L Einsichten und offene Fragen
Einsichten und offene Fragen bezüglich der politischen Bildungsarbeit lassen sich unmittelbar aus Erfolgskontrollen, aus Pädagogen-diskussionen, aus Reformforderungen und aus Protestaktionen der Jugend entnehmen.
Wenn es darum geht, in einem so komplexen Unternehmen, wie es die Erziehung des Menschen durch Menschen darstellt, festgestellte Mängel, partielle Mißerfolge zu erkennen und zu beheben, so liegt es nahe, daß jeder verantwortlich Beteiligte sich zunächst darum bemüht, dem Manko von sich aus, etwa mit zusätzlichen Versuchen oder veränderten Methoden, beizukommen, hierbei auch Erfahrungen anderer benutzend, sich intuitiv an verborgene Probleme herantastend und so dem oft bewährten Trial-and-error-Verfahren vertrauend. Man könnte sich aber auch den Kurarzt zum Vorbild nehmen, der es sich zum Prinzip gemacht hat, mit einer gründlichen Gesamtdiagnose seines Patienten zu beginnen; das ist in der Pädagogik nicht üblich, scheint aber für die Erziehung zum verantwortlich denkenden Staatsbürger nicht unangebracht zu sein. Der Politpädagoge würde versuchen, den Herd oder die Herde, die für Fehlreaktionen der „Zöglinge" verantwortlich zu machen sind, einzukreisen, wobei er registrieren könnte, zu welchen Teilerfolgen die. bisherige Therapie bzw. Didaktik bereits geführt, wo diese noch versagt hat und welche Dysfunktionen oder Insuffizienzen vielleicht noch gar nicht entdeckt worden waren.
Mir scheint, man sollte mit dem Unternehmen „politische Bildungsarbeit", das offenbar viel mehr Unbekannte enthält als man sich gemeinhin vorstellt, in eben diesem Sinne verfahren: Man sollte sich eine möglichst umfassende Klarheit darüber verschaffen, was bei Schülern, die an verantwortliches selbständiges Denken über soziale und politische Fragen herangeführt und darin geübt werden sollen, bereits an Vorstellungen, Vor-Einstellungen, Vorweg-Wertungen, kurz: an Resonanzprädispositionen vorgegeben ist; manches hiervon ist sicher ganz anders, als der Lehrer es annimmt, wenn er — den ihm gegebenen Richtlinien folgend — vertrauensvoll mit der Erfüllung seines Lehrplanes einsetzt. Zu dem relativ chronisch Vorgegebenen kommt noch das aktuell Bewirkte: Einstellungsänderungen infolge der Protestaktionen.
Solche Diagnosen sind notwendig, wenn man Fehlentwicklungen immer rechtzeitig durchschauen und die Didaktik dementsprechend mit überzeugenden Erkenntniszielen und adäquaten Methoden wirksam machen will. Mit anderen Worten: Diagnostische Psychologie sollte in der jetzigen Situation helfen, wirkungsverfehlende Stellen in den Bildungsbemühungen aufzudecken und — soweit es möglich ist — Hinweise zu liefern, wie das Bildungsziel — also: der mitverantwortlich denkende Demokrat — erfolgreicher als bisher erreicht werden könnte. Bei Nennung dieses Bildungsziels als „des" zentralen erscheint eine Begründung nötig, denn es liegt nahe, zu fragen, ob von dem durchschnittlichen Bürger denn überhaupt erwartet werden kann, daß er „mitverantwortlich" an den Fragen der Politik teilnehme. Man fordere von ihm allenfalls ein gewissenhaftes Votum bei Wahlen, — aber ob hierfür das große Wort „mitverantwortlich" nicht schon zu hoch gegriffen sei, darüber ließe sich streiten. Mit Recht schrieb kürzlich Dieter Grosser in seinem Aufsatz „Linksradikale Demokratiekritik und politische Bildung": „Eine Erziehung, die die aktive und ständige Teilnahme des Bürgers an der Politik als Ideal hinstellt, muß notwendig scheitern. Sie überschätzt die Motivation des Durchschnittsbürgers, politisch aktiv zu werden, und zugleich die Wirkungschancen, die ein modernes politisches System bietet."
Doch zurück zur „kurärztlichen" Diagnose vor und während der „Therapie": Zum Teil ist sie bereits dadurch geleistet worden, daß im Laufe der Nachkriegsjahre verschiedene psychologisch-pädagogische Einsichten typischer Art gewonnen und vorgetragen worden sind; sie reichen aber, wie sich aus Bewährungskontrollen nicht ergibt, bei weitem aus und werden insbesondere nicht den inzwischen zum Vorschein gekommenen, nicht erwarteten Reaktionsweisen vieler Jugendlicher und Heranwachsender gerecht. In Pädagogenkreisen hat sich daher schon eine gewisse Ratlosigkeit bemerkbar gemacht. Man muß also die gewonnenen Einsichten erneut in Frage stellen oder doch zumindest versuchen, sie an den unerwarteten Reaktionsweisen der jungen Menschen zu überprüfen. Dann könnten sich einige Lücken oder noch nicht genügend durchschaute Wirkungszusammenhänge in der Psyche der Schüler herausstellen — Zusammenhänge, die besonders zu beachten ratsam erscheint.
Im Hinblick auf diese These sei der folgende Aufsatz mit einer kurzen Aufzählung solcher Einsichten begonnen, über die sich im Laufe der letzten Jahre ein gewisser Konsensus entwickelt oder doch sich angebahnt zu haben scheint; dabei wird es nicht zu vermeiden sein, neben weniger selbstverständlichen Erkenntnissen auch manches Triviale zu wiederholen. 1. Erkenntnisse aus Ergebnissen des Politikunterrichts — Kenntniserwerb, Informiertheit an sich stellt nur einen Teilfaktor politischer Bildung dar und führt nicht notwendig zu demokratischer Haltung. Geschaffen wird dadurch nur eine der unerläßlichen Voraussetzungen für politische Einsichten.
— Die Schulung der allgemeinen Denk-und logischen Urteilsfähigkeit hat zwar große Bedeutung für die Entwicklung selbständigen politischen Denkenkönnens, jedoch führt dieses Können noch nicht unbedingt zur Bereitschaft, sich demokratisch mitverantwortlich zu engagieren.
— Die Verfügung über logische „Einsichten" in sozialstrukturelle und politische Wirkungszusammenhänge stellt eine weitere wesentliche Voraussetzung, eine geistige „Prädisposition", aber ebenfalls noch kein notwendig aus-B lösendes Moment für demokratisch mitverantwortliches Engagement dar. — Einsichten in die mögliche Rollenbedeutung der eigenen Person innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen kann entsprechende Aktivität nahelegen. Sofern diese ausgelöst wird, ist aber noch zu unterscheiden, ob die motivierenden Momente vornehmlich das Interesse des Ichs oder auch das Beste des Gemeinwesens im Blick haben. — Auch die Einsicht in persönliches, subjektives Mit-betroffen-Sein von einem aktuellen politischen Geschehen gewährleistet noch kein Dauerinteresse; dieses kann ichbezogen und vorübergehender Natur sein, ohne daß es sich dauerhaft im Sinne einer demokratischen Mit-verantwortung für das gesellschaftliche Ganze auswirkt. — Auch die Weckung von Erkenntnisinteresse für objektive politische Zusammenhänge und Schicksalsfragen des eigenen Volkes kann eine Tür zu innerem politischen Engagement öffnen, braucht es aber nicht unbedingt. „Interessant" für Jugendliche pflegt einmal dies, einmal jenes Problem zu sein; Erkenntnisinteressen kommen und vergehen. — Ein erzieltes (verbales) Bekenntnis zur Demokratie als relativ beste Ordnungsform läßt nicht unbedingt auf einen Erfolg im Sinne der politischen Bildungsbemühungen schließen; es kann oberflächlich, aber auch opportunistisch motiviert sein. — Die Methode des psychologischen Werbens, des Schmackhaftmachens — hier also zugunsten einer Zustimmung zu dem bei uns geltenden Gesellschafts-oder Staats-„System", etwa durch Sinnfälligmachen des freiheitlichen Geistes und verschiedener Vorzüge des Grundgesetzes —, stößt, wie man erfahren hat, bei mißtrauisch gewordenen Jugendlichen auf Widerspruch, Verdächtigung und Abkehr; das geltende gesellschaftliche „System", in welchem das Mißverhältnis zwischen Privilegierten und Benachteiligten unüberwindbar und für alles Unbehagen in die Sündenbockrolle gezwängt erscheint, hat bei Jugendlichen kaum noch Chancen, vorurteilslos attraktiv zu wirken. Ein Sich-Identifizieren mit dieser Grundgesetz-Demokratie könnte — so reagieren viele von ihnen — als subalterne Anpassung, als Konformismus, als Unterstützung egozentrischer Interessen der „Herrschenden" ausgelegt werden. — Kritiklust bzw. Kritiksucht der Heranwachsenden kann das Unterrichtsgespräch immer befruchten — sinnvoll aber nur dann, wenn neben der Fremd-und Sachkritik auch die Selbstkritik psychologisch ermöglicht und systematisch mitgeübt wird. Dieser Teil des Politik-unterrichts scheint bisher noch viel zu kurz gekommen zu sein.
Ob also Einsichten in soziologisch-politische Zusammenhänge, in Rollenbedeutung und in persönliches Mitbetroffensein bereits ausreichen, um Verpflichtungsgefühle gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen auszulösen, ist keineswegs sicher; auf sichere Erfolgswirkung konnten auch die weiter genannten Unterrichtsmethoden nicht unbedingt bauen. So kommt man offensichtlich nicht darum herum, sich stärker als bisher darüber Gedanken zu machen, welche zusätzlichen Impulse ausgelöst werden könnten, um zu erreichen, daß das vorausschauende, jederzeit ansprechbare Verantwortungsdenken geweckt und entfaltet wird.
Dieses Sonderproblem macht andere Kritiken, die geübt zu werden pflegen, nicht hinfällig (wie an dem Ungenügen schon der für verantwortliches Denken und Handeln erforderlichen instrumentellen Voraussetzungen: Informiertheit, Urteilsfähigkeit, verschiedene Einsichtskomplexe usw.).
Die Attitüde des Belehrens (geschweige des Ermahnens oder Appellierens) bewährte sich im Politikunterricht auf die Dauer nicht. Man hat bestätigt gefunden, daß auch und gerade in diesem Unterrichtsbereich das Selbsterarbeitungsprinzip (Pestalozzi, Gaudig) von besonderer Bedeutung ist. Das tritt neuerdings verstärkt durch den lauten Emanzipationsanspruch der Jugend in Erscheinung.
