Problematische Würdigung
Am 27. August 1770 wurde in Stuttgart Georg Wilhelm Friedrich Hegel geboren. Anlaß, seiner zu gedenken, und Anlaß zur Reflexion über Ursachen und Gründe solchen Gedenkens in um 200 Jahre vorgerückter Situation von Gesellschaft und Staat. Würdigung, soweit nur chronologisch fällig und Befriedigung eigenen historischen Bewußtseins, wäre problematisch, denn ihr „Begriff, wenn er überhaupt je etwas taugte, ist unerträglich geworden. Er meldet den unverschämten Anspruch an, daß, wer das fragwürdige Glück besitzt, später zu leben, und wer von Berufs wegen mit dem befaßt ist, über den er zu reden hat, darum auch souverän dem Toten seine Stelle zuweisen und damit gewissermaßen über ihn sich stellen dürfe. In den abscheulichen Fragen, was an Kant und nun auch an Hegel der Gegenwart etwas bedeute . . . klingt diese Anmaßung mit. Nicht wird die umgekehrte Frage auch nur aufgeworfen, was die Gegenwart vor Hegel bedeutet."
Hermeneutik...
Der aufmerksame Beobachter der Arbeit an bzw.des Streites um Hegel hatte in den letzten Jahren Gelegenheit genug, sich dieser Frage nicht zu entziehen. So entstanden in der Bundesrepublik als dem Zentrum heutiger Hegel-Forschung Institutionen mit der Aufgabe, die Konturen eines zeitgemäßen'Hegel-Bildes zu entwerfen. Zeitgemäß? Zweckgemäß, je verschiedenen ideologischen Ansprüchen angemessen, wäre präziser. Die 1956 in Nürnberg zunächst als . Hegelianum'gegründete, seit 1958 internationale , Hegel-Gesellschaft'„stellt sich die Aufgabe, das geistige Erbe Hegels zu pflegen, die Philosophie Hegels in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihren vielfältigen Beziehungen zu vorgehenden und nachfolgenden Theorien kritisch zu erforschen und darzustellen, die aktuelle Bedeutung Hegels und des Hegeischen Denkens herauszuarbeiten sowie insbesondere die mit dem Namen Hegels eng verknüpfte dialektische Methode in all ihren Erscheinungsformen und in ihrer Anwendung wissenschaftlich zu untersuchen und fortzubilden."
Daß gerade Hegel Überbrückungen zu leisten vermag, trat unübersehbar zutage. Dies nicht etwa, weil er durch historische Distanz, durch philosophiegeschichtliche Kanonisierung zum Klassiker stilisiert, sich als ideologisches Neutrum den Parteien darböte zu beliebiger Zitierung und Ahnenpflege, sondern weil sich in Hegels Theorie eine Gesellschaft ihr theoretisches Abbild geprägt hat, die trotz struktureller Wandlungen in West und Ost mehr oder minder noch existiert. Gerade daß Hegel mit seiner These von der als Realität der Vernunft begreifbaren Wirklichkeit, von der Wirklichkeit des Geistes in Recht und Staat, durch die Geschichte — nicht erst seit Auschwitz — ins Unrecht gesetzt wurde, macht seine Gültigkeit als Korrektiv der Unvernunft in der Gegenwart von Recht, Staat und Gesellschaft aus.
Man kommt, trotz des Wunsches von O. K. Flechtheim, gar bald Hegels Rechtsphilosophie mit anderen Attributen der Barbarei wie Henkersbeil und Guillotine im Museum konserviert zu wissen, ohne Hegel offensichtlich nicht aus. Wie überhaupt die Aufhebung der Philosophie als eines Instruments möglichen Heils nicht ohne Aufhebung der Bedingungen denkbar ist, die Philosophie als Kompensation realer Mängel immer noch notwendig machen. Die hermeneutische, am Modell der , historia'als , magistra vitae'orientierte Reproduktion der Hegeischen Philosophie ist gesteuert vom Interesse unserer Gesellschaft an Veränderung und Besserung, ist Produkt der Dialektik des konkreten Lebens, das sich in jener von Erkenntnis und Interesse widerspiegelt. Sie ist Mittel zum Zweck, Maximierung der Freiheit durch Minimisierung jener Widersprüche, die in der idealistischen Denktradition dazu geführt haben, Freiheit nur in den Grenzen der Notwendigkeit begreifen zu sollen.
