reaktion auf die deutsche Beseitigung der entmilitarisierten Zone erlangen wollte. Bei einer Sanktionsverschärfung wäre nicht nur mit der italienischen Passivität sicher zu rechnen, sondern vielleicht sogar mit der aktiven Unterstützung des deutschen Planes. Käme es jedoch zu keiner Verschärfung der Sanktionen, schloß der Botschafter seinen Bericht, so sähe er nur noch in einem vertraulichen Gespräch mit Mussolini die Möglichkeit, eine den deutschen Wünschen gemäße italienische Stellungnahme zu erreichen. 7. Die Bedeutung der italienischen Siegeschance in Abessinien für Hitlers Entschluß Den Vorschlag von Hassells, die Beseitigung der entmilitarisierten Zone auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, lehnte Hitler ab. Er sah in der weiteren Entwicklung des Abessinienkonfliktes eine Begünstigung seines Planes, die einen Aufschub der Aktion nicht rechtfertigte. Hitler glaubte, daß Mussolini, durch die Anfangserfolge ermutigt, trotz seiner Furcht vor England „aufs Ganze gehen" wolle. Diese Überzeugung legte den Schluß nahe, Italien und England würden auf die Beseitigung der entmilitarisierten Zone nicht bedrohlich reagieren, weil dies die Sorge um ihre gefährdeten Positionen im östlichen Mittelmeer nicht zuließ. Bei einem Zerwürfnis zwischen den beiden Locarno-Garanten, mit dessen Vertiefung Hitler rechnete, mußte ein ernsthaftes Engagement beider Mächte zugunsten des Locarno-Vertrages um so fraglicher sein, als die entmilitarisierte Zone weder für Italien noch für England einen realen politischen Wert besaß. Hitler brauchte demnach nur zu warten, bis sich Mussolini in Abessinien „festgebissen" (Gisevius) hatte und dann den deutschen Vertragsbruch nicht mehr zum Anlaß für einen Rückzug aus Äthiopien oder für eine Kompromißlösung nehmen konnte
Die Annahme Hitlers, Mussolini erstrebe kompromißlos den totalen Sieg in Abessinien, muß überraschen, denn noch vier Wochen zuvor befürchtete der „Führer", Italien und der Faschismus würden aus der abessinischen Prüfung zertrümmert oder zumindest sehr geschwächt hervorgehen. Gemeinsam mit den führenden Militärs vertrat er die Ansicht, die Eingeborenen würden die Invasoren über kurz oder lang vertreiben. Kriegsminister von Blomberg sagte zum englischen Botschafter Phipps, „that Italy has undertaken a task beyond her powers, and that the very large number of troops that she has thrown into East-Africa may prove fatal for her"
Demnach muß sich Hitlers Urteil über den Ausgang des Konflikts zwischen dem 17. Januar und dem 19. Februar geändert haben. Zweifellos vollzog sich dieser Wandel nicht über Nacht. Der erste große Sieg der italienischen Truppen im Tembien (11. — 16. Februar) berechtigte noch keineswegs zu dem von Hitler am 19. Februar gezogenen Schluß, Mussolini werde jeden Kompromiß ablehnen und sich nur mit der Eroberung ganz Abessiniens, also eines Gebietes zufrieden geben, welches fast viermal größer als Italien war. Sollte dieses Urteil mehr als eine willkürliche Behauptung sein, mußte Hitler seine Informationen über Abessiniens Kampfkraft und die Wirksamkeit der italienischen Siege aus anderen Quellen erhalten, als sie die ständig einander widersprechenden abessinischen und italienischen Kriegsberichte boten. Die Rückwirkung des abessinischen Geschehens auf Italiens europäische Politik war in der Tat viel zu wichtig,
Neben den Meldungen der deutschen Botschaft in Rom und der dortigen deutschen Waffenattaches waren die Gesandtschaftsberichte aus Addis Abeba besonders informativ. Aufgrund der guten persönlichen Beziehungen der deutschen Gesandten Kirchholtes, seines Nachfolgers Strohm und des Ersten Sekretärs Bock zum abessinischen Kaiserhaus war man über die dort herrschende Stimmung und die abessinische Kriegslage stets gut unterrichtet
Aufgrund der ihm aus diesen Quellen zukommenden Nachrichten erhielt Hitler ein Bild von der abessinischen Wehrkraft, das seine noch am 17. Januar geäußerte Skepsis wohl bald beseitigte. Neben dem Erfahrungsbericht Strunks, der nach dreimonatigem Aufenthalt an der Eritrea-Front Hitler den wahrscheinlichen Sieg Italiens meldete
IV. Die geheime Vorbereitung und Durchführung der Rheinlandaktion
Auf die Ratifikation des Beistandspakts in der französischen Kammer am 27. Februar reagierte man in Berlin keineswegs scharf. Man wollte Frankreich nicht beunruhigen, damit die Überraschung um so besser gelingen konnte. Demgemäß wurde die deutsche Presse am 28. Februar vom Propagandaministerium angewiesen, die Kommentierung der für das Reich so bedeutsamen französischen Ratifikation nicht zu umfangreich zu gestalten und sie nicht an leitender Stelle, sondern nur in Glossen-form zu behandeln. Die Feststellung, die Würfel seien gefallen und Frankreich habe für den Bolschewismus optiert, sollte ebenso vermieden werden wie die Erörterung der Folgen, die sich aus der Ratifikation ergeben mochten
Auch in der Wilhelmstraße traf man alle Vorbereitungen „unter größter Geheimhaltung" (von Schmieden). Beispielsweise wurde von Rintelen, der Leiter des Westeuropa-Referats, nicht von seinem Minister informiert. Das für die Locarno-Signatare bestimmte Memorandum wurde im Geheimauftrag von Neuraths vom Vortragenden Legationsrat Frohwein entworfen. Der dem Staatssekretär von Bülow attachierte Legationssekretär von Bargen erhielt erst unmittelbar vor dem Einmarsch von Hitlers Vorhaben Kenntnis
Auch die Mitglieder des Reichstags erfuhren erst am 7. März den Grund ihrer Zusammenkunft. Sie waren für den Abend vorher unter dem Vorwand eines Kameradschaftsabends aller Abgeordneten nach Berlin gerufen worden