Viele junge Leute, besonders unter den Protestierenden, brillieren durch gekonnte Dialektik. Intelligentes Denken, besonders das spekulativ-analysierende, haben sie zum Teil hervorragend gelernt
Verantwortungsdenken tut sich gern als soziales Denken kund: Entrüstet verweist man auf die Notlage benachteiligter Volksgruppen oder Fremdvölker, hierdurch allen realistischen Gegenargumenten ein moralisches Defizit unterstellend. Wirkliches Verantwortungsdenken reicht indessen über bloß karitative Motivationen hinaus. Es hat auch noch andere Bedenken zu berücksichtigen, es grübelt über Möglichkeiten und über Harmonisierungen berechtigten Ambivalenzen. von Nicht die Entrüstungs-, sondern die Sorgenfalten auf der Stirn deuten auf verantwortliches Denken hin. Den aufgezählten Erkenntnissen aus Ergebnissen lassen sich noch ein paar Punkte hinzufügen: — Die Erfolgsberichte über Modellversuche, Demokratie im schulischen Bereich übungsweise zu praktizieren, etwa in Form der SMV (Schülermitverwaltung bzw. Schülermitverantwortung), sind uneinheitlich, über ihre erzieherische Transferwirkung in Richtung auf dauerhafte.demokratische Bewußtseinsbildung, auf Verantwortungsbereitschaft im sozialen und politischen Bereich läßt sich daher noch nichts Endgültiges aussagen. — Ein großer Teil der Jugend verhält sich nach wie vor politisch indifferent und gleichgültig oder skeptisch-passiv, den wahrgenommenen Protestaktionen zum Trotz. — über das „richtige" Demokratieverständnis und über die Realisierungsmöglichkeit von Demokratie bestehen nach wie vor Meinungsverschiedenheiten unter den Pädagogen und Unklarheiten besonders unter den Jugendlichen. Neben den Aufklärungsbemühungen des Politikunterrichts wirken sich zahlreiche außerschulische Auslegungsversuche aus.
Zu dieser allgemeinen Lagebeurteilung gehört schließlich noch die Feststellung: Politisches Engagement ist zwar bei einem erheblichen Teil der Jugend ausgelöst worden, indessen geht dieser Erfolg (soweit man es so bewerten darf) hauptsächlich auf außerschulische Stimulantien zurück, die mit den Leitgedanken der bisherigen politischen Bildungsarbeit nur wenig harmonieren. Die Frage ist freilich, ob sich die Motivationen, die den erwachten Emanzipationsanspruch der Jugend nähren, nun nicht doch mit den Bildungsintentionen des Politik-unterrichts so abstimmen lassen, daß das demokratische Prinzip statt durch destruktive Aktionen behindert, im Gegenteil weiterentwickelt wird.
Es ergeben sich daraus viele aktuelle Einzelfragen: 2. Aktuelle Fragen -— In welchem Umfange beruht das politische Engagement protestierender Jugendlicher und Heranwachsender auf sachlich erarbeiteten Überzeugungen, in welchem Umfang auf unkritischer Mitlaufsolidarität?
— Wie entstand Gefolgschaft, welche Beeinflussungsmittel wirkten am erfolgreichsten, welche weniger erfolgreich?
— Inwieweit wirkten persönliche Erfahrungen beim Entstehen „revolutionärer" Einstellung mit? Inwieweit Frustrationen? Welcher Art sind diese?
— Inwieweit stehen den Protestierenden konkret formulierbare Konzepte einer vermeintlich besseren Demokratie vor Augen? Wie formulieren sie sie bzw. wie rechtfertigen sie den Verzicht?
— Sofern man sich mit „Reformen" zufrieden geben würde: Wie sähe — im Schnitt — eine Dringlichkeitsliste aus?
— In welchem Umfang und in welchen Formen manifestiert sich der allgemeine Selbstbestätigungsdrang Jugendlicher auf politischem und sozialem Feld?
— Lassen sich Divergenzen feststellen zwischen einerseits provozierten „Meinungs" -äußerungen (subjektiv ehrlichen Überzeugungsaussagen) und andererseits un-oder vorbewußten Grundeinstellungen? Welche solcher Divergenzen sind relativ häufig?
— Aus welchen Erfahrungsquellen erfuhr bei der protestierenden Jugend insbesondere die „antiautoritäre" Parole hauptsächlich ihre Nahrung?
— Welche konkrete Vorstellung verbinden die Jugendlichen im einzelnen mit ihrer „Emanzipations" -forderung? — An welches Verantwortungsfeld denken die Jugendlichen am ehesten, wenn sie auf die politische Mitverantwortung ihres Handelns hin angesprochen werden? Wofür mitverantwortlich? — Vermögen Jugendliche und Heranwachsende eine Einstellung zu internalisieren, die politische Mitverantwortlichkeit als allgemeines Haltungsprinzip (also auch ohne konkret gegebenen Mitverantwortungsfall oder -bereich) beinhaltet?
Soweit — zur Einleitung — einige triviale und ein paar nicht so triviale Einsichten und Fragen, wie sie sich aus verschiedenen Erfolgs-kontrollen und Beobachtungen der politischen Bildungsarbeit und aus den Manifestationen einer revoltierenden Jugend aufdrängen. Es fragt sich nun, ob daraus neue Gesichtspunkte für die Problematik der Ziel-und Methoden-didaktik des Politikunterrichts und für die pädagogisch-psychologische Forschung — und vielleicht auch für ein revidiertes Demokratieverständnis — abgeleitet werden können.
II. Folgerungen für die Zieldidaktik
Berichtigung In dem Beitrag von Hans Jörg Sandkühler „Hegel-Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft" in der Beilage B 34/70 finden sich durch ein Versehen bei der Drucklegung, das der Autor nicht zu vertreten hat, einige, z. T. sinnentstellende Fehler, die wie folgt zu berichtigen sind: 1. S. 12, Sp. 2, Zeile 21: statt „Maximierung" richtig: „zur Maximierung" 2. S. 15: Zwischentitel richtig: „Der Begriff der Philosophie" 3. S. 15, Sp. 1, Zeile 18: statt „ 1880" richtig „ 1800" 4. S. 16, Sp. 2, Zeile 25 ff碑@
Berichtigung In dem Beitrag von Hans Jörg Sandkühler „Hegel-Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft" in der Beilage B 34/70 finden sich durch ein Versehen bei der Drucklegung, das der Autor nicht zu vertreten hat, einige, z. T. sinnentstellende Fehler, die wie folgt zu berichtigen sind: 1. S. 12, Sp. 2, Zeile 21: statt „Maximierung" richtig: „zur Maximierung" 2. S. 15: Zwischentitel richtig: „Der Begriff der Philosophie" 3. S. 15, Sp. 1, Zeile 18: statt „ 1880" richtig „ 1800" 4. S. 16, Sp. 2, Zeile 25 ff碑@
Oder wenn man hin und wieder liest, man müsse den jungen Menschen — angesichts eines „erschreckenden Leitbild-Vakuums“ — nur oder vor allem Leitbilder, und zwar neue, vorsetzen oder anbieten oder wenigstens nahebringen, sie ihnen plausibel machen, so daß sie sich weltanschaulich-normativ an irgend etwas „gebunden" fühlen könnten, weil nur aus einer so erzielten sittlichen „Bindung" (an Glaubenssätze, Sinndeutungen, Verheißungen) das notwendige demokratische Verpflichtungsgefühl erwachsen könne
Selbst wenn man unmittelbar auf das Ziel „Eingewöhnung demokratischer Verhaltensweisen" hinzuarbeiten glaubt, indem man entsprechende Spielregeln sich einüben läßt, kann man dieses Ziel schon deshalb verfehlen, weil Eingeübtes einerseits und Autonomes, also zentral Motiviertes, andererseits gerade dann weit auseinanderklaffen können, wenn es daraus besonders ankommt.
Da in den letzten Jahren alles Normative im Politikunterricht bzw. in der Gemeinschaftskunde — weil „ideologieverdächtig" oder „repressionsverdächtig" oder angeblich auf „blinde Anpassung" an diese „autoritäre Leistungsgesellschaft" abgestellt — ins Schwimmen geraten ist, liegt es nahe, den Emanzipationsanspruch der Jugend als wesentlichstes didaktisches Ziel verstärkt ins Auge zu fassen. Das kann nicht schwer fallen, da Selbstverantwortung, allen Gegenbehauptungen zum Trotz, im Grunde schon immer das wesentlichste Ziel der recht verstandenen politischen Bildungsarbeit gewesen ist; man hat es nur nicht als „Erziehung zur Emanzipation" bezeichnet. Sie verkündete als ihr Ziel keineswegs den nur angepaßten, folgsamen und fleißigen Leistungsmenschen, sondern zielte schon immer darauf ab, selbständig denkende, in Selbstverantwortung handelnde und dem demokratischen Freiheitsprinzip — und nur diesem — verpflichtete Mitbürger heranzubilden. Wenn das in Zweifel gezogen werden konnte, so deutet das höchstens auf ein partielles Mißlingen der Bildungsbemühungen, nicht aber auf eine Zielsetzung hin, die jetzt die „Neue Linke" gern als „faschistoid" und ausbeuterisch hinstellen möchte.
Man kann die Fehldeutung der revolutionären Jugendlichen bis zu einem gewissen Grade verstehen, wenn man sich zwei Dinge vergegenwärtigt: Zum einen die Tatsache, daß alles Bilden und Ausbilden praktisch fast nur auf das baldige Vorweisen von Leistung (im Wirtschaftssektor gar Produktions-Leistung) hinauszulaufen scheint, so, als sei alles schulische Bemühen wirklich nur darauf ausgegangen, künftige Vorgesetzte zufriedenzustellen; die „Gemeinschaftskunde" wird dann in denselben Topf geworfen. Zum anderen lassen aber auch die vielen bekanntgewordenen „Erfolgskontrollen" der politischen Bildungsarbeit auf kaum etwas anderes schließen als darauf, daß es festzustellen galt, wieviel man gelernt hat: Man kontrollierte den Umfang des Wissens-und des „Einsichten" -inventars an Hand von gezielten Fragen und „Items". Wer genügend informiert erscheint und auf demokratisch relevante Gewissensfragen so zu antworten versteht, wie man es von einem überzeugten Grundgesetzdemokraten erwarten zu dürfen glaubt, wer also gut gelernt hat und dementsprechende Leistungen vorweisen kann, der gilt als „politisch gebildet", als politisch „reif" oder „mündig", als „Erfolgs" -fall. Geprüft wurde aber nur das geistige Instrumentarium, das „Rüstzeug"; das ist zwar ein sehr wichtiges, aber doch nur ein Teilziel der Bildungsbemühungen. Uber den Grad der individuellen, selbständig sich orientierenden faktischen Bereitschaft dagegen, sich politisch-gesellschaftlich mitverantwortlich zu fühlen und demgemäß sich grundsätzlich parat zu halten, nach Bedarf konstruktiv mitzudenken, sich aufgrund eigener Gewissensbemühung „emanzipatorisch" zu engagieren und gegebenenfalls auch mitzuhandeln, darüber sagen die Erfolgs-kontrollen nichts aus — es sei denn in Form von fragwürdigen Selbstbeurteilungen. Man bemühte sich bisher auch noch kaum um entsprechende gezielte psychologische Prüfungsmethoden. So blieb es bei einem „pars pro toto": Das Können steht zugleich für ein Wollen. Wie bei jedem Forschen wählt man zunächst gern den Weg des Gangbaren, begnügt sich mit dem methodisch am leichtesten Zugänglichen. (Dies gilt übrigens auch für das Didaktische: Wissens-, und Einsichtsvermittlungen sind nun einmal methodisch leichter zu praktizieren als Versuche, individuelle Verantwortungsbereitschaft und politisches Engagement auszulösen. Auch aus diesem Grunde rechtfertigt sich also unser Hinweis auf noch zu kurz gekommene Teilziele des Politikunterrichts und die ihnen gemäßen didaktischen Methoden.)