In diesem Zusammenhang verdient ein Satz Hegels Beachtung, der von Notwendigkeit spricht — jedoch in einer wesentlichen Kehrtwendung gegen jede Apologie des Bestehenden als unveränderlicher Notwendigkeit: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, -— ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben."
Die hermeneutische Zuwendung zu Hegel zielt auf seine Theorie der Freiheit, progressiver Befreiung, und ist damit praktisch. Sie ist politisch. Wer da, dem Fetisch wissenschaftlicher Neutralität Tribut zollend, meint, von einer unangemessenen Politisierung Hegels reden zu müssen, findet sich in dessen Werk selbst auf den Anspruch der Wissenschaft als Politik verwiesen. Die genannten Kongresse sind beredtes Beispiel: In Prag — wie in Lidice anläßlich einer Gedenkstunde für die Opfer des Faschismus — formulierte sich als Einsicht, daß Philosophie einen spezifischen Beitrag zur Humanisierung des Rechts und der Recht setzenden Herrschaft zu leisten habe. Die Aufgabe hat Hegel gestellt, mit dem Anspruch der Analyse, doch deutlichem Antizipationscharakter: es sei — bzw. solle sein — „das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit"
Nicht ob Hegel dieses oder jenes gesagt oder gemeint, kann heutige Hegel-Forschung klären wollen; sondern wie eine des Antiquarischen bare Selbstverständigung der Gegenwart im Medium . Hegel" zu gewinnen sei. Dieses Begreifen der Aktualität Hegels bestimmt auch das Programm des Kongresses vom 23. bis 29. August 1970 in Berlin (DDR), der der Wiederkehr des 200. Geburtstags gewidmet ist. Seine Themen: Lenins Hegel-Kritik, Sprache und Bewußtsein, Naturdialektik und historische Dialektik, Hegel und das Problem der bürgerlichen Gesellschaft. 1972 lädt die . Hegel-Gesellschaft" nach Moskau ein. (Gegenüber dieser . linken" Schule hat sich die konservative ihre eigene Organisation in der 1962 gegründeten und von H. G. Gadamer geleiteten „Internationalen Vereinigung zur Förderung des Studiums der Hegeischen Philosophie" gegeben, die eng verbunden ist mit der ebenfalls in der Bundesrepublik beheimateten . Hegel-Kommission" und dem . Hegel-Archiv", den gemeinsamen Herausgebern der , Hegel-Studien". Würde der unfruchtbare ideologische Sektenstreit nicht durch . Wanderer zwischen zwei Kongressen" unterlaufen, wäre die Provinzialisierung der Hegel-Forschung in Sichtweite. Erfreulich daher die Herausgabe einer neuen, historisch-kritischen Hegel-Ausgabe, die in Bochum entsteht.
. . . und Politik
Hegel-heute — ein Politikum. Er ist es nicht erst in der Debatte zwischen Marxisten und Nichtmarxisten um die Legitimität der Erbfolge geworden. Unterscheidbare geschichtliche Stadien, verschiedene gesellschaftliche Fragestellungen, haben in mehreren Hegel-
Renaissancen Bilder des Philosophen geschaffen, deren Vergleich Konfusion hervorriefe, zöge man ihn nicht im Bewußtsein der Bedürfnisse und Motivationen der Hegelforschung.
