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Hegel-Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft | APuZ 34/1970 | bpb.de

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APuZ 34/1970 Geschichte und Staat bei Hegel Hegel-Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft

Hegel-Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft

Hans Jörg Sandkühler

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Problematische Würdigung

Am 27. August 1770 wurde in Stuttgart Georg Wilhelm Friedrich Hegel geboren. Anlaß, seiner zu gedenken, und Anlaß zur Reflexion über Ursachen und Gründe solchen Gedenkens in um 200 Jahre vorgerückter Situation von Gesellschaft und Staat. Würdigung, soweit nur chronologisch fällig und Befriedigung eigenen historischen Bewußtseins, wäre problematisch, denn ihr „Begriff, wenn er überhaupt je etwas taugte, ist unerträglich geworden. Er meldet den unverschämten Anspruch an, daß, wer das fragwürdige Glück besitzt, später zu leben, und wer von Berufs wegen mit dem befaßt ist, über den er zu reden hat, darum auch souverän dem Toten seine Stelle zuweisen und damit gewissermaßen über ihn sich stellen dürfe. In den abscheulichen Fragen, was an Kant und nun auch an Hegel der Gegenwart etwas bedeute . . . klingt diese Anmaßung mit. Nicht wird die umgekehrte Frage auch nur aufgeworfen, was die Gegenwart vor Hegel bedeutet." Es wäre reizvoll, über Hegel zu schreiben als den, welchem die Nachwelt seit seinem Tode in Berlin am 14. November 1831 Nachrufe widmete; dies nicht zuletzt, um zu bemerken, wann und warum sie es unterließ. , Hegel heute?'— so wurde nicht immer gefragt. Ein , toter Hund'war er nach dem Verstummen seiner Schule für das spätere 19. Jahrhundert, das mit dem Namen eine Philosophie begrub, die der Renaissancen bedurfte, um wieder zu werden, was sie heute ist, — ä Vordre du jour. Eine solche Geschichte der Hegel-Rezeption und -ablehnung ließe Fakten zu Symptomen werden und zu Signaturen eines Prozesses, der abstrakt als gesellschaftlicher Strukturwandel, konkret als sozioökonomische und ideologische Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft zu beschreiben ist. Heute ist Hegel im Zentrum des Interesses, das sich seiner hermeneutisch bemächtigt, um zur Erkenntnis und Kritik der geschichtlichen Bedingungen der Gegenwart beizutragen. 1770 wurde er geboren. Kant verfaßte im gleichen Jahr — vorkritisch noch — , De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et prin-zipiis', Herder seine . Abhandlung über den Ursprung der Sprache'. Was Karl Marx in seiner . Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie'als die Verständnisschwierigkeit der Ungleichzeitigen gegenüber griechischer Kunst und Epos zu begreifen aufgab, gilt — mutatis mutandis — für das gegenwärtige Denken-mit-Hegel’: „Die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehen, daß [die Hegeischen Ideen] an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß [hier freilich: wirkliches Interesse] gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbares Muster gelten." Sollte, was kaum zu widerlegen ist, Adorno im Recht sein — „Die Wahrheit Hegels hat ... ihren Ort nicht außerhalb des Systems [seiner Philosophie], sondern sie haftet an diesem ebenso wie die Unwahrheit. Denn diese Unwahrheit ist keine andere als die Unwahrheit des Systems der Gesellschaft, die das Substrat seiner Philosophie ausmacht" —, so stellt sich die Frage, ob es erneut „die Unwahrheit des Systems der [bürgerlichen] Gesellschaft" ist, die Hegel als Vergangenen gegenwärtig nötig macht. Denn wer Hegel sagt, meint die Wahrheit einer Philosophie, zu deren wahren Sätzen die Reflexion über die Historizität und Vergänglichkeit jeglicher Philosophie gehört und die solchermaßen nicht skrupellos an Vergangenheit als kritische Potenz der Gegenwart herantreten läßt. Hegel-Rezeption hat zu fragen, ob die Möglichkeitsund Notwendigkeitsbedingungen seiner Theorie sich in 200 Jahren nicht verändert haben. Bürgerliche Gesellschaft im revolutionären Aufbruch als Boden und Matrix ihrer Ideologie, wo steht sie heute, an Hegel sich wendend?

Hermeneutik...

Der aufmerksame Beobachter der Arbeit an bzw.des Streites um Hegel hatte in den letzten Jahren Gelegenheit genug, sich dieser Frage nicht zu entziehen. So entstanden in der Bundesrepublik als dem Zentrum heutiger Hegel-Forschung Institutionen mit der Aufgabe, die Konturen eines zeitgemäßen'Hegel-Bildes zu entwerfen. Zeitgemäß? Zweckgemäß, je verschiedenen ideologischen Ansprüchen angemessen, wäre präziser. Die 1956 in Nürnberg zunächst als . Hegelianum'gegründete, seit 1958 internationale , Hegel-Gesellschaft'„stellt sich die Aufgabe, das geistige Erbe Hegels zu pflegen, die Philosophie Hegels in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihren vielfältigen Beziehungen zu vorgehenden und nachfolgenden Theorien kritisch zu erforschen und darzustellen, die aktuelle Bedeutung Hegels und des Hegeischen Denkens herauszuarbeiten sowie insbesondere die mit dem Namen Hegels eng verknüpfte dialektische Methode in all ihren Erscheinungsformen und in ihrer Anwendung wissenschaftlich zu untersuchen und fortzubilden." Unter dem Vorsitz des Salzburger Juristen und Hegelspezialisten W. R. Beyer, der zahlreiche neue Hegeliana ausfindig machte, profilierte sie sich durch das , Hegel-Jahrbuch', ihr Publikationsorgan, und in vielbeachteten Kongressen, die Treffpunkt nicht nur der Philologen waren. Genf 1962 (Logik), Salzburg 1964 (Ästhetik), Prag 1966 (Rechtsphilosophie) und Paris 1969 (Philosophie der Geschichte) — Daten, die eine Tendenz zu politischer Beschäftigung mit Hegel andeuten; Brückenschläge zugleich über den Abgrund, der Sozialismus und bürgerliche Gesellschaft auch in der Wissenschaft scheidet.

Daß gerade Hegel Überbrückungen zu leisten vermag, trat unübersehbar zutage. Dies nicht etwa, weil er durch historische Distanz, durch philosophiegeschichtliche Kanonisierung zum Klassiker stilisiert, sich als ideologisches Neutrum den Parteien darböte zu beliebiger Zitierung und Ahnenpflege, sondern weil sich in Hegels Theorie eine Gesellschaft ihr theoretisches Abbild geprägt hat, die trotz struktureller Wandlungen in West und Ost mehr oder minder noch existiert. Gerade daß Hegel mit seiner These von der als Realität der Vernunft begreifbaren Wirklichkeit, von der Wirklichkeit des Geistes in Recht und Staat, durch die Geschichte — nicht erst seit Auschwitz — ins Unrecht gesetzt wurde, macht seine Gültigkeit als Korrektiv der Unvernunft in der Gegenwart von Recht, Staat und Gesellschaft aus.

Man kommt, trotz des Wunsches von O. K. Flechtheim, gar bald Hegels Rechtsphilosophie mit anderen Attributen der Barbarei wie Henkersbeil und Guillotine im Museum konserviert zu wissen, ohne Hegel offensichtlich nicht aus. Wie überhaupt die Aufhebung der Philosophie als eines Instruments möglichen Heils nicht ohne Aufhebung der Bedingungen denkbar ist, die Philosophie als Kompensation realer Mängel immer noch notwendig machen. Die hermeneutische, am Modell der , historia'als , magistra vitae'orientierte Reproduktion der Hegeischen Philosophie ist gesteuert vom Interesse unserer Gesellschaft an Veränderung und Besserung, ist Produkt der Dialektik des konkreten Lebens, das sich in jener von Erkenntnis und Interesse widerspiegelt. Sie ist Mittel zum Zweck, Maximierung der Freiheit durch Minimisierung jener Widersprüche, die in der idealistischen Denktradition dazu geführt haben, Freiheit nur in den Grenzen der Notwendigkeit begreifen zu sollen.

