Vorgeschichte
Nach den Jahren 1954/55 bediente sich die sowjetische Führung erstmals wieder 1966 der Leitparole der europäischen Sicherheit. Propagandistisch war von einer gesamteuropäischen Verständigung, ja sogar von einer Überwindung der europäischen Spaltung die Rede. In den offiziellen Vorschlägen der War-schauer-Pakt-Staaten nahmen der Abzug aller ausländischen Truppen von den Territorien der europäischen Länder, die Beseitigung fremder Stützpunkte auf dem Boden europäischer Staaten, die Auflösung der Militärblöcke oder zumindest ihrer Militärorganisationen und die Schaffung kernwaffenfreier Zonen in Europa einen breiten Raum ein. Diese Punkte waren freilich nur für die westliche Öffentlichkeit bestimmt: Innerhalb ihres osteuropäischen Machtbereichs scheute die sowjetische Führung keine Mühe, um den Regiegierungen und den Bevölkerungen der verbündeten Länder klar zu machen, daß weder an eine Aufgabe der Konfrontationshaltung gegenüber Westeuropa noch an Abstriche von der Geschlossenheit des sozialistischen Lagers und von den machtpolitischen Grundlagen der sowjetischen Herrschaft gedacht sei
Dessenungeachtet erhielten nicht nur in West-, sondern auch in Osteuropa Tendenzen Auftrieb, die von dem bisherigen Blockdenken und Blockverhalten wegstrebten und ein entspanntes Nebeneinanderleben in Europa erhofften.
Was die sowjetische Führung auch alles tun mochte, um in Osteuropa einer „Mißdeutung"
der europäischen Sicherheit als eines Programms beiderseitig zu vermindernder Block-disziplin und beiderseitig zu vollziehender Annäherung entgegenzuwirken, so hatten doch die auf das nordatlantische Bündnis gemünzten Aufweichungsparolen auch im Bereich des Warschauer Paktes tiefgreifende Rückwirkungen. Die rumänische Führung behauptete sich mit einer Interpretation, die von der sowjetischen Linie deutlich abwich. Der „Prager Frühling" wurde in Moskau als Folge einer ideologischen und politischen Verwirrung angesehen, die der westliche Klassenfeind auf Grund eines sehlgeleiteten europäischen Entspannungsprozesses im sozialistischen Lager anzurichten vermocht hatte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt kamen die sowjetischen Führer zu dem Schluß, daß die bisherigen Parolen der europäischen Sicherheit allzu ambivalent und mithin allzu gefährlich seien, um ein geeignetes Instrument der Außenpolitik abgeben zu können. Damit schien eine aktive sowjetische Europa-Politik unmöglich geworden zu sein.
Neuerliche sowjetische Initiativen unter der Parole der europäischen Sicherheit
Die sowjetische Regierung suchte jedoch, der widrigen Umstände ungeachtet, die Initiative in der Europa-Politik zurückzugewinnen. Am 17. März 1969 wandten sich die Warschauer-Pakt-Staaten in Budapest mit einem Appell an die europäischen Länder, ihre Anstrengungen auf die Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa zu richten. Es war von einem „Weg zu gutnachbarlichen Beziehungen, zu Vertrauen und zu Verständigung" und von notwendigen Bemühungen die Rede, „um Europa vor der Gefahr neuer militärischer Konflikte zu bewahren und die Zusammenarbeit zwischen allen europäischen Ländern, unabhängig von ihrer Gesellschaftsordnung, auf der Grundlage der Prinzipien der friedlichen Koexistenz zu entwickeln“. In der „Entwicklung der gesamteuropäischen Zusammenarbeit“, die als eine wirtschaftliche und techB nologische Kooperation näher spezifiziert wurde, zeigte man „die einzig reale Alternative zur gefährlichen Konfrontation, zum Wettrüsten und zu Streitigkeiten" auf, die angeblich Europa von außen — gemeint war: von den USA — aufgezwungen worden waren. Als „Hauptvoraussetzungen" wurden bezeichnet die Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen, die Anerkennung der Existenz der DDR, der Verzicht der Bundesrepublik auf den Alleinvertretungsanspruch und auf Verfügungsgewalt über Kernwaffen sowie die Trennung West-Berlins von der Bundesrepublik. Es wurde die „Einberufung einer gesamteuropäischen Konferenz" vorgeschlagen, die auf einem „baldigen Zusammentreffen von Vertretern aller interessierten europäischen Staaten" vorbereitet werden sollte
