I. Die Schule als gesellschaftspolitischer Hebel
Liberale und linksorientierte Soziologen sind sich darin einig, daß die Ursachen für das Ausbleiben einer emanzipierten, Kontrollfunktionen übernehmenden Öffentlichkeit zum großen Teil in der Struktur des bestehenden Schulsystems zu suchen sind. Vor allem folgende Versäumnisse werden genannt:
Diese Skizzierung beweist, wie sehr das bestehende Schulsystem zur Aushöhlung des Demokratieverständnisses beiträgt. Wie sollen Schüler, die zehn oder mehr Jahre Subordination gelernt haben, selbstbewußte, sich dem Allgemeinwohl verantwortlich fühlende Demokraten werden? Wie sollen junge Menschen, die ihre Lehrer ständig als Vorgesetzte erlebt haben, sich von elitären Vorstellungen lösen und nicht an Begabung als Grundlage allen gesellschaftlichen Aufstiegs glauben? Wie sollen Jugendliche, denen schulische Mitbestimmung stets versagt war, von den Möglichkeiten einer Staatsform überzeugt werden, die auf der Fähigkeit des Mitregierens und -kontrollierens aller Staatsbürger in gleicher Weise aufbaut?
Die konkreten Ausführungen einer Schulverfassung, die Schülern, Eltern und Lehrern die Gestaltung einer demokratischen Schule gestattet und die Autonomie des einzelnen institutionalisiert, sind inzwischen vorgelegt worden
Als praktische Versuche können wir lediglich auf Erfahrungen der Halephagenschule in Buxtehude zurückgreifen. Die Oberstufenschüler haben hier die Möglichkeit, ihren Bildungsgang zum Abitur selbst zu bestimmen. Die Unterrichtsinhalte werden in offenen Arbeitsgruppen von Schülern und Lehrern gemeinsam zusammengestellt, und jedem Schüler bleibt überlassen, welcher Arbeitsgruppe er sich anschließt. Wer im Unterricht fehlt, braucht keine Entschuldigung vorzulegen, muß aber den versäumten Stoff nachholen. Paritätisch besetzten Ausschüssen obliegen Aufgaben, die bisher dem Schulleiter oder der Lehrerkonferenz zustanden. Konflikte werden nicht mehr harmonisiert oder autoritär entschieden, sondern offen ausgetragen. Jeder Schüler wählt sich anstelle des bisherigen Klassenlehrers einen Lehrer als Tutor, der ihm zur Seite steht. Und das Ergebnis: Trotz des fehlenden Lernzwanges gab es „kaum weniger” Ausfälle, aber der Arbeitsund Leistungswille hatte sich gesteigert, wahrscheinlich, weil der Lernprozeß kooperativ erfolgte und sich die starre Rollenfixierung von Lehrern und Schülern verringert hatte. Der Direktor der Schule, Johannes Güthling, stellte als vorläufiges Fazit fest:
„Die bisherigen Beratungen haben gezeigt, daß Sachverstand und Urteilsvermögen keineswegs immer an Lebensalter und bestandene Examina gebunden sind — soweit nur dem Schüler wirkliche Mitbestimmungsrechte eingeräumt werden."
So erfreulich die größere Selbständigkeit und Mitbestimmung der Schüler im Buxtehuder Modell auch sein mag, so wäre es doch verfehlt, bereits von einer demokratischen, antiautoritären Schule zu sprechen. Denn einmal bleibt der Reformansatz auf die Oberstufe beschränkt, und zum andern sind das alte Unterrichtsziel sowie die traditionellen Lehrinhalte in Form der Stunden-und Fächertafeln nicht geändert worden. Damit bleibt das Modell elitär und erfaßt die große Zahl der vorzeitigen Schulabgänger ebensowenig wie alle die Buxtehuder Schüler, die andere Schulen besuchen.
II. Das radikale Modell: Summerhill
Eine der wenigen Schulen, -die mit den herkömmlichen Unterrichts-und Erziehungspraktiken gebrochen hatten, ist die Privatschule des Engländers Alexander S. Neill in Summerhill. Großbritannien gilt ja als das „klassische" Land sozialer Utopien und hat auch eine Reihe pädagogischer Modelle und Schulversuche aufzuweisen
Ber'tran*d. Russell als Schuldirektor • Russell verabscheute für die Erziehung seiner eigenen Kinder jede Art sexueller Prüderie und religiöser Belehrung
Russell gelang es nicht, Freiheit im Alltag der Kinder zu verwirklichen. Bezüglich Gesundheit und Sauberkeit bestanden feste Vorschriften: Die Kinder mußten sich regelmäßig waschen, die Zähne putzen, zur vorgeschriebenen Zeit ins Bett gehen usw. Der große Humanist und Menschenfreund hielt das Recht auf Selbstbestimmung, was das tägliche Verhalten betrifft, für unerheblich. Die höheren Werte lagen außerhalb der Sachwelt des Kindes, und offensichtlich verstand Russell, im Gegensatz zu Neill, nur wenig von Psychologie und Psychotherapie.