In diesem Zusammenhang verdient ein Satz Hegels Beachtung, der von Notwendigkeit spricht — jedoch in einer wesentlichen Kehrtwendung gegen jede Apologie des Bestehenden als unveränderlicher Notwendigkeit: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, -— ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben." Und andernorts: „Eine Freiheit, die keine Notwendigkeit in sich hätte, und eine bloße Notwendigkeit ohne Freiheit, dies sind abstrakte und somit unwahre Bestimmungen. Die Freiheit ist wesentlich konkret, auf ewige Weise sich bestimmt und somit zugleich notwendig." „Freiheit", wird es später bei Fr. Engels heißen, legitime Erbfolge auf Hegel bezeugend, „besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten begründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur"; sie ist damit notwendig ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung . . ., aber jeder Fortschritt in der Kultur war ein Schritt zur Freiheit."

Die hermeneutische Zuwendung zu Hegel zielt auf seine Theorie der Freiheit, progressiver Befreiung, und ist damit praktisch. Sie ist politisch. Wer da, dem Fetisch wissenschaftlicher Neutralität Tribut zollend, meint, von einer unangemessenen Politisierung Hegels reden zu müssen, findet sich in dessen Werk selbst auf den Anspruch der Wissenschaft als Politik verwiesen. Die genannten Kongresse sind beredtes Beispiel: In Prag — wie in Lidice anläßlich einer Gedenkstunde für die Opfer des Faschismus — formulierte sich als Einsicht, daß Philosophie einen spezifischen Beitrag zur Humanisierung des Rechts und der Recht setzenden Herrschaft zu leisten habe. Die Aufgabe hat Hegel gestellt, mit dem Anspruch der Analyse, doch deutlichem Antizipationscharakter: es sei — bzw. solle sein — „das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit" Und als 1969 Paris Philosophen aus 16 Ländern — geographisch und ideologisch von Hanoi bis New York — vereinte, wurde Hegel bestürzend bestätigt. „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt", hatte Hegel vor 150 Jahren in der Vorrede zur Rechts-philosophie gesagt, „dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit. Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen". Selbst vor der Erkenntnis noch schloß der , alt‘ gewordene Gaullismus die Tore des College de France mit der Feststellung, „daß die allgemeine Sicherheit der Universität das Risiko gewisser Unruhen in seinen Hallen anläßlich des Hegel-Kogresses" ausschließen heiße. Das Risiko trug den Namen Marcuse, Vergegenwärtigung der Sprengkraft dialektischen Hegelianismus und seiner Nähe zum Marxismus. Lucien Goldmann, der Philosophie verbundener Sozialwissenschaftler, resümierte, es sei der Kongreß in Paris in der Situation eines offenen Anthihegelianis-mus gut placiert gewesen. Nachdem es gegolten habe, gegenüber dem subjektivistischen, den geschichtlichen Fortschritt und dessen Sinn negierenden Nachkriegs-Existentialismus das Prinzip der Objektivität historischer Notwendigkeit ins Feld zu führen, sei heutzutage mit Hegels Begriff der Subjektivität (als dem Ereignis der Neuzeit) gegen den objektivistischen, kein Geschichtssubjekt und dessen Freiheit anerkennenden Strukturalismus Front zu machen. Mit Hegel, weil in seiner Theorie das Denken zur Erkenntnis der menschlichen Praxis und deren möglicher Vernünftigkeit durchstoße. Und mit gallischem Aperu ein Jahr nach dem Pariser Mai '68: Strukturen gehen nicht auf die Straße.

Nicht ob Hegel dieses oder jenes gesagt oder gemeint, kann heutige Hegel-Forschung klären wollen; sondern wie eine des Antiquarischen bare Selbstverständigung der Gegenwart im Medium . Hegel" zu gewinnen sei. Dieses Begreifen der Aktualität Hegels bestimmt auch das Programm des Kongresses vom 23. bis 29. August 1970 in Berlin (DDR), der der Wiederkehr des 200. Geburtstags gewidmet ist. Seine Themen: Lenins Hegel-Kritik, Sprache und Bewußtsein, Naturdialektik und historische Dialektik, Hegel und das Problem der bürgerlichen Gesellschaft. 1972 lädt die . Hegel-Gesellschaft" nach Moskau ein. (Gegenüber dieser . linken" Schule hat sich die konservative ihre eigene Organisation in der 1962 gegründeten und von H. G. Gadamer geleiteten „Internationalen Vereinigung zur Förderung des Studiums der Hegeischen Philosophie" gegeben, die eng verbunden ist mit der ebenfalls in der Bundesrepublik beheimateten . Hegel-Kommission" und dem . Hegel-Archiv", den gemeinsamen Herausgebern der , Hegel-Studien". Würde der unfruchtbare ideologische Sektenstreit nicht durch . Wanderer zwischen zwei Kongressen" unterlaufen, wäre die Provinzialisierung der Hegel-Forschung in Sichtweite. Erfreulich daher die Herausgabe einer neuen, historisch-kritischen Hegel-Ausgabe, die in Bochum entsteht.

. . . und Politik

Hegel-heute — ein Politikum. Er ist es nicht erst in der Debatte zwischen Marxisten und Nichtmarxisten um die Legitimität der Erbfolge geworden. Unterscheidbare geschichtliche Stadien, verschiedene gesellschaftliche Fragestellungen, haben in mehreren Hegel-

Renaissancen Bilder des Philosophen geschaffen, deren Vergleich Konfusion hervorriefe, zöge man ihn nicht im Bewußtsein der Bedürfnisse und Motivationen der Hegelforschung.

W. R. Beyer hat das Verdienst, eine Typologie der , Hegel-Bilder" erarbeitet zu haben. Der Untertitel weist sie als . Kritik der Hegel-Deutungen" aus 8 ). Beyer ist Polemiker, wie las 19. Jahrhundert und mit ihm gerade auch Hegel recht unakademisch polemisiert hat; seine Parteilichkeit schont den Gegner nicht, bleibt aber fair. Dem klassischen wie dem modernen , Post-Hegelianismus'wirft er „das Besserwissen des Hegeischen Wissens" vor, mehr noch: das Vorbeidenken an Hegel, wofern dieser nur noch als Wurzel später Früchte (des Marxismus) Interesse findet. „Das marxistische Hegelbild wird daher für den Idealismus der wichtigste Betrachtungsgegenstand, weil Hegel nicht mehr in der Form der eigenen Hegeischen Philosophie, sondern in der Wirkung der Hegel-Auseinandersetzung des Marxismus seine weltweite Bedeutung aktualisiert." Pointe des Plädoyers für eine Hegel-Arbeit an Hegel ist: dies fordert ein Marxist. . Linker', Jung-Hegelianismus — von David Friedrich Strauß, Bruno Bauer, Arnold Ruge bis hin zu Feuerbach und zum jungen Marx — eröffnet die Wirkungsgeschichte Hegels und den Hegelianismus. Zeitgenössisch gesellt sich ihm zu der . rechte', der konservative Alt-Hegelianismus, getragen von H. Leo, Ph. K. Marheineke, Gabler und Göschel u. a., die gemeinsam auszeichnet, das . System'Hegels ernster zu nehmen als die Methode, die dialektische, über lange Zeit stellten andere philosophische Richtungen — wie die Schellingsche . positive'Philosophie, der theologische Spätidealismus, aufkommender Positivismus, die Wiederentdeckung Kants um 1860 und der sich anschließende naturwissenschaftlich orientierte Marburger Neukantianismus — die Tradition Hegels in ihren Schatten. Refugium seiner Philosophie blieb der wissenschaftliche Sozialismus als ernsthafter Nachlaßverwalter, doch auch der nicht unangefochten: Kant, d. h. ein auf seine Ethik setzender Sozialismus (Cohen, Lange, Staudinger, Woltmann, Vorländer), wurde zunehmend zum theoretischen Widerpart des hegelianischen Marxismus in der deutschen Sozialdemokratie. Nicht folgenlos, wie der Fall Bernstein belegt. Die nach der Jahrhundertwende folgende , Hegel-Renaissance'durch den Neu-Hegelianismus (Lasson, Kroner, Larenz, Binder) hatte sich durchzusetzen gegen ein Argument, das auch heute noch sperrig die Hegel-Forschung belastet: „Man kann noch immer nicht von Hegels politischer Philosophie reden, ohne mit der Vorstellung vom preußischen Reaktionär Hegel rechnen zu müssen."