Gegenüber den vorangegangenen Jahren waren wichtige Punkte weggefallen, namentlich die Forderungen nach einer Auflösung der Militärblöcke beziehungsweise ihrer Militär-organisationen und diejenigen nach einem Abzug aller ausländischen Truppen von den Territorien der europäischen Staaten sowie nach einer Beseitigung der Militärstützpunkte fremder Mächte in den europäischen Ländern. Auch von einem kollektiven Sicherheitssystem in Europa war keine Rede mehr. Im Vergleich zu 1967/68, wenn auch nicht zu 1966, war der Forderungskatalog gegenüber der Bundesrepublik gemildert; des weiteren fehlte die gewohnte antibundesdeutsche Polemik. In der Begleitpropaganda wurde nicht mehr die Zukunftsperspektive einer Überwindung der gesamteuropäischen Spaltung gezeichnet. Die gesamteuropäische Annäherung, die das Ziel sein sollte, beschränkte sich auf die wissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Bereiche. Nur ganz vage und unverbindlich wurde darauf verwiesen, daß von hier aus auch ein Weg zu politischer Entspannung führen könnte. Das widersprach freilich der gängigen sowjetischen Praxis, im Verhältnis zu westlichen Ländern bei Bedarf eine florierende wirtschaftliche Zusammenarbeit strikt von den vielleicht sehr schlechten politischen Beziehungen zu trennen
Es muß angenommen werden, daß mit der unbestimmten politischen Perspektive den Westeuropäern ein psychologischer Anreiz gegeben werden sollte, der die UdSSR nichts kostete. In der blockinternen sowjetischen Propaganda wurde und wird nämlich unaufhörlich betont, daß von einer politischen Verständigung mit dem Klassenfeind im Westen keine Rede sein könne. Dementsprechend bilden in der dem eigenen Lager zugedachten sowjetischen Darstellung wirtschaftliche Beziehungen zu Westeuropa „bei weitem noch keine ausreichende Bedingung für die Lösung der Probleme der europäischen Sicherheit"
Mit den neuen Vorschlägen zur europäischen Sicherheit vom Oktober 1969 suchte die sowjetische Führung den Erfahrungen zu entsprechen, die sie seit 1966 innerhalb ihres Machtbereichs gemacht hatte. Alle Punkte, die für Moskau Verlegenheiten nach sich ziehen konnten, weil sie nicht nur die nordatlantische Allianz und die amerikanische Europa-Präsenz, sondern auch das sowjetische Herrschaftsinstrument des Warschauer Paktes und die durch die Sowjetarmee im Ausland ausgeübten Polizeifunktionen in Frage zu stellen geeignet waren, wurden sorgfältig eliminiert. Zugleich zielte die sowjetische Sprachregelung darauf ab, keine Ansatzstellen für das Entstehen eines gesamteuropäischen Bewußtseins in Osteuropa zu schaffen, das die sowjetische Norm der antiimperialistischen Feindseligkeit verletzen würde. Was die sowjetische Regierung nunmehr forderte, war eigentlich ein fast völlig neues Programm, auch wenn es, um den eingetretenen Wechsel vor der westlichen Öffentlichkeit zu verschleiern, unter der alten Leitparole der europäischen Sicherheit lief. Die sowjetische Propaganda unterstreicht die Neuartigkeit der gegenwärtigen Vorschläge, indem sie — ganz im Gegensatz zu den sonst üblichen Kontinuitätsbekundungen — die Erklärungen von Budapest und Prag fast niemals mit den früheren Deklarationen von Bukarest und Karlsbad in Zusammenhang bringt. Das ist — gemäß den kommunistischen Gepflogenheiten der „esoterischen" Kommunikation
Europäische Sicherheit und internationaler Klassenkampf in der sowjetischen Propaganda
In der gegenwärtigen sowjetischen EuropaPolitik scheint ein tiefer Widerspruch zu liegen: Einerseits muß das Gefühl einer gesamteuropäischen Gemeinsamkeit angesprochen werden, damit der Gedanke einer gemeinsamen Regelung der europäischen Angelegenheiten durch die Ost-und Westeuropäer ungeachtet aller politischen Gegensätze Anhänger gewinnen kann, und andererseits sucht die sowjetische Führung in ihrem Machtbereich ein annäherungsfeindliches Bewußtsein des Gegensatzes zum Westen zu schaffen, damit die im Sowjetlager bestehenden Strukturen unangefochten bleiben. Ein derartiger Widerspruch bedarf der Auflösung, wenn die Überzeugungen und Loyalitäten der Anhänger nicht ins Wanken geraten sollen. Daher muß die sowjetische Propaganda eine Argumentationslinie finden, nach der die europäische Sicherheit und der internationale Klassenkampf miteinander vereinbar sind.