Zwar hatten Russell und Neill die gleiche Zielsetzung: Die Kinder sollten zu Selbständigkeit, Mündigkeit und Freiheit erzogen werden. Während jedoch der eine, von Freud inspiriert, als der geborene Erzieher wirkte, handelte der andere rein spekulativ, ohne fundierte Kenntnis der Individuallage des Kindes. „Ich bewundere", schrieb Neill an Russell, „daß zwei Männer, die von so verschiedenen Positionen ausgehen, zu genau den gleichen Schlußfolgerungen finden . . . Während Ihr Kind Sie über die Sterne fragt, wollen meine Schüler etwas über Muttern und Schrauben wissen."
Das Leben in Summerhill 1. Neill ging davon aus, daß die Fähigkeit zu freier, individueller Lebensführung sich nicht von selbst einstellt oder durch Willensstärke erzwungen werden kann, sondern wie jede an-dere Verhaltensweise erlernt werden muß, und zwar in einer Umwelt, die radikal auf Zwang, Unterdrückung und Bevormundung verzichtet, auch in Form des freundlichen Zuredens und Belohnens. So erhielten die Schüler in Summerhill Freiheit ohne Lenkung in einem Umfang, wie sie Russell anarchistisch erschienen wäre. Den Jungen und Mädchen stand es nicht nur frei, die Schulfächer zu wählen, die sie interessierten, sondern auch der Besuch der Stunden selbst war freiwillig. Niemand wurde zum Unterricht gezwungen, genötigt oder überredet. Viele Kinder lernten erst mit acht, neun Jahren lesen und schreiben, in einem Fall sogar erst zu Beginn der Pubertät, weil Neill die Auffassung vertrat, daß jeder Lernprozeß unter Zwang, ohne die innere Zustimmung und Bereitschaft des Lernenden, zu seelischer Verkrüppelung, Unterwürfigkeit und Lebensangst führe. „Daseinszweck des Kindes ist es, sein eigenes Leben zu führen — nicht das Leben, das es nach Ansicht der besorgten Eltern führen sollte oder das den Absichten des Erziehers entspricht, der zu wissen glaubt, was für das Kind am besten ist. Solche Einmischung und Lenkung von Seiten Erwachsener hat lediglich eine Generation von Robotern zur Folge. — Man kann Kinder nicht dazu zwingen, ein Instrument zu spielen oder etwas zu lernen, ohne sie damit in einem gewissen Ausmaß zu willenlosen Erwachsenen zu machen. Man macht sie zu Konformisten — eine gute Sache für eine Gesellschaft, die gehorsame Diener an trübseligen Schreibtischen und hinter Ladentischen braucht..."
Auch in der Freizeit konnten die Schüler fast immer tun, was sie wollten, nämlich vor allem spielen. Aufsichten gab es nur beim Schwimmen im offenen Meer, und den Lehrern war ein Eingreifen nur erlaubt, wenn Gesundheit oder Leben der Betreffenden gefährdet schien. Wie die Kinder sich anzogen, frisierten, die Mahlzeiten zu sich nahmen, ob und wie sie grüßten, aufstanden, sich wuschen usw. wurde in keiner Weise vorgeschrieben. Auch Fluchen, Schimpfen, Schreien wurde nicht bestraft oder sonstwie negativ sanktioniert, was zur Folge hatte, daß die meisten Schüler diese Freiheiten bald nicht mehr mißbrauchten und zu sozialem Verhalten fanden. Selbst Diebstähle gingen oft straffrei aus, wobei Neill immer dann, wenn das Stehlen einer Zwangshandlung entsprach, das Kind sogar zum Stehlen ermutigte oder selbst daran teilnahm. Dasselbe wird über Bettnässen und notorisches Lügen berichtet. So konnte ein Schüler ein Fenster nach dem anderen einschlagen, ohne daß Neill einschritt, weil ihm die seelische Entlastung in Form des Aggressionsabbaus wichtiger war als der entstandene Schaden. 2. Neill hatte sich immer wieder gegen den Vorwurf wehren müssen, die von ihm praktizierte Nichteinmischung in die Bedürfnisse seiner Schüler sei gleichbedeutend mit Zügellosigkeit und Anarchie. „Den Unterschied zwischen Freiheit und Zügellosigkeit können viele Eltern nicht begreifen. In einem Heim, in dem Disziplin herrscht, haben die Kinder keine Rechte. In einem Heim, in dem sie verwöhnt werden, haben sie alle Rechte. In einem guten Heim haben Kinder und Eltern jedoch gleiche Rechte. ... Es muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß Freiheit nichts mit Verwöhnen zu tun hat."
Die Freiheit eines normalen, also nicht neurotisierten Kindes fand natürlicherweise dort ihre Grenzen, wo die Interessen anderer verletzt wurden. Neill erlaubte es nicht, daß Schüler ihn bei der Arbeit störten oder seine frisch gepflanzten Kartoffeln herausrissen. Er schloß auch das Handwerkszeug ein und verbot, auf seiner Schreibmaschine zu hämmern oder auf dem Eßtisch spazierenzugehen. Andererseits aber achtete er die Eigentumsrechte der Schüler ebenso sehr, und wenn ihn der 5jährige Billy bat, seine Geburtstagsfeier zu verlassen, zu der er nicht eingeladen war, so befolgte er diesen Wunsch. „Niemand darf sich auf den Konzertflügel stellen, und ich kann auch nicht einfach das Fahrrad eines Jungen benutzen, ohne ihn um Erlaubnis zu bitten. In einer Schulversammlung hat die Stimme eines 6jäh-rigen ebenso viel Gewicht wie meine."
