I. Nordirland und die separatistischen Bewegungen in Europa
In einer Epoche, die immer neue Anläufe zu einem freiwilligen, auf dem Prinzip der Gleichberechtigung beruhenden Zusammenschluß der Völker in großen staatlichen und überstaatlichen Gebilden macht, erscheint es fast als ein Paradox, daß der Partikularismus und Separatismus kleiner und kleinster ethnischer Gruppen teilweise üppiger denn je gedeiht. Gerade in Europa gewannen separatistische Bestrebungen trotz aller Erfahrungen der Vergangenheit in den letzten zehn Jahren eine neue Bedeutung. Als Gegenbewegung zu den vielfältigen Bemühungen um eine europäische Einigung entwickelte sich ein neuer Separatismus, der aus den verschiedensten Gründen auf eine Auflockerung der bestehenden Nationalstaaten abzielt und Autonomie oder gar die volle Unabhängigkeit für Nationalitäten verlangt, die in den alten Nationalstaaten mehr oder minder vollständig integriert schienen.
In geographischer Hinsicht ist dabei eine auffallende Verlagerung des Wirkungsraumes dieses Separatismus festzustellen. Denn waren bis zum Ende des II. Weltkrieges vor allem Ost-, Mittel-und Südeuropa das bevorzugte Gebiet nationaler und separatistischer Spannungen, so sieht sich nun vor allem Westeuropa — Frankreich, Spanien, Großbritannien, die Schweiz, Belgien — mit solchen Problemen konfrontiert
Großbritannien sieht sich auf diese Weise heute sogar an drei Stellen gleichzeitig in seinem verfassungsrechtlichen Aufbau und staatlichen Bestand gefährdet. In den keltischen Randgebieten, dem sogenannten „celtic fringe", des von den Engländern bestimmten britischen Nationalstaats gewannen in den 1960er Jahren national-separatistische Bewegungen neue Bedeutung. Anhaltende Unruhen und Demonstrationen wiesen auf gefährliche Spannungen im Verfassungsgefüge des Vereinigten Königreichs hin
Die Vorgänge in Nordirland sind also gar nicht oder nur bedingt dem Phänomen des neuen Separatismus zuzurechnen. In der Berichterstattung der Presse über die Vorgänge in Nordirland wird dieser Unterschied oft nicht deutlich. In Nordirland sind die Probleme weitaus komplizierter. Dort überlagern sich politische, konfessionelle, soziale und nationale Spannungen, die ihre Ursachen zum Teil in fast unbegreiflichen politischen Versäumnissen der Vergangenheit haben. Der Versuch einer Majorität, der Minorität die politische und soziale Gleichberechtigung vorzuenthalten, um die eigene Herrschaft zu sichern, führte Nordirland in eine Krise, deren Beilegung noch nicht abzusehen ist und deren ganze Problematik nur vor dem geschichtlichen Hintergrund zu verstehen ist.
II. Der irische Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert
I. Nordirland und die Bewegungen in Europa II. Der irische 20. Jahrhundert IV. Nordirlands Permanenz? Inhalt separatistischen Nationalismus III. Nordirland heute Zukunft — im 19. Krise und in 1. 2. 3. 1. 2. 3. 4. Die Home-Rule-Bewegung Das Ulster-Problem Die Teilung Irlands im Jahre Das Wahlrecht Die sozialen Spannungen Die Unruhen in Nordirland Die neueste Entwicklung 1920
I. Nordirland und die Bewegungen in Europa II. Der irische 20. Jahrhundert IV. Nordirlands Permanenz? Inhalt separatistischen Nationalismus III. Nordirland heute Zukunft — im 19. Krise und in 1. 2. 3. 1. 2. 3. 4. Die Home-Rule-Bewegung Das Ulster-Problem Die Teilung Irlands im Jahre Das Wahlrecht Die sozialen Spannungen Die Unruhen in Nordirland Die neueste Entwicklung 1920
Irland und Großbritannien waren von 1801 bis 1920 in einer Realunion miteinander verbunden und bildeten das „Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland". Seit der Unterwerfung Irlands durch den englischen König Heinrich II. im späten 12. Jahrhundert stand das Land in einem mehr oder minder engen kolonialen Abhängigkeitsverhältnis zu Großbritannien, das nur zwischen 1782 und 1800 im Gefolge des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges für kurze Zeit von einer autonomen staatlichen Stellung Irlands unterbrochen wurde. Schon 1801, nach einem vergeblichen Versuch, die volle Unabhängigkeit von Großbritannien zu erringen, wurde Irland durch den Act ior the Union, of Great Britain and Ireland in den englischen Nationalstaat einverleibt