Bezeichnet man das Verfügen über das vermittelte geistige Rüstzeug, das Instrumentarium (also Wissen, Urteilsfähigkeit, ausgewählte Einsichten), als den „statischen", die Bereitschaft zu aktivem gewissenhaften Mitdenken, Sich-Einsetzen und Mitverantworten dagegen als den „dynamischen" Bestandteil politischer Reife, dann läßt sich wohl sagen, daß Erfolgs-kontrollen und freie Beobachtungen auf einen mittelmäßigen Erfolg in statischer, einen verhältnismäßig geringen Erfolg jedoch in dynamischer Hinsicht hindeuten. Wobei in puncto „politisches Engagement" und „aktiv" allerdings der Ton besonders auf die Worte „gewissenhaft" und „mitverantworten" gelegt wird. Die Frage, was sich bei eifriger Mitwirkung an Protestaktionen als „verantwortlich" bezeichnen läßt, wird zwar in Diskussionsgruppen ernsthaft behandelt, aber wenn man hierüber die Protokolle nachliest, gewinnt man den Eindruck, daß es mit der Gründlichkeit und Objektivität des Denkens oder gar mit der selbstkritischen Besinnung nicht weit her ist. (Dogmatisches — man hält sich streng an bekannte Theoretiker — und Utopisches — man glaubt an die Möglichkeit totaler Bewußtseinsveränderung — determinieren sowohl Logik als auch „Strategie".)
Die Bewertung „mittelmäßiger" bzw. „verhältnismäßig geringer Erfolg" ist natürlich nur statistisch zu verstehen, d. h., es besteht eine große Streuung zwischen den extremen Erfolgs-und Mißerfolgspolen: Man begegnet vielen in Könnens-und Willenshinsicht imponierend gereiften Heranwachsenden, aber eben noch häufiger dem Gegentyp.
Folgerungen für die „Zieldidaktik" dürften somit vor allem auf dem „dynamischen" Sektor der politischen Mündigkeit zu suchen sein. Will man sich die dynamischen Haltungskri-B terien, um die es vornehmlich geht, noch etwas klarer bewußt machen, so könnte man die Didaktikfrage etwa so differenzieren:
Wie erzeugt man im Jugendlichen — politische „Sensibilität"? Diese Bezeichnung stammt von Egon Becker
Diese Didaktikfragen werden sich allerdings nur dann realistischer als bisher beantworten lassen, wenn man etwas mehr über hierfür entscheidende psychische (auch sozialpsychische) Wirkungszusammenhänge weiß. Was dies angeht, wird die Forschung helfen müssen. Sie wird die Auslösungsbedingtheit von Motivationen, die zu Mitverantwortungsbereitschaft und selbstkritischer Gewissenswachheit hinführen, zum Gegenstand besonderer Untersuchungen zu machen haben.
III. Folgerungen für die Methodendidaktik
Wenn es um die Wirkung von politischem Engagement und von politischer Mitverantwortungsbereitschaft geht, ist der Lehrer wohl in der Regel auf sein persönliches Gespür und auf die Trial-and-error-Methode angewiesen.
Wo Erfolge zu verzeichnen sind, geht man kaum fehl in der Annahme, daß das persönliehe psychologische Geschick des Lehrers, sein intuitives, flexibles Eingehenkönnen auf die Mentalität der Schüler
Persönliches Geschick ist aber nur schwer übertragbar, zumal wenn man bedenkt, daß die psychischen Konstellationen von Klasse zu Klasse und von Jahrgang zu Jahrgang verschieden sind. So wird man immer wieder nach Kriterien suchen müssen, die eine gewisse Verallgemeinerung zulassen und mitteilbar sind, onne V eranrenszwange auizunötigen. Dlese Beachtungskriterien betreffen naturgemäß vor allem die Art der Resonanz, mit der die Schüler politik-und sozial-relevante Informationen und Probleme aufzunehmen neigen (hiermit zusammenhängend auch die Art der Lehrer-Schüler-und der Schüler-Schüler-Interaktion, wie sie bei der Behandlung politik-und sozial-relevanter Gesprächsthemen in Erscheinung tritt). Hierüber müßten Erfahrungen systematisch gesammelt und für die Didaktik wissenschaftlich verarbeitet werden. Das würde den bereits in Gang gekommenen intensiveren Erfahrungsaustausch einiger politpädagogischer Experten über das Didaktikproblem sicher befruchten können; auch aus hie und da bereits unternommenen „gruppendynamischen" Experimenten ergeben sich wichtige Teilerkenntnisse, die fortgesetzt und vertieft werden sollten. Da es vor allem das „Dynamische", das demokratische Willens-und Haltungsprinzip ist, um das es bei der Didaktikdiskussion jetzt hauptsächlich geht, sollen sich die nachfolgenden Überlegungen nur mit dieser Seite des Bildungsproblems befassen.
Das Kernproblem, pauschal formuliert, lautet etwa so: Wie löst man individuelle Bereitschaft zu politisch-aktivem Engagement aufgrund demokratischen Verantwortungsbewußtseins aus? Der Terminus „Verantwortungsbewußtsein" ist eigentlich zu eng für den hier in Frage kommenden sehr komplexen Tatbestand, man könnte ebensogut von einem Verpflichtungs-„Gefühl" sprechen. Wie komplex er ist, das eben sollte erforscht und dem Politpädagogen nahegebracht werden, damit er den vorkommenden Einstellungs-und Verhaltenstypen einigermaßen gerecht werden kann. Das Entstehen von Verantwortungsbereitschaft kann durch Prädispositionen behindert oder auch begünstigt werden; die meisten solcher Dispositionen werden durch Früherziehung vorgeprägt sein, mag es sich nun handeln um Gehemmtheit infolge von Frustrationen oder um mutige Aufgeschlossenheit, um ein nahes Verbundenheitsgefühl zur Umwelt oder eine schon eingetretene Distanzierung, um Konflikte zwischen Interessen, Bedürfnissen und Außenbindungen, um die Stärke bzw. Schwäche von Selbstdurchsetzungsantrieben, um die Hinneigung zum Reflektieren oder prompten Handeln oder um noch andere Dispositionen.
Auf den ersten Blick scheint es zu viel verlangt, wollte man erwarten, daß die Politpädagogen auf jede Grundeinstellung und jede Motivationskonstellation individuell eingehen müßten. Indessen kann schon das Exemplarische an typischen Einzelfällen aufschlußreich sein, (übrigens beeindruckt ein solches Eingehen auf Individuelles auch die übrigen Schüler; sie nehmen den speziellen Sachverstand wahr, um den es hier hauptsächlich geht.)
Wohl in keinem anderen Schulfach — ausgenommen vielleicht im Religionsunterricht — kommt so vieles auf die adäquate Anknüpfung an vorgegebene Resonanzdispositionen an wie im Politikunterricht, sofern dabei mehr herauskommen soll als nur „Kunde". Er ist praktizierte Psychologie. Als eine der am unmittelbarsten anzusprechenden Resonanzdispositionen erscheint der allgemeine, mehr oder weniger unbewußte Wunsch der Jugendlichen, sich selbst zu bestätigen, ihr Selbstwertgefühl zu steigern, und zwar nicht immer nur durch Vorweisen von Leistung, die auf jeden Fall Anerkennung findet, sondern durch eigenwillige Selbstorientierung und Meinungsvertretung. Das Selbstbestätigungsbedürfnis der Jugend ist eine gesunde Entfaltungserscheinung. Es äußert sich aber oft in unterschiedlicher, mitunter gegensätzlicher Art, etwa beim einen im Tun, beim anderen im Unterlassen trotz gleicher Anlässe. „Politisches" ist in der letzten Zeit ein besonders beliebtes Feld für Selbstbestätigungsimpulse geworden. An ihnen verrät sich die Milieu-und Gruppenbedingtheit mancher Vor-Einstellungen, aber damit auch ein entsprechender Anknüpfungspunkt für eine Hinlenkung des Schülers zu kritischem überdenken seiner Urteilsweisen.
Neben den inhaltlichen Wertungen der Schüler können auch schon ihre typischen formalen Verhaltensweisen offenbaren, an welchen neuralgischen Punkten sie am wirksamsten ansprechbar sind, um ihr Denken und Verhalten mit Verantwortungsbewußtsein so zu koppeln, daß daraus eine Verhaltenskonstante wird. Dieser Reifungsprozeß manifestiert sich z. B. anders bei Extravertierten (mit ihrer vorherrschenden Vertrauens-und Anpassungsbereitschaft) als bei Introvertierten (die eher zu Zurückhaltung, Skepsis oder gar Mißtrauen neigen), anders bei Couragierten als bei Ängstlichen, Zögernden, anders bei kritisch Reflektierenden als bei autoritär Verformten, anders bei unbekümmert Dickfelligen als bei mimosenhaft Empfindlichen und Verletzlichen
Als allgemeine Folgerung für die Methodendidaktik läßt sich also postulieren: Mehr Psychologie! Sowohl mehr erkennende, die Verborgenes zu durchschauen vermag, als auch mehr didaktisch-praktizierende Psychologie. Das ist zuallererst eine Forderung für die Lehrerausbildung im Unterrichtsfach Politik, dann aber auch für die politische Bildungsarbeit an 15— 20jährigen selbst. Auch ihnen sollten psychologische Elementarkenntnisse nicht vorenthalten werden. (Bei dieser Gelegenheit ist darauf aufmerksam zu machen, daß nicht alles Psychische notwendig psychoanalytisch, also nur nach Freudscher Theorie und Terminologie, gedeutet werden muß.)