Neill achtete darauf, daß die Respektierung des Freiheitsraumes der Mitschüler und Lehrer nicht durch Drill und Strafe anerzogen, sondern im täglichen Umgang erfahren wurde. Wer sich lediglich unter Zwang sozial integrieren läßt, wird diese Haltung leicht aufgeben, sobald der Zwang gelockert wird oder fortfällt
Freiheit und Selbstregulierung wird aber ebensowenig verwirklichen können, wer als Kind verzogen und verwöhnt worden ist und die Rechte anderer nicht zu beachten brauchte. Nachgiebigkeit in jedem Fall, Liebe und Zärtlichkeit auch dort, wo sich kein frühkindliches Bedürfnis, sondern ein unkontrolliertes Besitz-und Machtstreben regt, verwechselt Erziehung mit Schwäche. Darum mahnt Neill zu Recht: „Man sollte einem Kind nicht alles geben, was es haben will. Im allgemeinen bekommen Kinder heutzutage viel zuviel, so daß sie es gar nicht mehr zu schätzen wissen, wenn man ihnen etwas schenkt. Eltern, die ihre Kinder mit Geschenken überhäufen, lieben sie häufig nicht. Sie möchten ihr Versagen kompensieren, indem sie ihre Elternliebe demonstrativ zur Schau stellen. Sie handeln damit ähnlich wie der Mann, der seine Frau betrogen hat und ihr nun großzügig einen Pelzmantel schenkt, den er sich eigentlich nicht leisten kann."
Nach den Erfahrungen Neills waren diese Schulversammlungen außerordentlich beliebt und gut besucht und funktionierten nahezu reibungslos. Da Lehrer wie Schüler jeweils nur eine Stimme besaßen, fühlten sich die Schüler nie bevormundet und stimmten gemäß ihrer jugendlichen Bedürfnislage und ohne Ressentiment nach irgendeiner Richtung. Die vom Plenum erlassenen Verordnungen (z. B. Rauchverbot im Schlafzimmer) fanden Anerkennung bis zum nächsten, oft entgegengesetzten Erlaß. Bei Verstößen fällten die Schüler Urteile, die nicht den Täter strafen, sondern das begangene Unrecht aus der Welt schaffen sollten. Wer beispielsweise andere beim Schlafen störte, wurde eine Woche lang eher ins Bett geschickt. Jungen, die andere mit Erdklumpen beworfen hatten, mußten Erdlöcher auf dem Hockeyplatz ausfüllen; drei Mädchen, die in der Speisekammer geplündert hatten, wurden zur Abgabe ihres Taschengeldes verurteilt, (als sie die Diebstähle wiederholten, allerdings mit 10 Pf. „belohnt")
Anarchistische Regungen blieben nicht völlig aus, wurden aber nach kurzer Zeit durch die Schüler, nicht durch Neill oder seine Lehrer, aufgefangen. Als z. B. die jüngeren Schüler unter Anführung einer neuen Schülerin, für die das freie Zusammenleben auf Grund fehlender Erwachsenenautorität verwirrend war, die Anarchie ausriefen, sich Sägen aus der Werkstatt holten, um alle Obstbäume zu fällen, da war die Begeisterung schon nach zehn Minuten verflogen, und noch am gleichen Tag wurde eine neue Schulversammlung einberufen. Der Gesamtschaden des anarchistischen Zustandes war ein zersägter Garderobenständer
Ais Voraussetzung für das Funktionieren einer Schülerselbstverwaltung nennt Neill allerdings die Anwesenheit einiger älterer Schüler. „Kinder unter zwölf . . . können sich allein nicht organisieren, weil sie noch zu jung sind, als daß sie gemeinschaftsfähig wären. Trotzdem versäumen in Summerhill selbst Siebenjährige nur selten eine Schulversamm-lung."
Darüber hinaus wurden neurotisierte Kinder wegen ihrer Fehlhandlungen und Schwächen nicht gerügt oder bestraft, auch wenn schwere antisoziale Wirkungen auftraten. Neill stellte sich vielmehr stets auf die Seite des jugendlichen Übeltäters und versuchte, das schlechte Gewissen, die Fixierung des Kindes auf eine bestimmte Handlung, durch Beteiligung am Delikt abzubauen. „Ich hatte einmal einen dick-liehen Jungen, der auf der psychischen Stufe eines Drei-oder Vierjährigen stand. Er stahl im Geschäft. Ich beschloß, mit ihm in ein Geschäft zu gehen und in seinem Beisein zu stehlen (nachdem ich vorher das Einverständnis des Ladenbesitzers eingeholt hatte). Für diesen Jungen war ich Vater und Gott.. .. Meine Überlegung war, daß er sein Gewissen betreff Stehlen revidieren müßte, wenn er seinen Vater-Gott stehlen sah."
Die herrschaftsfreie Atmosphäre hatte sich auf allen Ebenen des sozialen Zusammenlebens durchgesetzt. „Besucher sagen immer wieder", so berichtet Neill, „sie könnten in Summerhill Schüler und Lehrer nicht auseinanderhalten. Diese Beobachtung ist richtig: denn in einer Schule, in der die Kinder anerkannt werden, bilden Lehrer und Schüler tatsächlich weitgehend eine Einheit. Es gibt keine Ehrerbietung den Lehrern gegenüber. Lehrer und Schüler bekommen das gleiche Essen. Es gelten für sie dieselben Regeln der Gemeinschaft. Die Kinder nähmen es übel, wenn die Lehrer Vorrechte hätten."