Um einen optimalen Überraschungseffekt zu erzielen und jegliches Risiko auszuschließen, wurden die deutschen Missionen in den Hauptstädten der Locarno-Signatare ebenfalls erst im letzten Augenblick verständigt. Am 5. März, um 12. 15 Uhr, gingen Informations-Telegramme in Geheimchiffre und zur persönlichen Entschlüsselung des jeweiligen Missionschefs nach Paris, London, Rom und Brüssel. Sie enthielten die Weisung, unauffällig die Möglichkeit einer Demarche beim Außenminister des Gastlandes für Sonnabend vormittag (7. März) sicherzustellen. Bei der Notifikation, so lautete der Auftrag weiter, sollte der deutsche Schritt mit dem Hinweis auf das russisch-französische Bündnis gerechtfertigt und die Friedensmäßigkeit des deutschen Einmarsches besonders betont werden. Auf den möglichen Einwand, das Reich hätte zumindest die Annahme des Paktes im französischen Senat ab-warten müssen, möge man antworten, daß nach Annahme des Vertrages in der Kammer und im Senatsausschuß mit 19 zu 4 Stimmen die Zustimmung des Senats als sicher vorausgesetzt werden konnte
Das deutsche Memorandum, welches die Maßnahmen begründete und die Friedensvorschläge Hitlers enthielt, wurde am 6. März den deutschen Missionen überbracht. Von Schmieden fuhr als Sonderkurier in der Nacht vom 5. zum 6. März nach Brüssel, wo er den deutschen Geschäftsträger Bräuer informierte. Am Mittag des 6. März reiste er weiter nach Paris. Der dortige Geschäftsträger, Botschaftsrat Forster, erhielt somit erst in der Nacht zum 7. März die Weisung, am folgenden Morgen das Memorandum zu übergeben und den Einmarsch zu notifizieren
Auch die englische Regierung traf der Coup ganz unvorbereitet. Noch zwei Tage zuvor hatten Eden bei einer Unterredung mit Vernon Bartlett (News Chronicle) versichert, er sei wegen der Rheinlandfrage weniger denn je beunruhigt
Auch in Brüssel reagierte man völlig überrascht. Nachdem Bräuer dem Ministerpräsidenten van Zeeland und dem Generalsekretär des Auswärtigen, van Langenhove, von der Aktion Mitteilung gemacht hatte, verharrten beide Herren „längere Zeit in völligem Schweigen". Schließlich antwortete van Zeeland, der deutsche Schritt treffe ihn so unerwartet, „daß er irgendwelche Erklärung nicht abzugeben vermöge . . ."
Während die deutschen Diplomaten in London, Paris und Brüssel den Regierungen Englands, Frankreichs und Belgiens offiziell davon Kenntnis gaben, daß in Deutschland die Locarno-Abmachungen nicht mehr als bindend betrachtet würden, informierte von Neurath zur gleichen Zeit in Berlin die Botschafter Italiens, Englands und Frankreichs. Er empfing sie im Abstand weniger Minuten und übergab ihnen mit einem kurzen Kommentar das vorbereitete Memorandum. Den Vertretern Belgiens, Polens und Ungarns händigte es Staatssekretär von Bülow aus.
Noch eine Stunde zuvor wußte Francois-Poncet nichts Genaues über die Aktion zu berichten, als er mit Flandin telefonierte
Mussolini meinte damit keineswegs den deutschen Einmarsch, sondern vielmehr das damit verbundene deutsche Angebot eines Wieder-eintritts in den Völkerbund. Der Duce sah, so berichtete von Hassell, zwischen dem, was Deutschland forderte bzw. nahm, und dem, was es anbot, „kein Verhältnis". Er vermutete, daß Engländer und Franzosen die Wiederherstellung der deutschen Souveränität in der entmilitarisierten Zone nur mit „dem üblichen Protestgeschrei" beantworten würden. Dagegen würden beide Mächte in dem deutschen Angebot eine Gelegenheit sehen, Deutschland „wieder in ihr altes System einzuspannen". Denn der Völkerbund, der „eine englisch-französisch-russische Erwerbsgenossenschaft" wäre und bliebe, würde hierdurch stabilisiert. Damit kam Mussolini, nachdem er die übrigen Teile des Memorandums kurz gestreift hatte, auf den Kernpunkt des deutschen Angebots zu sprechen. Er erklärte, „daß die an keinerlei Bedingungen geknüpfte Ankündigung, in den Völkerbund zurückkehren zu wollen, gleichbedeutend damit sei, Italien die Waffe aus der Hand zu schlagen. Es sei klar, daß er auf den Genfer Appell jetzt nicht mehr negativ antworten könnte . . . und daß das Hauptargument Italiens in seinem politischen Kampf, nämlich die Drohnung mit dem Austritt aus dem Völkerbund, jeden Wert verloren habe." Von Has-seil versuchte, Mussolini'zu beruhigen. Er versicherte weisungsgemäß, ein möglicher Wiedereintritt Deutschlands in den Völkerbund würde nichts an der bisherigen Haltung des Reiches in der abessinischen Frage ändern. Wenn die anderen Mächte auf das neue deutsche Vertragsangebot eingingen, würden die Verhandlungen darüber doch geraume Zeit in Anspruch nehmen. Italien brauche also mit einem deutschen Wiedereintritt in den Völkerbund frühestens dann zu rechnen, wenn die abessinische Frage bereits ihre Lösung gefunden habe. Zudem könnte das Reich in Genf sein ganzes politisches Gewicht zugunsten Italiens geltend machen. Ferner wies von Hassell auf die mit der Aufhebung der entmilitarisierten Zone verbundene „Entlastungsoffensive" hin, weil sich die Aufmerksamkeit der Welt nicht mehr auf Abessinien, sondern auf den deutschen Vorstoß konzentrieren würde. Außerdem hätte Italien durch die Aufkündigung des Rheinpaktes insofern ein wertvolles Atout erhalten, als die von Deutschland den anderen Mächten angebotene Neuregelung der Rheinlandfrage von der Zustimmung Roms abhängig wäre.
Die Beschwichtigungsversuche von Hassells machten auf Mussolini offensichtlich wenig Eindruck. Für ihn blieb, wie er gegenüber dem deutschen Botschafter betonte, entscheidend, die bisher im Kampf um Abessinien eingenommene Position nicht mehr halten zu können. Er ließ von Hassell in wachsendem Maße erkennen, „daß er dessen Mitteilung als schweren Schlag empfand". Mit den Worten, die neugeschaffene Situation weiter durchdenken zu wollen, verabschiedete sich der Duce und begab sich in den Ministerrat. Nach von Hassells Empfinden hatte der deutsche Schritt wie „ein In-den-Rücken-Fallen in seiner jetzigen schweren Lage" gewirkt. Mussolini zeigte nicht, wie etwa nach dem Dollfuß-Mord, zornige Erregung, sondern eher „eine Art Geschlagenheit". „Mein Gesamteindruck", notierte Botschaftsrat von Plessen, der den Botschafter zum Duce begleitet hatte, „geht dahin, daß Mussolini, ohne direkt ausfallend zu werden, die ihm gemachten Mitteilungen nicht schlechter hätte aufnehmen können, daß er die von uns beabsichtigten Maßnahmen für eine Dummheit hält und sie als einen Verrat an Italien betrachtet."