Die sowjetischen Propagandisten erläutern unaufhörlich, die gegenwärtigen internationalen Beziehungen seien durch den „Widerstreit der beiden Weltsysteme Sozialismus und Kapitalismus"
Die Aufzählung der einzelnen sowjetischen Koexistenz-Ziele läßt, wenn man den Parteijargon in westliche Sprachformen übersetzt, die Intentionen deutlich erkennen: Es geht darum, globale Spielarten des militärischen Konflikts, insbesondere einen Krieg zwischen UdSSR und USA, zu vermeiden, den sowjetischen Herrschaftsbereich in Osteuropa gegen störende Einflüsse abzuschirmen, die Möglichkeit von gesellschaftlich-politischen Umwälzungen im sowjetischen Sinne offenzuhalten und dem Sowjetlager Zugang zum technologischen know how und zu den wirtschaftlichen Gütern des Westens zu verschaffen. Die sowjetische Führung sucht in einigen Bereichen, wo sie sich darauf materiell angewiesen sieht, eine Zusammenarbeit mit westlichen Ländern, ohne jedoch zu einem Verzicht auf die Prämisse der ideologisch-politischen Konfrontation oder einer Wahrnehmung etwaiger Expansionschancen bereit zu sein.
Dementsprechend ist die These von der Konvergenz beider Systeme gegenwärtig das Hauptangriffsziel der sowjetischen Propaganda. Jede Andeutung einer Möglichkeit, daß sich die beiden weltpolitischen Lager einander annähern könnten, wird als ein zugleich hinterhältiges und gefährliches Manöver des Klassenfeindes gebrandmarkt, durch das die sozialistische Gemeinschaft ideologisch und politisch untergraben werden solle. Denn, so heißt es, „unter den Bedingungen einer Annäherung beider Systeme verliert der Klassenkampf — und namentlich der ideologische Klassenkampf als eine seiner Formen — jeden Sinn, und es eröffnen sich die Möglichkeiten eines . ideologischen Friedensschlusses'Das aber laufe darauf hinaus, „die Grenzen der sozialistischen Länder für ein breites Eindringen der bourgeoisen Propaganda zu öffnen"
Mit dieser Wertungsnorm stimmt überein, daß die Versuche der Gegenseite, ihre bisherigen Positionen aufrechtzuerhalten, als eine Herausforderung des Sowjetlagers hingestellt wird — und zwar ganz gleich, ob es sich dabei um die wirtschaftlich-gesellschaftlichen Interessen der . Monopole
Die europäische Situation in sowjetischer Sicht
Wie in sowjetischen Analysen der Weltlage hervorgehoben wird, treten innerhalb des Kapitalismus in wachsendem Maße Antagonismen, das heißt unversöhnliche Gegensätze, auf. Dazu gehört insbesondere auch, daß die Geschlossen-heit der NATO immer mehr gelockert wird.
Als wichtige Faktoren dieses Aushöhlungsprozesses gelten das Nachlassen der Sicherheitssorgen gegenüber der UdSSR, das Anwachsen antiamerikanischer Tendenzen, die Zunahme des westeuropäischen Selbstbewußtseins gegenüber den USA, die Bereitschaft vieler westeuropäischer Staaten und Kräfte zur Kooperation mit der Sowjetunion, die Meinungsverschiedenheiten unter den NATO-Mitgliedern über das Verhalten zu den sowjetischen Vorschlägen der europäischen Sicherheit und überhaupt alle Unterschiede in der Ostpolitik der westlichen Länder.
Die ostpolitischen Initiativen der neuen deutschen Bundesregierung werden in diesem Zusammenhang zurückhaltend bewertet, doch ist eine gewisse Sympathie, ausgedrückt beispielsweise durch das Adjektiv „realistisch", nicht zu verkennen. Die Entfernung der CDU/CSU von der Regierungsverantwortung in Bonn wird gelegentlich als ein Abrücken der Bundesrepublik von den Vereinigten Staaten gedeutet. Allerdings taucht zuweilen auch die entgegengesetzte Version auf, der zufolge die Bundesrepublik nach wie vor eine der unerschütterlichen Säulen des „eisernen NATO-Dreiecks" bildet. Offensichtlich besteht in Moskau noch keine völlige Klarheit darüber, inwieweit die ostpolitischen Initiativen der Regierung Brandt—Scheel vielleicht zum Ausgangspunkt einer Funktionsveränderung der Bundesrepublik in der Weltpolitik werden könnten.