Die erneute Zuwendung zu Hegel, aus dem Geiste des Neukantianismus geboren, trug geistes-, probiern-und lebensphilosophische Züge. Dilthey, Spranger, Litt, um nur einige zu nennen, — diese Namen sind mit jener Hegel-Renaissance eng verbunden, die sich, nach Beyer, „im Rahmen einer idealistischen Philosophie" vollzieht. , Der revolutionäre Hegel'— mit ihm verbindet sich ein wesentlicher Traditionsstrang, der bereits vor der leninistischen Hegel-Deutung im Hegelianismus des vorrevolutionären Rußlands wirksam ist: Alexander Herzen — auf ihn beruft sich Lenin ausdrücklich — nennt die Dialektik als Kind Hegels die „Algebra der Revolution". Das Verdienst, das offizielle Hegel-Bild innerhalb der westdeutschen Nachkriegsphilosophie um den Zusammenhang von Philosophie und Revolution bereichert zu haben, gebührt Joachim Ritters „Hegel und die Französische Revolution" einem der wenigen Bücher, das bürgerliche und marxistische Hegel-Interpreten gleicherweise anerkennen und zitieren.

Beyers Typologie analysiert kritisch als weitere Bestandteile ideologischer Bemächtigung einen , restaurativen Hegel', den . evangelischen'und endlich . katholischen Hegel Wichtiger aber sein deutliches Wort zu einer Tendenz, auf die außer ihm unmißverständlich nur Herbert Marcuse aufmerksam gemacht hat: zum Hegel-Mißbrauch des Faschismus, dessen Staatstheorie in Deutschland (Larenz, Binder z. B.) und in Italien (Gentile, Spirito z. B.) philosophisch abgesichert werden sollte. Wer dies nicht verschweigt, kann rechtens jedoch ins Feld führen, daß die Ideologen des Faschismus Hegel gerade wegen seiner Nähe zum Liberalismus, wegen seiner marxistischen Nachfolger weit von sich gewiesen haben. Rosenbergs , Mythos des 20. Jahrhunderts'erwähnt ihn, doch nur, um ihn als , antivölkisch'abzutun.

Es ist notwendig, auf diese Schattenseite des Hegelianismus hinzuweisen, weil das Faschismus-Argument (im Sinne eines , Links'-Fa-schismus, wohlgemerkt) heute von Popper und Topitsch hervorgezaubert wird: Hegel als Stammvater des Totalitarismus. Es wäre riskant, solches als Kuriosum zu belächeln. Die Animosität gegen Hegel meint mehr, als sie zu erkennen gibt: sie ist gespeist aus dem positivistischen Unbehagen an jedweder Philosophie, die dialektisch denkt und Dialektik als geschichtstragendes Prinzip ausweist; Dialektik-Kritik wendet sich gegen die materiale Grundlage des Begriffs, gegen jene Verände-rung, die geschichtsphilosophisch begriffen wird, um gesellschaftlicher Praxis eine Waffe an die Hand zu geben.

Die Begriffe der Philosophie

, Hegel-heute‘ — ein Politikum. Nicht erst die Wiederbelebungsversuche verschiedener Hegelianismen erlauben, dies zu sagen. Die klassische deutsche Philosophie, die nur eine Erscheinungsform der europäischen Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft im Zeitalter politischer und ökonomischer Revolution war und als Revolutionsdenken von allen idealistischen und romantischen, restaurativen Gegentendenzen wohl zu unterscheiden ist, hat sich in erster Linie als politische Geschichtsphilosophie ausgebildet. Dies gilt für Georg Forster, für Kant und den Kantischen Jakobinismus in Deutschland für v. Humboldt und Fichte, zumal den vor 1880. Es trifft unverwechselbar zu für Hegel. Seine Rede von „kantischer, fichte’scher und schelling'scher Philosophie" ist zugleich auch Selbstreflexion: „In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welchem der Geist in der letzten Zeit in Deutschland fortgeschritten ist; ihre Folge enthält den Gang, welchen das Denken genommen hat"

Hegels Funktionsbestimmung der Philosophie als Theorie in dialektischem Bezug zur Praxis — „Die Philosophie ist identisch mit dem Geiste der Zeit, in der sie auftritt; sie steht nicht über ihrer Zeit, sie ist nur das Bewußtsein des Substantiellen ihrer Zeit, oder das denkende Wissen dessen, was in der Zeit ist." — „Die Philosophie hat es mit dem Gegenwärtigen, Wirklichen zu tun." — „Das, was ist, zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das, was ist, ist die Vernunft." — „Die Philosophie [ist] ihre Zeit in Gedanken erfaßt." — ist unmittelbar verkettet mit jenem Ereignis, das unsere Epoche eingeläutet hat, mit der Französischen Revolution. „In solchen Zeiten, wo die politische Existenz sich umkehrt, hat die Philosophie ihre Stelle; und dann geschieht es nicht nur, daß überhaupt gedacht wird; sondern dann geht der Gedanke voran und bildet die Wirklichkeit um ..." „Diese Zusammenstimmung der politischen Revolutionen mit dem Auftreten der Philosophie" hat sich im ganzen Werk explizit niedergeschlagen. Was die Philosophie der Geschichte seit Vico — entsprechend der Einsicht also, daß die „historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist", eine „Welt, die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen geschaffen haben" — antizipiert hat, weiß Hegel als Wirklichkeit: mit der Französischen Revolution hat der Mensch bewiesen, was ihm das Denken der Neuzeit zudiktierte, — seine Subjektfunktion in der Geschichte. „Die Philosophie ist ein immanentes, gegenwärtiges, präsentes Denken, enthält die Gegenwart der Freiheit in den Subjekten"; der Mensch als Subjekt der Geschichte, die er macht, indem er sich zum Subjekt seiner selbst macht und die Entfremdung in Herren und Knechte sprengt, ist Subjekt auch der Hegeischen Philosophie. . Zusammenstimmung’ von Philosophie und geschichtlicher Praxis bedeutet in ihr nicht mehr — und nicht weniger —, als daß zur Freiheit das Bewußtsein Freier gehört und daß dieses Bewußtsein , unwahr'ist, wenn es nicht das bewußte Sein von Freiheit zum Inhalt hat. Der erkenntnistheoretische Satz: „was aber gedacht wird, erkannt wird, gehört der menschlichen Freiheit an" ist keine spekulative Setzung. Ihm geht in praxi voraus, „daß die Orientalen nur gewußt haben, daß Einer frei sei, die griechische und römische Welt aber, daß einige frei sind, daß wir aber wissen, daß alle Menschen an sich frei, der Mensch als Mensch frei ist" Hegel, der . abstraktes'Denken karikiert und der Lächerlichkeit preisgegeben hat, imaginiert im , Menschen-an-sich‘ kein Wesen außerhalb der politischen Realität. Die Wahrheit dieses Allgemeinen ist seine Konkretheit, entgegen spekulativer Folgenlosig-keit zum praktischen Begriff gebracht in der Rechtstheorie (§ 209): „ Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in der Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u. s. f. ist." Dies ins Stammbuch der Faschismus-Argumentierer. „Was Hegels Denkweise vor der aller anderen Philosophen auszeichnete, war der enorme historische Sinn, der ihr zugrunde lag. So abstrakt und idealistisch die Form, so sehr ging doch immer seine Gedankenentwicklung parallel mit der Entwicklung der Weltgeschichte, und letztere soll eigentlich nur die Probe auf die erstere sein. Wenn dadurch auch das richtige Verhältnis umgedreht und auf den Kopf gestellt wurde, so kam doch überall der reale Inhalt in die Philosophie hinein"; und die kritische Würdigung derer, die ihn vom Kopf auf die Füße zu stellen unternahmen, Marx und Engels, resümiert: „Diese epoche-machende Auffassung der Geschichte war die direkte theoretische Voraussetzung der neuen materialistischen Anschauung."