Zwischen der Repäsentation in Westminster und den Bevölkerungsanteilen Großbritanniens und Irlands im Vereinigten Königreich bestand also vom Beginn der Union an für lange Zeit eine außerordentliche Diskrepanz. Erst als sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts die Bevölkerungszahlen beider Inseln unterschiedlich entwickelten, hob sich dieses Mißverhältnis zwischen parlamentarischer Repräsentation und Bevölkerungsanteilen auf natür-liehe Weise auf. Durch den Rückgang der irischen Bevölkerung seit der Jahrhundert-mitte, verursacht durch Hungerkatastrophen und Auswanderung, und das stetige Wachsen der britischen Bevölkerung konnte man bereits um 1880 nicht mehr von einer unangemessenen parlamentarischen Vertretung Irlands im Reichsparlament sprechen. Von 35, 3 Millionen Einwohnern des Vereinigten Königreichs lebten 1881
Der unzureichenden Repräsentanz Irlands im Londoner Unterhaus entsprach im administrativen Bereich eine bemerkenswerte Sonderstellung Irlands, die es von den schon früher unierten Reichsteilen Wales und Schottland deutlich unterschied. Das Prinzip der Union wurde nämlich nach 1801 nicht konsequent im Sinne einer einheitlichen Verwaltung des Vereinigten Königreichs angewandt
Die benachteiligte Vertretung Irlands im Unterhaus und das Bestehen einer gesonderten irischen Administration zeigten die Bruchlinien der Union von 1801 an. Der Widerspruch zwischen der beabsichtigten verfassungsmäßigen Verschmelzung Großbritanniens und Irlands in einer Realunion und der tatsächlich bestehenden Diskriminierung Irlands im Vereinigten Königreich wurde zum Ansatzpunkt für die Entstehung des irischen Nationalismus. Die Schwierigkeiten, die dem britischen Reichs-gebilde durch die besonderen wirtschaftlich-sozialen und politischen Verhältnisse in Irland erwuchsen, und die aus diesen Verhältnissen resultierende, praktisch nie abreißende Tätigkeit zahlreicher Organisationen des irischen Nationalismus seit ungefähr 1840 belasteten die britische Innenpolitik des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit Problemen, die schon früh mit dem Schlagwort „Irische Frage" umschrieben wurden
Der sich im 19. Jahrhundert entwickelnde irische Nationalismus hatte nun zwei bedeutsame Folgen. In einem langen Prozeß, dessen entscheidende Etappen die Repealbewegung Daniel O'Connells in den 1840er Jahren, die Home-Rule-Bewegung Isaac Butts und Charles Stewart Parnells und der Dubliner Osteraufstand von 1916 waren, erreichte der irische Nationalismus, daß der größte Teil Irlands 1921 den Status eines Freistaats im Verbände des Britischen Commonwealth erhielt. 1949 erklärte sich dann der Freistaat zur Republik und trat aus dem Commonwealth aus.
Durch das Entstehen des irischen Nationalismus, der anfangs nur Autonomie für Irland, dann aber zunehmend die Trennung von Großbritannien forderte
Schon 1870 kam es zur Bildung der Home Government Association for Ireland, die sich Butts Gedanken zu eigen machte. Sie wurde 1873 abgelöst von der Irish Home Rule League, die für die Idee einer irischen Autonomie werben und die irischen Wahlkreise organisieren sollte. Die Home Rule League wurde zur Hilfsorganisation der nun entstehenden Home-Rule-Partei, die sich nach den allgemeinen Wahlen von 1874 bildete
Eine neue Entwicklung nahm die Home-Rule-Bewegung erst, als sich von der Home-Rule-Partei seit 1875 ein kleiner radikaler Flügel abspaltete, der unter der Führung des Belfaster Lebensmittelhändlers J. Biggar (1828— 90) und des in der Nähe von Dublin begüterten Ch. S. Parnell (1846— 91) im Unterhaus eine systematische Obstruktionspolitik betrieb