Bis dahin hatte man in Rom aufgrund der Berichte Attolicos geglaubt, die Möglichkeit eines solchen deutschen Vorgehens ausschließen zu können. Diese Gewißheit resultierte insbesondere aus Äußerungen Hitlers, die er einige Wochen zuvor bei einer persönlichen Unterredung in Berlin mit Professor Manacorda, einem politischen Ratgeber des Duce, getan hatte. Wie Manacorda von Hassell erzählte, hatte Hitler auf die Frage nach einer möglichen Rückkehr des Reiches in den Völkerbund auf den Tisch schlagend ausgerufen: „Niemals, niemals, niemals!" Entsprechend fühlte man sich in Rom ebenso überrascht wie in Paris und Brüssel. Suvich versicherte v. Hassell, mit allen Möglichkeiten gerechnet zu haben, nur nicht mit dem deut-23 sehen Angebot der Rückkehr nach Genf. Noch kurz zuvor hätte er den besorgten Mussolini wegen eines möglichen deutschen Coups „aus vollster Überzeugung beruhigt"
V. Die Bedeutung des deutschen Angebots der Rückkehr nach Genf für Mussolinis Abessinienpolitik
Mit der Gewißheit, Deutschland werde nicht in den Völkerbund zurückkehren, glaubte sich der Duce im Besitz eines wirksamen Mittels gegen mögliche Sanktionsverschärfungen. Er konnte dem Westen mit der Abkehr vom Völkerbund und einer Allianz mit dem Reich drohen, falls solche Pressionen Anwendung finden sollten. Auch durfte er mit Zugeständnissen des Westens in der abessinischen Frage rechnen, wenn man ihn im Falle einer deutschen Verletzung des Status quo für gemeinsame Gegenmaßnahmen gewinnen wollte. Darum versuchte Mussolini, in Paris den Eindruck aufrechtzuerhalten, bei entsprechenden Gegenleistungen würde sich Italien der Fortsetzung der mit den Abmachungen von Rom und Stresa angestrebten Isolierung Deutschlands nicht entziehen.
Der anhaltende Erfolg dieser Taktik wurde durch das deutsche Angebot der Rückkehr nach Genf in Frage gestellt. Denn gingen die Westmächte auf die deutsche Offerte ein, so standen plötzlich alle europäischen Großmächte im Lager des Völkerbundes, den Italien mit seiner Androhung des Austritts dann nicht mehr so nachhaltig wie bisher beeindrucken konnte Jetzt stand Italien die außenpolitische Isolierung bevor, während sich Deutschland durch sein Angebot womöglich von ihr befreite. Die für Italien negativen Konsequenzen einer solchen Entwicklung beschwor Suvich, als er einen Tag nach der deutschen Aktion mit von Hassell zusammentraf. Der Staatssekretär erklärte, nur Frankreich würde die Rücknahme des deutschen Schrittes verlangen, hingegen zeigten die Briten bereits die Neigung, sich den Wiedereintritt Deutschlands in den Völkerbund gerade im Hinblick auf den englischen Konflikt mit Italien nicht entgehen zu lassen. Sie seien darum bemüht, „in (den)
franzöischen Wein Wasser zu gießen"
Diese Reaktion der Engländer machte Mussolinis Vorwurf verständlich, das Reich habe durch die gänzlich unerwartete Bereitwilligkeit zur Rückkehr in den Völkerbund Italiens Politik aufs äußerste erschwert. Der Duce fühlte sich getäuscht, da dieses Angebot im Gegensatz zu den bisherigen deutschen Versicherungen stand. Es brach ihm, wie er selber sagte, die Spitze seiner Waffe ab, mit der er seinen Erfolg in Abessinien gegen die neueste Bedrohung verteidigen wollte.
Diese kam aus Genf. Dort war auf englischen Wunsch am 2. März der Achtzehner-Ausschuß zusammengetreten, um die Frage einer Ausdehnung der Sanktionen auf Kohle, Eisen und Stahl zu prüfen. Man beschränkte sich jedoch auf die Entgegennahme eines Berichts über die Wirksamkeit der bisherigen Sanktionen und wollte offenbar der Frage einer Sanktionsverschärfung nicht nähertreten. Eden erhob Einspruch. Er gab die britische Bereitschaft für ein Olembargo bekannt und betonte, daß sich Großbritannien einer prompten Verhängung der Olsanktion durch diejenigen Staaten anschließen würde, die zu den wichtigsten Ol-produzenten und -lieferanten gehörten.
Die scharfe Sprache Edens überraschte besonders Flandin, den der englische Außenminister erst in Genf von dem am 26. Februar in London gefaßten Entschluß zur Sanktionsverschärfung informierte, um französische Indiskretionen gegenüber Italien zu vermeiden. Eilfertig versicherte Flandin dem italienischen Delegierten Bova Scoppa, von Edens Absicht nichts gewußt zu haben. Edens Forderung, sofort einen Termin für die Verhängung der Olsanktion zu bestimmen, wurde abgelehnt, denn kurz zuvor hatte man in Paris angesichts der italienischen Androhung des Austritts aus dem Völkerbund beschlossen, nicht an Olsanktionen des Völkerbunds teilzunehmen. Dies wollte Frankreich nur dann, wenn England garantierte, notfalls auch allein seinen Verpflichtungen als Locarno-Garant nachzukommen. Diese Bedingung glaubte England jedoch nicht erfüllen zu können. Wieder scheiterte ein entschlossenes Vorgehen am mangelnden Mut der Briten zu Alleingängen und an der Verzögerungstaktik Flandins. Es gelang ihm, Zeit zu gewinnen, indem er seinen Antrag durchbrach-B te, zunächst noch einen Friedensappell an Italien und Äthiopien zu richten. Beide Staaten erhielten am 3. März die Aufforderung, unverzüglich zu Verhandlungen im Geiste und im Rahmen des Völkerbunds zu schreiten, die den Krieg beendigen sollten. Es wurde ihnen auferlegt, den Friedensappell bis zum 10. März zu beantworten.