Hegel hat, auf Wirklichkeit hin, idealistische zeitgenössische Ansätze überholt: so den Schillers, im Ästhetischen eine Totalität zu gewinnen, die aber Vernunft nicht in der Hermeneutik des politisch, sozial und ideologisch Erreichten gewinnt, sondern nur in der realitätskritischen Identitätstheorie der Kunst;

auch den Fichtes, der den Versuch der Realisierung der Außenwelt durch das reine , Ich‘ mit der Entfernung der politischen, im Recht präsenten Hoffnung auf Freiheit in die Utopie bezahlt; und schließlich den seines Gegenspielers Schelling, den ein analoger Versuch zum Urteil der Uneigentlichkeit der bürgerlichen Welt und zum Regreß in die verlorene Zeit des vorgeschichtlichen , goldenen Zeitalters'leitet. Hegels Theorie hat auf die Provokation der Französischen Revolution affirmativ geantwortet. „Da seit zehn Jahren ganz Europa seine Aufmerksamkeit auf das fürchterliche Ringen eines Volkes nach Freiheit heftete und ganz Europa in allgemeiner Bewegung deswegen war, so kann es nicht anders sein, als daß die Begriffe über Freiheit eine Veränderung erlitten und sich aus ihrer vorherigen Leerheit und Unbestimmtheit geläutert haben." Sein Beitrag zu dieser Läuterung war der Begriff der Freiheit als Inhalt und Bedingung der Rechtsfähigkeit des Individuums im modernen Staat. Zu diesem Begriff gehört die Einsicht, daß die reale politische Alternative zum revolutionär in der bürgerlichen Gesellschaft Erreichten nicht das romantisch-utopisch geforderte Maß . absoluter'Freiheit sein konnte, sondern vielmehr der Gegenschlag gegen die — durch die bürgerliche politische Revolution zugleich ermöglichte — kapitalistische Verdinglichung des Person-Sache-Verhältnisses im Arbeitsprozeß und gegen die daraus entstehenden Produktions-und Eigentumsverhältnisse.

„Homo politicus“

Hegel hat seine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft im Augenblick ihres revolutionären Herrschaftsantritts in vielen Stufen seines Werks niedergelegt. Politisches Interesse charakterisiert seine frühesten Schriften, die posthum mißverständlich als „theologische Jugendschriften zugänglich gemacht wurden. . Vertrauliche Briefe über das vormalige Staatsrechtliche Verhältnis des Waadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern. Eine völlige Aufdeckung der ehemaligen Oligarchie des Standes Bern', die Übersetzung und Kommentierung einer Schrift des Lausanner Advokaten Gart, erschienen 1798 in Frankfurt. , Uber die neuesten innern Verhältnisse Württembergs, besonders über die Gebrechen der Magistrats-verfassung'schrieb er 1798; darin heißt es: „Die ruhige Genügsamkeit an dem Wirklichen, die Hoffnungslosigkeit, die geduldige Ergebung in ein zu großes, allgewaltiges Schicksal ist in Hoffnung, in Erwartung, in Mut zu etwas anderem übergegangen. Das Bild besserer, gerechterer Zeiten ist lebhaft in die Seelen der Menschen gekommen, und eine Sehnsucht, ein Seufzen nach einem reinern, freiern Zustande hat alle Gemüter bewegt und mit der Wirklichkeit entzweit." Der Republikaner Hegel beließ es nicht bei der Zustimmung zur Revolution. Gleichzeitig lernte er die englische Nationalökonomie, die fortgeschrittenste bürgerliche Ökonomie, kennen, und mit ihr Gründe und Ursachen der Revolution. 1800 bis 1802 entstanden Fassungen der Schrift , Die Verfassung Deutschlands'. Angesichts der Vorgänge im Nachbarvolk stellt er apodiktisch im ersten Satz fest: „Deutschland ist kein Staat mehr... Es ist kein Streit mehr darüber, unter welchen Begriff die deutsche Verfassung falle. Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr." Politische Hermeneutik, „das Verstehen dessen, was ist", d. h. die Erfahrung Deutschlands „in dem Krieg mit der französischen Republik . . ., wie es kein Staat mehr ist" opponiert bereits hier, den revolutionären Fortschritt anerkennend, gegen regressive Träumerei und politische Restaurationstendenz: Es mißbilligend und als historische Absurdität entlarvend, zitiert Hegel als „anderes Interesse . . . die Rettung desjenigen, was man sonst deutsche Freiheit nannte".

„Deutsche Freiheit hieß sonst nichts anderes, als die Unabhängigkeit der Stände vom Kaiser, [ihr Dilemma war: ] entweder Sklaverei und Despotismus — oder Aufhebung des Staatsverbands, die ältern Zeiten kannten nichts Drittes." Uber dieses ancien regime“ und seine desolate Freiheit ist die Revolution hinweggegangen. Freiheit ist von der Gleichheit Freier nicht mehr zu trennen.

Im . Kritischen Journal der Philosophie'von 1802/03 folgte die Abhandlung , Uber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Natur-rechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften', im gleichen Jahr ein (von Hegel nicht selbst so betiteltes) . System der Sittlichkeit'als erste philosophische Systematisierung historischer Erfahrung.

Hatten die politischen Jugendschriften keine unmittelbare zeitgenössische Wirkung, so wurde der praktische Bezug wenige Jahre später zentral. Als Gymnasiallehrer vermittelte Hegel in seiner . Philosophischen Propädeutik'u. a. eine Rechtslehre „für die Unterklasse" und eine . Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse', deren §§ 173— 202 (1808 ff.)

den praktischen Geist'zum Thema hatten.

In den politischen Tagesstreit einzugreifen, erhielt Hegel 1817 Anlaß: Seine . Beurteilung der im Druck erschienenen Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg in den Jahren 1815 und 1816'war eine unmißverständliche Parteinahme für den König als progressive Kraft und gegen die auf , das gute alte Recht'pochenden Stände. Während Schelling mit den Ständen paktierte, einen anti-bürgerlichen, feudal-altständischen Konservatismus an den Tag legte — „das ganze Reden und Treiben von Verfassung" erschien ihm „da wo es am lebhaftesten getrieben wird, als leeres Gaukelspiel" —, forderte Hegel die Einlösung eines von König Friedrich 1815 gegebenen Verfassungsversprechens. Er kritisierte, „daß die ungeheure Erfahrung, die in Frankreich und ... in Deutschland . .. gemacht worden ist, für diese Landstände verloren war", folgenlos blieb wegen deren anachronistischen „steifen Beharrens auf dem positiven Staats-rechte", und setzte dem rigoros entgegen, „daß hundertjähriges und wirkliches positives Recht mit Recht zugrunde geht, wenn die Basis weg-fällt, welche die Bedingung seiner Existenz ist" 1816 nannte er Gründe für seine politische Einstellung: „daß der Weltgeist das Kommando zu avancieren gegeben. Solchem Kommando wird pariert; dies Wesen schreitet wie eine gepanzerte . .. Phalanx unwiderstehlich . . . vorwärts. . . Die Reaktion, von der wir soviel dermalen sprechen hören, habe ich erwartet. Sie will ihr Recht haben. .. Die ungeheuerste Reaktion, die wir gesehen, gegen Napoleon, hat sie denn im Wesen, im Guten und im Bösen, gar so viel geändert?" Hegels Progressivität ist unbestreitbar. Die Landständeschrift, in der er den „Zustand der Verfassungsgrundlagen" als „eine unerschöpfliche Rüstkammer für Advokaten und Konsulenten zu Deduktionen" moniert und als Zustand ablehnt, „wodurch die Verfassungskenntnis und damit mehr oder weniger die Sache selbst dem Volke entzogen wird" ist nur Beleg unter Belegen. In seinem Todesjahr (1831) nahm Hegel ein letztes Mal öffentlich zur Politik seiner Zeit in einem Artikel: „Über die englische Reformbill’ Stellung. Die . Allgemeine Preußische Staatszeitung'sah sich daran gehindert, den Schluß der Abhandlung zu drucken.

Die Auffassungen Hegels zur Revolution haben sich scheinbar seit seinem frühen Enthusiasmus gewandelt, erscheinen skeptisch, abratend, furchtsam. Dieser Schein trügt, weil die Affirmation der Revolution nie außer Blickfeld geraten ließ, was die bürgerliche Revolution an immanenter Negativität in Symbiose nährte: die Gefahr marxistischer Behauptung der Subjektivität als Überholen der Revolution von links in der Idee absoluter Freiheit, auch vom Recht, oder aber die drohende Reaktion restaurativer Preisgabe des revolutionär Erreichten. Bestehen auf dem Vernünftigen an der Wirklichkeit — mehr meint seine Ablehnung zu eiligen Reformen in England nicht. Sie ist geprägt von Respekt und Ernstnahme des , Volks'als des politischen Subjekts; daß der Begriff dieses , Volks'1831 soziologisch differenzierter ist, als in der phi-lantropischen Bekräftigung seiner Potenz in früheren Jahren, bedarf keines Kommentars.