Die entscheidende Wende, die aus der kleinen Gruppe der Obstruktionisten eine vom ganzen Land getragene nationale Bewegung werden ließ, lag einmal in dem Nachweis, daß die konseguente Anwendung aller Mittel, die die parlamentarische Geschäftsordnung nicht ausdrücklich verbot, für die Geltendmachung der irischen Forderungen von überraschender Wirksamkeit sein konnte. Seit dem Auftreten Parnells und Biggars war die britische Presse voll von Berichten über die politischen Forderungen Irlands. Zum anderen wurde die Wende bewirkt durch die Erweiterung des vornehmlich auf die Erringung von Autonomie gerichteten politischen Programms der Home-Rule-Partei um drängende soziale Forderungen. Im Unterschied zu früheren politischen Bewegungen in Irland machte sich die Minderheit der Obstruktionisten und später die Parlamentspartei die Interessen der irischen Pächter zu eigen, die durch eine seit 1876 einsetzende Agrarkrise in eine verzweifelte, ihre wirtschaftliche Existenz unmittelbar bedrohende Lage geraten waren. Die irischen Kleinpächter, deren Land fast ausnahmslos Groß-grundbesitzern gehörte, die selbst meist nicht auf ihren Besitzungen, sondern in Dublin oder England lebten, bildeten die Masse der Bevölkerung
Mit der finanziellen Hilfe amerikanischer Iren, den Nachkommen der zahllosen irischen Auswanderer
Dieser Triumph des irischen Nationalismus kündigte zugleich seine Tragödie an. Die Parlamentspartei hatte sich bei den Wahlen in allen irischen Wahlkreisen mit teilweise überwältigender Mehrheit durchgesetzt — mit der Ausnahme der Wahlkreise in Nordostirland. Dort hatten die sogenannten Unionisten, die zusammen mit den englischen Konservativen für die unmodifizierte Aufrechterhaltung der Union mit Großbritannien eintraten, 16 Unterhaussitze gewonnen. Gemeinsam mit den zwei Abgeordneten vom Trinity College, der protestantischen Universität Dublins, bekämpften sie leidenschaftlich die Home-Rule-Forderung der Irischen Partei, die sich mit der Home-Rule-Vorlage Gladstones vom April 1886 zu verwirklichen schien
Wenn auch die Gladstonesche Vorlage den irischen Wünschen sehr weit entgegenkam und eine einem irischen Parlament verantwortliche Exekutive vorsah, so waren die Befürchtungen der Unionisten hinsichtlich der künftigen Tätigkeit eines irischen Parlaments keineswegs berechtigt. Das im Grunde bescheidene Maß legislativer Kompetenzen, das das irische Parlament in der Home-Rule-Vorlage bekommen sollte, wurde durch eine Reihe von Bestimmungen wieder eingeschränkt. Zudem wurde die Funktion des Reichsparlaments als übergeordnete Instanz in der Vorlage der Liberalen nicht in Frage gestellt
Ulster, das aus den neun Grafschaften Donegal, Londonderry, Antrim, Down, Tyrone, Fermanagh, Monaghan, Armagh und Cavan besteht, nahm seit dem 17. Jahrhundert eine vom übrigen Irland deutlich abweichende Entwicklung. Unter dem englischen König Jakob I. (1603— 25) wurde in Ulster damit begonnen, die katholischen irischen Landbesitzer zu enteignen und das Land protestantischen Siedlern aus Schottland und England zu geben
Insgesamt wurden während der Regierungszeit Jakobs I. zwei Drittel des Landes in Ulster konfisziert und an schottische und englische Neusiedler vergeben 25). Die ansässigen Iren verließen entweder die Provinz oder wurden gezwungen, in den unwirtschaftlichen Gebieten Ulsters zu siedeln
sehen Einwanderer fortan in der ständigen Furcht, von der katholischen Majorität aufgesogen zu werden. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Irlands schwankte im 18. und 19. Jahrhundert um 25 °/o
Unterschied sich die Bevölkerung Nordost-Ulsters in ethnischer und konfessioneller Hinsicht vom übrigen Irland, so nahm dieser Teil Irlands seit Ende des 18. Jahrhunderts auch eine vom Rest des Landes abweichende wirtschaftliche Entwicklung. Ein besseres Pacht-recht als im übrigen Irland, das sogenannte Ulster Custom oder Ulster Tenant Right, das die Pächter vor der Willkür der Grundbesitzer schützte, war die Grundlage für eine prosperierende Landwirtschaft. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich daneben eine ausgedehnte Textilindustrie. Seit 1801 zog allein Ulster aus der Einbeziehung Irlands in das vom freihändlerischen Liberalismus geprägte wirtschaftliche System des industriell fortgeschritteneren Großbritanniens und dem Fortfall von Schutzzöllen (seit 1824) einen wirtschaftlichen Nutzen