IV. Demokratie als Haltungsprinzip: Mitverantwortungsbereitschaft
Die bisher behandelten didaktisch-psychologischen Überlegungen wollten eines der schwierigeren und noch am wenigsten untersuchten Probleme der politischen Bildungsarbeit in den Blickpunkte der Aufmerksamkeit rücken: Die Frage, auf welche Weise Mitverantwortlichkeits-und demokratische Einsatzbereitschaft, verbunden mit einer ausreichenden Bemühung um gewissenhaftes Denken und Urteilen, mit Selbstkritik und der Beachtung fairer demokratischer Spielregeln, bei Schülern des Politikunterrichts auszulösen sei. Es wurde darauf hingewiesen, welche besonderen psychischen Schwierigkeiten und Barrieren diesem Erziehungseffekt im Wege stehen können und daß weitere didaktische Möglichkeiten gesucht und ausgenutzt werden sollten.
Es steht hier also einmal nicht (wie sonst meist in bildungskritischen Aufsätzen dieses Faches) die Frage nach inhaltlichen Bildungserfolgen (Einsichten über das Demokratieverständnis u. ä.) im Vordergrund der Betrachtung, sondern nach Erfolgen im politischen Verhalten
Die Ermutigung zu selbstverantwortlichen persönlichen Entscheidungen und demgemäß zu mitverantwortungswilligem Engagement am politischen Geschehen klang zwar bei allen Schwerpunktverlagerungen des Erziehungsziels mit, in merkbarerem Maße jedoch erst in den letzten Jahren. Offenbar wird es immer deutlicher, wie sehr das politische Schicksal eines demokratischen Staates von der Wachheit und Bereitschaft des einzelnen abhängt, verantwortlich mitzu-„fühlen" (politische „Sensibilität"), mitzudenken und mitzureden
Hierauf läßt sich erwidern, daß gerade durch die Konfrontation mit ausgewählten Aufgaben, für deren Erfüllung sich der einzelne als mitverantwortlich zu betrachten habe, und durch die Zuweisung einer oder mehrerer Instanzen, denen gegenüber man sich rechenschaftspflichtig fühlen müsse, neue und so strittige Probleme aufgerichtet würden, daß dadurch ein Erfolg erst recht in Frage gestellt werden würde. Hierzu erscheinen ein paar Erläuterungen nötig: 1. Wem gegenüber verantwortlich?
Nicht bestritten wird, daß es in der Tat objektive Instanzen gibt, die zuständig sein oder werden können, wenn ein politisches Verhalten als verantwortlich oder nichtverantwortlich zu beurteilen ist. Das können Gerichte sein, wenn straffälliges Verhalten vorliegt, z. B. Gewaltanwendung, Schmähung und dergleichen. Das können auch die vom einzelnen anerkannten Autoritäten und die mit Vollmachten ausgestatteten demokratischen Institutionen sein; ersteren fühlt er sich moralisch verpflichtet, letzteren schuldet er staatsbürgerlichen Respekt. Aber in der Respektierung solcher objektiven Instanzen erschöpft sich längst nicht das, was hier unter demokratischer Mitverantwortungsbereitschaft verstanden wird. Es ist eine latente Bewußtseinseinstellung gemeint. Als Orientierungsinstanz kann für sie nur das subjektive Gewissen zuständig sein. Die in allen bisherigen Leitfäden zu findende Bezeichnung „Selbstverantwortung" meint nichts anderes. Der einzelne soll lernen, seine politisch relevanten Verhaltens-1 weisen vor sich selbst verantworten zu können. Er soll lernen, sich unabhängig zu machen von eingedrillten Maximen, und gewissenhaft darüber entscheiden, was er akzeptiert, und was er durch Neues ersetzen will. Das setzt innere Verarbeitung voraus. (Eine solche Selbstbestimmung kann man, wenn man will, Emanzipation nennen. Allerdings darf man dieses Wort dann nicht auch schon für zügelloses Benehmen von Kindern in sogenannten „Kinderläden" verwenden!) Die Reifung des Ichs, des Gewissens, ist Voraussetzung für die Ermöglichung von Selbstverantwortung und damit auch für Mitverantwortungsbereitschaft. Vielleicht darf man hier sogar von einem politischen, einem demokratischen Gewissen sprechen, soweit es für politisch relevante Entscheidungen angespannt wird.
Sein eigenes Gewissen zu bemühen (und nicht die Gewissen anderer) ist eine Kunst, die gelernt und geübt sein will. Jeder macht sich gern leicht etwas vor, wenn er bereitwillig übernimmt, was andere meinen, upd dann trotzdem der Überzeugung ist, sich autonom entschieden zu haben. Diesen unbewußten Mechanismus der Seele zu entlarven, gehört mit zu den Aufgaben-einer politischen Bildung; sie muß zur Selbstkritik, zu selbstdiszipliniertem Denken erziehen. Diese Entlarvung gehört aber auch zu den Aufgaben einer differenzierenden Forschung.
Es ist bequemer, sich anzupassen und nachzu-'vollziehen (oder gar zu solidarisieren), wenn ein bestimmtes Verhalten von einem erwartet wird, anstatt zunächst sein eigenes Gewissen zu bemühen. Es gibt viele, die es dauernd dispensieren. Auf der anderen Seite ist es ebenfalls sehr bequem, Untergebenen Vorschriften zu machen und Befolgung zu erwarten, ohne an deren mögliche Skrupel zu denken. Von solcher, noch dazu staatlich sanktionierten Norm lebt der Obrigkeitsstaat — aber nicht nur er, sondern auch der uns allen mehr oder weniger nachhaltig anerzogene Autoritarismus als Haltung. Mit ihm befinden wir uns bei der Erziehung zu demokratischer Selbstverantwortung in ständigem Kampf, er scheint unausrottbar zu sein.
Das Gewissen läßt sich leicht zum Schweigen bringen. Wo äußerer Druck und innere Gewissensstimme in Konflikt geraten, unterliegt es in der Regel als der schwächere Part. Das Nein des demokratischen Ungehorsams erfordert besonderen Mut. Selbstverantwortung ist eine Frage der allmählichen Persönlichkeitsreifung innerhalb jener Entwicklungsphase, in der sich das Ich auf sich selbst besinnt. Vom anerzogenen „Über-Ich" aus der Kinderzeit löst man sich langsam erst dann, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Einiges davon läßt man weiter gelten, anderes wirft man über Bord. Maßgeblich wird das eigene, wenn man so will: das emanzipatorische Gewissen.
Hier wird natürlich gefragt werden müssen: Was ist das denn eigentlich, das Gewissen? Ist es ein bestimmtes Funktionieren irgendwo im Organismus? Ist es eine göttliche Gnade, unserem wissenschaftlichen Zugriff völlig entzogen? Ist es ein Konglomerat von Einfluß-, also Erfahrungsniederschlägen? Ist es angeboren oder erworben
Die Wissenschaft hat bisher ziemlich viel Spekulatives, aber verhältnismäßig wenig Empirisches zu dem Phänomen, das man Gewissen nennt, beigetragen
Einige assoziieren mit dem Begriff „Gewissen" sofort die Freudsche Formel vom „Über-Ich", das man — etwas vergröbert — als die Summe internalisierter Autoritätsgebote bezeichnen kann. D. Eicke spricht vom „Sittenkodex"
Seit Jahren wird auf die sich zunehmend verengende Spielraumbreite dieser persönlichen Freiheit, auf die industrialisierte und verwaltete Welt und auf die immer stärker werdenden Suggestionen von Seiten der Massenkommunikationsmittel hingewiesen. Diese schüfen so viele Zwänge, daß unter ihnen das Gespür für die gewährten Möglichkeiten freier Willensentscheidungen und damit bewußt selbst-verantwortlichen demokratischen Verhaltens mehr und mehr verloren ginge. Das wäre eine Entdemokratisierung auf kaltem Wege, ein Machtverzicht des Volkes zugunsten von Technokraten und Bürokraten, von Partei-und Wirtschaftsbossen. Diese Entwicklung sei sogar zwangsläufig und unumkehrbar, so lehren es namhafte Soziologen. Aber das stimmt doch wohl nur, wenn das Volk auf jede Geltendmachung seines eigenen verantwortlichen Willens und seiner Entfaltungswünsche verzichtet. Wenn es will, kann es um die Bewahrung — oder sogar Verbreiterung — seines Freiheitsspielraums kämpfen. Es muß sich dieser Lage, dieser Möglichkeit und dieser Verantwortung allerdings zunächst bewußt werden. Zu solcher Gewissensbefragung wird vor allem die politische Bildungsarbeit hinzuführen haben. 2. Wofür verantwortlich?
Der Versuch, bei Schülern Mitverantwortungsbewußtsein für das politische Geschehen zu wecken, könnte es also unumgänglich erscheinen lassen, man müsse ihnen zuvor verdeutlichen, für was konkret der einzelne durch Mit-tun mitverantwortlich sein oder werden könnte. Im Erfolgsfall führt dann das Exemplarische auf dem Wege der Verallgemeinerung, vielleicht auch Gewöhnung, zu grundsätzlicher Einsicht und vielleicht von dort aus zum angestrebten Haltungsprinzip. Wenn man sich auf Sachverhalte bezieht wie Müllabfuhr, Kinderspielplätze, Feuerwehr und dergleichen, sind kaum Einwände zu erwarten. Es ist allerdings denkbar, daß solches Belehren und Veranschaulichen auf ungenügendes Interesse stößt, und zwar deshalb, weil es nichts Grundsätzliches, nichts wirklich Problematisches aufrührt. Vielmehr bekräftigt es bloß, was logisch zu folgern, als selbstverständlich erscheint. Trotzdem hat es natürlich hohen Informations-und Verdeutlichungs-, auch Anknüpfungswert, weil von dort aus auf Grundsätzliches übergeleitet werden kann. Indessen scheint die Interessenlage der heute Heranwachsenden doch darauf hinzuweisen, daß sie unmittelbar resonanzbereit und aufregbar gerade und fast nur noch dann sind, wenn Grundsätzliches als Problem erkannt und behandelt werden kann. So interessiert man sich zum Beispiel heute ganz unmittelbar für Fragen wie die der tatsäch -nach lichen Verteilung von Macht und Einfluß und deren subjektiven und objektiven Bedingtheiten oder für die nach Art und Effizienz des Demokratieprinzips und dessen Interpretation oder für die nach der Rolle der Autorität in der Demokratie und des Autoritarismus in uns allen. In solchen Fragen sucht das Ich unmittelbar nach Selbstklärung, nach Selbstorientierungs-und Selbsbestätigungsmöglichkeiten.
Schon der Umstand, daß solche Fragen jetzt öffentlich zu demonstrativen Auseinandersetzungen geführt haben, macht hellhörig und läßt persönliches Engagement entstehen — eine Ichbeteiligung, wie sie wohl nur selten dadurch erreicht wird, daß man allerlei konkrete Möglichkeiten aufzeigt, wie sich ein guter Mitbürger und Demokrat im Rahmen des „Bestehenden" (des „Systems") durch tätigen Einsatz im Nahraum „bewähren" könnte.