Die Herausbildung und Verstärkung der Klassenantagonismen geschah im 19. Jahrhundert nicht mit einem Schlag und trat nicht erst im . Kommunistischen Manifest'1848 ins Bewußtsein. Sollte — so Hegel — der Staat nicht in der Lage sein, die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft zu lösen, so würde „die andere Macht . . . das Volk sein, und eine Opposition, die, auf einem dem Bestand des Parlaments bisher fremden Grund gebaut, sich im Parlamente der gegenüberstehenden Partei nicht gewachsen fühlte, würde verleitet werden können, im Volke ihre Stärke zu suchen und dann statt einer Reform eine Revolution herbeizuführen."

Der sich gleichbleibende Tenor der politischen Schriften Hegels, der pragmatischen wie der philosophischen, liegt bereits im Januar 1795 klar vor im Briefwechsel mit (dem damals noch demokratischen) Schelling: „Vernunft und Freiheit bleiben unsere Losung." Und Schellings Replik: „Das A und O aller Philosophie ist Freiheit." Konkret heißt dies für Hegel, „daß der Nimbus um die Häupter der Unterdrücker und Götter der Erde verschwindet. Die Philosophen beweisen diese Würde, die Völker werden sie fühlen lernen, und ihre in den Staub erniedrigten Rechte nicht fordern, sondern selbst wieder annehmen, -—-sich aneignen. Religion und Politik haben unter einer Decke gespielt, jene hat gelehrt, was der Despotismus wollte, Verachtung des Menschengeschlechts, Unfähigkeit desselben zu irgend einem Guten, durch sich selbst etwas zu sein." Nicht zu verschweigen allerdings auch, daß Skepsis gegenüber der praktischen Macht der philosophischen Theorie von Anbeginn mitschwingt, der Einsicht entsprechend, daß , die Waffen der Kritik die Kritik der Waffen'(Marx) nicht zu ersetzen vermögen. Was nicht hindern soll, „die Schätze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der Menschen wenigstens in der Theorie zu vindizieren." Dieses . wenigstens'ist nicht resignativ. In reifer Formulierung zu Ende gedacht: „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt ohnehin die Philosophie immer zu spät.“ Der Kontext dieses Satzes der Rechtsphilosophie entzieht ihn dem Vorwurf des Quietismus’.

Hegel und die bürgerliche Revolution

„Das Ereignis, um das sich bei Hegel alle Bestimmungen der Philosophie im Verhältnis zur Zeit, in Abwehr und Zugriff das Problem vorzeichnend, sammeln, ist die französische Revolution, und es gibt keine zweite Philosophie, die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution ist wie die Hegels." Gegenüber apodiktischer Gegenthese — „En resume, l'attitude politique de Hegel est nettement anti-revolutionnaire" — und scharfsinniger

Modifikation — „Hegel erhebt die Revolution zum Prinzip der Philosophie um einer Philosophie willen, die als solche die Revolution überwindet" — kann Ritters Hegel-Interpretation Anspruch erheben nicht nur auf ein genuines Hegel-Verständnis; sie öffnet zugleich der Flegel-Kritik die Tür, die das ideologische Produkt von den geschichtlichen Produktionsbedingungen bestimmt weiß: „Die deutsche Rechts-und Staatsphilosophie ist die einzige mit der offiziellen modernen Gegenwart al pari stehende deutsche Geschichte." Hegel ist Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft. Dies seine Größe — und dies seine Grenze. „Wie die Bourgeoisie durch die große Industrie, die Konkurrenz und den Weltmarkt alle stabilen, alt ehrwürdigen Institutionen praktisch auflöst, so löst diese dialektische Philosophie alle Vorstellungen von endgültiger absoluter Wahrheit und ihr entsprechenden absoluten Menschheitszuständen auf. Vor ihr besteht nichts Endgültiges, Absolutes, Heiliges; sie weist von allem und allem die Vergänglichkeit auf, und nichts besteht vor ihr als der ununterbrochene Prozeß des Werdens und Vergehens . . ., dessen bloße Wider-spiegelung im denkenden Hirn sie selbst ist. Sie hat allerdings" — fährt Engels fort — „auch eine konservative Seite: Sie erkennt die Berechtigung bestimmter Erkenntnis-und Gesellschaftsstufen für deren Zeit und Umstände an; aber auch nur so weit. Der Konservatismus dieser Anschauungsweise ist relativ, ihr revolutionärer Charakter ist absolut — das einzige Absolute, das sie gelten läßt."

Die sogenannte , Terreur', die . Schreckensherrschaft'Robespierres von Juni 1793 bis Juli 1794, hat sich für die bürgerliche deutsche Ideologie als Katalysator erwiesen; an ihrer Beurteilung haben sich die Fronten geklärt, sie hat die emphatische Zustimmung zur Revolution im Kreise der späteren Aufklärer (so z. B. Ch. M. Wieland) und frühen Romantiker (offensichtlich bei Fr. Schlegel, bei Görres, Tieck und Wackenroder) verstummen und umschlagen lassen in erbitterte Feindschaft. Im Dezember 1794 hat auch Hegel die „Schändlichkeit der Robespierroten" angeprangert. Und doch hat ihn diese Kritik nicht irre gemacht, an dem durch die Revolution verwirklichten Prinzip der Befreiung festzu-halten: „Wir haben jetzt die französische Revolution welthistorisch zu betrachten, denn dem Gehalte nach ist diese Begebenheit welt-historisch, und der Kampf des Formalismus muß davon wohl unterschieden werden."

Was sich oberflächlichem Eindruck als Ambivalenz der Hegeischen Revolutionsdarstellung aufdrängt, ist vielmehr die von der Dialektik der Praxis bestimmte Zusammengehörigkeit von Affirmation und Negation. „Von Robespierre wurde das Prinzip der Tugend als das höchste ausgestellt, und man kann sagen, es sei diesem Menschen mit der Tugend Ernst gewesen. Es herrschen jetzt die Tugend und der Schrecken; denn die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich."

Das Prinzip der Subjektivität, von Hegel als Erfolg der Neuzeit gefeiert, hat nicht nur die Seite der Freiheit, sondern auch der Willkür. Das Prinzip bürgerlicher Existenz geht mit seiner eigenen Negation schwanger: dies ist die Summe von Hegels Theorie der Bourgeoisie. Kant ist für Hegel die Personifizierung dieses geschichtlichen Moments. Seine Trennung von Moralität und Legalität hat einerseits die Formulierung der Autonomie des Individuums erst ermöglicht und damit „das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen" Zum andern aber, woran Hegels Kritik ansetzt, treibt der Dualismus von Legalität, auf die allein Staat und Gesellschaft Anspruch gegenüber den Individuen erheben dürfen, und Moralität dazu, sittliches Handeln nur noch in der Form des Appells an die subjektive Überzeugung durchsetzen zu können. Die aus der intersubjektiven Praxis des Menschen als gesellschaftlichen Wesens sich ergebenden Notwendigkeiten . sollen'— und auf dieses . Sollen'gibt es keinen Rechtstitel — berücksichtigt werden. Herrschen unter Robespierre . Tugend und Schrecken', so vollzieht sich in der politischen Praxis, was Kant ideologisch und die . Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte'vom 26. August 1789 juridisch gefordert haben: Die Revolution wurde begriffen als das Einlösen der Rechte des Individuums gegen den Staat.

Die Einschätzung der Solidarisierung der Rechtssubjekte der bürgerlichen Gesellschaft gegen das feudale . ancien regime’ und die Bedeutung, die man der Subjektivität als Souveränitätsträger der bürgerlicher Herrschaft beimaß, verführte dazu, den Staat als zweite Komponente des Politischen aus den Augen zu verlieren. Die Kehrseite jedoch: die Entfremdung der nur noch in den Subjekten vorhandenen Gesellschaft vom Staat endete in der Freisetzung eines nunmehr unkontrollierten Politischen in der Form der Gewalt — und in der Schreckensreaktion der Philosophie vor der Terreur’. Das Recht denaturiert, nachdem die Bedürfnisbefriedigung zur Legitimation der Praxis für zureichend erklärt war, zum bloßen Formalrecht der Garantie der Freiheit partikulärer Bedürfnisrealisierung. „Die Sozialität des Menschen kommt nur noch als Negativum, nämlich als Erlebnis der Schranke des empirischen Ich in den Blick."