W. R. Beyer hat das Verdienst, eine Typologie der , Hegel-Bilder" erarbeitet zu haben. Der Untertitel weist sie als . Kritik der Hegel-Deutungen" aus 8 ). Beyer ist Polemiker, wie las 19. Jahrhundert und mit ihm gerade auch Hegel recht unakademisch polemisiert hat; seine Parteilichkeit schont den Gegner nicht, bleibt aber fair. Dem klassischen wie dem modernen , Post-Hegelianismus'wirft er „das Besserwissen des Hegeischen Wissens"
Die erneute Zuwendung zu Hegel, aus dem Geiste des Neukantianismus geboren, trug geistes-, probiern-und lebensphilosophische Züge. Dilthey, Spranger, Litt, um nur einige zu nennen, — diese Namen sind mit jener Hegel-Renaissance eng verbunden, die sich, nach Beyer, „im Rahmen einer idealistischen Philosophie"
Beyers Typologie analysiert kritisch als weitere Bestandteile ideologischer Bemächtigung einen , restaurativen Hegel', den . evangelischen'und endlich . katholischen Hegel
Es ist notwendig, auf diese Schattenseite des Hegelianismus hinzuweisen, weil das Faschismus-Argument (im Sinne eines , Links'-Fa-schismus, wohlgemerkt) heute von Popper und Topitsch hervorgezaubert wird: Hegel als Stammvater des Totalitarismus. Es wäre riskant, solches als Kuriosum zu belächeln. Die Animosität gegen Hegel meint mehr, als sie zu erkennen gibt: sie ist gespeist aus dem positivistischen Unbehagen an jedweder Philosophie, die dialektisch denkt und Dialektik als geschichtstragendes Prinzip ausweist; Dialektik-Kritik wendet sich gegen die materiale Grundlage des Begriffs, gegen jene Verände-rung, die geschichtsphilosophisch begriffen wird, um gesellschaftlicher Praxis eine Waffe an die Hand zu geben.
Die Begriffe der Philosophie
, Hegel-heute‘ — ein Politikum. Nicht erst die Wiederbelebungsversuche verschiedener Hegelianismen erlauben, dies zu sagen. Die klassische deutsche Philosophie, die nur eine Erscheinungsform der europäischen Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft im Zeitalter politischer und ökonomischer Revolution war und als Revolutionsdenken von allen idealistischen und romantischen, restaurativen Gegentendenzen wohl zu unterscheiden ist, hat sich in erster Linie als politische Geschichtsphilosophie ausgebildet. Dies gilt für Georg Forster, für Kant und den Kantischen Jakobinismus in Deutschland
Hegels Funktionsbestimmung der Philosophie als Theorie in dialektischem Bezug zur Praxis — „Die Philosophie ist identisch mit dem Geiste der Zeit, in der sie auftritt; sie steht nicht über ihrer Zeit, sie ist nur das Bewußtsein des Substantiellen ihrer Zeit, oder das denkende Wissen dessen, was in der Zeit ist." — „Die Philosophie hat es mit dem Gegenwärtigen, Wirklichen zu tun." — „Das, was ist, zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das, was ist, ist die Vernunft." — „Die Philosophie [ist] ihre Zeit in Gedanken erfaßt."
Hegel hat, auf Wirklichkeit hin, idealistische zeitgenössische Ansätze überholt: so den Schillers, im Ästhetischen eine Totalität zu gewinnen, die aber Vernunft nicht in der Hermeneutik des politisch, sozial und ideologisch Erreichten gewinnt, sondern nur in der realitätskritischen Identitätstheorie der Kunst;
auch den Fichtes, der den Versuch der Realisierung der Außenwelt durch das reine , Ich‘ mit der Entfernung der politischen, im Recht präsenten Hoffnung auf Freiheit in die Utopie bezahlt; und schließlich den seines Gegenspielers Schelling, den ein analoger Versuch zum Urteil der Uneigentlichkeit der bürgerlichen Welt und zum Regreß in die verlorene Zeit des vorgeschichtlichen , goldenen Zeitalters'leitet. Hegels Theorie hat auf die Provokation der Französischen Revolution affirmativ geantwortet. „Da seit zehn Jahren ganz Europa seine Aufmerksamkeit auf das fürchterliche Ringen eines Volkes nach Freiheit heftete und ganz Europa in allgemeiner Bewegung deswegen war, so kann es nicht anders sein, als daß die Begriffe über Freiheit eine Veränderung erlitten und sich aus ihrer vorherigen Leerheit und Unbestimmtheit geläutert haben."