Der Appell erschien Mussolini als ein Ultimatum, dem er sich nicht beugen wollte, da er ihn als „pistolet sur la gorge” empfand
Diese Waffe der Austrittsdrohung wurde nach römischer Auffassung Mussolini durch das deutsche Angebot aus der Hand geschlagen. Die Folge war, laut Suvich, eine „völlige Änderung" der geplanten italienischen Antwort auf den Genfer Appell. Man strich die ursprünglich beabsichtigten Vorbehalte und erklärte seine grundsätzliche Bereitschaft zu Verhandlungen. Bereits am Nachmittag des 7. März erschienen in Rom Extrablätter, in denen Mussolinis prinzipielle Zustimmung zum Genfer Appell verkündet wurde. Tags zuvor hatte der italienische Botschafter beim Vatikan dortselbst eine Szene wegen eines Artikels im Osservatore Romano gemacht, weil dieser die Annahme der Genfer Empfehlung zu befürworten gewagt hatte.
Festzuhalten ist, daß Hitler Mussolini nicht in das Unternehmen gegen die entmilitarisierte Zone einweihte. Wie von Hassell in seinem Telegramm vom 7. März zugab, unternahm er nach seiner Begegnung am 22. Februar mit Mussolini keinen weiteren diplomatischen Vorstoß in der Locarno-Frage. Bei dieser Unterredung hatte von Hassell aus Vorsicht „nur ganz allgemein von einer irgendwie gearteten deutschen Reaktion auf die Ratifikation des Russenpaktes" gesprochen. Auf eine diesbezügliche Anfrage des jugoslawischen Gesandten verneinte von Neurath ausdrücklich die Existenz eines vor der Aktion zwischen Rom und Berlin getroffenen Abkommens. Italien sei ebenso wie die anderen Mächte überrascht worden; Mussolini habe den deutschen Schritt zunächst sogar als gegen Italien gerichtet aufgefaßt. Bei der Überreichung des Memorandums am 7. März bekannte der Leiter der Politischen Abteilung im AA, Dieckhoff, dem amerikanischen Botschafter Dodd, daß auch die italienische Regierung ebenso wie die übrigen Locarno-Mächte heute zum ersten Mal von diesem Schritt erführe. Attolico versicherte ehrenwörtlich, Hitlers Vorhaben sei nicht mit Italien verabredet worden. Von Hassell bestätigte dies nochmals, als er dem Regierenden Bürgermeister von Hamburg, Krogmann, privat mitteilte, Mussolini sei „sehr ungehalten darüber gewesen, daß der Führer sich bereit erklärt habe, in den Völkerbund einzutreten, ohne ihn vorher zu verständigen". Botschafter Attolico kam mit seiner gegenüber von Bülow gemachten Bemerkung, Mussolini habe die Beseitigung der entmilitarisierten Zone „vorausgeahnt", der Wirklichkeit am nächsten
VI. Die diplomatische Abschirmung des Coups gegenüber dem Locarno-Garanten Italien
Das unvorhergesehene Angebot Hitlers, nach Genf zurückzukehren, erregte von Hassell sehr. Ärgerlich erinnerte er am 9. März von Neurath daran, daß Hitler in den vorausgegan-genen Besprechungen stets die Notwendigkeit der Erhaltung des Faschismus und der deutsch-italienischen Zusammenarbeit im Rahmen des praktisch Möglichen betont hätte. Wollte man dies ernstlich, hielt der Botschafter seinem Minister vor, so müßte in Berlin alles getan werden, um den negativen Eindruck, der durch die Art des deutschen Vorgehens entstanden sei, wieder auszugleichen. In der Tat betrachteten nur die italienische Öffentlichkeit und die militärische Führung die Aktion Hitlers „hundertprozentig freundlich". Sie sahen darin eine Erleichterung der militärpolitischen Lage und hofften, das englisch-französische Interesse werde sich nunmehr stärker auf Deutschland als auf Abessinien konzentrieren. Bei Mussolini indessen überwog von Anfang an „die entsetzte Überraschung“ über das deutsche Angebot, durch das sich, wie General Roatta formulierte, Italien zu Verhandlungen im Geiste des Völkerbundes „gezwungen" sah. Von Hassells Versprechen, Deutschland würde im Völkerbund Italiens Interessen Unterstützen, ließ ihn unbeeindruckt, da, wie er am 7. März äußerte, das abessinische Problem spätestens in fünf bis sechs Monaten erledigt wäre und dann die angebotene Unterstützung für Italien keine machtpolitische Relevanz mehr besäße. Insgeheim fürchtete der Duce sogar die Möglichkeit einer deutschen Unterstützung der Sanktionspolitik, sobald das Reich in den Völkerbund zurückgekehrt war. Sein Mißtrauen wurde zudem durch den Verdacht einer deutsch-englischen Verständigung genährt. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, der Einmarsch ins Rheinland sei mit England vereinbart worden; Hitler habe die Kooperation mit London der mit Rom vorgezogen.
Diese negative Aufnahme des deutschen Schrittes bewog von Neurath zu einem Beschwichtigungsversuch. Er wies von Hassell an, dem Duce mitzuteilen, daß die Reichsregierung zu ganz anderen Ergebnissen gekommen sei als er. Das deutsche Vorgehen begünstige doch Italien in seinem gegenwärtigen Konflikt „ganz ungeheuer". Von Hassells Bild von der Entlastungsoffensive sei absolut zutreffend. Die italienischen Bedenken, durch das deutsche Angebot würde der Völkerbund gestärkt, könnte man in Berlin nicht verstehen. Die deutsche Offerte würde sich angesichts der augenblicklichen Lage nicht zum Nachteil Italiens auswirken, denn die Völkerbundsmächte wären zunächst mit der deutschen Locarno-Kündigung beschäftigt. Zudem würde die Frage einer deutschen Rückkehr nach Genf erst dann akut, wenn vorher eine Übereinstimmung über die übrigen Punkte des Memorandums erzielt worden sei. Er habe auch, fuhr von Neurath fort, Attolico bereits wissen lassen, daß Deutschland selbst nach vollzogenem
Wiedereintritt in den Bund keine italienfeindliche Haltung einnehmen würde. Vielmehr werde dann das Reich ein starkes Gegengewicht gegen „einseitige Präponderanzen", insbesondere gegen die Sowjetunion, bilden. Anschließend stellte der Außenminister von Hassell anheim, bei Mussolini oder Suvich durchblicken zu lassen, daß Italiens Vorgehen im Vorjahr dem Reich gewisse Entlastungen gebracht hätte. Diese seien, wie man in Rom zugeben müßte, in keiner Weise gegen Italien ausgenutzt worden. Vielmehr hätte man es so weit als möglich unterstützt. „Wir gönnten Italien", endete von Neuraths Weisung, „die daraus erwachsenen Vorteile, erwarteten aber unsererseits, daß Italien die Lage nicht gegen uns ausnutze."