III. Die anthropologische Konzeption in Summerhill
Der Praxis in Summerhill liegt ein theoretisches Konzept von der Natur des Menschen sowie der Aufgabe der Erziehung zugrunde, ohne deren Kenntnis die von Neill eingeführten Methoden in der Tat verwirren und bestürzen müssen.
Neill hat sich immer wieder auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds sowie auf das Werk seines Freundes Wilhelm Reich berufen. Summerhill ist der erste Versuch, die psychologi-Einsichten der letzten 50 Jahre pädagogisch konsequent umzusetzen, wobei außerdem noch die Erfahrungen Homer Lanes bei der Gründung der Gemeinschaftskolonie „Little Commonwealth" auf einer Farm in Dorset Berücksichtigung fanden.
Freiheit und Selbstbestimmung stellen nach Neill die höchsten Werte dar, deren sich Erzieher anzunehmen haben. Gemäß seiner Auffassung vom Leben kommen Kinder nicht als gute oder schlechte Menschen auf die Welt, sondern werden erst durch die Prägung ihrer sozialen Umwelt gut oder schlecht. Deshalb liegt es an der Erziehung, welche soziale Entwicklung der einzelne nimmt.
Freud, hatte erstmals den Beweis angetreten, daß die zunehmende Verletzung humaner Inhalte im Zuge der technischen Zivilisation Folge einer übergroßen Triebunterdrückung sei: indem man dem Menschen überhöhte Kulturleistungen (in Wissenschaft, Kunst und vor allem in der Wirtschaft) zugunsten der Allgemeinheit auferlege, würde den sexuellen oder lebensbejahenden Bedürfnissen eine spontane Befriedigung verwehrt. Nichtbefriedigung oder Aufschub der Lust führten jedoch, sofern ein bestimmtes Ausmaß überschritten sei, zu schweren Schädigungen im Triebhaushalt. Das Gleichgewicht zwischen Eros-oder Lebenstrieb und Todes-oder Destruktionstrieb werde beeinträchtigt mit der Folge, daß die unterdrückten Bedürfnisse an anderer Stelle pervertiert zum Durchbruch gelangen und Nervosität, Lebensangst, Haß und Aggression hervorrufen. „Die Schicksalsfrage der Menschheit", so schloß Freud seine Abhandlung über das Unbehagen in der Kultur, „scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kultur-entwicklung gelingen wird, der Zerstörung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressionsund Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.. . . Die Menschen haben es in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden . himmlischen Mächte’, der ewige Eros, eine Anstrenung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner (= der Todestrieb, T. C.) zu behaupten."
Ganz ähnlich beurteilt Neill die allgemeine Lage: „Unsere Erziehung, unsere Politik, unser Wirtschaftssystem führen zum Krieg. Unsere medizinische Wissenschaft hat mit den Krankheiten nicht aufgeräumt. Unsere Religion hat weder Wucher noch Raub aus der Welt geschafft. . . . Neue Weltkriege drohen auszubrechen, weil das soziale Gewissen der Welt noch immer primitiv ist. — Stellen wir ein paar unangenehme Fragen! Warum haben Menschen offensichtlich sehr viel mehr Krankheiten als Tiere? Warum hassen und töten Menschen im Krieg, während Tiere das nicht tun? Warum gibt es immer mehr Krebskranke? Warum geschehen so viele Selbstmorde, so viele Sexualverbrechen? Warum gibt es den Haß, der Antisemitismus heißt? Warum werden Neger gehaßt und gelyncht? Warum Bosheit und Verleumdung? Warum gilt alles Sexuelle als obszön und muß für schmutzige Witze herhalten? Warum ist es ein gesellschaftlicher Makel, ein uneheliches Kind zu sein? . . . Warum, tausend Warums zu dem gepriesenen Zustand unserer Zivilisation, die es so herrlich weit gebracht hat!"
Aus den Untersuchungen Reinhard und Anne-
Marie Tauschs geht sehr deutlich hervor, daß der Unterrichts-und Erziehungsstil der meisten Lehrer unserer Schulen als autokratisch, nicht aber als sozialintegrativ bezeichnet werden muß. Die Anzahl der autoritär vorgehenden Lehrkräfte wird auf über 90 0/0 angegeben. Als Merkmale autokratischer, führerzentrierter Verhaltensformen gelten dabei: „Häufige Befehle oder Anordnungen — Vorwürfe, Ungeduld, Kritik, Tadel, Setzen von Bedingungen — Verwarnungen, Drohungen, Strafen — Großes Ausmaß des Redens und Fragens — Geringe Respektierung von Wünschen und Belangen sog. untergebener Personen — Ungleiche Rechte von Führenden und Untergebenen — Überzeugung des Leiters von der Notwendigkeit häufiger Kontrolle der Geführten — Geringe Akzeptierung anderer Menschen — Geringes echtes Verständnis für sog. Untergebene durch den Leiter — Eindeutige Determinierung der Aktivität der Geführten durch Erfahrungen, Urteile und Entscheidungen des Leiters — Geringe Möglichkeit der Nachahmung des Verhaltens des Leiters durch sog. Untergebene."