„Homo politicus“
Hegel hat seine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft im Augenblick ihres revolutionären Herrschaftsantritts in vielen Stufen seines Werks niedergelegt. Politisches Interesse charakterisiert seine frühesten Schriften, die posthum mißverständlich als „theologische Jugendschriften
„Deutsche Freiheit hieß sonst nichts anderes, als die Unabhängigkeit der Stände vom Kaiser, [ihr Dilemma war: ] entweder Sklaverei und Despotismus — oder Aufhebung des Staatsverbands, die ältern Zeiten kannten nichts Drittes."
Im . Kritischen Journal der Philosophie'von 1802/03 folgte die Abhandlung , Uber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Natur-rechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften', im gleichen Jahr ein (von Hegel nicht selbst so betiteltes) . System der Sittlichkeit'als erste philosophische Systematisierung historischer Erfahrung.
Hatten die politischen Jugendschriften keine unmittelbare zeitgenössische Wirkung, so wurde der praktische Bezug wenige Jahre später zentral. Als Gymnasiallehrer vermittelte Hegel in seiner . Philosophischen Propädeutik'u. a. eine Rechtslehre „für die Unterklasse" und eine . Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse', deren §§ 173— 202 (1808 ff.)
den praktischen Geist'zum Thema hatten.
In den politischen Tagesstreit einzugreifen, erhielt Hegel 1817 Anlaß: Seine . Beurteilung der im Druck erschienenen Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg in den Jahren 1815 und 1816'war eine unmißverständliche Parteinahme für den König als progressive Kraft und gegen die auf , das gute alte Recht'pochenden Stände. Während Schelling mit den Ständen paktierte, einen anti-bürgerlichen, feudal-altständischen Konservatismus an den Tag legte — „das ganze Reden und Treiben von Verfassung" erschien ihm „da wo es am lebhaftesten getrieben wird, als leeres Gaukelspiel"
Die Auffassungen Hegels zur Revolution haben sich scheinbar seit seinem frühen Enthusiasmus gewandelt, erscheinen skeptisch, abratend, furchtsam. Dieser Schein trügt, weil die Affirmation der Revolution nie außer Blickfeld geraten ließ, was die bürgerliche Revolution an immanenter Negativität in Symbiose nährte: die Gefahr marxistischer Behauptung der Subjektivität als Überholen der Revolution von links in der Idee absoluter Freiheit, auch vom Recht, oder aber die drohende Reaktion restaurativer Preisgabe des revolutionär Erreichten. Bestehen auf dem Vernünftigen an der Wirklichkeit — mehr meint seine Ablehnung zu eiligen Reformen in England nicht. Sie ist geprägt von Respekt und Ernstnahme des , Volks'als des politischen Subjekts; daß der Begriff dieses , Volks'1831 soziologisch differenzierter ist, als in der phi-lantropischen Bekräftigung seiner Potenz in früheren Jahren, bedarf keines Kommentars.
Die Herausbildung und Verstärkung der Klassenantagonismen geschah im 19. Jahrhundert nicht mit einem Schlag und trat nicht erst im . Kommunistischen Manifest'1848 ins Bewußtsein. Sollte — so Hegel — der Staat nicht in der Lage sein, die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft zu lösen, so würde „die andere Macht . . . das Volk sein, und eine Opposition, die, auf einem dem Bestand des Parlaments bisher fremden Grund gebaut, sich im Parlamente der gegenüberstehenden Partei nicht gewachsen fühlte, würde verleitet werden können, im Volke ihre Stärke zu suchen und dann statt einer Reform eine Revolution herbeizuführen."