Noch am selben Tag ging von Hassell zu Mussolini und trug ihm den Inhalt der Weisung vor. Der Duce gestand zwar eine gewisse Entlastung zu, verharrte aber bei seiner Ansicht, das deutsche Angebot der Rückkehr nach Genf habe der italienischen Position einen „schweren Stoß" versetzt. Von Hassell versuchte, diese Beurteilung mit dem Hinweis zu mildern, der tatsächliche deutsche Wiedereintritt in den Völkerbund läge ja noch „in weitem Felde". Um seinem Argument mehr Nachdruck zu verleihen, bat von Hassell, eine offizielle Zusicherung im genannten Sinne geben zu dürfen. Von Bülow erteilte tags darauf seine Einwilligung, wies von Hassell jedoch an, über die Formel, daß die Rückkehr „wahrscheinlich noch in weitem Felde liegt", nicht hinauszugehen und sich in diesem Punkt nicht festzulegen. Mussolini könnte keine feste Zusicherung erhalten. Von Hassell fragte zurück, ob er wenigstens „authentisch" erklären dürfte, der deutschen Aktion sei keine Absprache mit England vorausgegangen. Damit wolle er einer möglichen Hinwendung Italiens zu Frankreich begegnen; in Rom versuche man nämlich, die deutsche Aktion zum Anlaß dafür zu nehmen, um sich mit Hilfe Frankreichs von den Sanktionen loszukaufen.
Solche Bestrebungen deuteten sich bereits am 8. März an, als Staatssekretär Suvich von Hassell zu verstehen gab, daß Italien als Preis für seine Beteiligung an der Pariser Locarno-Konferenz verlangen würde, von einer Sanktionsverschärfung abzusehen und nicht mehr darüber zu sprechen
Während Rom damit England und Frankreich unter Druck zu setzen suchte, machte man gleichzeitig dem Reich beruhigende Zusicherungen, um eine mögliche deutsch-englische Annäherung zu erschweren. Suvich sicherte von Hassell zu, Italien würde sich auf der zum 10. März nach Paris einberufenen Ministerkonferenz der Locarno-Mächte nur durch seinen dortigen Botschafter vertreten lassen. Dieser würde die besondere Stellung Italiens als eines sanktionierten Landes betonen, sich nur zuhörend verhalten und alle Beschlüsse unter Vorbehalt lediglich entgegennehmen. Von Hassells Frage, ob sich demnach Mussolini an seine Zusicherung vom 22. Februar halten würde, bejahte Suvich. Er knüpfte daran jedoch die Bitte, diese Mitteilung vertraulich zu behandeln. Es müßte der Eindruck vermieden werden, als ob sich der Locarno-Garant Italien mit Deutschland ins Einvernehmen gesetzt hätte. Mussolini bestätigte am nächsten Tag Suvichs Erklärung. Er versicherte von Hassell, dem Pariser Botschafter „strenge Weisung" gegeben zu haben, sich bei der Konferenz der Locarno-Mächte „rein zuhörend" zu verhalten. Ferner habe er bei den Engländern und Franzosen keinen Zweifel darüber gelassen, „daß irgendeine italienische Aktion gegen Deutschland um so weniger in Frage komme, als gegenüber den Erdrosselungsversuchen der Sank-tionisten Deutschland für Italien das einzige offene Fenster gewesen sei". Ein mit Sanktionen belegter Staat würde sich hüten, über ein anderes Land Sanktionen zu verhängen.
„Sanzionisti non sanziano altri."
Mussolinis Kennzeichnung der Sanktionen als Hindernis für die aktive Teilnahme Italiens an den Pariser Verhandlungen war jedoch ebensowenig ein Beweis für eine prodeutsche Einstellung der italienischen Regierung wie Suvichs Bitte um eine vertrauliche Behandlung der Zusicherungen, die der Duce von Hassell am 22. Februar gegeben hatte. Gerade das Ersuchen des Staatssekretärs dürfte in erster Linie deswegen erfolgt sein, um eventuelle Avancen Frankreichs nicht durch eine offene Begünstigung Deutschlands in der Rheinpaktfrage zu erschweren.
Der Versuch, sich der Sanktionen unter Ausnutzung des Locarno-Problems mit Hilfe Frankreichs zu entledigen, stieß jedoch auf den Widerstand Englands, und Mussolini beschloß, zunächst einmal die weitere Entwicklung abzuwarten
Um die Verlockung französischer Zusicherungen zu neutralisieren, ermächtigte das AA von Hassell zu der offiziellen Erklärung, der deutschen Aktion sei keine Fühlungnahme mit England vorausgegangen; die erste Mitteilung darüber sei gleichzeitig an die britische und an die italienische Regierung erfolgt. Außerdem sollte von Hassell versichern, daß das Reich auch nach seinem Wiedereintritt in den Völkerbund keine italienfeindliche Politik treiben würde. Mit. diesem Versprechen wollte man sich in Berlin Mussolinis Zusage erkaufen, bei den kommenden Verhandlungen in London die Sache Deutschlands zu vertreten. Noch war man sich der Sympathien des Duce keineswegs gewiß. Wie Militärattache Fischer treffend urteilte, durfte man auf eine zurückhaltende Stellungnahme Italiens in London hoffen, doch nur so weit, wie die unmittelbaren Interessen Italiens unberührt blieben.