Neben Konzentrationsschwäche, häufiger Frustration, Unfähigkeit zu individueller Problemlösung, geringer Lernmotivation und vorwiegend rezeptivem Verhalten führt der autoritäre Unterricht nach Tausch vor allem auch zur Übernahme von Vorurteilen beim Schüler sowie zu konformistischem Denken: „Konformismus steht somit in positivem Zusammenhang mit autoritärem Verhalten und in entgegengesetzter Beziehung zu Toleranz, sozialer Teilhabe, Verantwortlichkeit sowie effektivem, intelligentem Verhalten. Bei weiteren Untersuchungssituationen zeigten sich bei Personen mit größerer Tendenz zu Konformismus folgende weitere Merkmale: submissives, gefälliges Verhalten gegenüber Autorität, genaues Befolgen von Vorschriften, geringe Breite des Interesses, Überkontrolle eigener Impulse und Hemmungen, Unfähigkeit, Entscheidungen ohne Zögern oder Verzögerungen zu treffen, Streben nach klarer Symmetrie, Intoleranz gegenüber Doppeldeutigkeiten .. . Sie zeigten ferner weniger Spontaneität und produktive Originalität sowie mehr Vorurteile. Hinsichtlich der Erziehung ihrer eigenen Kinder waren konformistische Personen mehr restriktiv."
Den Ausweg aus diesem Zustand der selbst-verschuldeten Unmündigkeit und Unfreiheit sieht Neill ebenso wie Freud allein in der bewußten Stärkung des Libidooder Lustprin-zips. Erst wenn Zwang und Unterdrückung bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen konsequent überwunden und die spontanen Bedürfnisse des Heranwachsenden, auch und vor allem in den ersten Lebensjahren, ohne Verzögerung befriedigt werden, kann eine neue Generation heranreifen, die dem Leben uneingeschränkt positiv gegenübersteht. Neill war davon überzeugt, daß zwischen einer strengen, den individuellen Regungen des Kindes keinen Raum lassenden Erziehung in Familie und Schule und den antihumanitären Handlungen faschistischer oder technokratischer Staaten ein zwingender Zusammenhang besteht. Das gegenwärtige westliche Schulund Erziehungssystem ist seiner Überzeugung nach dazu angetan, feige, gefügige Untertanen und konformistische Staatsbürger zu erzeugen.
„Die Erziehung des kleinen Kindes ähnelt sehr der Dressur eines Hundes. Das geschlagene Kind wird wie das geschlagene Hündchen zu einem folgsamen, duckmäuserischen Wesen. Und wie wir einen Hund zu unseren eigenen Zwecken abrichten, so erziehen wir auch unsere Kinder. Im Kinderzimmer wie im Zwinger: die menschlichen Hunde müssen reinlich sein, sie dürfen nicht zuviel bellen, sie müssen der Pfeife gehorchen, sie müssen essen, wann es uns paßt. — Ich sah, wie 1935 hunderttausend folgsame, kriecherische Hunde auf dem Tempelhofer Feld in Berlin mit dem Schwanz wedelten, als der große Trainer Hitler seine Befehle pfiff."
Aus diesem Grunde ermöglichte Neill seinen Schülern jede Form der Glücksentfaltung und verbannte harte Arbeit sowie Lernen unter Zwang. Die Verlagerung des Schwerpunktes vom Realisationsprinzip zugunsten des Lust-prinzips werde, so hoffte er, die spontane Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse anregen und Zufriedenheit, Lebensbejahung, Kreativität und Originalität hervorrufen. Die freie Entwicklung des Trieblebens, nur dort eingeschränkt, wo die Interessen anderer tangiert werden, bewirken seiner Überzeugung nach eine offene, optimistische Einstellung zum Leben und gleichzeitig Immunität gegen Haß, Sadismus, Brutalität und Unterwürfigkeit. Nur wer seine Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen realisieren und aus der Befriedigung der vorhandenen Triebenergien Lust ziehen könne, werde das Leben lieben. „Ein glücklicher Mensch hat sich noch nie zum Störenfried hergegeben, Krieg gepredigt oder einen Neger gelyncht. . .
Die beschriebenen ungezwungenen, unkontrollierten Lebensformen in Summerhill dienten somit einem doppelten Ziel. Einerseits sollten freie, nichtautoritäre Charaktere erzogen werden, die ihrer eigenen Existenz sowie der Umwelt lebensbejahend gegenüberstehen. Nicht die Fülle der verinnerlichten Dressuren, Wissenspensen oder aufoktroierten Verhaltensweisen machte den Inhalt der Erziehung aus, sondern allein das Maß der freigesetzten Lebensenergie und spontanen Aktivitäten.
Andererseits sollte eine Erziehung in Freiheit und Selbstbestimmung zur Abwehr faschistoider, antisozialer und ideologisch verkrusteter Strukturen beitragen und zu politischer Mündigkeit führen. Denn Konformismus, Freude an Grausamkeit, Unterdrückung und Herrschaft, im familiären wie im gesellschaftlichen Bereich, waren für ihn stets Folge autoritärer Erziehung als Nichtbeachtung der seelisch-geistigen Bedürfnisse und Ansprüche des jungen Menschen.