Der sich gleichbleibende Tenor der politischen Schriften Hegels, der pragmatischen wie der philosophischen, liegt bereits im Januar 1795 klar vor im Briefwechsel mit (dem damals noch demokratischen) Schelling: „Vernunft und Freiheit bleiben unsere Losung." Und Schellings Replik: „Das A und O aller Philosophie ist Freiheit."
Hegel und die bürgerliche Revolution
„Das Ereignis, um das sich bei Hegel alle Bestimmungen der Philosophie im Verhältnis zur Zeit, in Abwehr und Zugriff das Problem vorzeichnend, sammeln, ist die französische Revolution, und es gibt keine zweite Philosophie, die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution ist wie die Hegels."
Modifikation — „Hegel erhebt die Revolution zum Prinzip der Philosophie um einer Philosophie willen, die als solche die Revolution überwindet"
Die sogenannte , Terreur', die . Schreckensherrschaft'Robespierres von Juni 1793 bis Juli 1794, hat sich für die bürgerliche deutsche Ideologie als Katalysator erwiesen; an ihrer Beurteilung haben sich die Fronten geklärt, sie hat die emphatische Zustimmung zur Revolution im Kreise der späteren Aufklärer (so z. B. Ch. M. Wieland) und frühen Romantiker (offensichtlich bei Fr. Schlegel, bei Görres, Tieck und Wackenroder) verstummen und umschlagen lassen in erbitterte Feindschaft. Im Dezember 1794 hat auch Hegel die „Schändlichkeit der Robespierroten"
Was sich oberflächlichem Eindruck als Ambivalenz der Hegeischen Revolutionsdarstellung aufdrängt, ist vielmehr die von der Dialektik der Praxis bestimmte Zusammengehörigkeit von Affirmation und Negation. „Von Robespierre wurde das Prinzip der Tugend als das höchste ausgestellt, und man kann sagen, es sei diesem Menschen mit der Tugend Ernst gewesen. Es herrschen jetzt die Tugend und der Schrecken; denn die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich."
Das Prinzip der Subjektivität, von Hegel als Erfolg der Neuzeit gefeiert, hat nicht nur die Seite der Freiheit, sondern auch der Willkür. Das Prinzip bürgerlicher Existenz geht mit seiner eigenen Negation schwanger: dies ist die Summe von Hegels Theorie der Bourgeoisie. Kant ist für Hegel die Personifizierung dieses geschichtlichen Moments. Seine Trennung von Moralität und Legalität hat einerseits die Formulierung der Autonomie des Individuums erst ermöglicht und damit „das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen"
Die Einschätzung der Solidarisierung der Rechtssubjekte der bürgerlichen Gesellschaft gegen das feudale . ancien regime’ und die Bedeutung, die man der Subjektivität als Souveränitätsträger der bürgerlicher Herrschaft beimaß, verführte dazu, den Staat als zweite Komponente des Politischen aus den Augen zu verlieren. Die Kehrseite jedoch: die Entfremdung der nur noch in den Subjekten vorhandenen Gesellschaft vom Staat endete in der Freisetzung eines nunmehr unkontrollierten Politischen in der Form der Gewalt — und in der Schreckensreaktion der Philosophie vor der Terreur’. Das Recht denaturiert, nachdem die Bedürfnisbefriedigung zur Legitimation der Praxis für zureichend erklärt war, zum bloßen Formalrecht der Garantie der Freiheit partikulärer Bedürfnisrealisierung. „Die Sozialität des Menschen kommt nur noch als Negativum, nämlich als Erlebnis der Schranke des empirischen Ich in den Blick."
Mit dem Herrschaftsantritt der bürgerlichen Gesellschaft kehren sich die Antagonismen von , menschheitlichem Befreiungsanspruch und Konkurrenz freier ökonomischer Subjekte radikal heraus. Mit H. Marcuse hat M. Horkheimer auf diesen Aspekt bürgerlicher Ideologie und Praxis hingewiesen: Der „Tatbestand, daß während der Epoche, die das Individuum emanzipiert, der Mensch in seiner grundlegenden wirtschaftlichen Sphäre sich selbst als isoliertes Subjekt von Interessen erfährt und nur durch Kauf und Verkauf mit anderen in Verbindung tritt, ergibt die Fremdheit als anthropologische Kategorie."