Mit dem Herrschaftsantritt der bürgerlichen Gesellschaft kehren sich die Antagonismen von , menschheitlichem Befreiungsanspruch und Konkurrenz freier ökonomischer Subjekte radikal heraus. Mit H. Marcuse hat M. Horkheimer auf diesen Aspekt bürgerlicher Ideologie und Praxis hingewiesen: Der „Tatbestand, daß während der Epoche, die das Individuum emanzipiert, der Mensch in seiner grundlegenden wirtschaftlichen Sphäre sich selbst als isoliertes Subjekt von Interessen erfährt und nur durch Kauf und Verkauf mit anderen in Verbindung tritt, ergibt die Fremdheit als anthropologische Kategorie."

Diese , Fremdheit'— Entfremdung — bestimmt den Ausgang der Hegeischen Philosophie. Auf doppelte Weise: in der ontologischen Konstruktion der Geschichte des Geistes, der nur mittels seiner Entäußerung in die materiale Konkretheit der Natur sich selbst erarbeitet, um auch diese Form der Selbstentfremdung (Negation) durch eine weitere Negation aufzuheben und ins Feld objektiver Existenz in Religion, Kunst und Philosophie zu treten. Für diesen Zusammenhang einer politischen Hegel-Untersuchung wichtiger aber ist, daß die reale menschliche Existenz die Funktion der Philosophie definiert: in der Form der , Entzweiung'. „Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie." „Denn die notwendige Entzweiung ist ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet." Zu diesem Modus der , Entzweiung'gehört inhaltlich die Freiheit. Weil — trotz unbestrittener Anerkennung — Subjektivität der Träger der Freiheit ist und die Subjektivität des Individuums ohne Bewußtsein ihrer Gesellschaftspflichtigkeit als Willkür sich praktiziert, gehört zur Freiheit im Augenblick ihrer revolutionären Durchsetzung auch die in der . Phänomenologie des Geistes'beschriebene „Furie des Verschwindens" Diese Philosophie ist orientiert an der Praxis der Entzweiung in der bürgerlichen Gesellschaft. Die spekulative Theorie des entfremdeten Geistes ist nichts anderes als der „abstrakt sich erfassende entfremdete Geist der Welt"

Hegel wie Lenin materialistisch zu lesen, enthebt der Kopfschmerzen, Hegeische Spekulation und Hegeische praktische Theorie nicht Übereinkommen zu sehen. Seine Philosophie insgesamt ist die unmaskierte Gestalt jener

Entfremdung, die ohne Lamento als notwendig zur geschichtlichen revolutionären Lage des bürgerlichen Subjekts gehörend begriffen’ werden muß. Entfremdung widerstreitet zwar der Vernunft, ist aber von ihrer Wirklichkeit nicht zu trennen. Hegel beantwortet die Frage nach dem Zusammenhang von Geschichte und Fortschritt auf der einen, Entfremdung auf der andern Seite nicht mit der Verdammung der Geschichte — konkret: der Französischen Revolution — als Entfremdung. Er weiß sich vielmehr gerade im Bewußtsein des antagonistischen Charakters der Geschichte berechtigt zu dem „einfachen Gedanken der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrscht. . . Diese Überzeugung und Einsicht ist eine Voraussetzung in Ansehung der Geschichte überhaupt" Apriorischer Optimismus, der sich zur Ruhe setzt angesichts des Bestehenden, findet sich in dem nicht. Es habe, schrieb Fr. Engels, „kein philosophischer Satz so sehr den Dank beschränkter Regierungen und den Zorn beschränkter Liberalen auf sich geladen", wie der von der Wirklichkeit des Vernünftigen — kurzsichtige Kritik, denn es löse sich „der Satz von der Vernünftigkeit alles Wirklichen . . . nach allen Regeln der Hegeischen Denkmethode auf in dem andern: Alles, was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht" Hegel hat das kritische Potential historisch-dialektischer Philosophie im Einsatz gegen ideologische Formen der Selbstentfremdung — so der Religion, die „die Menschen zu Bürgern des Himmels ... erziehen" wolle, worüber „ihnen menschliche Empfindungen fremd" würden — polemisch in der Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Denken ausgearbeitet. Hierzu gehört, neben seiner Romantikkritik und Fehde mit Schelling, u. a. auch die Kritik an der Philosophie der Subjektivität so auch Kants, denn „Moralität ist Abhängigkeit von mir selbst, Entzweiung in sich selbst"

Bürgerliche Gesellschaft — oder Das Recht als Kritik

Hegels Zustimmung zur Revolution — „Man hat dem System des Sansculottismus in Frankreich vielleicht Unrecht getan, wenn man die Quelle der durch dasselbe beabsichtigten größeren Gleichheit des Eigentums allein in der Raubgier suchte" — verschweigt ihre Begründung nicht. Der Kontext dieses in seiner Frankfurter Zeit zwischen 1797 und 1800 geschriebenen Satzes lautet: „Wie sehr der unverhältnismäßige Reichtum einiger Bürger auch der freiesten Form der Verfassung gefährlich und die Freiheit selbst zu zerstören im Stande sei, zeigt die Geschichte in dem Beispiel eines Perikies zu Athen, der Patrizier in Rom .. ., der Medicis zu Florenz — und es wäre eine wichtige Untersuchung, wieviel von dem strengen Eigentumsrecht der dauerhaftesten Form einer Republik geopfert werden müßte."

Die Funktion des Eigentums in der bürgerlichen Gesellschaft zu bestimmen und über deren anerkannten Begriff als Voraussetzung der Rechtsfähigkeit der Person hinaus zu kritisieren, war eine der Aufgaben jener Theorie des Politischen, die im Zentrum der Hegeischen Philosophie steht; seiner Rechtsphilosophie, 1821 in Berlin gedruckt, durch Vorlesungen seit Jahren vorbereitet, mit dem Titel: . Grundlinien der Philosophie des Rechts'und dem nicht zu übersehenden Nebentitel: . Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse'. Dieses Werk ist Hegels Reaktion auf den geschichtlichen Stand, der die Notwendigkeit der Befreiung durch die . sich verhausende Subjektivität'und Willkür in der Rechts-und politischen Sphäre gefährdet hat. Sein Ziel ist, die bürgerliche Gesellschaft durch Recht an einen Staat zu binden, der nur noch in der Trennung von ihr vernünftig sein kann. D. h.der bürgerlichen Gesellschaft als dem „System der Bedürfnisse" (§ 188) das Instrument-ihrer Klassenherrschaft nicht zu ihren spezifischen Zwecken zu überlassen, sondern die politischen Institutionen in ein durch Vernunft und Sittlichkeit (nicht aber durch Bedürfnisbefriedigung) gegründetes Recht zu verankern. Dies, weil Vernunft dieser Gesellschaft nicht eigen ist. Angesichts der naturhaften Motivation der gesellschaftlichen Interessen und ihrer Vermittlung im ökonomischen Produktionsprozeß bietet die „bürgerliche Gesellschaft in diesen Gegensätzen und ihrer Verwickelung das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar" (§ 185).

Hegels Forderung eines starken Rechtsstaates ist nicht die Apologie des preußischen Staats, sondern folgt aus der immanenten Dialektik der ihn benötigenden Gesellschaft. Wollte man den oft erhobenen Vorwurf totalitärer Staatskonstruktion aufgreifen (wäre er nicht durch den Rechtscharakter dieses Staates widerlegt), so gälte er nicht Hegel als dem Ideologen, sondern den sozioökonomischen Bedingungen, die ihn erfordern. Dazu H. Marcuse: „Es ist keine Inkonsequenz im Hegeischen System, daß die individuelle Freiheit... von der dem Allgemeinen übertragenen Autorität überschattet wird und das Vernünftige schließlich im Gewand der gegebenen Gesellschaftsordnung auftritt. Die offenkundige Inkonsequenz . . . spiegelt den Gang der Antagonismen der individualistischen Gesellschaft, die Freiheit in Notwendigkeit und Vernunft in Autorität verwandeln. Hegels Philosophie des Rechts verdankt ihre Bedeutung in hohem Maße der Tatsache, daß ihre Grundbegriffe die Widersprüche dieser Gesellschaft in sich aufnehmen, festhalten und ihnen bis zum bitteren Ende folgen. Das Werk ist soweit reaktionär wie die Gesellschaftsordnung es ist, die es widerspiegelt, und ist soweit fortschrittlich wie jene fortschrittlich ist." Hier bleibt Marcuse freilich entgegenzuhalten., daß die Kategorie , reaktionär'imaginiert, es sei eine andere Gesellschaft mit einer anderen Theorie möglich und denkbar gewesen.