Die sowjetische Propaganda läßt, am deutlichsten in den für den inneren Gebrauch bestimmten Verlautbarungen, das nordatlantische Bündnis und die Sache der europäischen Sicherheit als sich wechselseitig einander ausschließende Gegensätze erscheinen. Die Existenz des Nordatlantikpakts ist nach sowjetischer Darstellung mit den Grundsätzen der europäischen Sicherheit unvereinbar, denn, so heißt es, „dieser imperialistische Block tritt nach wie vor als Instrument der Spaltung und der Anheizung von Feindschaft und als Quelle der politischen Spannung sowie der militärischen Provokationen in Erscheinung“. Die Aufgabe der europäischen Völker soll es daher sein, „große Anstrengungen zu unternehmen, um den Widerstand der Gegner der kollektiven Sicherheit in Europa zu zerbrechen"
„In der Praxis bedeutet dies, daß keine der Regierungen von NATO-Mitgliedstaaten selbständige Aktionen unternehmen soll, die mit einer gesamteuropäischen Konferenz verbunden sind. Im Grunde wird die Zustimmung der NATO zu einer derartigen Konferenz zur Vorbedingung ihrer Einberufung gemacht." Da zugleich die Feindseligkeit der NATO gegenüber der europäischen Sicherheit und ihrer Beratung unterstellt wird, ergibt sich der Schluß, daß die Gemeinsamkeit des Vorgehens in der NATO keinen anderen Sinn als den der Verhinderung haben könne
Der politische Kampf, den die sowjetische Regierung gegenwärtig in Europa führt, geht um die Frage, ob sich „die Aufrechterhaltung des aggressiven Kurses (der NATO) und die Richtung auf die bestehenden Blöcke hin" oder aber „eine vernünftigere Bewertung der gegenwärtigen Wirklichkeit und folglich ein Abrücken von der Orientierung auf Militärblöcke" durchsetzen soll. Mit der Beseitigung des nordatlantischen Bündnisses würden endlich die alten „strategischen Ziele des Imperialismus", nämlich „den geschichtlichen Prozeß (zum Sozialismus) aufzuhalten, eine Veränderung der Machtverhältnisse zu seinen Gunsten zu erreichen und die Vorbereitung zum direkten bewaffneten Kampf mit einer Taktik der ideologischen und politischen Diversionen, des indirekten Drucks und der Flankenangriffe zu verbinden"
Entscheidende Bedeutung wird in diesem Zusammenhang der Eliminierung der amerikanischen Abschreckungsmacht aus den europäischen Angelegenheiten zugeschrieben. Da die NATO die politische Grundlage für die Ausdehnung der amerikanischen Militärmacht auf Europa bildet, richtet sich der propagandistische Angriff gegen diese. Angesichts der Tatsache, daß sich in der NATO seit mehreren Jahren ein Trend zu gewissen militärischen Reduktionen bemerkbar gemacht hat, wohingegen die — ohnehin überlegene — militärische Stärke im Warschauer Pakt stetig gewachsen ist
Noch deutlicher werden die Intentionen, wenn die Unmittelbarkeit der Supermächte-Konfrontation in Europa, auf der gemäß der Abschreckungstheorie das Sicherheitsgefühl der Westeuropäer beruht, als Herd der Kriegs-gefahr hingestellt wird. Verschiedentlich wird die Abschreckungstheorie auch direkt zum Angriffsziel gemacht: „Die Doktrinen des . Gleichgewichts der Furcht'und der Kräftebalance’ ", so heißt es dann etwa, seien nichts anderes als „verrottete Schemata der europäischen Spaltung"
Das sowjetische Aktionsprogramm für eine europäische Sicherheit
Aus der dargelegten Situationseinschätzung ergeben sich einige praktische Konsequenzen. Dem nordatlantischen Bündnis und der dadurch vermittelten amerikanischen Abschreckung in Westeuropa läßt sich durch „die Schaffung einer Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens in den Beziehungen zwischen Staaten mit verschiedener gesellschaftlicher Struktur" in Europa
In dem Sinne, daß der Warschauer Pakt als eine andersartige Vereinigung nicht davon betroffen wird, stellt die sowjetische Propaganda die Entwicklung einer gesamteuropäischen Sicherheit und Zusammenarbeit als „die einzig reale Alternative zur militärischen Konfrontation in Europa" hin
Freilich spielen in diesem Zusammenhang auch andere Momente eine Rolle. Insbesondere läßt sich daraus schließen, daß westliches Entgegenkommen gegenüber sowjetischen Vorschlägen Moskau nicht unter allen Umständen gelegen kommt. Da die sowjetische Propaganda darauf abzielt, mit der Parole der europäischen Sicherheit einerseits Konferenzbefürworter für ihre Zwecke zu mobilisieren und andererseits eine „Isolierung der Verfechter des , kalten Krieges'und der Spaltung Europas" herbeizuführen