VII. Der deutsche Coup im Schatten des internationalen Abessinienkonfliktes
Sofort nach dem deutschen Einmarsch in die entmilitarisierte Zone rief Frankreich unter Hinweis auf Artikel 4 des Locarno-Vertrags den Völkerbundsrat an. Bevor dieser in Ak-tion trat, hielten Vertreter der sogenannten Rest-Locarno-Mächte am 10. und 11. März eine Konferenz in Paris ab, ohne jedoch zu gemeinsamen Entschlüssen zu kommen. Zu groß waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen England und Frankreich. Nach seiner Rückkehr am 11. März bemerkte Eden in einem Gespräch mit Leopold von Hoesch, „die Verhandlungsatmosphäre sei gestern in Paris so unmöglich gewesen, daß die englischen Vertreter auf (die) Fortsetzung der Aussprache verzichtet und (die) Verlegung derselben nach London durchgesetzt hätten"
Da Deutschland die Zusage erhalten hatte, vor Anhören seines Vertreters erfolge keine Beschlußfassung, konnte man in Berlin die gewonnene Frist dazu benutzen, um Mussolini zu hofieren. Dies erschien um so ratsamer, als Mitte März die Unsicherheit darüber wuchs, ob die englische Regierung, die erwartungsgemäß weit zurückhaltender auf den Vertragsbruch reagiert hatte, nicht doch letztlich der französischen Agitation erliegen würde. Denn Frankreich versuchte, wie Eden Botschafter von Hoesch am 11. März eröffnete, die englische Bindung an seine Verträge „mit allen Mitteln" auszunutzen und England zu einer gemeinsamen Strafaktion gegen das Reich zu bewegen. Mit dem Hinweis auf seine, wenn auch nur zögernde Gefolgschaft im Sanktionskampf gegen Italien pochte Paris ungestüm auf die Einlösung dieses politischen Wechsels in der Rheinlandfrage. Es wollte England unter Heranziehung von Artikel 4 Absatz 1— 2 des Vertrags auf seine Verpflichtung zu sofortiger Hilfeleistung nach der zu erwartenden Verurteilung Deutschlands durch den Völkerbund festlegen. Laut Eden dachte die französische Regierung an eine militärische Unterstützung durch England, das sich indessen mit einer maßvollen Lösung zufriedengeben wollte. Um dafür eine günstige Voraussetzung schaffen zu können, schlug Eden von Hoesch vor, Deutschland solle während der kommenden Verhandlungen einen Teil seiner ins Rheinland entsandten Streitkräfte zurückziehen, nur eine symbolische Besetzung aufrechterhalten und auf dem okkupierten Gebiet keine Befestigungen anlegen. Schon am nächsten Mittag erhielt von Hoesch die telegrafische Antwort aus Berlin. Darin teilte Ministerialdirektor Dieckhoff im Auftrag des Führers mit: „Eine Diskussion über dauernde oder vorübergehende Beschränkung unserer Souveränität in der Rheinlandzone kann für uns nicht in Betracht kommen."
Der negative Eindruck, den dieser Bescheid in London hervorrief, wurde noch durch Hitlers am gleichen Tag in Karlsruhe gehaltene Rede gesteigert, als er ausrief, absolut nichts könnte Deutschland zum Rückzug aus dem Rheinland zwingen. Diese provozierende Ablehnung der englischen Vorschläge leistete naturgemäß einer verstärkten Agitation Frankreichs Vorschub, was wiederum Englands Verhandlungsposition um so mehr erschwerte, als von Hoesch erneute Kompromißvorschläge als gänzlich aussichtlos ablehnen mußte
Damit sah sich London vor die Alternative gestellt, entweder seine Pflicht zu sofortiger Hilfeleistung im Anschluß an die Verurteilung Deutschlands zu erfüllen oder nach französischer Auffassung vertragsbrüchig zu werden. Im zweiten Falle mußte mit der endgültigen Abkehr Frankreichs vom System der kollektiven Friedenssicherung gerechnet werden, was England als führende Völkerbundsmacht nicht wünschen konnte. So schien sich eine Entscheidung Englands zugunsten Frankreichs anzubahnen, als Marineminister Monsell von Hoesch zu verstehen gab, die englische Regierung könnte gegenüber dem Reich unmöglich eine andere Haltung einnehmen, nachdem sie ihre Politik im Sanktionskampf gegen Italien bereits auf die strikte Erfüllung ihrer Vertrags-pflichten festgelegt hätte. Diese Eröffnung beeindruckte den deutschen Botschafter so tief, daß er die kommende Entwicklung als „überaus ernst" beurteilte. Das gemeinsame Telegramm der drei Waffenattaches vom selben Tag unterstrich die sich für Deutschland anbahnende bedrohliche Situation. Der in Berlin aufgenommene Telegrammtext lautete in seinem wichtigsten Teil: „Militär-, Marine-und Luftattache haben nach gemeinsamer sorgfältiger Prüfung hiesiger politischer Entwicklung zu melden, daß Lage als außerordentlich ernst anzusehen ist. Sehr ungünstige Entwicklung innerhalb weniger Tage ist möglich."
Angesichts des ungewissen Ausgangs der englisch-französischen Konsultationen hielt man in Berlin eine Rückversicherung bei Mussolini für ratsam. Alles mußte vermieden werden, was den Duce noch tiefer verstimmen konnte. Die Presse bekam die Anweisung, keine negative Kritik an Italien zu üben, obgleich es am 12. März der Verurteilung des Reiches durch die übrigen Locarnomächte zugestimmt hatte. Die Fortsetzung von Zeitungsartikeln, in denen auf die unangenehmen Folgen des deutschen Angebotes der Rückkehr nach Genf für die italienische Außenpolitik hingewiesen wurde, verbot man sofort, als sich Suvich über solche Berichte beschwerte. Den Journalisten wurde befohlen, keinerlei Kommentierung der italienischen Haltung vorzunehmen. Sie sollten besonders darauf achten, in den Eigenberichten ihrer Zeitungen aus London keine abträglichen Stellungnahmen über die dortige italienische Haltung durchschlüpfen zu lassen. Diese Sprachregelung galt ebenso für die redaktionelle Behandlung des abessinischen Krieges, denn Mussolini war in dieser Frage sehr empfindlich, wie z. B. Attolicos Beschwerde über den Leitartikel der Frankfurter Zeitung vom 13. März bewies. Mit Bezug auf den darin behandelten Unterschied zwischen der deutschen Besetzung der entmilitarisierten Zone und der italienischen Eroberung abessinischen Gebietes riet der Italiener, solche Vergleiche besser nicht anzustellen. Mussolini wäre immer noch über die deutsche Bereitschaft verstimmt, dem Völkerbund beizutreten.
Von Neurath suchte bei dieser Begegnung Haltung Attolico, beabsichtigte die mit Italiens auf der Londoner Konferenz zu erkunden Attolico ihm auf entsprechende eine Frage von einer Instruktion für Grandi Kenntnis, wonach dieser dem Rat erklären sollte, daß Italien als sanktioniertes Land keiner Maßnahme zustimmen könnte, sei sie auch nur moralischer Natur, welche den Weg zur Anwendung von Sanktionen eröffne. Auf von Neuraths Bemerkung, Italien würde demnach wohl im Rat gegen einen eventuellen Sanktionsbeschluß stimmen oder sich der Stimme enthalten, reagierte der Botschafter indessen ausweichend. Von Neuraths mißtrauische Frage, ob nicht bereits italienisch-französische Abmachungen über eine wechselseitige Unterstützung in der Abessinien-und in der Rheinlandfrage bestünden, verneinte Attolico jedoch.