„Die bürgerliche Gesellschaft enthält...: A. Die Die Vermittelung des Bedürfnisses und die Befriedigung des Einzelnen durch seine Arbeit, und durch die Arbeit und Befriedigung aller übrigen, — das System der Bedürfnisse. B. Die Wirklichkeit des darin enthaltenen Allgemeinen der Freiheit, der Schutz des Eigentums durch die Rechtspflege" (§ 188). Marx hat Rechtens festgestellt — in Beziehung auf die . Phänomenologie des Geistes', gültig zugleich für die Rechtsphilosophie’ —„daß das Große" in ihr sei, daß „Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und Aufhebung dieser Entäußerung: daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen ... als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift" Die Bedeutung der Hegeischen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft gründet nicht zuletzt darin, daß er den Prozeß der Selbstkonstitution des Menschen durch Arbeit in seiner konkreten Widersprüchlichkeit erfaßt hat. Durch die im Produktionsprozeß sich sukzessive ergebende Teilung der Arbeit „vervollständigt diese Abstraktion der Geschicklichkeit und des Mittels die Abhängigkeit und die Wechselbeziehungen der Menschen für die Befriedigung der übrigen Bedürfnisse zur gänzlichen Notwendigkeit" (§ 196). Angesichts der Französischen Revolution, in welcher „der Gedanke, der Begriff des Rechts . . . sich mit einemmale geltend [machte, so daß] dagegen das alte Gerüste des Unrechts keinen Widerstand leisten" konnte übersieht Hegel nicht die Konsequenzen der ökonomischen Herrschaft der Bourgeoisie.

Die bürgerliche Gesellschaft ist „in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen. — Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizuführen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer — denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen —, auf der einen Seite, wie auf der anderen Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses zu weiteren Fähigkeiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt" (§ 243). Seine an Recht und Freiheit des Menschen interessierte Rechts-philosophie führt in § 244 weiter aus: „Das Fierabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise . . . und damit zum Verlust des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen, — bringt die Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt." In der Perspektive dieser vor Marx begriffenen Dialektik von Akkumulation des Kapitals und Verelendung des Proletariats versucht Hegels Philosophie, den praktischen Begriff der Freiheit durch Rechtssicherheit zu leisten, um sich nicht vor dem Problem des bloßen überlebens als esoterisch und für die „Sonntagskinder" des Kapitalismus zu disqualifizieren. Hegel sieht, „daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern" (§ 245). Er fährt, die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise antizipierend, fort: „Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben, zunächst diese bestimmte Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Überfluß hat, oder überhaupt an Kunstfleiß u. s. f. nachstehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu suchen" (§ 246).

Die spekulative, geschichtsphilosophische Prognose des Übergangs des Geistes aus der alten Welt Europas in die Neue Welt (Amerika), im Schlußkapitel der Rechtsphilosophie (z. B. § 347) niedergelegt als Begreifen der Dialektik des Geistes, hat ihre Parallele und ihren Grund in der Dialektik des Konkreten, welche die Bourgeoisie definiert: „Dieser erweiterte Zusammenhang bietet auch das Mittel der ‘olonisation 711 welcher die ausgebildete bürgerliche Gesellschaft getrieben wird" (§ 248). Dieser Realismus in der Analyse der zeitgeschichtlichen Situation ist es, der legitirnerweise von Hegel als dem Theoretiker sprechen läßt, der, wie kein anderer neben ihm, dem Anspruch nachgekommen ist, Philosophie sei „ihre Zeit in Gedanken erfaßt".

Die Rechtsphilosophie erinnert gegen die Partikularität der Bedürfnisse und gegen die den Antagonismus von Klassen provozierende Struktur von Herren (über Arbeit) und Knechten (durch den erzwungenen Verkauf der Arbeitskraft), „gegen das Prinzip des einzelnen Willens ... an den Grundbegriff . . ., daß der objektive Wille das an sich in seinem Begriffe Vernünftige ist, ob es von einzelnen erkannt und von ihrem Belieben gewollt werde oder nicht" (§ 258, Anm. ). Die Wirklichkeit dieser Vernunft glaubt Hegel garantiert im Staat als Verwirklichung der „sittlichen Idee". Er versucht, „den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen" (Vorrede), wofern er auf das „Rechtssystem" als „das Reich der verwirklichten Freiheit" (§ 4) gegründet ist. Die moderne Rechtsverfassung hat die Verfügungsgewalt von Menschen über Menschen (im römischen Recht) durch die „Definition des Menschen — als eines rechtsfähigen" ersetzt (Randbemerkung zu § 2). Die Befähigung zum bürgerlichen Vertrag auf der Grundlage des Gebots: „sei eine Person und respektiere die anderen als Person" (§ 36) setzt voraus das allgemeine Recht, durch Arbeit seinen Willen „in jede Sache" (§§ 40— 44) zu legen und Eigentum zu bilden. So wird die Rechtsverfassung für alle — und soziale Diskriminierung ausschließend — zum „Mittel der Sicherung der Personen und des Eigentums" (§ 157). Das . System der Bedürfnisse'geht durch das Recht in den Staat über, unter bewußter Einbuße subjektiver Rechte und ohne Unterjochung des Einzelnen als Person; in den Staat als Existenzbasis des Individuums und „Form seiner Sittlichkeit" (§§ 257 ff.).

Diese Staatskonstruktion verdient Anerkennung, gerade weil sie auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft gedacht wird. Sie ist deren immanente Kritik. Es ist Hegels Sensibilität gegenüber dem Staat, die ausmacht, daß er mit Anstand aktuell genannt und zitiert werden darf als Material einer Hermeneutik, die Kritik ist. „Der Staat ist das Gesetz der Freiheit. Es kann zwar die Entzweiung vorkommen, daß die Philosophie der vorhandenen Welt sich gegenüberstellt, d. h. daß sie als revolutionäres Prinzip erscheint. Indem die Philosophie die Sache in der Form des Gedankens faßt, so faßt sie sie in der Form der Allgemeinheit, des Substantiellen. So kann sie allerdings dem entgegengesetzt sein, was ist. Der Inhalt der Philosophie ist dann die Freiheit der Vernunft als entgegengesetzt der Freiheit der Willkürlichkeit."

Die Frage nach dem hermeneutischen Interesse an Hegel — gewendet an die Gesellschaft, die sich Würdigungen Hegels zu seinem 200. Geburtstag nicht versagen zu können meint — wäre zur Zufriedenheit gelöst, stünde fest, daß gerade der Hegel, den sie sich leistet, der Analytiker und Kritiker bürgerlicher Gesellschaft war, keinesfalls aber deren Apologet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel. Aspekte — Erfahrungsgehalt — Skoteinos oder Wie zu lesen sei, Frankfurt/M. 1963, S. 13.

  2. K. Marx /Fr. Engels, Werke. Hrsg. v. Institut f. Marxismus-Leninismus beim ZK d. SED, 39 Bde., 1 Erg. -Bd. in 2 Tin, Berlin (DDR) 1956 ff. (= MEW), Bd. 13, S. 641.

  3. Th. W. Adorno, S. 44.

  4. Zit. nach W. R. Beyer, Hegel-Bilder. Kritik der Hegel-Deutungen, Berlin (DDR) 1964, S. 248/249.

  5. G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 20 Bdn., neu hrsg. v. H. Glöckner, Stuttgart 1927 ff., Bd. 11, S. 46.

  6. G. W. F. Hegel, Bd. 8, S. 110 f.

  7. MEW 20, S. 106.

  8. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit Hegels eigenhändigen Randbem. in seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie, hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 41955, § 4.

