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Konservatismus Versuch zu einer kritisch-historischen Theorie | APuZ 30/1970 | bpb.de

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APuZ 30/1970 Das autoritäre System in Österreich Ein Beitrag zur Geschichte der europäischen Rechtsbewegungen Konservatismus Versuch zu einer kritisch-historischen Theorie

Konservatismus Versuch zu einer kritisch-historischen Theorie

Wilhelm Ribhegge

/ 40 Minuten zu lesen

Teil I: Geschichtswissenschaft und Konservatismus

Vorbemerkung Die im folgenden vorgetragenen Überlegungen sind als ein Versuch zu einer kritisch-historischen Theorie des Konservatismus zu werten. Da es sich um Denkansätze handelt, kann selbstverständlich kein Anspruch auf die Vollständigkeit, Geschlossenheit oder gar Ausschließlichkeit des hier vorgelegten Konservatismusmodells erhoben werden. Andere, auch konträre, theoretische Ansätze sind möglich, und sie wären zur Belebung der theoretischen Diskussion innerhalb der Geschichtswissenschaft sicherlich auch wünschenswert. Überlegungen zum Geschichtsbegriff In Droysens „Historik" findet sich der Satz: „Die Geschichte ist das Bewußtsein und Bewußtwerden der Menschheit über sich selbst." Nach dieser Aussage ist Geschichte mehr als bloße Erinnerung an die Vergangenheit. Sie ist Reflexion der Gesellschaft über sich selbst und damit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist keineswegs nur musealer Natur, und sie kann sich auch nicht darauf beschränken, dem Zeitgenossen als scheinbar unbefangenen Zuschauer ein Kaleidoskop der Vergangenheit vorzuführen oder gar vorzuzaubern. In diesem Verständnis ist die Geschichtswissenschaft praktische Philosophie, deren letzter Maßstab die Zukunft ist. Sie ist nicht l'art pour l'art oder nur Kontemplation, sondern „moral Science" und steht in einem direkten Bezug zum menschlich-gesellschaftlichen Handeln. Zwar kann die Geschichtswissenschaft keine praktischen Rezepte anbieten, weil sich die Geschichte nicht wiederholt, aber sie kann die Zukunft mitbestimmen. Die Geschichte muß sich zur Zukunft hin öffnen „Gesellschaft enthüllt sich", bemerkt Habermas, „in den Tendenzen ihrer geschichtlichen Entwicklung, also in den Gesetzen ihrer historischen Bewegung erst von dem her, was sie nicht ist."

Die Geschichte als Bewußtsein, das von den Menschen produziert wird, ist keine Wesenheit, die außerhalb der menschlichen Verfügbarkeit liegt, keine Schicksalsmacht, der der Mensch, wie es Jacob Burckhardt sieht, unvermeidlich seinen „passiven Tribut" zu bezahlen hat Die Geschichte ist machbar, ebenso wie die Gesellschaft machbar ist. Dieses geschichtliche Bewußtsein steuert das gesellschaftliche Handeln, auch wenn sich die Beteiligten darüber in der Regel kaum Rechenschaft ablegen.

Es wäre allerdings verfehlt, daraus zu schließen, daß nun der Historiker gleichsam der eigentliche . Drahtzieher'hinter den Kulissen sei, der dem gesellschaftlichen Prozeß Richtung und Form gibt. Der Einfluß der Historiker auf das Geschichtsbewußtsein der Gesellschaft ist relativ bescheiden. Das gesellschaftliche Geschichtsbewußtsein entsteht nicht in den Archiven und auch nicht am Schreibtisch, sondern auf dem Markt, im gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Handeln der Menschen untereinander. Der Ursprung des Geschichtsbewußtseins ist eher vulgär als akademisch. Bei aller Anerkennung der Akribie, Leistung und Originalität der Historiker ist ihre Geschichtsschreibung doch nichts anderes als „ihre Zeit in Gedanken erfaßt" „Wir beschäftigen . . . uns", so heißt es in Hegels Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte, „wenn wir die Vergangenheit, wie groß sie auch sei, durchlaufen, nur mit Gegenwärtigem." Parteilichkeit der Geschichtswissenschaft Der Historiker, der sich zwar intellektuell, nicht aber tatsächlich aus der Gesellschaft, in der er lebt, zu lösen vermag, wird niemals dazu kommen, , reine'Geschichte zu schreiben, da seine Tätigkeit integrativer Bestand eines allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses ist. Die Geschichtsschreibung ist daher notwendig im gesellschaftlichen Sinn parteiisch. Europäische Historiker des 19. Jahrhunderts wie Michelet, Guizot, Thiers, Macauley, Grote, Droysen, Sy-bei oder Treitschke haben aus ihrer Parteilichkeit keinen Hehl gemacht. Die gesellschaftliche Parteilichkeit ist allerdings umfassender als die politische. Sie enthält die Option für oder gegen ein bestimmtes gesellschaftliches System. In dem ersteren Fall, also der positiven Option, geschieht dies oft unbewußt und unreflektiert. Für die Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung ist dies der Normalfall. Von beamteten Universitätsprofessoren getragen, war die deutsche Geschichtsschreibung, wie es das Fischer-Lexikon „Geschichte" feststellt, „in der Grundstimmung zumeist konservativ" Aus dem konservativen Grundcharakter der deutschen Geschichtswissenschaft ergibt sich auch die Schwierigkeit, eine Theorie des Konservatismus auf historischer Grundlage zu entwickeln. Es ist auffallend, daß der Konservatismus als eine der zentralen politisch-gesellschaftlichen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts noch keine angemessene Darstellung aus der Feder eines deutschen Historikers gefunden hat.