Diese , Fremdheit'— Entfremdung — bestimmt den Ausgang der Hegeischen Philosophie. Auf doppelte Weise: in der ontologischen Konstruktion der Geschichte des Geistes, der nur mittels seiner Entäußerung in die materiale Konkretheit der Natur sich selbst erarbeitet, um auch diese Form der Selbstentfremdung (Negation) durch eine weitere Negation aufzuheben und ins Feld objektiver Existenz in Religion, Kunst und Philosophie zu treten. Für diesen Zusammenhang einer politischen Hegel-Untersuchung wichtiger aber ist, daß die reale menschliche Existenz die Funktion der Philosophie definiert: in der Form der , Entzweiung'. „Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie."
Hegel wie Lenin materialistisch zu lesen, enthebt der Kopfschmerzen, Hegeische Spekulation und Hegeische praktische Theorie nicht Übereinkommen zu sehen. Seine Philosophie insgesamt ist die unmaskierte Gestalt jener
Entfremdung, die ohne Lamento als notwendig zur geschichtlichen revolutionären Lage des bürgerlichen Subjekts gehörend begriffen’ werden muß. Entfremdung widerstreitet zwar der Vernunft, ist aber von ihrer Wirklichkeit nicht zu trennen. Hegel beantwortet die Frage nach dem Zusammenhang von Geschichte und Fortschritt auf der einen, Entfremdung auf der andern Seite nicht mit der Verdammung der Geschichte — konkret: der Französischen Revolution — als Entfremdung. Er weiß sich vielmehr gerade im Bewußtsein des antagonistischen Charakters der Geschichte berechtigt zu dem „einfachen Gedanken der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrscht. . . Diese Überzeugung und Einsicht ist eine Voraussetzung in Ansehung der Geschichte überhaupt"
Bürgerliche Gesellschaft — oder Das Recht als Kritik
Hegels Zustimmung zur Revolution — „Man hat dem System des Sansculottismus in Frankreich vielleicht Unrecht getan, wenn man die Quelle der durch dasselbe beabsichtigten größeren Gleichheit des Eigentums allein in der Raubgier suchte" — verschweigt ihre Begründung nicht. Der Kontext dieses in seiner Frankfurter Zeit zwischen 1797 und 1800 geschriebenen Satzes lautet: „Wie sehr der unverhältnismäßige Reichtum einiger Bürger auch der freiesten Form der Verfassung gefährlich und die Freiheit selbst zu zerstören im Stande sei, zeigt die Geschichte in dem Beispiel eines Perikies zu Athen, der Patrizier in Rom .. ., der Medicis zu Florenz — und es wäre eine wichtige Untersuchung, wieviel von dem strengen Eigentumsrecht der dauerhaftesten Form einer Republik geopfert werden müßte."
Die Funktion des Eigentums in der bürgerlichen Gesellschaft zu bestimmen und über deren anerkannten Begriff als Voraussetzung der Rechtsfähigkeit der Person hinaus zu kritisieren, war eine der Aufgaben jener Theorie des Politischen, die im Zentrum der Hegeischen Philosophie steht; seiner Rechtsphilosophie, 1821 in Berlin gedruckt, durch Vorlesungen seit Jahren vorbereitet, mit dem Titel: . Grundlinien der Philosophie des Rechts'und dem nicht zu übersehenden Nebentitel: . Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse'. Dieses Werk ist Hegels Reaktion auf den geschichtlichen Stand, der die Notwendigkeit der Befreiung durch die . sich verhausende Subjektivität'und Willkür in der Rechts-und politischen Sphäre gefährdet hat. Sein Ziel ist, die bürgerliche Gesellschaft durch Recht an einen Staat zu binden, der nur noch in der Trennung von ihr vernünftig sein kann. D. h.der bürgerlichen Gesellschaft als dem „System der Bedürfnisse" (§ 188) das Instrument-ihrer Klassenherrschaft nicht zu ihren spezifischen Zwecken zu überlassen, sondern die politischen Institutionen in ein durch Vernunft und Sittlichkeit (nicht aber durch Bedürfnisbefriedigung) gegründetes Recht zu verankern. Dies, weil Vernunft dieser Gesellschaft nicht eigen ist. Angesichts der naturhaften Motivation der gesellschaftlichen Interessen und ihrer Vermittlung im ökonomischen Produktionsprozeß bietet die „bürgerliche Gesellschaft in diesen Gegensätzen und ihrer Verwickelung das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar" (§ 185).