Als 1912 die dritte Home-Rule-Vorlage im Unterhaus eingebracht wurde und mit ihrer Annahme zu rechnen war, da die Parlamentsreform von 1911 das Vetorecht des konservativen Oberhauses beseitigt hatte, erreichte die Bewegung für die Abtrennung Ulsters von einem Irland unter Home-Rule-Statut ihren Höhepunkt. Unter der fanatischen Führung Sir Edward Carsons, eines bekannten Juristen und Politikers, bildeten die Ulster-Unionisten eine provisorische Regierung für ihre Provinz und begannen mit der Aufstellung paramilitärischer Verbände
Im Sommer 1914 stand Irland am Rande des Bürgerkriegs zwischen Unionisten und Nationalisten. Nur der Ausbruch des Weltkrieges verhinderte die Katastrophe in Irland. Er eröffnete der britischen Regierung in einer hoffnungslos verfahrenen Situation die unerwartete Gelegenheit zu einem Kompromiß: das Home-Rule-Gesetz für Irland wurde zwar vom Parlament verabschiedet und erhielt auch die königliche Bestätigung (September 1914), aber seine Inkraftsetzung wurde bis zum Kriegsende suspendiert, überdies gab der britische Premierminister Asquith im Unterhaus zu verstehen, daß gegen Ulster keine Ge9 walt angewendet werde und das Home-Rule-Gesetz so verbessert werden könne, daß es in Großbritannien und Irland allgemeine Zustimmung fände
Sechs Grafschaften Ulsters (Antrim, Armagh, Londonderry, Down, Tyrone, Fermanagh) machten von der im Government ol Ireland Act von 1920 eingeräumten Option Gebrauch und verblieben im Staatsverband des Vereinigten Königreichs, während sich 26 Grafschaften im Irischen Freistaat zusammenschlossen
Der Government oi Ireland Act von 1920 sah unter Aufrechterhaltung des gemeinsamen britisch-irischen Staatsverbandes je ein autonomes Parlament für Süd-und Nordirland vor. Die Parlamente sollten für die inneren Angelegenheiten der beiden Teile Irlands zuständig sein, während ein Council oi Ireland, bestehend aus Mitgliedern beider Parlamente, für gemeinsame Interessen zuständig blieb. Der Council sollte den Weg offenhalten für eine Wiedervereinigung Irlands
III. Nordirland heute
North Ward South Ward Waterside Ward Insgesamt Gesamtzahl der Wähler 6 476 11 185 5 549 23 210 Nationalistische
(kath.)
Stimmen 2 530 10 047 14 429 1 852 Unionistische (prot.)
Stimmen 3 946 1 138 3 697 8 781 20 Mandate 8 Unionisten 8 Nationalisten 4 Unionisten
North Ward South Ward Waterside Ward Insgesamt Gesamtzahl der Wähler 6 476 11 185 5 549 23 210 Nationalistische
(kath.)
Stimmen 2 530 10 047 14 429 1 852 Unionistische (prot.)
Stimmen 3 946 1 138 3 697 8 781 20 Mandate 8 Unionisten 8 Nationalisten 4 Unionisten
Fünfzig Jahre nach dem Government oi Ire-land Act und dem anglo-irischen Vertrag von 1921, in dem Großbritannien Irland den Dominionstatus gewährte, ist die „Irische Frage" so brisant wie je zuvor. Aber wenn man heute von der „Irischen Frage" spricht, sind nicht mehr wie im 19. Jahrhundert die vielfältigen Probleme zwischen den beiden Inseln gemeint. Der Problemkreis hat sich geographisch verengt: aus der „Irischen Frage" ist genau-genommen eine „Nordirische Frage" geworden, die aber inzwischen den Rahmen eines internen Konflikts in Nordirland gesprengt hat. Die „Nordirische Frage" zeitigte mittlerweile
Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Nordirland und Großbritannien, zwischen Nordirland und der Republik Irland und zwischen Großbritannien und der Republik. Die inneren Verhältnisse dieser Provinz sind der Ausgangspunkt, der „Nordirland" zu einem Verfassungsproblem des Vereinigten Königreichs macht und zu einem außenpolitischen Problem im Verhältnis zu Dublin. Dies führt zu der Frage nach den Spannungen in der Gesellschaft Nordirlands und den Ursachen, die im August 1968 in Londonderry zum erstenmal zur offenen und sich seither ständig verschärfenden Krise führten.