Kritik der konservativen Geschichtswissenschaft Zur Begründung einer kritisch-historischen Theorie des Konservatismus bedarf es zunächst der Distanzierung von einem konservativen Verständnis der Geschichtswissenschaft. Die deutsche Geschichtswissenschaft neigt dazu, ihren konservativen Charakter zu verabsolutieren, indem sie ihn zum integrierenden Bestandteil der Geschichtswissenschaft schlechthin erklärt, und methodische Verfahren, die sich aus anderen gesellschaftlichen Positionen ableiten, als unwissenschaftlich zurückzuweisen. Der grundlegende methodische Irrtum der konservativen Geschichtswissenschaft besteht darin, daß sie die Beschäftigung mit der Ver-gangenheit eo ipso mit einer konservativen gesellschaftlichen Grundhaltung gleichsetzt.

Eine derart einseitige Definition der Geschichtswissenschaft ist wissenschaftstheoretisch unhaltbar. Die Geschichte ist prinzipiell offen und nicht vergeben. „Der Glaube an einen festen Kern historischer Fakten", bemerkt der englische Historiker E. H. Carr in seiner Studie „Was ist Geschichte?", „die objektiv und unabhängig von der Interpretation des Historikers bestehen, ist ein lächerlicher, aber nur schwer zu beseitigender Trugschluß." Die Geschichte steht dem Progressiven ebenso offen wie dem Konservativen. Es ist ein grobes Mißverständnis, wenn man meint, die Geschichte habe es nur mit Vergangenem zu tun. Die Geschichte hat nicht nur zwei, sondern drei Dimensionen: die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Ahistorischer Verstehensbegriff Gerade der Progressive ist auf die Vergangenheit angewiesen, denn es gibt keine Zukunft ohne Vergangenheit. Der Progressive entwirft die Zukunft in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart und der Vergangenheit. Für ihn reicht der Verstehensbegriff der konservativen Geschichtswissenschaft zur Deutung der Geschichte nicht aus. Die Schwäche dieses Verstehensbegriffs als heuristischen Mittels besteht darin, daß er die prinzipielle Identität von Gegenwart und Vergangenheit voraussetzt und daher nicht in der Lage ist, qualitative Veränderungen innerhalb der Geschichte begrifflich zu erfassen. Die Identitätstheorie der Geschichte ist ahistorisch, weil sie statisch ist und die Dynamik des geschichtlichen Prozesses nicht in sich einbegreift. Eine dialektische Geschichtstheorie hat gegenüber der Identitätstheorie immerhin den Vorteil, daß sie mit geschichtsadäquaten Kategorien an die Geschichte herangeht. Der progressive Historiker verwendet das Mittel der kritischen Theorie, um, wie H. U. Wehler in einer biographischen Würdigung Eckart Kehrs bemerkt, „den Teufelskreis von machtvollem Status quo und seiner Bestätigung durch eine allein verstehende historische Betrachtung endlich durchbrechen zu können"