Die sowjetische Kampagne für die europäische Sicherheit soll, wie wiederholt ausdrücklich formuliert worden ist, in Westeuropa Tendenzen für ein System gesamteuropäischer Sicherheit wecken und fördern. Es ist zweifelhaft, ob Moskau irgendwie konkrete Vorstellungen hierzu hat: Die sowjetische Propaganda läßt, so detailliert sie auch in fast allen anderen Fragen ist, darüber nichts verlauten. Man hat den Eindruck, daß es weit mehr um eine Beeinflussung der Westeuropäer als um die Verwirklichung irgendeines Projektes geht. Die Art des beabsichtigten Einflusses auf die westeuropäische Öffentlichkeit ist ziemlich deutlich. Die sowjetischen Verlautbarungen implizieren, daß die Nordamerikaner, auch wenn sie an der europäischen Sicherheitskonferenz beteiligt sein mögen, innerhalb des europäischen Staatensystems keine Funktion zu beanspruchen haben und mithin kein Faktor sein können, dessen Mitwirkung bei einer Regelung der europäischen Sicherheitsprobleme vorzusehen sei. Zugleich sind die propagandistischen Bemühungen darauf ausgerichtet, die Westeuropäer von der völligen Un-glaubwürdigkeit der These zu überzeugen, daß die UdSSR eine aktuelle oder potentielle Bedrohung für sie sei. Die These wird als amerikanische Herrschaftslüge hingestellt. Mit dem Versuch ihrer „Entlarvung" verbindet die sowjetische Propaganda die Konsequenz, daß jede Rechtfertigung für die Existenz der NATO entfalle.
Die sowjetische Führung legt großen Wert darauf, daß nur ganz bestimmte Themen mit der Perspektive einer europäischen Sicherheitskonferenz in Zusammenhang gebracht werden, während andere Themen davon strikt getrennt bleiben sollen. Es heißt zwar deklaratorisch, alle Probleme könnten auf der Konferenz vorgetragen und beraten werden. Aber im einzelnen werden die verschiedensten Einschränkungen gemacht. Weder die Frage des Verhältnisses zwischen Bundesrepublik und DDR noch die Lage in und um Berlin soll Dis’ werden dürfen. Auch ein wechselseitiger Truppenabbau von NATO und Warschauer Pakt in Europa soll keinesfalls behandelt werden können. Zur Begründung werden verschiedene Argumente bemüht. Die deutsche Frage, so heißt es, unterliege der Verantwortung der vier Mächte und könne daher nicht in einem anderen Rahmen besprochen werden
Nach sowjetischer Darstellung kann unter den gegenwärtigen Bedingungen auf einer europäischen Sicherheitskonferenz nur verhandelt werden, was Moskau vorgeschlagen hat: die Zusammenarbeit der europäischen Staaten in unpolitischen Bereichen und ein Gewaltverzichtsarrangement in regionalem Rahmen. Wie es heißt, soll auf diese Weise einer späteren politischen Kooperation vorgearbeitet werden, die freilich gegenwärtig — in Anbetracht der vielen noch ungelösten Probleme — noch nicht aktuell'sein könne. Für die Tagesordnung der vorgeschlagenen europäischen Sicherheitskonferenz soll das Prinzip gelten, daß keine schwierigen oder für andere unannehmbaren Punkte ausgenommen werden können. Auf diese Weise wäre von vornherein alles für unzulässig erklärt, was die UdSSR nicht diskutiert sehen möchte. Begründend wird erklärt, es komme darauf an, das Erreichbare zu erörtern und zu verwirklichen. Andernfalls würde die erstrebte Wirkung einer wachsenden gesamteuropäischen Gemeinsamkeit verfehlt werden. Mithin soll alles, was das Zusammenleben der europäischen Völker gegenwärtig belastet, ausgeklammert bleiben. Vom geringsten gemeinsamen Nenner ausgehend, soll nach sowjetischer Darstellung ein Prozeß der etappenweisen Lösung der europäischen Probleme in Gang kommen. Die sowjetische Führung propagiert eine Serie von europäischen Sicherheitskonferenzen, auf der die anstehenden Fragen allmählich gelöst werden könnten
Rückschlüsse auf den Charakter der sowjetischen Gesamtkonzeption