Die Auffassungen von Demokratieverwirklichung haben sich geändert. Damit hat sich von selbst auch die Frage nach dem Wofür verschoben. Man läßt sich nicht mehr davon überzeugen, daß man sich für Stabilisierung und Verteidigung des „Bestehenden" verantwortlich zu fühlen habe, sondern eher davon, daß brennende Probleme grundsätzlicher Art darauf warten, von der neuen Generation neu durchdacht und verantwortet zu werden. Mag auch die „schweigende Mehrheit" der Jugendlichen und Heranwachsenden noch in Abwarte-stellung verharren, mit dem Vorhalt der doch erreichten demokratischen Freiheit allein gibt sie sich nicht mehr zufrieden
Diese stets „offene Problematik" braucht nicht zu bedeuten, daß alles, was bisher als richtig und gültig angesehen wurde, nun als abgetan, überholt oder gar falsch zu gelten habe. Es bedeutet nur, daß alles neu zur Diskussion gestellt worden ist. Manches vom Alten wird gültig bleiben, anderes wird neuen Normen und Tabus Platz machen müssen. a) Wandlungen des Demokratieverständnisses Anfangs, das heißt gleich nach Kriegsende und in den ersten Jahren des Neuaufbaus, gab es ganz offensichtlich etwas, wofür derjenige, der die neue Demokratie aufbauen helfen wollte, mit allem Nachdruck eintreten mußte: Man bezeichnete es kurz mit „Aufarbeitung der Vergangenheit". über den Erfolg dieser politischen Bildungsbemühung läßt sich streiten. Immerhin, sie vermochte Verantwortungsgefühl zu wecken, wenn auch nur partiell. Bereitwilliger begab man sich dann in die Mitverantwortung für den wirtschaftlichen Neuaufbau; das ging jeden an, jeder durfte sich „mitbetroffen" fühlen. Mit dem Partnerschafts-und dem „Harmonie" -Gedanken der neuen Demokratie ergaben sich zugleich auch konkrete Verhaltensnormen („human relations", „Toleranz") für die politische Erziehung. Heute gelten sie schon als zweitrangig, wenn nicht gar als anrüchig („repressive Toleranz").
Aus dem Gegensatzpaar Diktatur/Demokratie ließ sich aber noch lange eine griffige Münze schlagen; gedankt sei dies dem freiheitsbedrohenden Kommunismus des Ostens. Das verbale Bekenntnis zur Demokratie als einziger menschenwürdiger Lebensform wurde dadurch leichtgemacht. Für die Bevölkerung hat die Demokratie als Prinzip denn auch so sehr den Charakter von Selbstverständlichkeit angenommen, daß sie deren Gefährdung von irgendeiner Seite kaum noch ernst nimmt. (Die unterschwellige in ihr selbst wird ihr nicht bewußt.)
Verbreitete politische Indifferenz, um nicht zu sagen: Apathie kennzeichnete mehr und mehr iie politische Landschaft; man beklagte sie vor illem bei der Jugend. Die häufigen Appelle zu politischem Engagement und zur Mitverantwortlichkeit des einzelnen fanden nur wenig Resonanz. Jedermann hatte zuviel zu tun, um ür die eigene wirtschaftliche Absicherung zu sorgen. Experimente waren sowieso tabuisiert. Diese autistische Einstellung erfuhr moralische ntegrität auch dadurch, daß die Wirtschaftsexpansion vorrangig erschien; alles sprach von ler Steigerung des Sozialprodukts und freute sich, als es hieß: Wir sind wieder wer. Für las eigentlich Politische ließ man nur „die da oben" verantwortlich sein. Der Dirigismus nahm folgerichtig zu, die Regierenden warben um solidarisches Verhalten, um Verständnis für die „Lage" und um Anpassung. So erhielt der Begriff „Mitverantwortlichkeit" zu einem Teil die Bedeutung von Gesetzestreue, Loyalität, Konformismus.
Das löste eine Gegenströmung aus; die Parole vom Nonkonformismus kam auf. Es mehrten sich die Stimmen und Tendenzen, die mehr autonome Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit der Bürger nicht nur forderten, sondern auch durch Kritik und laute Opposition manifestierten. Man versuchte auch, einen sozialpsychischen Tatbestand zu entlarven und anzuprangern, den man „Manipulation" taufte. Als Erwiderung darauf insistierte man auf dem offenen Austrag aller Konflikte, wobei man in dem Aufeinanderprall gegensätzlicher Interessen die Bürgschaft für eine freiheitliche Demokratie erkannte. Ein Politologe schrieb: „Nur über den Interessenten geht jetzt der Weg" — zur recht verstandenen Demokratie. Unversehens schien der Terminus „Selbstverantwortung" eine einschränkende Bedeutung zu gewinnen: für sich selbst an Stelle von aus sich selbst, aus eigener Verantwortung des Gewissens.
Die Gegenparole von „oben" blieb nicht aus: „Formierte Gesellschaft", eine Formel, die hin-wiederum verstärkte Kritik herausforderte, namentlich von Seiten der Intellektuellen, denen dann auch politischer Dilettantismus vorgeworfen wurde. Ein Psychologe schrieb einen Aufsatz, betitelt: „Zur Pathologie des Gehorsams"
Wenn das Ziel aller Verantwortung die so gesehene Ordnung ist, dann wäre unter diesem Aspekt unsere Frage: „Wofür verantwortlich?" offenbar allein so zu beantworten: Für Respektierung dieser . wahren'Ordnung, wie sie sich als vorgegebener Konsensus aus den Grundrechten des Menschen ergibt. Das erscheint als ein relativ fester Bezugspunkt, — relativiert nur durch den vorangehenden Konfliktaustrag verschiedener Meinungen und Interessen, aus dem der Konsensus ständig neu hervorgehen soll.
Aber kann das Ziel aller Verantwortung wirklich nur darin bestehen, einen Ordnungskonsensus zu respektieren? Sollte man den Verantwortungsbereich des Demokraten nicht grundsätzlich viel weiter abstecken, ja eigentlich auf eine Absteckung überhaupt verzichten? Wofür persönliche Mitverantwortung auf politischem Felde lebenswichtig werden könnte, das ist doch im voraus gar nicht abzusehen.
Als integrierenden Bestandteil demokratischen Mitverantwortungsbewußtseins wird man die Respektierung einer Ordnung, die sich auf einen Minimalkonsensus über die Grundrechte des Menschen stützt, natürlich akzeptieren können. Ist es aber nun didaktisch zweckmäßig, im Politikunterricht einen Verantwortungsbestandteil als etwas „Vorgegebenes", „Unabdingbares", „Letztverbindliches", „übergreifendes Drittes" zu deklarieren, das die Schüler nur noch wohl oder übel zu akzeptieren hätten, weil es nun einmal dem allgemein definierten Minimalkonsensus entspricht? Würde das nicht dem ja ebenfalls geltenden Prinzip der Selbstorientierung und Selbstbestimmung entgegenstehen und als autoritär verdächtigt werden?
Dem stellt sich vielleicht die Frage entgegen, ob sich denn etwa jede Schulklasse im Politik-unterricht ihren eigenen Klassenkonsensus über Ordnungsvorstellungen der Demokratie erarbeiten solle. Was dabei herauskäme, wäre zwar keinerlei Festlegung, keine Konfirmation auf den uns vorschwebenden Ordnungsminimalkonsensus, wohl aber ein Bewußtwerden der Kompliziertheit und Relativität von Ordnungsentwürfen überhaupt. Man würde begreifen, daß Demokratie ohne faire Spielregeln nicht funktionieren kann. Und, was wohl das Wichtigste ist, man würde die Mit-verantwortung gewahr werden, die auf jedem liegt, der in einem demokratischen Staatsganzen um Freiheit, Menschenwürde und Gerechtigkeit besorgt ist und „emanzipatorisch" mitzusprechen verlangt — ein Mitverantwortungsbewußtsein, das nun nicht im Hinblick auf vorformulierte Leitsätze vom einzelnen er-B wartet wird, sondern aus gemeinsam beratschlagter Problematik von selbst erwächst. Die Frage nach dem Wofür bliebe dabei offen für alle sich ergebenden Eventualitäten.
Die schon so oft als Hauptziel proklamierte und diskutierte
Das ist alles sicher richtig und wichtig, nur scheint mir bei diesen Hinweisen nicht genügend Gewicht auf die andere Tatsache gelegt zu werden, daß politisches Verhalten sich nicht Schüler durch ge aus -nur dem ergibt, was dem ausgewählte und lenkte, sorgfältig sinnvoll strukturierte Lernprozesse einsichtig gemacht worden ist, sondern daß daran außerdem noch das ganze Feld bewußter und unbewußter Motivationen, Erlebnisauswirkungen, längst vorgegebener oder auch neu internalisierter Einstellungen kräftig mitwirkt. Gerade dann, wenn es darauf ankommt, erhalten durch sie die sorgfältig strukturierten Lerninhalte neue Richtung und veränderte Gewichte. Im psychologischen Experiment sind „Gedächtnisstrukturen" zweifellos nach Gewichts-und Bedeutungsbezügen verifizierbar, in der Praxis der politischen Bildungsarbeit aber werden die aktuellen dynamischen Faktoren der angedeuteten Art ebenfalls sehr in Rechnung zu stellen sein, besonders in einer Zeit, in der die protestierende Unruhe auch Eingang in die Schulen gefunden hat.
Gleichzeitig sinnvoll strukturierte (statische) Lernziele richtig auszuwählen und zu dosieren einerseits und emanzipatorische (dynamische) Einstellungs-und Verhaltenstendenzen andererseits so mitzuverwerten, daß beides schließlich in eine demokratisch verantwortliche Haltung einmündet, dieses Sowohl-als-Auch erfordert allerdings wohl viel mehr Einfühlungsund Kenntnisvoraussetzungen, als man sie heute bei den meisten Lehrern des Politikunterrichts erwarten kann, zumal da die Politpädagogik sich ja im Hinblick auf die in Frage kommende Motivations-und Einstellungsproblematik von der Psychologie leider noch als im Stich gelassen vorkommen muß. c) KonHiktaustrag und Verantwortung Ohne die Kollision politischer Meinungen und Interessen, ohne Konflikte also, würde sich politisches Engagement nur schwer entwickeln können; Konflikte erscheinen schon wegen ihrer Stimulationsausstrahlung nötig, um Demokratie „in Gang zu bringen".