Vertreter einer konservativen Historie beklagen heute den „Verlust der Geschichte". Al-fred Heuß stellt fest, die Geschichte habe ihren Charakter als „Erinnerung" — ein Begriff, der ja mehr enthält als bloße Aufbereitung von Daten der Vergangenheit — verloren und sei als „Hemmungsfaktor gegenüber der Beschleunigung des Veränderungstempos" der heutigen Gesellschaft unwirksam geworden Aus dieser Auffassung könnte man vielleicht den umgekehrten Schluß ableiten, daß der progressive Historiker die Geschichts-losigkeit des gesellschaftlichen Bewußtseins anstrebe. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Der Progressive bedarf der Geschichte, um aus ihr die Kategorien für eine humanere Gestalung der Zukunft zu gewinnen. Er hat an ihr ein moralisches Interesse. Auch wenn diese Einstellung ein ästhetisches Interesse an der Geschichte nicht ausschließt, so ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit für ihn doch kein Selbstzweck. Er weiß, daß progressives gesellschaftliches Handeln ohne geschichtliches Bewußtsein nicht möglich ist.

Zur Kategorie des Fortschritts Der progressive Historiker kann Nietzsches Plädoyer für das Unhistorische in seiner Betrachtung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" nicht akzeptieren. Dort heißt es: „Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört." Im progressiven Geschichtsverständnis erhält die Geschichte ihren Wert dadurch, daß sich in ihr die Gesellschaft kritisch reflektiert und sich selbst ins Bewußtsein hebt. Gerade diese Funktion der Geschichte lehnt Nietzsche ab:

„Es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch, ein Volk oder eine Kultur."

Die Konsequenz, die in einer solchen Theorie enthalten ist, ist die eines blinden Aktivismus, dem der geschichtliche und damit der menschliche Maßstab verlorengeht. Auch der Fortschritt kann leicht mit einem solchen Aktivismus, der seinen Maßstab allein aus der Gegenwart bezieht, verwechselt werden. Fortschritt ist jedoch nur dann human, wenn er sich geschichtlich versteht und die Vergangenheit mit einbegreift. Nicht jeder „Fortschritt", der unter der Flagge der Modernität einhersegelt, ist progressiv. Mißt man den Fortschritt ausschließlich nach den Maßstäben des technischen Fortschritts, so zählen die beiden Weltkriege und die heutige Rüstungsindustrie und -Organisation vielleicht zu den größten Fortschritten des 20. Jahrhunderts.

Konservative und progressive Geschichtswissenschaft Gegen die hier vorgetragenen Gedanken zu einem Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft werden sich wahrscheinlich Bedenken erheben. Besteht nicht die Gefahr, so ließe sich einwenden, daß die Geschichtswissenschaft dem Kampf der Ideologien ausgeliefert wird und ihr Wissenschaftscharakter damit verlorengeht? Und weiter ließe sich vielleicht die Frage aufwerfen, ob es nicht außer der konservativen und progressiven Historie, sozusagen jenseits von Gut und Böse, eine dritte, neutrale Möglichkeit der Geschichtswissenschaft gibt. Zu dem ersten Einwand läßt sich sagen, daß eine Wissenschaft, die sich als praktisch, das heißt gesellschaftsbezogene Wissenschaft versteht —-unabhängig, ob konservativ oder progressiv —, nicht schon deswegen notwendig unwissenschaftlich ist.