Dieses anthropologische Konzept ist durch die Ergebnisse der Sozialwissenschaften voll bestätigt worden. So erblickt beispielsweise Erich Fromm in der Förderung „spontaner Aktivität" den einzigen Weg zur persönlichen Freiheit, hingegen in Bevormundung und autoritärer Führung den Ursprung aller Minderwertigkeitskomplexe, Lebensschwäche, Selbst-
vernichtung und Aggression. Demokratie als Lebensform verlangt seiner Ansicht nach „die volle Bejahung der Einzigartigkeit des Individuums", die nur so zu erreichen sei, daß dem einzelnen von Anfang an, schon im Säuglings-alter, eigenes Fühlen, Wollen und Denken gestattet werden. Begriffe wie Freiheit, Selbstbestimmung, Initiative, Spontaneität, soziale Verantwortung, Demokratie, Vernunft und individuelles Glück erscheinen ihm als Synonyma, ebenso Friedfertigkeit, Altruismus und Liebe
IV. Die Erfolge von Summerhill
Die in Summerhill erzielten Ergebnisse haben Neill und der von ihm vertretenen Theorie weitgehend recht gegeben. Trotz des fehlenden Lernzwanges lernten auch seelisch gestörte Kinder nach einer gewissen Übergangszeit aus freien Stücken gern und intensiv. Der gewährte Vorschuß an Vertrauen und Anerkennung bewirkte in den meisten Fällen, daß vorher sozial verwahrloste und aufsässige Kinder, für die es nur noch den Weg in dissoziale Verhaltensweisen zu geben schien, geheilt und lebenstauglich gemacht wurden, nicht durch Überredung, geschicktes Taktieren oder pädagogische Manipulation, sondern durch die Bereitstellung von Freiheitsund Spielräumen.
Wirklich große Persönlichkeiten sind nach Neills eigenen Angaben aus der Schule nicht hervorgegangen. „Ein paar schöpferische Menschen vielleicht, die noch nicht berühmt sind, einige hervorragende Künstler, einige gute Menschen, noch kein Schriftsteller, soweit ich weiß."
Entscheidender ist sicherlich die Tatsache, daß die Summerhill-Absolventen gegen dissoziale Entwicklungen gefeit waren. Neill versichert, keiner seiner Schüler habe sich später gemeinschaftsschädlich verhalten oder sei wegen krimineller Delikte ins Gefängnis gekommen
Der Bericht der Schulinspektoren über Summerhill vom Juni 1949 bestätigt das positive Bild. Zwar wird die Qualität des Unterrichts als zum Teil altmodisch und nicht genügend effektiv bezeichnet und die Entscheidungsfreiheit der Schüler beim Lernen und Wählen der Fachgebiete kritisiert, doch zollen die Inspektoren dem Schulbetrieb in zahlreichen Punkten ihre Anerkennung:
Keine Langeweile, stets Aktivität und Leben, vor allem außerhalb des Unterrichts (Spiel, Theater, Sport, handwerkliche Arbeiten); Ausgezeichnetes Benehmen, Unbefangenheit der Schüler im Umgang mit Erwachsenen; Große Initiative, Verantwortungsgefühl und Solidarität;
Erfreuliche Erfolge der Schulabsolventen; Günstige Arbeits-und Lernatmosphäre, ohne Prüfungsangst und Leistungsdruck.
Der Bericht enthält einige Bedenken hinsichtlich der praktizierten Grundsätze und Methoden, läßt jedoch in der Gesamtbeurteilung keinen Zweifel daran, „daß in Summerhill faszinierende und wertvolle erzieherische Forschungsarbeit geleistet wird, die zu beobachten für alle Pädagogen von Nutzen wäre"
V. Die Anerkennung Summerhills durch die Gesellschaft
Das Experiment in Summerhill hat bei Sozial-psychologen und Psychotherapeuten, zumindest soweit sie sich als Nachfolger Freuds fühlen, einhellige Zustimmung gefunden. „Ich glaube", schrieb Erich Fromm in seinem Vorwort zur amerikanischen Erstausgabe, „Neills Werk ist Saat, die aufgehen wird. In einer neuen Gesellschaft, in der der Mensch und seine Entfaltung im Mittelpunkt aller Anstrengungen stehen, werden Neills Gedanken allgemeine Anerkennung finden."