Nordirland hat heute eine Bevölkerung von fast 1, 5 Millionen Menschen, von denen rund zwei Drittel Protestanten und ein Drittel Ka-tholiken sind
In einer Provinz, in der politische und religiöse Überzeugungen mit Leidenschaft vertreten werden, in der ein Protestant, der kein Unionist, und ein Katholik, der kein Nationalist ist, überaus selten sind, gibt es keine fluktuierenden Stimmen, die die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse grundlegend ändern könnten. Die protestantische Vorherrschaft in Nordirland, begünstigt überdies durch das Mehrheitswahlrecht, blieb auf diese Weise fünfzig Jahre lang unbestritten, allerdings um den Preis politischer Stagnation. Die Formen des demokratischen Parlamentarismus wurden zwar nach außen hin gewahrt, aber ein demokratischer Geist konnte in der erstarrten politischen Atmosphäre Nordirlands kaum gedei-hen
Die 12 nordirischen Abgeordneten für das Unterhaus in London werden nach dem allgemeinen, geheimen und direkten Wahlrecht gewählt. Dieses Wahlrecht gilt auch für die Wahlen zum Stormont mit dem Unterschied, daß es Geschäftsleuten mit einem bestimmten Steueraufkommen und eigener Geschäftsniederlassung zusätzlich eine Zweitstimme oder sogar Dritt-und Viertstimmen gibt. Noch 1969 waren auf diese Weise 12 954 Zweit-und Mehrstimmen bei insgesamt 940 000 Stimmen möglich (= 1, 4 °/o der Gesamtstimmenzahl)
Die wichtigste der Zensusbestimmungen war jeder Wähler bei -diejenige, daß Kommunal wahlen nur dann eine Stimme hatte, wenn er Hauseigentümer oder Wohnungsbesitzer war
Die unionistische Regierung Nordirlands hat mittlerweile auch zugestanden, den Zensus abzuschaffen und bei den nächsten Kommunalwahlen, die 1972 stattfinden werden, den Grundsatz des „One man, one vote" zur Anwendung zu bringen. Diese längst überfällige Reform läßt aber einen weiteren Mißstand des Kommunalwahlrechts fortbestehen: die ungleichmäßige Größe der Wahlbezirke, durch die ebenfalls die Katholiken benachteiligt werden. Hier bestehen zum Teil enorme Mißstände, die meist dadurch entstanden, daß die durch Bevölkerungsverschiebungen eingetretenen Diskrepanzen in den Relationen zwischen Bevölkerung und Größe der Wahlbezirke nicht mehr korrigiert wurden.
Der breiten Öffentlichkeit Großbritanniens wurde dieser Mißstand erst durch die Protest-bewegungen bekannt, die seit 1967 gleiche Bürgerrechte in Nordirland fordern
Im Ergebnis bedeutet das, daß bei 14 429 katolischen und 8 781 protestantischen Wählern die katholischen Nationalisten im Stadtparlament mit acht Sitzen und die protestantischen Unionisten mit zwölf Sitzen vertreten waren. Im Durchschnitt wurde damit ein unionistischer Stadtrat mit 730 Stimmen und ein nationalistischer Stadtrat mit 1800 Stimmen gewählt. In anderen Städten war die Situation ähnlich. 2. Die sozialen Spannungen Der vorherrschende Einfluß der Unionisten in den Organen der Kommunalverwaltung und der weitgehende Zusammenfall der politischen Fronten mit den konfessionellen ließen die politische Diskriminierung der Katholiken auch zu einer sozialen werden. In der Vergangenheit war es nämlich üblich, daß unionistische Stadt-und Grafschaftsräte die freien Arbeitsplätze in der Kommunalverwaltung fast ausschließlich an Protestanten vergaben. Dieses Einstellungsverfahren ist in einer Volkswirtschaft dann besonders diskriminierend, wenn Arbeitsplätze knapp sind wie in Nordirland, wo die Arbeitslosenquote trotz der intensiven Bemühungen der nordirischen Regierung um die Ansiedlung neuer Industrien mit 8 0/0 erheblich über dem Durchschnitt des Vereinigten Königreichs liegt
In Londonderry, das mit durchschnittlich 13 °/o eine besonders hohe Arbeitslosenrate hat, waren Ende 1968 nur 30 °/o der Beschäftigten in der Kommunalverwaltung Katholiken, und von den zehn am besten bezahlten Stellen war nur eine von einem Katholiken besetzt
Die gegenseitige Diskriminierung bei der Vergabe von Stellen in der Kommunalverwaltung, der durch eine öffentliche Kontrolle sicherlich beizukommen wäre, setzt sich fort in der Privatwirtschaft, wo bestimmte Firmen dafür bekannt sind, nur Protestanten bzw. Katholiken einzustellen, um — wie die Argumente der Unternehmer lauten — Unruhe an den Arbeitsplätzen zu vermeiden
Es ist ganz offensichtlich, daß die wechselseitig betriebene soziale Diskriminierung dazu angetan ist, die politischen und konfessionellen Spannungen beträchtlich zu erhöhen, zumal die Vergabe Vöh Gemeindewohnungen ebenfalls politischen und wahltaktischen Zwecken untergeordnet wurde. Nach dem letzten Weltkrieg wurde auch in Nordirland der Wohnungsbau staatlich gefördert, so daß bis 1965 nur 38 0/6 allet Wohhungeh und Einfamilienhäuser Von PriVaten gebaut wurden, 62 0/0 hi gegen Von den Gemeinden und dein