Hegels Forderung eines starken Rechtsstaates ist nicht die Apologie des preußischen Staats, sondern folgt aus der immanenten Dialektik der ihn benötigenden Gesellschaft. Wollte man den oft erhobenen Vorwurf totalitärer Staatskonstruktion aufgreifen (wäre er nicht durch den Rechtscharakter dieses Staates widerlegt), so gälte er nicht Hegel als dem Ideologen, sondern den sozioökonomischen Bedingungen, die ihn erfordern. Dazu H. Marcuse: „Es ist keine Inkonsequenz im Hegeischen System, daß die individuelle Freiheit... von der dem Allgemeinen übertragenen Autorität überschattet wird und das Vernünftige schließlich im Gewand der gegebenen Gesellschaftsordnung auftritt. Die offenkundige Inkonsequenz . . . spiegelt den Gang der Antagonismen der individualistischen Gesellschaft, die Freiheit in Notwendigkeit und Vernunft in Autorität verwandeln. Hegels Philosophie des Rechts verdankt ihre Bedeutung in hohem Maße der Tatsache, daß ihre Grundbegriffe die Widersprüche dieser Gesellschaft in sich aufnehmen, festhalten und ihnen bis zum bitteren Ende folgen. Das Werk ist soweit reaktionär wie die Gesellschaftsordnung es ist, die es widerspiegelt, und ist soweit fortschrittlich wie jene fortschrittlich ist."
„Die bürgerliche Gesellschaft enthält...: A. Die Die Vermittelung des Bedürfnisses und die Befriedigung des Einzelnen durch seine Arbeit, und durch die Arbeit und Befriedigung aller übrigen, — das System der Bedürfnisse. B. Die Wirklichkeit des darin enthaltenen Allgemeinen der Freiheit, der Schutz des Eigentums durch die Rechtspflege" (§ 188). Marx hat Rechtens festgestellt — in Beziehung auf die . Phänomenologie des Geistes', gültig zugleich für die Rechtsphilosophie’ —„daß das Große" in ihr sei, daß „Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und Aufhebung dieser Entäußerung: daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen ... als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift"
Die bürgerliche Gesellschaft ist „in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen. — Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizuführen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer — denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen —, auf der einen Seite, wie auf der anderen Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses zu weiteren Fähigkeiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt" (§ 243). Seine an Recht und Freiheit des Menschen interessierte Rechts-philosophie führt in § 244 weiter aus: „Das Fierabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise . . . und damit zum Verlust des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen, — bringt die Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt." In der Perspektive dieser vor Marx begriffenen Dialektik von Akkumulation des Kapitals und Verelendung des Proletariats versucht Hegels Philosophie, den praktischen Begriff der Freiheit durch Rechtssicherheit zu leisten, um sich nicht vor dem Problem des bloßen überlebens als esoterisch und für die „Sonntagskinder" des Kapitalismus zu disqualifizieren. Hegel sieht, „daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern" (§ 245). Er fährt, die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise antizipierend, fort: „Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben, zunächst diese bestimmte Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Überfluß hat, oder überhaupt an Kunstfleiß u. s. f. nachstehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu suchen" (§ 246).