Der Widerhall in England In England selbst genießen Summerhill und ihr Begründer ein hohes Prestige. Diese Achtung basiert allerdings nicht so sehr auf der Erkenntnis, Neills Experiment führe zu einer neuen Gesellschaft, zu größerer sozialer Gerechtigkeit und individuellem Glück, sondern vorwiegend auf dem Gefühl, daß es unfair wäre, einem Mann die Anerkennung zu versagen, der für seine Ideen mit bewundernswerter Energie eingetreten ist. Lediglich einige engagierte britische Erzieher haben Summerhill als konkreten Ansatzpunkt zur Veränderung der Gesellschaft erkannt und gutgeheißen, während sich die breite Öffentlichkeit dem eigentlichen Ziel der progressiven Erziehung gegenüber außerordentlich reserviert verhält
Solange Summerhill bestand, steckte Neill in finanziellen Nöten, was kaum möglich gewesen wäre, wenn die britischen Schulbehörden die Bedeutung seines Schulversuchs richtig eingeschätzt hätten. Sie bewiesen jedoch im Gegenteil oft ein völliges Unverständnis bezüglich der praktizierten Lehrmethoden, so daß sich Neill wiederholt gezwungen sah, die wahren Intentionen und psychologischen Begründungen zu verschleiern, um unnötige Einmischungen und Konfrontationen zu vermeiden
Wie wenig die gegenwärtige englische Gesellschaft von der Notwendigkeit einer freien, repressionslosen Erziehung überzeugt ist, hat in jüngster Vergangenheit das beschämende Ende von „Risinghill" gezeigt, einer Comprehensive School in den Slums von Islington, London. Was man Neill als Leiter einer Privatschule noch nachsah, wurde Michael Duane, dem Direktor einer staatlichen Schule, als Versagen und Ungehorsam gegenüber der Schulverwaltung ausgeiegt. Schon kurze Zeit nach der Gründung von Risinghill, 1960, gerieten die Erziehungsmethoden Michael Duanes — Verzicht auf jegliche Form körperlicher und psychischer Gewalt; Nachsicht und Güte auch bei jugendlichen Delinquenten; regelmäßige Aussprachen zwischen Schülern und Lehrern; Vollversammlungen am Morgen ohne Gebets-rituale; individuelle Schülerbehandlung; unbegrenzte Möglichkeiten für Unterrichtsversuche; offene Gespräche über sexuelle Probleme — in Verruf. Gerüchte kursierten, die Schüler hätten freie Hand und tyrannisierten ihre Lehrer nach Gefallen, was der nicht emanzipierten Öffentlichkeit als erneuter Beweis für die Richtigkeit der alten, „bewährten" Methoden erschien. Nachdem sich Duane 1962 geweigert hatte, die körperliche Züchtigung sowie Schuldemission als Strafmittel wieder einzuführen, wurde er 1965 auf Betreiben autoritärer Lehrer sowie mit Hilfe der Schulverwaltung und zahlreicher Politiker wegen Unfähig-keif seines Amtes enthoben und Risinghill, zur Abschreckung ähnlicher Versuche, aufgelöst
Die Rezeption Neills in Deutschland Die traditionelle Pädagogik in der Bundesrepublik Deutschland hat bis jetzt von Neill und seinen Beobachtungen kaum Notiz genommen. Da sich die Erziehungswissenschaften in unserem Land überwiegend als affirmatives, nicht jedoch als kritisches Ferment der Gesellschaft verstehen, paßt Summerhill nur schwer in ihr System. Das gleiche gilt für die Mehrzahl der westdeutschen Lehrer und Erzieher, die einem etwaigen partnerschaftlichen, antiautoritär strukturierten Lehrund Lernprozeß angstvoll und ablehnend gegenüberstehen und sich als Funktionsträger der bestehenden Leistungskultur, nicht aber einer humaneren Gegenposition begreifen
Schudrowitz
Ganz anders war die Reaktion unter der Jugend. Die meisten derjenigen Schüler, die von Summerhill Kenntnis haben, zeigen sich begeistert und sehen sich in ihrer Ablehnung des bestehenden Schulsystems bestärkt. So forderte eine Schülerarbeitsgemeinschaft in Mannheim 1968 eine „kritische Schule" analog zu Summerhill
Auch Hannes Graetz bezeichnete Summerhill „als das wohl kühnste und konsequenteste Schulmodell seit den Versuchen der Wera Schmidt in der Sowjetunion zu Beginn der zwanziger Jahre" und stellte sich bis auf die Frage der Eigentumsregelung voll hinter die von Neill postulierten Erziehungsziele
Das Wirken Neills hat indessen nicht nur die Diskussion über eine Reform von Schule und Gesellschaft unter der jüngeren Generation beflügelt, sondern auch die Gründung neuer antiautoritärer Schulen erleichtert. Es ist uns nicht bekannt, ob das 1967 in Oslo von Schülern initiierte Gegengymnasium ideell an Summerhill orientiert war; auf jeden Fall erinnert es in seiner Struktur an das Neillsche Konzept, da die Schüler — in der wöchentlich tagenden Vollversammlung und über den Schüler-Lehrer-Rat die schulischen Angelegenheiten selbst regulieren; — zum Besuch des Unterrichts sowie zur Anfertigung von Hausaufgaben nicht gezwungen werden, sondern auf der Basis der Freiwilligkeit arbeiten; — keinem Noten-, Zeugnis-oder Versetzungszwang unterliegen
Auch die Auswirkungen waren in Oslo ganz ähnlich wie in Summerhill. Der Fortfall des Schulzwanges, die Aufhebung des hierarchischen Lehrer-Schüler-Gefälles führten nicht ins Chaos, sondern zu einem intensiveren Lernen, zu größerer Initiative und einer positiven Einstellung zur Schule. „Wir erlebten", so berichtet Mosse Jorgensen, die Schulleiterin, „daß die meisten Jugendlichen völlig imstande sind, Verantwortung zu übernehmen, wenn sie nur dürfen. Und wir erlebten, daß die Grenze zwischen Vernunft und Un$vernunft keine Al-tersgrenze ist... . Wir erleben das kleine Wunder, daß der Gegensatz, den man zwischen Lehrern und Schülern erwartet, in Wirklichkeit nicht existiert. Er existiert nur in einer künstlichen Prestigegewalt, die davon ausgeht, daß sich die Menschen primär schlagen wollen."