Dieses System, das politische Auswirkungen im Hinblick auf Kommunalwahlen mit Bedacht auszuschließen versuchte, wurde im großen und ganzen von der Bevölkerung akzeptiert
Es waren Angehörige dieser katholischen Mittelschicht, die 1964 die Campaign for Social Justice in Northern Ireland ins Leben riefen, um vor allem auf die Diskriminierung von Katholiken in der Stadt Dungannon aufmerksam zu machen
In den ersten anderthalb Jahren ihres Bestehens griff die Association vor allem Einzelfälle auf, in denen sie eine Verletzung der Bürger-rechte zu erblicken glaubte. Als eine Art Selbsthilfeorganisation der katholischen Minderheit wurde sie im August 1968 dann auch in die Ereignisse in der kleinen, überwiegend von Protestanten bewohnten Ortschaft Caledon (Grafschaft Tyrone) verwickelt
ordnete Augustin Currie nach vergeblichen Interventionen im nordirischen Parlament ein von der Gemeinde gebautes Haus. Dieser ungewöhnliche Vorgang erregte einiges Aufsehen, und er veranlaßte die Civil Rights Association, am 24. August 1968 einen Bürgerrechtsmarsch von Coalisland nach Dungannon zu organisieren, da „Caledon" in geradezu exemplarischer Weise das übliche System der von politischen Motiven bestimmten Wohnungsvergabe in Nordirland zu illustrieren schien. Dies war die erste größere Demonstration der Bürgerrechtsbewegung. An ihr beteiligten sich mehr als 2 500 Menschen
War der Bürgerrechtsmarsch nach Dungannon noch in ruhigen Formen abgelaufen, so leitete der Marsch nach Londonderry im Oktober 1968 die zweite Phase der Krise ein
Die Ereignisse in Londonderry vom Oktober 1968, die durch Presse und Fernsehen weite Publizität erhielten, hatten zwei bedeutsame Folgen: 1. In verschiedenen Teilen Nordirlands bildeten sich nach dem 5. Oktober 1968 lokale Vereinigungen, deren Programme sich in den wesentlichen Zügen glichen 74a). Sie forderten das allgemeine Wahlrecht bei Kommunalwahlen, die Neueinteilung der Wahlkreise für Gemeindewahlen, eine Gesetzgebung zur Verhinderung von Diskriminierung bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst, eine gerechte Wohnungspolitik, Auflösung der Ulster Special Constabulary — einer nur aus Protestanten bestehenden, 8 000 Mann starken Sondertruppe der Polizei 74b) und die Aufhebung des Special Powers Act von 1922
Eine der bedeutendsten dieser zunächst lokalen Vereinigungen wurde eine von Studenten der Belfaster Queen's University gegründete Organisation, die unter dem Namen People's Democracy bekannt wurde
2. Eine zweite Folge der Vorfälle von Londonderry war, daß sich die Radikalen unter den protestantischen Unionisten in Reaktion auf die Bewegungen der Bürgerrechtler ebenfalls organisierten. Kern dieser radikalen Bewegung wurde das Ulster Constitution Defence Committee unter seinem Vorsitzenden Ian Paisley
Unter der direkten Kontrolle des Ulster Constitution Defence Commitee steht die militante Organisation der Ulster Protestant Volunteers, die von Major R. Bunting, Mathematiklehrer am Belfaster College of Technology und ehemaliger Offizier der Britischen Armee, geleitet wird. Beide Organisationen bezeichnen sich als „one united Society of Protestant patriots pledged by all lawful means to uphold and main-tain the Constitution of Northern Ireland as an integral part of the United Kingdom as long as the United Kingdom maintains a Protestant Monarchy"
Die Ulster Protestant Volunteers sind offiziell in Nordirland verboten. Ihre direkte Beteiligung an den protestantischen Gegendemonstrationen ist nur schwer nachzuweisen, aber nach Meinung des Cameron Report ist eine solche Beteiligung nicht in Frage zu stellen
Obwohl die nordirische Regierung unter dem Druck der Ereignisse und der Londoner Regierung die von der katholischen Minderheit geforderten Reformen inzwischen eingeleitet hat, trat bisher keine Entspannung der Lage in Nordirland ein. Britisches Militär hält weiterhin die feindlichen Lager auseinander. Auf Seiten der Katholiken wächst die Ungeduld, weil die Verwirklichung der zugesicherten sozialen und politischen Reformen zu schleppend vor sich geht. Die protestantische Seite ist beunruhigt, weil die Reformen nach ihrer Meinung zu weit gehen und die protestantische Vormachtstellung in Nordirland zu bedrohen scheinen.