Vier Tage später traf in Berlin ein Telegramm von Hassells ein, das Attolicos Aufrichtigkeit in Frage stellte. Nach zuverlässigen Informationen, so hieß es darin, seien französische Bestrebungen zu beobachten, Mussolini unter Ausnutzung seiner Furcht vor einer deutsch-englischen Annäherung gegen das Reich aufzustacheln. Tags darauf unterstrich von Hassell in einem Privatbrief an von Neurath abermals diese Tendenz. Noch am 24. März äußerte sich der Botschafter zu Kanya besorgt über das Mussolini gemachte Angebot Frankreichs, „französische Hilfe zur Abschaffung (der) Sanktionen durch (eine) entsprechende Zusage in Richtung Stresa zu erkaufen Generalmajor Fischer schloß am 18. März seinen Lage-bericht mit dem Eingeständnis, daß es bei den verschiedenen politischen Strömungen in Rom nicht mit Sicherheit vorauszusagen sei, ob das italienische Pendel zuletzt nach Berlin oder Paris ausschlagen würde
In dieser Ungewißheit reiste die deutsche Delegation am 18. März nach London. Von Schmieden war einen Tag zuvor von Genf aus vorausgeflogen, um die technischen Vorbereitungen zu treffen. Als ehemaliger Völkerbundsbeamter wurde er von Generalsekretär Avenol und Untergeneralsekretär Azcarate freundlich empfangen. Dank ihrer Vermittlung erreichte von Schmieden beim Ratspräsidenten Bruce eine Änderung des geplanten Verfahrens, wonach im Anschluß an von Ribbentrops Rede sofort abgestimmt werden sollte. Von Schmieden erreichte es, die Abstimmung erst in einer getrennten Sitzung am Nachmittag des 19. März vorzunehmen. Mit dieser Modifizierung des Verfahrens hoffte das AA, einer möglichen Krise vorzubeugen, die durch „eine unberechenbare Reaktion Ribbentrops" (v. Schmieden) hervorgerufen werden konnte. Eine solche psychologische Vorsichtsmaßnahme war durchaus angebracht, wie von Ribbentrops Benehmen nach der Abstimmung zeigte. Als Eden auf ihn lächelnd zuschritt und ihm die Hand entgegenstreckte, tat von Ribbentrop, als habe er nichts bemerkt und verließ mit eisiger Miene den Saal
Eine Begegnung von Ribbentrops mit dem italienischen Botschafter Grandi fand vor der entscheidenden Sitzung nicht statt
Italien schloß sich am 19. März der Verurteilung Deutschlands an, ohne Berlin vorher von dieser Absicht zu informieren. Obgleich der Entschluß des Duce schon am 11. März feststand, ließ es Suvich am 14. März gegenüber von Hassell mit dem Hinweis auf die Möglichkeit einer negativen Entscheidung bewenden. Von Bülow zeigte sich gegenüber Attolico sehr befremdet und monierte vor allem die italienische Zustimmung zum Resolutionsentwurf der Locarno-Mächte, der zur endgültigen Regelung der deutschen Rechtsbeugung dienen sollte. Attolico versuchte, den negativen Eindruck von Bülows mit der Versicherung zu mildern, daß die italienische Zustimmung nur „ad referendum" erfolgt sei, und das Reich „absolut" davon überzeugt sein dürfte, daß sich Italien an Sanktionen nicht beteiligen würde. Ähnlich reagierte Suvich auf die Vorhaltungen von Hassells. Die Feststellung der faktischen Vertragsverletzung, behauptete Suvich, sei unvermeidbar gewesen. Es habe keine „technische Möglichkeit" gegeben, den Locarno-vom Versailler Vertrag zu trennen. Einen Bruch des letzteren habe der Führer ja nicht geleugnet und nur auf diesen habe Grandi in seiner Rede am 18. März Bezug genommen.
Diese Versicherung war um so wertwoller, als der Resolutionsentwurf in der Tat für Deutschland äußerst unangenehme Vorschläge enthielt. So besagte etwa der Artikel II, daß die deutsche Regierung durch ihre einseitige Maßnahme keine legalen Rechte erworben hätte und dem Internationalen Haager Gerichtshof ihre Argumente, aus denen sie die Unvereinbarkeit des französisch-russischen Beistandspaktes mit dem Locarno-Vertrag herleiten wolle, unterbreiten müßte. Während der darauffolgenden Verhandlungen dürfte das Reich keinerlei Befestigungen in der okkupierten Zone anlegen und keine Truppenverstärkungen vornehmen. Zur Kontrolle möge für die Dauer der Beratungen auf dem umstrittenen Gebiet ein internationales Truppenkontingent stationiert werden. Nach Artikel III sollten die Locarno-Mächte (ohne Deutschland) ihre Generalstäbe zu sofortigen Beratungen darüber anweisen, wie sie im Falle eines un-provozierten Angriffs ihre Verpflichtungen technisch am besten erfüllen könnten. Obendrein hatte Flandin in der französischen Kammer erklärt, Grandi habe nicht nur der Resolution zugestimmt, sondern darüber hinaus habe auch seine persönliche Haltung immer das Gepräge freimütigster Freundschaft getragen.
Mussolini fühlte sich aus einem noch zu nennenden Grund bemüßigt, die negative Reaktion Berlins auf die italienische Haltung in London zu mildern. Am Morgen des 21. März rief er persönlich Attolico an und schickte ihn mit „beruhigenden" Anweisungen in die Wil-B helmstraße. Dort teilte Attolico von Bülow mit, Grandi sei zu der Erklärung ermächtigt worden, daß Italien sich „in Sachen Memorandum vollkommen frei fühle" und sich eine endgültige Stellungnahme vorbehalte. Wenn der deutschen Regierung, fügte der italienische Botschafter hinzu, an einem gemeinsamen Vorgehen mit Italien gelegen sei, möge man ihn davon rechtzeitig unterrichten. Er bat, dies dem Führer mitzuteilen und die italienische Botschaft über die weiteren deutschen Maßnahmen auf dem laufenden zu halten.