Im Vergleich zu den Vorschlägen, welche die sowjetische Regierung in den Jahren 1966 bis 1968 zur europäischen Sicherheit unterbreitet hatte, fällt eine weitgehende propagandistische Enthaltsamkeit auf. Die politischen Forderungen, mit denen damals das westeuropäisch-amerikanische Bündnis der NATO, die ameri-kanische Präsenz in Europa und die Bundesrepublik Deutschland als der entscheidende kontinentaleuropäische Pfeiler des atlantischen und amerikanischen Status quo unmittelbar attackiert worden waren, sind heute verschwunden. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt zweifellos darin, daß die sowjetische Führung mittlerweile das Risiko eines Zurückfallens derartiger Forderungen auf sich selbst sehr viel höher einschätzt. Die reformkommunistische Entwicklung in der Tschechoslowakei hat in Moskau deutlich gemacht, wie labil die Strukturen im ostmitteleuropäischen Vorfeld der UdSSR werden können, wenn dort das Gefühl einer politischen Entspannung zwischen beiden Teilen Europas um sich greift. Aus diesem Grund sucht die sowjetische Führung gegenwärtig in diesen Gebieten auch den mindesten Anschein zu vermeiden, daß sich irgendetwas an der Konfrontationslage zu Westeuropa ändern könnte. Der Verzicht auf politisch substantielle Entspannungsvorschläge und die forcierte Kampagne unter den Parolen des internationalen Klassenkampfes dienen gleichermaßen diesem Ziel. Es wäre eine Beeinträchtigung der sowjetischen Hegemonie, wenn die „Imperialisten" die Kommunisten davon überzeugen könnten, daß Annäherung und Versöhnung miteinander möglich seien und daß mithin die antiimperialistische Kampf-stellung Osteuropas aufgegeben werden müsse. Eine derartige Entwicklung würde den sowjetischen Anspruch auf die disziplinierte Unterordnung der Verbündeten in allen militärisch relevanten Fragen erschüttern und das auf dem Prinzip kämpferischer Antihaltung beruhende orthodox-kommunistische Bewußtsein in eine Krise stürzen. Das zu verhindern, ist ein Ziel, dem die Männer im Kreml alle anderen Bestrebungen unterordnen.
Ein anderer Grund für den Wechsel in der sowjetischen Politik der europäischen Sicherheit ist in veränderten außenpolitischen Gegebenheiten zu suchen. 1966/67 schien mit dem Austritt des gaullistischen Frankreich aus der Militärorganisation der NATO ein allmählicher Zerfallsprozeß im westlichen Bündnis eingeleitet worden zu sein. Zugleich hatte sich die Bundesrepublik Deutschland unter Bundeskanzler Erhard in eine Rolle drängen lassen, die sie auch im westlichen Ausland zunehmend als Entspannungshindernis erscheinen ließ. Für eine antiatlantische Propaganda, die sich vordergründig gegen den „westdeutschen Revanchismus" richtete, waren damit die besten Voraussetzungen gegeben. Auch in dieser Hinsicht ist inzwischen ein Wandel eingetreten:
Seit 1967 hat sich Bonn in einen zunehmenden ostpolitischen Konsensus mit seinen Bundesgenossen begeben, und der sowjetische Einmarsch in die Tschechoslowakei hat die Desintegration der NATO gestoppt sowie die westeuropäischen Hoffnungen auf eine Ost-West-Entspannung empfindlich getroffen. Mit den alten Mitteln des Direktangriffs gegen die NATO, die USA und die Bundesrepublik sind daher keine großen Erfolge mehr zu erzielen.
Unter den neuen Umständen sucht die sowjetische Führung nicht mehr durch scharfe Polemik voranzukommen. Das zeigt sich besonders eindrücklich im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland. Zielte die frühere Strategie darauf ab, die Bundesrepublik innerhalb des westlichen Bündnisses als revanchistisch zu diskreditieren und zugleich in Westdeutschland alle entspannungsbereiten Kräfte so weit wie möglich zu entmutigen, so ist das jetzige Verhalten darauf gerichtet, die bundesdeutsche Regierung wie Öffentlichkeit zu immer weitergehenden Entgegenkommmensschritten zu ermuntern. Das heißt: Während früher das Bestreben dahin ging, bundesdeutsch-westeuropäische Differenzen wegen eines Hinterherhinkens der Bundesrepublik in der Entspannung auszunutzen und zu erweitern, sollen jetzt, wenn möglich, durch ein allzu weites Vorpreschen Bonns in der Entspannung innerwestliche Gegensätze geschaffen werden. Zugleich soll im Westen der Eindruck entstehen, daß Moskau die antiatlantischen und antiamerikanischen Intentionen aufgegeben habe.
Achtet man jedoch auf die Zwischentöne und auf die Gesamtausrichtung der sowjetischen Propaganda, so wird deutlich, daß sich die sowjetische Führung keineswegs mit dem machtpolitischen Status quo abgefunden hat, der durch die nordatlantische Allianz und die amerikanische Europa-Präsenz bestimmt wird.