Diese in letzter Zeit besondes hervorgehobene und — cum grano salis — richtige Theorie enthält einige Relativierungsmomente. Konflikte an und für sich konstituieren noch nicht Demokratie; erst durch die Respektierung von Regeln beim Konfliktaustrag wird sie, wenigstens der Form nach, realisiert. Im Ergebnis kann mancher Konfliktaustrag gleichwohl demokratiewidrig ausfallen. Den Konflikt als das A und O der Demokratie hochzuloben, hätte also seine Tücken. Der Konflikt ist ein Faktum des Lebens, mit dem die Menschen so menschenwürdig und vernünftig wie möglich fertig werden müssen, um daraus Gewinn ziehen zu können, d. h. ohne dabei Frei-29 heit aufs Spiel zu setzen. Die Demokratie versucht das durch Liberalität und „Spielregeln", die Diktatur „löst" Konflikte durch Zwang. Kommen nun im demokratischen Konfliktaustrag Vernunft und Menschenwürde maßgeblich zum Zuge? Das Einzige, was dafür sprechen könnte, ist wohl die unbeschränkte Vielzahl konzedierter Meinungen und Interessen. Gleichberechtigt? Gleich intensiv? Das bleibe hier dahingestellt. Mehr als eine Pluralität von Chancen zu erträglichen Konfliktlösungen liefert das Konfliktprinzip für die Demokratie wohl kaum. Es garantiert weder vernünftige noch gerechte, ja auch nicht immer menschenwürdige Lösungen oder Kompromisse. Das kann es schon deshalb nicht, weil im Konfliktaustrag vorwiegend Interessen und Emotionen, nicht bloß sachliche Argumente gegeneinander stehen, noch dazu mit ungleichen Möglichkeiten zum Krafteinsatz. Nicht das Kriterium der höchstmöglichen Verantwortbarkeit entscheidet, sondern das stärkere demokratische Waffenarsenal, bestehend aus: Demagogie, Gruppensolidarität, Verfügung über Kommunikationsmittel oder Wirtschaftsmacht, Autoritätseinflüsse, kurz: das Arsenal der direkten und indirekten Meinungs-und Willens-beeinflussungen.
Dieses Ungleichgewicht zwischen den Konfliktpartnern ein wenig auszubalancieren, ist wohl nur dann zu erhoffen, wenn es gelingt, bei allen Partnern jeweils das für das „Ganze" mitverantwortliche Denken und Handeln zu initiieren und gleichsam als Bremse gegen egozentrische Interessen-und Ideologieeinsätze wirken zu lassen. Das ist das Problem der Erziehung zur Demokratie als Haltungsprinzip.
In aller Regel führt ein demokratischer Konfliktaustrag zu einem Kompromiß. Aber E. Schaaf weist mit Recht darauf hin, daß der demokratische Kompromiß nicht nur interindividuell, sondern auch intraindividuell geschlossen wird. Er exemplifiziert das für das Problem der Findung der „wahren Ordnung" der Demokratie: „Die Ordnung liegt in der Mitte. Sie kommt zustande, indem sich der Mensch zwischen Freiheit und Bindung, Eigeninteresse und Gemeinwohl, Selbstbehauptung und Anpassung immer von neuem in Ordnung bringt. Dieser Prozeß vollzieht sich im Konflikt, der begrenzt ist, weil die Freiheit und die Interessen des Menschen durch die Freiheit und die Interessen des Gesamts seiner Mitmenschen gebunden sind. . ."
Bei dem Innen-Außen-Kompromiß — hie Selbstbehauptung, hie Anpassung, oder hie Eigeninteresse, hie Gemeinwohl — ist in der Regel der schwächere Part das Ich. Es ist gegenüber dem Druck des Objektiven zu den größeren Konzessionen gezwungen, wenn es sich selbst erhalten will. (Auch schon gegenüber seiner „Ingroup" sind meistens Verdrängungen auf der individuellen Wunschliste erforderlich.) — Bei dem Binnen-Kompromiß — hie Freiheit, hie Bindung — handelt es sich im Grunde auch um die Frage, inwieweit sich das autonome, selbstverantwortliche Ich gegenüber dem normgebundenen Uber-Ich durchzusetzen vermag; ob es also stark genug entwickelt ist, um nur das aus anerzogenen Bindungen noch zu akzeptieren, was es nach gewissenhafter Selbstprüfung auch selbst bejahen kann. Auch hier lehrt die Erfahrung, daß in der Regel das Eigengewissen dem tief verwurzelten Gehorsamsgewissen als schwächerer Teil unterliegt. Der „Aufstand des Gewissens" vom 20. Juli 1944 läßt sich vielleicht als illustratives Beispiel für den selteneren Ausnahmefall anführen. In der Demokratie ist nun zwar der Druck des Gehorsamsgewissens an und für sich bedeutend geringer als in der Diktatur, andererseits aber die Versuchung, sich einem möglichst bequemen Kompromiß zu unterwerfen, auch viel größer. Kompromisse können auch kompromittieren. Verantwortlichkeit grundsätzlich und nur auf Kompromisse auszurichten, erscheint also ebenfalls bedenklich.
Ob sie kompromittieren, das hängt offensichtlich von dem Grad ab, mit dem sich a) das Eigengewissen gegenüber dem Gehorsamsgewissen und b) der urteilsreife und mitverantwortungsbereite Mitbürger gegenüber dem konformistisch-konfirmierenden „Strom der Zeit" zu behaupten vermag. Das Schicksal der Demokratie läuft so immer wieder, man mag es drehen und wenden wie man will, auf dieselbe Frage hinaus, nämlich ob in dem einzelnen Bürger genügend aktive Bereitschaft ausgelöst und Fähigkeit vermittelt worden ist, Mitverantwortung zu übernehmen.
In den Brennpunkt der politischen Bildungsarbeit haben sich in den letzten Jahren zwei bedeutsame Probleme gerückt: Der Konflikt als integrierende Funktionskomponente und das Emanzipationsbedürfnis der Jugend als wichtigste Reifungskomponente des Ichs. Beide Komponenten sind im Wirkensbereich einer Demokratie unlöslich gekoppelt mit der Verantwortungskomponente, daß heißt, jeder Kompromiß und jede emanzipatorische Hand-lung zieht Verantwortung zwangsläufig nach sich. Nur unter dem Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit der einzelnen kann man daher den einzelnen zum demokratischen Konflikt-verhalten und zum demokratischen Emanzipationsverhalten zu erziehen versuchen. In der Stärkung des selbstverantwortlichen Ichs stekken aber auch die größten didaktischen Schwierigkeiten. So stellen sich verschiedene psychologische Probleme wie etwa die Einwirkungsarten von Demagogie, der Solidaritätsdruck, die Beeindruckbarkeit, der Mut zu sich selbst, das individuelle dynamische Potential, das Gewahrwerden eigener Abhängigkeiten oder „Komplexe" und noch anderes mehr
Mitunter scheint es so, als wolle man für nichts rerantwortlich sein (außer für sich selbst).
Sorglos glaubt man, mit allem, was sich an Aufgaben stellt, schon irgendwie fertigwerlen zu können, wenn man nur solidarisch getug für die Nein-Parole eintritt. Welche neuen Grundsätze Respekt und Verantwortung heichen würden, das würde sich dann schon irendwie von selbst ergeben.
iese demonstrierte Sorglosigkeit entspricht ber wohl kaum der Grundeinstellung derer, die auf das Bessere und Gerechtere aus sind. Wie eh und je suchen die meisten der Jugendlichen und Heranwachsenden nach Haltepunkten und Marschrouten, an bzw. auf denen sie ihre Selbstentfaltung zuverlässig orientieren und gesichert ansetzen können; für die in „eigener Bestimmung"
Obwohl dieses Suchen unzureichend reflektiert und reichlich unbekümmert vor sich zu gehen scheint, bietet es doch — eben weil es ein Suchen ist — eine gute Chance für Anknüpfungsmöglichkeiten des Politpädagogen. Suchende nehmen immer Suchhilfe als solche an, freilich nichts, was hierüber hinausgeht: Landkarten und Kompasse ja, aber keine Zielbestimmung, keine Verhaltensvorschriften. Das bedeutet: Der Lehrer wird sich heute noch konsequenter als schon bisher von allem, was als richtungweisend oder politisch normativ aufgefaßt werden könnte, zurückhalten und sich darauf beschränken, nur Denk-und Aufklärungshilfen für die Selbstorientierung beizusteuern; er könnte etwa auf offengebliebene Teilfragen aufmerksam machen, mögliche Problemkomplikationen aufweisen, Selbsttäuschungsmechanismen im Denken sichtbar machen (Rationalisierungen, Kompensationen), Suggestionen und Ansteckungen entlarven, Hemmungen aufzulösen helfen, Selbstbestätigungsversuche ermuntern und in adäquate Bahnen lenken, kurz: zum verantwortlichen Zu-Ende-Denken anregen und ermutigen. Er ermöglicht den Schülern dadurch überhaupt erst ein wirkliches emanzipatorisches Sich-Zurechtfinden, denn was die jungen Leute ohne solche Hebammen-hilfe für „emanzipatorische" Entscheidungen zu halten pflegen, ist oft nichts anderes als nur eine Auswechslung determinierender Einflußfaktoren: An die Stelle von Autoritäten, die man wegen vermeintlicher oder auch tatsächlicher Indoktrinationsabsichten ablehnte, treten „opinion leaders", die nun erst recht indoktrinierend wirken, aber keiner Verantwortung unterworfen sind 29a).
Manche aus der älteren Generation finden die aktivierte Emanzipationstendenz der heutigen Jugend beängstigend. Sie möchten denen, die sich so selbstbewußt freizuschwimmen versuchen, zumindest Schwimmwesten, aber noch lieber Richtungsanweisungen und Verhaltens-lehren nachwerfen. Gewiß: Strömungen und Strudel werden den „Emanzipierten" im offenen Gewässer schwer zu schaffen machen. Aber es hilft nichts: Sie müssen, wie sie es gewollt haben, nun alle Eigenkräfte mobilisieren, um sich über Wasser zu halten, um sich selbst zu orientieren und selbst zu verantworten. Gerade darin stecken die Chancen auch der sie betreuenden Lehrer.
Im Grunde hat die politische Bildungsarbeit in der Bundesrepublik schon immer versucht, in dem angedeuteten Sinne zu wirken, also zu erreichen, daß die Jugend sich zu „emanzipatorischer", selbstverantwortlicher Haltung entwickele, nur hat sie es nicht so genannt; auch entbehrten diese Versuche offensichtlich noch des notwendigen didaktisch-methodischen Rüstzeugs, vor allem auch der psychologischen Untermauerung ihrer Bemühungen. Es fiel bedeutend leichter, die Rechte und Pflichten der freiheitlichen Grundgesetzdemokratie, vor allem ihre Vorzüge, den Schülern verständlich zu machen, ihr Allgemeinwissen über Politisches zu erweitern, als den Schülern zu helfen, sich selbständig möglichst objektive Urteile über anstehende politische und gesellschaftliche Probleme zu bilden und sich dabei der Mitverantwortlichkeit des wahlberechtigten Bürgers bewußt zu bleiben. Leichter fiel es auch, Kritikfähigkeit an Ideen anderer, an Gesetzen, Institutionen oder Fremdgruppen zu erproben, als sich an dem Zustandekommen eigener Urteile, Wertungen, Ressentiments zu üben — ein Gebiet, über das die Lehrer ja leider selbst oft nur unzureichend ins Bild gesetzt worden sind.