Summerhill ist für alle diejenigen, die auf die Verbesserung der Verhältnisse hoffen, von unüberschätzbarer Bedeutung. Alexander S. Neill hat mit seinem pädagogischen Versuch bewiesen, daß Freiheit in der Erziehung nicht nur denkbar, sondern auch realisierbar ist. Der Traum von einem Leben in Glück und sozialer Gerechtigkeit, ohne Aggressionsund Herrschaftsansprüche
VI. Antiautoritäre Erziehung und Leistungsdenken
überprüft man, mit welchen Argumenten progressive Schulversuche wie in Summerhill oder Oslo von konservativer Seite abgewertet werden, so stößt man bald auf die Behauptung, ein Wegfall von Zwang, Führung und Gehorsam in Schule und Familie gefährde den Fortbestand der Zivilisation. Junge Menschen, die nicht von früh an gelernt hätten, möglichst viel Wissen in sich aufzunehmen und sich ihren Eltern und Lehrern unterzuordnen, seien später außerstande, im Betriebsleben ihren Mann zu stehen und im beruflichen Wettbewerbskampf mitzuhalten. Freizügigkeit und Freiwilligkeit machten zwar Kindheit und Jugendzeit angenehm, verdürben aber die Chancen im Erwachsenenalter und erzögen letztlich zu Lebensschwäche und Untüchtigkeit. Eine Schule, die den Jugendlichen freie Lehrer-und Fächerwahl, außerdem einen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhenden Unterrichtsbesuch sowie Mitbestimmung in Lehrstoff und -methodik zubillige, vergehe sich an den wahren Interessen und Bedürfnissen der Heranwachsenden.
Mag man als Vertreter des traditionellen Schulsystems die von Neill und seinen Mitarbeitern
Zahlreiche Untersuchungen im Industriebereich (so von Elton Mayo, C. R. Rogers, W. Metzger) kamen ebenso zu dem Ergebnis, daß autoritär geführte Unternehmen ihre Mitarbeiter zu Mittelmäßigkeit, Verantwortungsscheu und Desinteresse führten, wenn sie ihnen individuelle Entfaltungsmöglichkeit, Selbständigkeit und „kreatives Denken" verwehrten
Es kann zum Schluß festgestellt werden, daß die vorurteilsbehaftete Argumentation der konservativen Erzieher, denenzufolge der Mensch durch Schwäche, Egoismus und den Wunsch, geführt zu werden, gekennzeichnet ist und die dann konsequenterweise Schüler als von Natur aus faul, uninteressiert und unselbständig einstufen, lediglich die am eigenen Leib erfahrenen, Spontaneität, Kreativität und Verantwortung unterdrückenden Erziehungspraktiken widerspiegelt. Daß vor diesem seelischen Hintergrund eine freiheitliche Pädagogik Furcht einflößt und zu verständnissperrenden, irrationalen Abwehrmechanismen führt, ist nur allzu verständlich.
Keine Furcht vor einer Schule mit Selbstbestimmung und Eigenverantwortung haben hingegen die meisten Schüler, selbst wenn sie schon seit Jahren dem Druck des bestehenden Schulsystems ausgesetzt sind. Die Frage: „Führt nach Ihrer Überzeugung mehr Freizügigkeit in der Schule für die Schüler (z. B. Lehrerwahl, freiwilliger Unterrichtsbesuch, freie Fächerwahl) zu besseren oder schlechteren Leistungen?" beantwortete der überwiegende Teil der von mir befragten Schüler mit der festen Überzeugung, daß an einer solchen Schule bessere Leistungen möglich wären. Als eine Stimme von vielen hier die Antwort einer 16jährigen Schülerin, die wie alle anderen von Summerhill nichts wußte und dennoch das Wesen der freiheitlichen Erziehung intuitiv erfaßt hatte: „Leider gehen die meisten Schüler heute ungern in die Schule, weil vor allem die älteren die Bevormundung satt haben und selbst entscheiden wollen. Auch werden durch den Zwang viele Schüler zu Unehrlichkeiten erzogen. Gefälschte Unterschriften und Entschuldigungen usw. sind keine Seltenheit. — Viele Lehrer glauben, daß sich durch Freizügigkeit die Leistungen verschlechtern und noch mehr Nachlässigkeit hervorgerufen würde. Auch ich glaube, daß viele Schüler, wenn plötzlich mehr Freiheit gewährt würde, erst einmal gründlich von ihren neuen Rechten Gebrauch machen würden. Aber ich meine, daß dies die normale Reaktion auf den jahrelangen Zwang wäre und sich nach kurzer Zeit wieder legen würde. Wenn mehr Freiheit in der Schule schon bei den ABC-Schützen ge-gewährt würde, gäbe es diese Probleme wahrscheinlich nicht, weil die Schüler dann wesentlich selbständiger wären. Ich glaube auch, daß bei mehr Freizügigkeit in der Schule die Leistungen besser wären, da man ohne Zwang lieber lernt."
Ob es möglich sein wird, die Schule noch lange gegen die Interessen und Bedürfnisse der Schüler zu organisieren, muß auf Grund solcher Äußerungen ernstlich bezweifelt werden.