Besonders seit dem Frühjahr 1970 läßt sich eine weitere Radikalisierung und Verschärfung der gespannten Situation in Nordirland beobachten. Symptome dafür sind die Unterwanderung und Überflügelung der Bürgerrechtsbewegung durch terroristische Elemente
Die Opposition aus Bürgerrechtlern, nationalistischen und sozialistischen Republikanern, Labourabgeordneten, unabhängigen Unionisten und nun Paisley und Beattie ist jedoch hoffnungslos zersplittert. Die Gefahr für Chichester-Clark, der unter den heutigen Umständen schon als ein gemäßigter Unionist betrachtet werden muß, und sein Reformprogramm droht daher nicht von dieser Opposition, sondern aus den eigenen Reihen, denn die bei den Nachwahlen im April 1970 und bei den Unterhauswahlen im Juni 1970 bekundete Popularität des Extremismus wird den Druck nach rechts in der Unionspartei verstärken. Ein Auseinanderbrechen der Unionistischen Partei in Gemäßigte und Radikale rückt in den Bereich des Möglichen.
Auf der anderen Seite hat auch die Irish Republican Army neue Bedeutung erlangt. Sie ist eine kleine Gruppe militanter irischer Nationalisten in Nord-und Südirland, deren Ziel die Errichtung einer geeinten irischen Republik ist. Im irischen Bürgerkrieg Anfang der 1920er Jahre entstanden, spielte sie lange Zeit als Untergrundorganisation in Irland eine verhängnisvolle Rolle. Zuletzt beunruhigte sie in den Jahren 1956— 62 die Bevölkerung beiderseits der Grenze in Irland durch Sprengstoffanschläge, politische Morde und Überfälle. In beiden Teilen Irlands ist sie verboten. Vom Cameron Report wird die Beteiligung der IRA an Demonstrationen der Civil Rights Association als erwiesen betrachtet
Was die Situation so gefährlich macht, ist die Tatsache, daß sich die extremistischen Flügel-organisationen zunehmend mit Waffen versorgen. Es könnte bald eine Lage entstehen, in der ein Funke genügt, um das nordirische Pulverfaß zur Explosion zu bringen. Heute bestehen verblüffende Parallelen zu der Situation in Irland in den Jahren 1912— 14, als Nationalisten, Unionisten und Arbeiterbewegung Privatarmeen aufstellten, Manöver abhielten und sich Waffen besorgten.
Die Regierungskrise in Dublin vom Mai 1970 zeigte überaus deutlich, wie sehr sich der illegale Waffenschmuggel schon ausgeweitet hat. In der jüngsten Vergangenheit hatte die Regierung der Republik Irland gegenüber Nordirland eine bemerkenswert maßvolle Politik verfolgt. Premierminister Lynch, der wie schon sein Vorgänger Sean Lemass eine Politik der Zusammenarbeit mit Nordirland betrieb, hat bisher alles unterlassen, was die nordirische Situation verschärfen konnte. Diese Haltung erklärt auch die schnelle Reaktion Lynchs, als bekannt wurde, daß Minister seines Kabinetts in Waffentransaktionen zugunsten der IRA verwickelt waren. Die Entlassung von drei wichtigen Ministern, selbst unter dem Risiko der Spaltung der eigenen Partei, der Fianna Fail, verriet die Entschlossenheit Lynchs, die politische Entwicklung in Irland unter Kontrolle zu behalten und die auf den bewaffneten Konflikt abzielende Aktivität der IRA zu unterbinden. Die Kabinettskrise zeigte aber zugleich an, in welchem Umfang auch in der Republik die Extremisten unterstützt werden. Dem Sieg Lynchs kann schnell die Niederlage folgen, denn wer für Irlands Wiedervereinigung kämpft, ist in Südirland immer noch ein Patriot.