Die spekulative, geschichtsphilosophische Prognose des Übergangs des Geistes aus der alten Welt Europas in die Neue Welt (Amerika), im Schlußkapitel der Rechtsphilosophie (z. B. § 347) niedergelegt als Begreifen der Dialektik des Geistes, hat ihre Parallele und ihren Grund in der Dialektik des Konkreten, welche die Bourgeoisie definiert: „Dieser erweiterte Zusammenhang bietet auch das Mittel der ‘olonisation 711 welcher die ausgebildete bürgerliche Gesellschaft getrieben wird" (§ 248). Dieser Realismus in der Analyse der zeitgeschichtlichen Situation ist es, der legitirnerweise von Hegel als dem Theoretiker sprechen läßt, der, wie kein anderer neben ihm, dem Anspruch nachgekommen ist, Philosophie sei „ihre Zeit in Gedanken erfaßt".
Die Rechtsphilosophie erinnert gegen die Partikularität der Bedürfnisse und gegen die den Antagonismus von Klassen provozierende Struktur von Herren (über Arbeit) und Knechten (durch den erzwungenen Verkauf der Arbeitskraft), „gegen das Prinzip des einzelnen Willens ... an den Grundbegriff . . ., daß der objektive Wille das an sich in seinem Begriffe Vernünftige ist, ob es von einzelnen erkannt und von ihrem Belieben gewollt werde oder nicht" (§ 258, Anm. ). Die Wirklichkeit dieser Vernunft glaubt Hegel garantiert im Staat als Verwirklichung der „sittlichen Idee". Er versucht, „den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen" (Vorrede), wofern er auf das „Rechtssystem" als „das Reich der verwirklichten Freiheit" (§ 4) gegründet ist. Die moderne Rechtsverfassung hat die Verfügungsgewalt von Menschen über Menschen (im römischen Recht) durch die „Definition des Menschen — als eines rechtsfähigen" ersetzt (Randbemerkung zu § 2). Die Befähigung zum bürgerlichen Vertrag auf der Grundlage des Gebots: „sei eine Person und respektiere die anderen als Person" (§ 36) setzt voraus das allgemeine Recht, durch Arbeit seinen Willen „in jede Sache" (§§ 40— 44) zu legen und Eigentum zu bilden. So wird die Rechtsverfassung für alle — und soziale Diskriminierung ausschließend — zum „Mittel der Sicherung der Personen und des Eigentums" (§ 157). Das . System der Bedürfnisse'geht durch das Recht in den Staat über, unter bewußter Einbuße subjektiver Rechte und ohne Unterjochung des Einzelnen als Person; in den Staat als Existenzbasis des Individuums und „Form seiner Sittlichkeit" (§§ 257 ff.).
Diese Staatskonstruktion verdient Anerkennung, gerade weil sie auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft gedacht wird. Sie ist deren immanente Kritik. Es ist Hegels Sensibilität gegenüber dem Staat, die ausmacht, daß er mit Anstand aktuell genannt und zitiert werden darf als Material einer Hermeneutik, die Kritik ist. „Der Staat ist das Gesetz der Freiheit. Es kann zwar die Entzweiung vorkommen, daß die Philosophie der vorhandenen Welt sich gegenüberstellt, d. h. daß sie als revolutionäres Prinzip erscheint. Indem die Philosophie die Sache in der Form des Gedankens faßt, so faßt sie sie in der Form der Allgemeinheit, des Substantiellen. So kann sie allerdings dem entgegengesetzt sein, was ist. Der Inhalt der Philosophie ist dann die Freiheit der Vernunft als entgegengesetzt der Freiheit der Willkürlichkeit."
Die Frage nach dem hermeneutischen Interesse an Hegel — gewendet an die Gesellschaft, die sich Würdigungen Hegels zu seinem 200. Geburtstag nicht versagen zu können meint — wäre zur Zufriedenheit gelöst, stünde fest, daß gerade der Hegel, den sie sich leistet, der Analytiker und Kritiker bürgerlicher Gesellschaft war, keinesfalls aber deren Apologet.