Kritiklust und Kritiksucht lassen leicht Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten in der Verfassungswirklichkeit entdecken. Wenn aber erst Mißtrauen entstanden ist, dann läßt es sich rasch noch steigern, besonders wenn Gruppen sich „betroffen" fühlen können. Grup penmeinungen pflegen emotionalisiert und da durch potenziert zu werden. Dann verblaß nüchternes Denken, dann siegt Selbstbewußt sein über Verantwortungsbewußtsein, sieg Solidarität über Autonomie des Ichs. Man er lebt, daß die mühsam erworbene Kritikfähig keit zu einem Unwert umschlagen kann, — aber nur deshalb, weil sie immer nur auf eir Anderes, ein Transsubjektives, abgestellt waj und kaum auch auf Inneres, Subjektives.
Hier wird also die Meinung vertreten, daß die so revolutionär erscheinende Emanzipationstendenz der Jugend fruchtbar gemacht werden könnte — im Sinne einer gesunden Entfaltung der Demokratie — falls die politische Bildungsarbeit wirksamer als bisher dafür sorgt, daß das Gefühl für individuelle Mitverantwortlichkeit an der Entwicklung des Ganzen und die Fähigkeit zur Selbstkritik in jedem Einzelnen geweckt, wach erhalten und laufend stimuliert wird. Zu diesem Zweck müßte allerdings das psychologische Problem der person-adäquaten Auslösung dieser Bereitschaft, das Problem des adäquaten Ansprechens der heute vorgegebenen Motivationsstrukturen der Jugendlichen systematisch erforscht und gelöst werden.
Damit erscheint unsere Frage nach dem Wofür geklärt. Die Antwort lautet: Nicht für etwas „Vorgegebenes", Ausgewähltes, Verpflichtendes in concreto kann und soll Verantwortung geweckt werden, sondern nur die Grundeinstellung: „Verantwortungsbereitschaft schlechthin" kann und darf das Ziel der pädagogischen Bemühungen sein.
Drei Thesen, die zusammengehören:
— Jedes emanzipatorische Plus enthält ein gleiches Plus an Mitverantwortung.
— Jedes Mitbestimmungsplus bedingt ein entsprechendes mehr an Urteilsreife.
— Jedes „Demokratisierungsplus" setzt ein Plus an demokratischem Haltungsprinzip voraus.
V. Emanzipatorische Grundwertungen
Voreinstellungen, mit denen der Politpädagoge bei seinen Schülern zu rechnen hat, richtig zu durchschauen und adäquat in Rechnung zu stellen, war schon immer eine schwierige Aufgabe. Sie ist nun noch viel schwieriger gewor-den dadurch, daß seit kurzem ein affektgeladenes Emanzipationsstreben der Schüler hinzu-getreten ist. Dieses wirkt sich vielfach als Gegenkraft aus; denn selbst dort, wo die mitgebrachten Voreinstellungen dem Bildungsbemü32 len entgegenkommen würden, macht sich nun benfalls das Bedürfnis geltend, an einem rundsätzlich anderen Strang zu ziehen, der nöglichst wenig mit dem von Autoritätsseite er angebotenen Normensystem übereinstimnen soll.
adurch haben sich die Resonanzchancen ver. chlechtert; ein Konsensus ist noch schwieriger u erreichen. Selbst der „Minimalkonsensus''iber die Verwirklichung von Grundrechten des enschen wird nicht unverdächtigt bleiben, da r erklärtermaßen von außen „vorgegeben" ind als „verbindliche Ordnungsvorstellung" ikzeptiert werden muß; „ideologisch" will man ich nicht mehr einfangen lassen — oder auch ur sich dem Verdacht aussetzen, man werde s.
dennoch dürfte die Erzielung eines Grundkonensus über unverzichtbare Wertungen eine entscheidende Vorbedingung dafür darstellen, laß das Bildungsziel „Demokratisches Halungsprinzip, Mitverantwortlichkeitsbereitchaft“ überhaupt erreicht werden kann. is liegt nahe, zu überlegen, ob nicht — statt ron einem „vorgegebenen", anzubietenden inimalkonsensus als „normativem Element" V. Nitzschke) — besser von einem Grundkonensus ausgegangen werden könnte, der nornalerweise bei den Schülern von vornherein md ohnehin als Voreinstellung gegeben ist. diesem Gedanken versuchen Politpädagogen ereits zu entsprechen. Nur stoßen sie dabei loch oft auf unüberwindbare Schwierigkeiten, veil ihnen die Psychologie bisher noch kaum seholfen hat, das, was sich konkret an Voreintellungen und Motivationen hinter den akuellen Emanzipationstendenzen alles verbirgt, o deutlich ans Tageslicht zu befördern, daß die ehrer an diese Tendenzen und Selbstbestätiungsbedürfnisse adäquat anknüpfen könnten.
ie sind darauf angewiesen, sich selbst voranutasten. Fehldeutungen sind dabei unausleiblich, weil die heute vorherrschenden, von lause mitgebrachten (konformen oder nichtonformen) Voreinstellungen, nachdem sie ich auch noch durch aktuelle Einflußfaktoren us dritter Quelle komplizierten, nicht so vorergründig erklärbar sind, wie man im allgeleinen zu glauben geneigt ist. Nur eine sorgiltige psychologische Analyse der typischen fotivations-und Resonanzstrukturen könnte uverlässige Aufschlüsse liefern
Dieses Beispiel „Respektierung des Mensch-seins als keimhaft vorfindbare Grundwertung im Jugendlichen" mag gerade ein besonders problematisches sein. Bei anderen Grundwertungen, die auch mitentscheidend für die Entwicklung dieses demokratischen Haltungsprinzips sind, erscheint die natürliche „Vorgegebenheit" auf seifen der Schüler schon weniger problematisch. So etwa der natürliche Wunsch des Jugendlichen, so denken zu lernen, daß er damit vor anderen „bestehen" kann; oder der andere Wunsch: Es möge gerecht(er) zugehen in der Welt. („Gerecht" schließt andere Werte wie sozial, humanitär, fair, wiedergutmachungspflichtig u. ä. mit ein.) Solche Grundwertungen so ins Bewußtsein zu heben und ihrer Entfaltung so nachzuhelfen, daß sie mit Entschiedenheit als ureigene empfunden und deklariert werden, dürfte für den Pädagogen nicht schwierig sein. Allerdings käme es auch hier auf wichtige Differenzierungen an, die für die Lehrer psychologisch durchschaubar gemacht werden sollten. „Chemisch rein" von jeglichem normativem Element läßt sich Erziehung zu demokratischem Engagement natürlich nicht durchhalten, sicher aber wird man autoritär-indoktrinierend Erscheinendes gegenüber dem gewohnten Unterrichtsstil beträchtlich minimalisieren können, wenn die Lehrer in die Lage versetzt würden, die am ehesten ansprechbaren Stellen im vorgegebenen Resonanzgefüge der Schüler, soweit es um Grundwertungen geht, treffsicher zu erkennen und adäquat zu verwerten. Das ist eine reine Forschungs-und Ausbildungsfrage. Der Schüler müßte am Ende seiner in der Schule empfangenen politischen Bildung etwa sagen können: „Meine Auffassungen über Politisches, Gesellschaftliches, Zeitgeschichtliches, Ideologisches habe ich mir selbst erarbeitet. Meine Lehrer haben mir nur geholfen, nicht Opfer von logischen Trugschlüssen, „Rationalisierungen"
Das „normative Element" bestünde hier also darin, zu verdeutlichen, daß die Demokratie, wie auch immer sie „geordnet" sein mag, viel dringender Bürger braucht, die gewissenhaft denken können und wollen, als brillante Dialektiker, die es mit der Fundiertheit ihres Vorbringens nicht immer so genau nehmen und so für Verführungswirkungen verantwortlich werden — eine Normsetzung, die kaum bestritten, so auch nicht als „indoktrinierend" abgelehnt werden wird. „Normativ" wäre aber auch der Hinweis des Lehrers, daß man sein eigenes Ich nur dann zu stärken vermag, wenn man sein Denken und Urteilen vor sich selbst verantworten kann, und daß das Imponieren-Wollen durch suggestive Argumente höchstens die Eitelkeit, den Ehrgeiz, das „Image", das Schein-Ich befriedigen kann — und meist nicht auf Dauer; ein Normpostulat, das vielleicht nicht ganz so leicht „eingeht", aber ebenfalls kaum auf Proteste stoßen wird.
Es scheint hier geboten, einen Definitionsversuch zu unternehmen. Was ist unter „Verantwortungsbewußtsein" bzw. „Verantwortungsbereitschaft" zu verstehen?
— Verantwortungsbewußt nenne ich eine Handlung dann, wenn der Urteilende und Handelnde sich ernsthaft bemüht hat, sich über seine eigenen Motivationen und über empfangene Einwirkungen von außen, darüber hinaus auch über angestrebte und nicht gewünschte mögliche Folgen seines Urteilens und Handelns so gewissenhaft, wie es ihm möglich ist, klar zu werden und dementsprechend sein Handeln mit der bewußten Bereitschaft einzurichten, daß er für die Konsequenzen einzustehen hat
Das „normative Element" des Unterrichtsgesprächs braucht infolgedessen nur noch darin zu bestehen, dem einzelnen bewußtzumachen, daß auch er selbst sich mitverpflichtet fühlen kann, für „mehr Gerechtigkeit" zu sorgen, er könne durch Mitdenken und Mitarbeit, ja auch durch Demonstrieren helfen, auf Mißstände aufmerksam zu machen und darauf zu dringen, daß die verbreitete „Trägheit des Herzens" und die Schwerfälligkeit reformerischer Bestrebungen und humanitärer Aktivitäten in demokratischer Weise überwunden werden. Zu danken ist diese einhellige, emotional geladene Grundwertung wohl vor allem dem Umstand, daß jeder einzelne sich irgendwann einmal ungerecht behandelt gefühlt hat oder mit realen Ungerechtigkeiten konfrontiert gewesen ist. Mit einer vertiefenden Behandlung und Betonung des Gerechtigkeitsproblems wird der Politpädagoge also gerade im Hinblick auf Auslösung von Mitverantwortungsbereitschaft stets „richtig liegen".
Damit steckt man allerdings oft mitten in der aktuellen Gesellschaftskritik. Sie braucht aber nicht in einen Ideologienstreit einzumünden, sondern kann zum Hauptinhalt haben, einerseits eine möglichst nüchterne Ursachenanalyse zu versuchen, andererseits die Bedingtheiten aufzuhellen, von denen die häufigsten ideologischen Schlußfolgerungen mitbestimmt werden. In diesem Zusammenhang braucht sich der Lehrer nicht zu scheuen, bei der Bekanntgabe seines eigenen ideologischen Stand-punktes anzumerken, daß auch sein Urteilen von objektiven und subjektiven Faktoren bedingt ist, also falsch sein kann.