In Berlin wurde das italienische Angebot sofort geprüft. Noch am selben Tag wies von Neurath von Hassell an, Mussolini möglichst schnell, in jedem Fall bis Montag mittag, aufzusuchen und ihm im Auftrag des Führers mitzuteilen, daß Deutschland den meisten der im Londoner Memoradum enthaltenen Vorschlägen nicht zustimmen könne. Es wäre darum begrüßenswert, wenn Italien bei nächster Gelegenheit auch seinerseits gegen die Resolution Stellung nehmen würde. Immerhin hätte das Reich Italien im Abessinienkonflikt durch „wohlwollende Neutralität" gewisse Dienste geleistet
Zwar empfing der Duce den deutschen Botschafter erst am Abend des 23. März, gab ihm aber beruhigende Zusagen. Mussolini versprach, die italienische Stellungnahme zum Resolutionsentwurf in jedem Fall mit Hitler abzustimmen und sich an keinen antideutschen Maßnahmen zu beteiligen. Grandi würde entsprechende Anweisungen bekommen.
Mussolini hielt sein Versprechen. Am 24. März mußte der Völkerbundsrat feststellen, daß Italien den Resolutionsentwurf noch nicht unterzeichnet hatte. Die offizielle Beratung mußte demgemäß ausgesetzt werden.
Mussolini hatte guten Grund für diese deutsch-freundliche Haltung, denn Mitte März war es klargeworden, daß London seine bisherige Sanktionspolitik fortzusetzen beabsichtigte. Als am 23. März auf Betreiben Englands der Dreizehner-Ausschuß zusammentrat, um über die Wiederholung des Friedensappells vom 3. März und die Beendigung des Krieges zu beraten, erhöhte sich Mussolinis Glaube an die Feindschaft der Briten. Er rechnete mit einem verstärkten Widerstand Englands in der abessinischen Angelegenheit, sobald die Rheinlandfrage geklärt worden war. Neben einer freundlicheren Haltung gegenüber Berlin erschien ihm daher eine schnelle Entscheidung in Abessinien als beste Lösung, um englischen Pressionen auszuweichen. Noch stand die Rheinlandaffäre zu sehr im Vordergrund des europäischen Interesses, als daß man in Rom sofortige Sanktionsverschärfungen erwarten mußte.
Die gewonnene Frist suchte man mit der Taktik listigen Zauderns zu verlängern. In bekannter Manier wurden sowohl den Franzosen als auch den Deutschen verheißungsvolle Avancen gemacht, die sich gegenseitig neutralisierten. So versicherte am 24. März Attolico von Neurath, das Reich brauche keine italienische Beteiligung an irgendwelchen antideutschen Maßnahmen zu befürchten. Tags darauf schrieb Aloisi jedoch in sein Tagebuch: „Chambrun a ete reu par Mussolini, ä qui il a pose la question du maintien des accords de Locarno, en ce qui nous concerne. Mussolini a d-veloppe notre point de vue et a dit que si la France leve les sanctions, nous l'appuierons. Cette declaration du Duce est en Opposition radicale avec les assurances dj donnees par lui ä l’Allemagne. C’est Fhabituel Systeme."
Wie nicht anders zu erwarten, führten die Gespräche Madariagas zu keinem Ergebnis. Doch in London wollte man nicht resignieren. Der siegreiche italienische Vormarsch, die Anwendung von Giftgas gegen die Abessinier, die Erfolglosigkeit aller Friedensbemühungen und das verblassende Prestige des Völkerbundes erregten die englische Öffentlichkeit. „Mieux vaut prevenir", beschrieb Aloisi am 3. April die antiitalienische Stimmung, „car il se forme en Angleterre, ä propos de notre bombarde-ment de Harra, une atmosphere trs favo-rable envers nous et dj Fon chuchote que des repercussions pourraient se produire analogues ä celles de Fachoda." Unter diesem moralischen Druck — schließlich hatten die Konservativen erst im November mit ihrem Bekenntnis zum Völkerbund die Parlamentswahlen gewonnen — schlug die Regierung vor, der Völkerbund möge einen letzten Friedensappell erlassen. Sollte er abgelehnt werden, sei der Sanktionsausschuß einzuberufen. Als diese Absicht Londons in Genf bekannt wurde, ließ Aloisi wissen, daß er an den für den 10. April vorgesehenen Beratungen der Rest-Locarno-Mächte über den deutschen (1. April) und französischen Friedensplan (8. April) nicht teilnehmen würde, falls die Forderung nach Einberufung des Sanktionsausschusses bestehenbliebe. „Au comite de sanctions", notierte Aloisi die Anweisung des Duce, „je devrai faire une däclaration energique (en regardant Eden dans les yeux, a prcis Mussolini) pour enoncer que les dernieres manifestations offi-cielles de l'Angleterre avait accuse une ten-dance ä exclure l'Italie de la Cooperation europeenne. Je devrai dire que l’Italie, qui s'est toujours maintenue fidele ä ses engagements, avant d’en prendre de nouveau qui peuvent comporter des risques, a le devoir de s'assurer que la Cooperation italienne, facteur essentiel de paix dans le passe et sans laquelle on ne peut reconstruire l’europe, est voulue par les puissances garantes. En ce cas, eile continuera ä collaborer tandis que, dans le cas contraire, eile se reserve de reconsiderer sa politique."
Die Vorbehalte Italiens bei den Besprechungen der Rest-Locarno-Mächte und seine Ablehnung, sich an den am 19. März vereinbarten Besprechungen der Generalstäbe zu beteiligen, waren somit keineswegs Ausdruck einer pro-deutschen Option Mussolinis in der Rheinland-
Affäre. Die offen eingestandene Priorität der Abessinienfrage beweist, daß Mussolinis Zurückhaltung bei den Locarno-Beratungen in erster Linie von der Absicht bestimmt war, den italienischen Vorstellungen bei der Erledigung des Abessinienkonfliktes in London und Paris Nachdruck zu verleihen. Die drohende Möglichkeit eines deutsch-italienischen Zusammengehens sollte im Westen den Reiz des italienischen Versprechens erhöhen, die europäischen Probleme im Geist der römischen Abmachungen vom Januar 1935 zu lösen, sobald die Sanktionsfrage im italienischen Sinne erledigt war. Diese verlockende Zusage gab der Duce dem französischen Botschafter am 18. April ebenso freimütig wie die Versicherung, sich um eine Besserung seines Verhältnisses zu England bemühen zu wollen. „Je m’emploirai par tous les moyens ä ce rapprochement et rien ne sera negliger pour y parvenir."
Im Anmerkungsteil wurde auf folgende gedruckte Literatur Bezug genommen:
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