IV. Nordirlands Zukunft — Krise in Permanenz?
Die Stärkung der extremistischen Lager in Nordirland, die wachsende Unterstützung, die die IRA in Südirland findet, und die schweren Unruhen im Sommer 1970 deuten für die unmittelbare Zukunft nicht auf eine Beruhigung der Verhältnisse in Nordirland hin. Obwohl die nordirische Regierung inzwischen nahezu alle Forderungen der katholischen Minderheit erfüllt hat, bestehen die Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten fort. Die Durchführung von Reformen hat nun große Teile der Protestanten alarmiert und sie den demagogischen Parolen Paisleys zugänglicher gemacht. Die vollständige soziale und politische Emanzipation der Katholiken wird also nicht mit dem Ende der nordirischen Krise gleichzusetzen sein. Vielmehr sieht es so aus, daß sich nunmehr der ursprünglich konfessionelle, soziale und politische Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen Nordirlands auf einen rein konfessionellen Konflikt reduziert. Gerade die Ereignisse im Sommer 1970 haben gezeigt, daß sich Protestanten und Katholiken unversöhnlicher denn je gegenüberstehen. Steht Nordirland am Rande eines Religionskrieges?
Es ist zu fragen, was überhaupt noch an Lösungsmöglichkeiten bleibt, wenn soziale und politische Reformen nicht ausreichen, um die verhärteten Gegensätze zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen aufzuweichen. Von Dublin wurde jahrelang die Wiedervereinigung Irlands als die beste Lösung der irischen Probleme gefordert. Von Beobachtern der irischen Verhältnisse ist diese Lösung angesichts der nordirischen Unruhen wieder auf-gegriffen worden, so etwa von Salvador de Madariaga in der Neuen Zürcher Zeitung
Bezeichnenderweise ist auch die nordirische Nationalist Party von der Forderung nach Vereinigung mit der Republik unter den gegebenen Umständen abgerückt. Fünfzig Jahre nach der Teilung des Landes ist sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Nord-irlands durchaus bewußt, daß ihre Provinz durch die Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich erhebliche wirtschaftliche Vorteile genießt. Der höhere Lebensstandard, den der britische Wohlfahrtsstaat der nordirischen Bevölkerung bietet, würde durch eine Vereinigung mit der Republik Irland aufs Spiel gesetzt werden.
Die Dubliner Regierung hat aus dieser Entwicklung die Konsequenzen gezogen. Zwar wünscht sie weiterhin die Vereinigung Irlands zu einem Staatswesen, doch soll diese Vereinigung nicht gegen den Widerstand der nordirischen Bevölkerung erfolgen. Dublin hofft, daß auf lange Sicht diese Widerstände um so schneller überwunden werden können, je eher sich durch die Mitgliedschaft Großbritanniens und Irlands in der EWG die Lebensverhältnisse auf beiden Inseln angleichen. Ein gewaltsames Eingreifen im Norden hat die Dubliner Regierung bisher grundsätzlich ausgeschlossen
Sofortlösungen gibt es nicht. Eine Lösung der emotionsgeladenen nordirischen Probleme kann letztlich nicht durch eine Änderung der verfassungsmäßigen Stellung Nordirlands erreicht werden, wie sie in abgewandelter Form auch von denjenigen vertreten wird, die die Suspendierung der nordirischen Verfassung von 1920 durch das britische Unterhaus und direkte Kontrolle der Provinz durch London befürworten. Auch das gelegentlich angeführte Modell der Behandlung einer englischsprachigen Minderheit in der kanadischen Provinz Quebec — dort existieren praktisch zwei separate Verwaltungen für die französisch-und die englischsprachige Bevölkerung — würde, auf Nordirland übertragen, kaum die Probleme lösen.
Eine Befriedung Nordirlands kann nur von innen heraus geschehen. Nur wenn die verfeindeten Bevölkerungsgruppen die Bereitschaft zu Toleranz, Verständigung und Zusammenarbeit aufbringen, werden sich die Probleme Nordirlands lösen lassen. Den Kirchen und vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt auch den Gewerkschaften, fällt in diesem langwierigen Erziehungsprozeß eine wichtige, vielleicht sogar die entscheidende Rolle zu. So ist es ein hoffnungsvolles Zeichen in der von Haß und Feindschaft zerrissenen Szenerie Nord-irlands, daß dieser Weg der Verständigung und der Versöhnung von den Kirchen begonnen worden ist. Auf protestantischer und katholischer Seite ist die Initiative ergriffen worden, den konfessionellen Graben, der seit über 300 Jahren Irland so verhängnisvoll gespalten hat, und die aus ihm resultierenden Spannungen zu überwinden