Die sowjetischen Vorschläge der europäischen Sicherheit haben die ausdrückliche Funktion, eine das nordatlantische Bündnis ablösende Regelung zu entwerfen und durchzusetzen. Die Rechtfertigung der westlichen Allianz, die Vorstellung von einer potentiellen Bedrohung der westeuropäischen Länder aus dem Osten, soll im Bewußtsein der westeuropäischen Öffentlichkeit als absichtsvoller Betrug der Amerikaner gelten. Jedes Anzeichen für eine Schwächung des politischen Konsensus zwischen den westlichen Staaten wird als Fortschritt auf dem Weg zur europäischen Sicherheit begrüßt. Dagegen soll der Wille der NATO-Mitglieds-länder, Vorschläge und Gedanken zur europäischen Sicherheit gemeinschaftlich aufzunehB men und zu formulieren, als ein gegen die europäische Sicherheit gerichtetes Beginnen gelten. Den Eindruck des Nicht-Bedrohtseins in Westeuropa zu schaffen und den Atlantikpakt als die angebliche Ursache des europäischen Unfriedens zu paralysieren, ist das Ziel der sachlich so inhaltsarmen sowjetischen Vorschläge. Der Gedanke des Gewaltverzichts soll dabei das westeuropäische Bedrohungsbewußtsein eliminieren, während das Anerbieten unpolitischer Zusammenarbeit in Westeuropa ein Gefühl der Gemeinsamkeit hervorrufen soll, das die sowjetische Führung politisch und ideologisch in Osteuropa nicht brauchen kann.
Die sowjetische Themenselektion läßt weitere Momente der politischen Strategie deutlich werden, über eine Wechselseitigkeit des Truppenabbaus in Europa darf nicht gesprochen werden, weil dies die sowjetische Absicht stören könnte, die erwartete militärische Verminderung auf der westlichen Seite unerwidert hinzunehmen und auf diese Weise die militärische Überlegenheit der UdSSR in Europa zu vergrößern. Auch von den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten und von dem auf West-Berlin ausgeübten östlichen Druck soll keine Rede sein dürfen, damit die Konfrontationsprämisse der DDR-Führung und die Benutzung West-Berlins zu Pressionen auf die Bundesrepublik oder die Westmächte nicht in Frage gestellt werden. Nach sowjetischem Wunsch soll sich die Herstellung der europäischen Sicherheit im Sinne einer Entspannung Westeuropas gegenüber der Sowjetunion vollziehen, der keine Entspannung der UdSSR gegenüber Westeuropa gegenübersteht. Die Westeuropäer sollen sich in Sicherheit wiegen und im Vertrauen auf diese Sicherheit ihre Beziehungen untereinander und zu den USA lockern oder gar lösen, wohingegen Osteuropa im Bewußtsein gemeinsamer Feindschaft gegen den imperialistischen Westen unter sowjetischer Herrschaft geeint und wachsam zu bleiben hat. Nicht ohne Grund wird die sozialistische Gemeinschaft in internen Verlautbarungen gelegentlich ausdrücklich als Kern und Rückhalt der europäischen Sicherheit bezeichnet. Auch in machtpolitischer Hinsicht ist das sowjetische Denken von dem Streben nach einer Ost-West-Asymmetrie bestimmt. Das westliche Militärpotential muß um der europäischen Sicherheit willen möglichst stark verringert werden, während das Militärpotential des Warschauer Paktes, das seit vielen Jahren laufend ausgebaut wird, keiner Diskussion unterliegen darf.
Interessant ist, daß die Regelung der europäischen Sicherheitsprobleme als ein allmählicher Prozeß hingestellt wird, in dessen Verlauf auch weitergehende Berührungen als die derzeit vorgesehenen in Aussicht stehen. Offensichtlich behält sich die sowjetische Führung vor, das Programm zu gegebener Zeit, das heißt, wenn sie ihr reif erscheint, um die Punkte einer kollektiven Sicherheitsorganisation und einer politischen Zusammenarbeit zu erweitern. Der Gradualismus entspricht den Bedürfnissen der gegenwärtigen sowjetischen Politik in bestmöglicher Weise: Die sowjetische Führung entgeht jeder Erörterung von Fragen, die ihr unter den bestehenden Umständen unangenehm sind, und behält sich trotzdem vor, sie wieder aufs Tapet zu bringen, sobald die mit den jetzigen Vorschlägen der europäischen Sicherheit anvisierten politischen Veränderungen in Europa eingetreten sein sollten und dann eine risikolose Behandlung zulassen würden. Mit dem heutigen Programm bringen die Männer im Kreml das Kunststück fertig, eine aktive europäische Entspannungspolitik zu betreiben, obwohl sie sich die mindesten Konsequenzen einer solchen Entspannungspolitik innerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs nicht leisten zu können glauben.