  9. Ebd., S. 17.

  10. Vgl. Anm. 4.

  11. Beyer, S. 25.

  12. Ebd., S. 28.

  13. J. Ritter, Hegel und die französische Revolution, Frankfurt/M. 1965, S. 8.

  14. W. R. Beyer, a. a. O., S. 63.

  15. Vgl. Anm. 13.

  16. Vgl. Beyer, a. a. O., 87 ff., 123 ff., 130 ff.

  17. H. Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Neuwied/Berlin 1962; s. ebd.: . Faschistischer „Hegelianismus'", S. 354— 360, Der Nationalsozialismus als Gegner Hegels', S. 360— 368. Beyer, a. a. O., S. 116 ff.

  18. Vgl. vor allem: Johann Benjamin Erhard, über das Recht des Volks zu einer Revolution und andere Schriften, hrsg. v. H. G. Haasis, München 1969.

  19. G. W. F. Hegel, Bd. 19, S. 534.

  20. In der Reihenfolce der Zitate: G. W. F. Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, hrsg. v. J. Hoffmeister, 3. gek. Ausl. Hamburg 1959, besorgt v. F. Nicolin, S. 149; Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Die Vernunft in der Geschchte, hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg, Hamburg 51 55, S. 183; Rechtsphilosophie, S. 16.

  21. G. W. F. Hegel, Eins, in d. Gesch. d. Philosophie, S. 286.

  22. G. B. Vico, Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der v. E. Auerbach hrsg. Ausgabe von 1924, Hamburg/Reinbeck 1966, S. 60 u. 52.

  23. G. W. F. Hegel, Einl. in d. Gesch. d. Philosophie, S. 201.

  24. G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, S. 63.

  25. G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie § 209.

  26. MEW 13, S. 473/474.

  27. G. W. F. Hegel, Politische Schriften. Nachwort v. J. Habermas, Frankfurt/M. 1966, S. 129.

  28. Hegels theologische Jugendschriften, hrsg. v. H. Nohl, Tübingen 1907. Im folgenden beschränkt sich der Vers, auf die veröffentlichten Schriften, wiewohl die Titel der nicht überlieferten Werke dieselbe Tendenz bezeugen.

  29. G. W. F. Hegel, Politische Schriften, S. 11.

  30. Ebd., S. 23.

  31. Ebd., S. 24.

  32. Ebd., S. 129.

  33. F. W. J. Schelling, An Fr. Schlegel, 13. 11. 1817, in: Deutsche Rundschau 175 (1918), S. 117.

  34. G. W. F. Hegel, Politische Schriften, S. 184 u. 186.

  35. G. W. F. Hegel, An Niethammer, 5. 7. 1816, in: Briefe von und an Hegel, Bde. Hamburg 1952— 1954, hrsg. v. J. Hoffmeister, Bd. 2, S. 85 f.

  36. G. W. F. Hegel, Politische Schriften, S. 176.

  37. Ebd., S. 321.

  38. Hegel an Schelling, in: Briefe von und an Hegel, Bd. 1, 18. Schelling an Hegel, 4. 2. 1795, a. a. O., Bd. 1, S. 22.

  39. Ebd., S. 24.

  40. Hegels theol. Jugendschriften, S. 225.

  41. G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, S. 17.

  42. j. Ritter, S. 18.

  43. J. F. Suter, Tradition et Revolution, in: Hegel-Studien. Hrsg. v. F. Nicolin /O. Pöggeler. Beiheft 1, 1964, S. 318.

  44. J. Habermas, Hegels Kritik der Französischen Revolution, in: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. Neuwied/Berlin 21967, S. 89.

  45. MEW 1, S. 383 (Kritik d. Hegeischen Rechtsphilos. Einl. 1843).

  46. MEW 21, S. 267/268.

  47. G. W. F. Hegel, Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 12.

  48. G. W. F. Hegel, Bd. 11, S. 563.

  49. Ebd., S. 561.

  50. G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie § 260.

  51. A. Hollerbach, Der Rechtsgedanke bei Schelling. Quellenstudien zu seiner Rechts-und Staats-philosophie, Franksurt/M. 1957, S. 94.

  52. M. Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung. Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters. In: Zeitschrift f. Sozialforschung 5 (1936), S. 215.

  53. G. W. F. Hegel, Bd. 1, S. 172.

  54. Ebd. S. 46.

  55. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Nach d. Texte der Originalausg. hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 61952, S. 418.

  56. MEW, Erg. Bd., T 1 1, S. 572.

  57. G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, S. 28.

  58. vgl. Rechtsphilosophie, S. 14: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig."

  59. MEW 21, S. 266/267.

  60. Flegels theol. Jugendschrifte, S. 27.

  61. Vgl. H. J. Sandkühler, Geschichte und Entfremdung. Zur Differenz des Hegeischen und Schelling-sehen Systems oder Hegels Kritik an der konterrevolutionären Entwicklung der Geschichte und ihrer Philosophie; in: Hegel-Jahrbuch. Hg. v. W R. Beyer. 1968/69, 107— 122.

  62. Vgl. J. Ritter, Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik. In: Kritik und Metaphysik. Studien. H. Heim soeth zum 80. Geburtstag, hrsg. v. F. Kaulbach J. Ritter, Berlin 1966, S. 331— 351.

  63. Dokumente zu Hegels Entwicklung, hrsg. v. J. Hoffmeister, Stuttgart 1936, S. 269.

  64. H. Marcuse, S. 161. Hegel als „philosophischer Dictator über Deutschland" (357), der seine Theorie zur „wissenschaftlichen Behausung des Geistes preußischer Restauration" (359) gemacht habe: dies der Schuldspruch Rudolf Hayms, seiner . Vorlesungen über Hegel und seine Zeit'(Berlin 1857). Der Vorwurf, Hegel sei Apologet der Reaktion in Preußen gewesen, ist noch heute nicht ausgeräumt. Zur Geschichte und zur Wirkung dieses Verdikts vgl. neben J. Ritter: Ladislav Major, Zur Geschichte des Streits um das politische Profil der Hegeischen Philosophie des Rechts. (Ist Hegel reaktionär, preußisch?), in: Filosoficky asopis. eskoslovens-kä Akademie Vd 4 (1966), S. 493- 504; Michael Theunissen, Die Verwirklichung der Vernunft. Zur Theorie-Praxis-Diskussion im Anschluß an Hegel, in: Philos. Rundschau. Beiheft 6, Tübingen 1970. - Zur Diskussion der Rechtsphilosophie vor allem auch: H. F. Fulda, Das Recht der Philosophie in Hegels Philosophie des Rechts, Frankfurt/M. 1968, und M. Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1969. Es ist für die Lage der Philosophie, zumal der Rechtsphilosophie, in der UdSSR aufschlußreich, die . Studien zu Hegels Rechtsphilosophie in der UdSSR', Moskau 1966 (dt.), zur Hand zu nehmen. Die Überlegungen Piont-kowskijs, Mankowskis, Ketschekjans, Schinkaruks, Matwejews, Balaguschkins und Owssjanikows schwanken zwischen dem Festhalten an der stalinistischen Hegel-Einschätzung, seine Philosophie sei nichts „als die aristokratische Reaktion auf die französische bürgerliche Revolution und auf den

  65. MEW, Erg. Bd„ 1 T 1 . S 574

  66. G W F Hecel Rd 1 ’ S 557

  67. G. W. F. Hegel, Eint, in d. Gesch. d. Philos., S. 297.

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HansJörgSandkühler, Dr. phil., Wissenschaft!. Assistent u. Lehrbeauftragter für Philosophie an der Universität Gießen, geb. 27. August 1940 in Freiburg/Br. Veröffentlichungen: Freiheit und Wirklichkeit. Zur Dialektik von Politik und Philosophie bei Schelling, Frankfurt/M. 1968; Geschichte und Entfremdung. Zur Differenz des Hegeischen und Schellingschen Systems oder Hegels Kritik an der konterrevolutionären Entwicklung der Geschichte und ihrer Philosophie, in: Hegel-Jahrbuch 1968/69; F. W. J. Schelling, Stuttgart 1970; Psychoanalyse und Marxismus. Dokumentation einer Kontroverse, Frankfurt/M. 1970; R.de la Vega/H. J. Sandkühler (Hrsg.), Austromarxismus. Texte zu „Ideologie und Klassenkampf" von Otto Bauer, Max Adler u. a., Frankfurt/M. 1970.