Bei dem Eingehen auf den Ideologienstreit läßt sich gut verdeutlichen, daß ein Konfliktaustrag nicht notwendig das Ziel haben muß, daß ein Standpunkt allein akzeptiert wird oder die Mehrheit für sich gewinnt, sondern es darauf ankommt, gewissenhaft erarbeitete Standpunkte herauszukristallisieren. Gemeinsam sind dann zwar nicht die Standpunkte, wohl aber die allseitige Bereitschaft und das Bewußtsein, für das Selbsterarbeitete verantwortlich zu sein.
Daß es in einer funktionierenden Demokratie, auch beim Konfliktaustrag, feste, gerechte Spielregeln geben muß, ist von radikalen Jugendlichen schon angezweifelt worden. Wer aber gleichzeitig die laute Forderung auf „mehr Gerechtigkeit" erhebt, wird sich zum Eingeständnis genötigt sehen, daß es ohne demokratische Spielregeln nicht möglich ist, ohne Verstoß gegen das Gerechtigkeitsprinzip voranzukommen; übrigens wird ja auch bei Radikalen fortwährend nach allen Regeln der Kunst abgestimmt — und die Mehrheitsmeinung respektiert.
Gewiß gibt es Menschen, die sich gar nichts aus Gerechtigkeit machen und nur noch Macht und Gewalt gelten lassen möchten. Aber da diese Einstellung wenigstens zur Zeit nicht akut ist, wird der Politpädagoge nur mit der positiven Grundwertung für Gerechtigkeit zu rechnen brauchen. 3. Respektierung der Würde des Menschen: Hilligen hat berechtigte Zweifel geäußert, ob „Erhaltung und Herstellung von Menschenwürde im Sinne von Grundrechten von der Jugend spontan als Wert erkannt" wird. Diese Frage geht scheinbar parallel mit dem bekannten Streit über Angeborenheit oder Nichtangeborenheit von Aggressivität, wozu R. Bergius kürzlich einen erhellenden Beitrag lieferte
(Hilligen) spontan zu identifizieren, mit einschneidenden Erlebnissen aus der Biographie des einzelnen ähnlich eng zusammenhängt.
Jedenfalls dürfte diese Wertung nicht mit ebenso großer Sicherheit sofort auf positive Resonanz stoßen wie die anderen beiden vorgenannten. Damit stellt sich die Frage, ob es in Fällen, wo diese Wertung nicht sofort auf spontane Gegenliebe stößt, geraten ist, auf einer indoktrinierenden „didaktischen Intention" zu bestehen. Man könnte den emanzipatorischen Protest sich unter Umständen auch ruhig auswirken lassen. Vereinzelt vorkommende Menschenverachtung wirkt manchmal auf andere viel erzieherischer als ein allgemein humanisierender Gleichklang, geschweige eine normative Tendenz es zu tun vermöchte. überblickt man rückschauend das Bedingungsgefüge für Auslösung von emanzipatorisch unterbauter politischer Mitverantwortungsbereitschaft, so wird eine Antwort schwerlich ausbleiben: Um all dieses notwendige Wissen und Können jederzeit gewärtig zu haben, sind unsere praktizierenden Politpädagogen zur Zeit noch weit überfordert. Das ist kaum zu bestreiten. Aber das dürfte kein Grund dafür sein, über diese Überforderungen und ihre Bewältigungsmöglichkeiten zu schweigen. Wenn man sie anspricht und auseinanderfaltet, müßten sich doch hier und dort Ansatzpunkte ergeben, der Schwierigkeiten Herr zu werden. In den meisten Fällen hätte natürlich die Forschung das erste Wort: Sie muß jene Zugangs-wege freizuschaufeln versuchen, die die Politpädagogen beschreiten können.
Auf die Mobilisierung der zuständigen Forschungsdisziplin, der Psychologie, kommt es dem Verfasser hier besonders an. Sie hat sich auf diesem Problemgebiet noch zurückgehalten; dafür gab es und gibt es gewiß plausible Erklärungen. Aber das legitime Interesse aller, die demokratischen Freiheiten zu sichern und zur intensiveren Entfaltung zu bringen, läßt eine fortgesetzte Zurückhaltung nicht länger zu.
VI. Zusammenfassung: Könnte psychologische Forschung helfen?
-n! •In der politischen Bildungsarbeit haben sich in den letzten Jahren neue Probleme in den Vordergrund -geschoben. Die unseres Erachtens wichtigsten von ihnen wurden in den vorangehenden Ausführungen von verschiedenen Blickpunkten her angeleuchtet. Sie liefen vor allem auf die Frage hinaus, wie der dynamische Teil der politischen Reife wirkungsvoller zu entwickeln sei: Gemeint ist damit ein aktionsbereites politisches Engagement, das maßgeblich bestimmt wird von bewußter Mitverantwortungsbereitschaft für die Sicherung und Entwicklung demokratischer Freiheitsprinzipien.
Die Aufhellung der jugendlichen Voreinstellungen, Grundwertungen und Motivationsstrukturen erwies sich in diesem Zusammenhang vor allem deswegen als notwendig, weil sie seit einer Reihe von Jahren offenbar anders sind als sie früher waren, anders vor allem, als es die Lehrer vorausgesetzt haben müssen, da sie sonst nicht von der Art des politischen Engagements, das sich nach lange beklagter Indifferenz plötzlich offenbarte, überrascht worden wären.
Zunächst waren es Soziologen, die sich mit ihren soziologischen Erhebungsmethoden um Aufklärung bemühten. Die Vorwürfe der jungen Menschen richteten sich namentlich gegen die äußeren „Verhältnisse", gegen „Establishment", gegen „hierarchische Strukturen", „Chancenungleichheiten", „Manipulierungen", „Repressionen", „Oligarchien" usw. Man suchte nach bewußtgewordenen „Motiven", die aus objektiven Anlässen durch Enttäuschungen, Benachteiligungen, Frustrationen, kritischen Beurteilungen entstanden sein mußten. So stießen die Befragungen auch in psychologische Bereiche vor.
Die Ergebnisse waren auffallend unterschiedlich. Das mag an der jeweils gewählten Art der Fragenschemata,, der bevorzugten Blickrichtung der Forscher, der mehr oder weniger weit ausholenden genetischen Interpretationen oder an ähnlichen Imponderabilien liegen. Immer wieder werden neue Theorien über letzte Ursachen der entstandenen Unruhe vorgetragen, so daß der interessierte Zuhörer oder Leser schon nicht mehr weiß, wem er am meisten glauben soll.
Die durchgehende Gleichheit angewendeter Stereotypen für die Anklagen gegen die „Gesellschaft", das „System", den Staat verdeckt nur das dahinterliegende psychologische Movens, das ja nicht auf die Jugend der Bundesrepublik allein beschränkt ist. Die Stereotypen öffnen höchstens willkürlichen Interpretationen und immer neuen Theoriebildungen (oder -importen) Tür und Tor. Außerdem verleiten diese Parolen zu Symptombehandlungen, wo eine Freilegung von tieferliegenden Herden der Unruhe, von dominant gewordenen Triebkräften, Reaktionstendenzen und Entfaltungsbedürfnissen dringend nötig wäre.
Gerade die ursprünglichen emanzipatorischen Regungen, die auf Selbstbestimmung, Selbst-orientierung und Verbesserungen hindrängen, sind für die Politpädagögen so überaus interessant, weil sie an ihnen anknüpfen und sie — dem demokratischen Bildungsauftrag folgend — zu persongemäßer Entfaltung bringen möchten. Die Feststellung, daß die bestehenden gesellschaftlichen „Verhältnisse" dringend verbesserungsbedürftig sind, braucht den Konsensus zwischen Lehrer und Schüler nicht zu beeinträchtigen, das Gegenteil ist weit eher zutreffend — vorausgesetzt, der Lehrer verfolgt nicht selbst einen autoritären Kurs. Diesen Kurs des Besserwissens wird er um so eher vermeiden können, je besser er über die Voreinstellungen und Grundwertungen der Schüler sowie über die interindividuell vor sich gehenden Beeinflussungsprozesse im Bilde ist.
Die psychischen Hintergründe sowohl für die überraschende Aktivität und Solidarität eines Teiles der Jugend als auch für die Inaktivität des anderen Teils sind naturgemäß auf dem Felde der Realbeziehungen zwischen dem sich entwickelnden Individuum und seiner engeren Um-und Erfahrungswelt zu suchen. Darum ist die bereits in Gang gekommene Frustrationsforschung beim Kleinkind sehr zu begrüßen, Für den Politpädagogen noch viel wichtiger aber wäre eine Einstellungsforschung, die besonders die 12— 20jährigen aufs Korn nimmt, — aber dann freilich nicht bloß auf Frustrationen zielend, sondern auf alle dynamischen Entwicklungs-und Auseinandersetzungsfaktoren, die für das Verständnis der Emanzipationstendenzen relevant sein können. Manche halten einen solchen Forschungsaufwand für unnötig, da sich die jungen Leute, wie bisher noch nach jedem „Generationenkonflikt", schon aus Selbsterhaltungs-und Karrieregründen in das „Bestehende" integrieren würden; und es gibt Anzeichen, die ihnen recht zu geben scheinen. Gleichwohl wäre es sicher falsch, sich mit der Formel: „es renkt sich alles wieder ein", zu beruhigen. Aus dem, was jetzt gärt, können und müssen sich neue Entfaltungsansätze für die Demokratie ergeben. Das aber setzt voraus, daß bei allen ungeduldigen Initiativen auch ein genügend entwickeltes selbstkritisches Mitverantwortungsbewußtsein entfaltet und gewahrt wird; bei vielen muß es erst geweckt werden.
Die Forschung muß daher versuchen, praktisch auswertbare Einsichten über die Auslösungsbedingungen für verantwortliches selbstkritisches Mitdenken und Mithandeln auszuloten
Die meisten Forschungsmittel sind, wie ein Psychologieprofessor im neuesten Lehrfilm „Jugend in unserer Zeit" erklärte, auftragsgebunden, so daß sich eine Selektionspflicht zwischen ethisch vertretbaren und nicht vertretbaren Forschungsprojekten für die Wissenschaft ergibt. Ein Forschungsauftrag jedoch, der hel-fen soll, die heranwachsende Jugend effektiver zu kritisch (auch selbstkritisch) denkenden, mitverantwortungsbereiten Staatsbürgern zu erziehen, wird wohl in keiner ernstgemeinten Demokratie auf politischen Widerspruch oder ethische Bedenken stoßen, selbst nicht bei jenen Psychologiestudenten, die sich auf dem Psychologenkongreß in Tübingen 1968 bei dem Symposion „Psychologie und politisches Verhalten" geschlossen und recht massiv über die vermeintlich vorherrschende Ausnutzung der forschenden Psychologie als Herrschafts-und Ausbeutungsinstrument für kapitalistisches Profitstreben beschwerten 37).