Schlußbetrachtung
Die Vorstellungen der Sowjetunion und der westeuropäischen Länder über eine Regelung der europäischen Sicherheit weichen weit stärker voneinander ab, als es die gemeinsame Bezeichnung vermuten läßt. Der Wille zur Entspannung und Koexistenz in Europa beinhaltet für Moskau nicht die Bereitschaft zur Über-windung ideologisch motivierter politischer Gegensätze. Vielmehr wird — in der Terminologie des norwegischen Friedensforschers Johan Galtung ausgedrückt — eine Regelung dissoziativen Nebeneinanders erstrebt.
Im Hinblick auf die Verhandlungen über einen politischen Ausgleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion, wie er in Vollendung der Versöhnung und der Verbindung unseres Landes mit der westlichen Welt während der fünfziger Jahre notwendig ist, erscheint es dringlicher denn je, die Besonderheiten und die Andersartigkeiten der sowjetischen Sicht zu verstehen und ernst zu nehmen. Die Erkenntnis von uns fremden Vorstellungen anderer, ist die unerläßliche Voraussetzung für eine zwischenstaatliche Kommunikation, welche die gefährlichen Klippen der Fehlperzeption und des Autismus überwindet und die Möglichkeiten zu wirklicher Konfliktlösung eröffnet. Die trennenden Fragen müssen in ihrem Wesen und in ihrer Tragweite erkannt werden, ehe sie einer Klärung zugeführt werden können, die bestehende Konfliktmomente abbaut. Daher bedarf es gerade dann, wenn die Bundesrepublik einen echten Modus vivendi mit der UdSSR sucht, einer illusionslosen Bestandsaufnahme der zu lösenden Probleme. Werden bestehende Konfliktmomente nur überspielt, statt daß eine echte Auseinandersetzung mit dem Ziel eines schließlichen Einvernehmens erfolgt, entsteht die Gefahr, daß beiderseits implizierte Erwartungen getäuscht werden, was in aller Regel zu neuen Differenzen und Spannungen führt. Die Übereinkünfte der Alliierten von 1945 sind in ihrer Eigenschaft als unausdiskutierte Halb-einigungen, die sich nach den jeweiligen Vorstellungswelten der Beteiligten höchst unterschiedlich verstehen ließen, ein warnendes Beispiel mangelnder Empathie und autistischen Unverständnisses mit der Folge eines schicksalsschweren Konflikts.
Nachbemerkung
Die vorstehende Analyse wurde noch im Frühjahr 1970 abgefaßt. Seitdem hat sich das sowjetische Verhalten in zumindest einer Einzelheit modifiziert. In dem Memorandum der Warschauer-Pakt-Staaten zur europäischen Sicherheitskonferenz, das am 27. Juni 1970 veröffentlicht wurde, gehen die UdSSR und ihre Verbündeten auf das Verlangen der NATO-Tagung vom Mai 1970 nach Gesprächen über eine wechselseitige ausgewogene Truppenreduzierung insofern ein, als sie die Erörterung einer „Verminderung ausländischer Streitkräfte auf dem Territorium der europäischen Staaten" Vorschlägen. Bisher ist noch nicht deutlich geworden, ob Moskau damit seinen Standpunkt wirklich geändert oder nur eine neue taktisch-propagandistische Anpassung vollzogen hat. Auf die zweite Eventualität könnte hindeuten, daß die vorgeschlagene Erörterung in einem erst noch auf einer bereits stattfindenden Sicherheitskonferenz zu bildenden Organ erfolgen soll. Die NATO
Mächte hätten also ihren politischen Preis, die Zustimmung zum sowjetischen Projekt einer europäischen Sicherheitskonferenz, zu entrichten, ehe das Gespräch über einen wechselseitigen Truppenabbau gesichert ist oder gar schon Resultate erhoffen läßt. Es würde auch — und das ist vermutlich für Moskau ein entscheidender Gesichtspunkt — von der Tagesordnung der Konferenz verbannt und damit aus dem Zusammenhang mit den dort erörterten Problemen gelöst sein. Unklar ist auch, inwieweit die Verminderung aller ausländischen Truppen, also auch der „europäischen" Sowjet-streitkräfte, als Verhandlungsthema akzeptiert werden würde. In jedem Fall ermöglicht es die neue Wendung der sowjetischen Propaganda, die NATO-Forderung nach Gesprächen über einen Militärabbau beider Blöcke für befriedigt zu erklären und damit als Bedingung beiseitezuschieben, ohne daß eine eindeutige Zusicherung gegeben worden wäre.