Es gibt keine Sozialwissenschaft, zu der auch die Geschichtswissenschaft zu rechnen ist, die im luftleeren, gesellschaftsfreien Raum operieren kann. Sie wird erst unwissenschaftlich, wenn sie die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie arbeitet, nicht mehr reflektiert. Es ist auch nicht einsichtig, warum konservative und progressive Wissenschaft sich einander notwendig feindlich gegenüberstehen müssen. So unlöslich Theorie und Praxis miteinander verbunden sind, so sind sie doch keineswegs miteinander identisch. Die Theorie hat daher immer einen relativ großen Raum der Freiheit, den es zu erhalten gilt. Das Problem der Zusammenarbeit von progressiver und konservativer Sozialwissenschaft ist weniger ein wissenschaftstheoretisches als vielmehr ein praktisch-menschliches Problem. Wissenschaft ist nicht zuletzt auch eine bestimmte Form des Umgangs Unter Menschen; sie setzt daher gesellschaftliche Regeln und Umgangsformen voraus, auf die sich alle einigen müssen. Die Lösung dieses Problems scheint zwar im Blick auf die gegenwärtigen akademischen Umgangsformen mit gewissen Schwierigkeiten verbunden zu sein, grundsätzlich aber steht einer Zusammenarbeit von progressiver und konservativer Wissenschaft nichts entgegen. Der neutrale Weg — Popper Es bleibt die Frage nach der Möglichkeit einer neutralen Geschichtswissenschaft. In seiner 1944 erstmals veröffentlichten, 1965 von Erik Boettcher in deutscher Übersetzung herausgebrachten Studie „Das Elend des Historizismus" behauptet Karl R. Popper, in dem von ihm vorgeschlagenen „methodologischen Individualismus" den neutralen Weg gefunden zu haben. Das Buch stellt eine scharfe Kritik jeden Versuchs einer theoretisch-philosophisch verstandenen Geschichtswissenschaft dar. Nach Popper sind die Methoden der Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften grundsätzlich die gleichen Für ihn ist „die Geschichtswissenschaft durch ihr Interesse für tatsächliche, singuläre, spezifische Ereignisse im Gegensatz zu Gesetzen und Verallgemeinerungen charakterisiert" Uber die Aufgabe des Historikers heißt es: „Eine der wichtigsten Aufgaben des Historikers besteht ohne Zweifel in der Beschreibung interessanter Ereignisse in ihrer Eigentümlichkeit und Einzigartigkeit, d. h. mit Einschluß von Aspekten, die er nicht kausal zu erklären versucht, etwa des . zufälligen'Auftretens nicht kausal verknüpfter Ereignisse. Diese beiden Aufgaben der Geschichtswissenschaft, die Entwirrung der kausalen . Fäden'und die Beschreibung der . zufälligen'Art, wie diese Fäden verwoben sind, sind beide notwendig und ergänzen einander." Gegen diesen in Analogie zur naturwissenschaftlichen Methode entwickelten scheinbar neutralen methodologischen Individualismus muß kritisch eingewandt werden, daß hier eine in bestimmten Grenzen durchaus vertretbare Methode derart verabsolutiert wird, daß schließlich die Methode über den Gegenstand gesetzt und der Gegenstand von der Methode her bestimmt wird.

Wissenschaft erschöpft sich nicht in Methodik, sie ist vielmehr methodisch bewußtes Erfassen von Wirklichkeit. Eine Sozialwissenschaft, die sich nicht mehr um die Erfassung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit bemüht, die eben mehr ist als ein Singuläres, Spezifisches und mehr als eine Vielfalt formaler Beziehungen, entartet zur Spielerei. Der Historiker kommt nicht darum herum, die Geschichte in reale Begriffe zu fassen. Wenn Geschichte zur reinen Beliebigkeit wird, läßt sich mit Recht die Frage stellen, warum sie überhaupt noch betrieben werden soll. Der Historiker kann sich nicht von der Methodologie verbieten lassen, immer wieder die Frage nach der Realität der Geschichte zu stellen.

Mängel der strukturell-funktionalen Theorie Die Geschichtswissenschaft hat die Aufgabe, die historisch-gesellschaftliche Wirklichkeit zu erfassen. Von dieser Zielsetzung her lassen sich auch Bedenken gegen die Übernahme der strukturell-funktionalen Theorie, wie sie von Parsons für die soziologische Theorie entwik-kelt worden ist, geltend machen. Sie mag sich zwar der Geschichtswissenschaft für die Über-windung der Tradition des Historismus anbieten, um sie durch die Systematisierung historischer Strukturen von einer rein individualisierenden Betrachtungsweise zu befreien. Die strukturell-funktionale Theorie kann sicherlich die historische Methode bereichern. Ihre Schwäche besteht aber darin, daß sie historische Begriffe auf Systeme formaler Strukturen reduziert, die zwar rational und daher auch operational sind, für die Erkenntnis historischer Wirklichkeit unter Umständen aber wenig hergeben. Eine nominalistische Geschichtsschreibung mag zwar dem Historiker das Gefühl geben, sich selbst von der Geschichte befreit zu haben, doch wird er letztlich seine geschichtliche Existenz nicht verleugnen und es nicht vermeiden können, sich der Geschichte zu stellen.

Teil II: Konservatismustheorie am kybernetischen Modell

Zum Begriff des Konservatismus Der Begriff Konservatismus wird im geschichts-und politikwissenschaftlichen Sprachgebrauch vorwiegend zur Kennzeichnung politischer Parteien, Richtungen und Ideologien verwandt. Eine genaue Umschreibung des Inhalts des Konservatismus ist wie bei den meisten „Ismen" nur schwer möglich. Die Schwierigkeit einer exakten Definition wird dadurch vergrößert, daß „konservativ" ein häufig benutzter Begriff der politischen Publizistik ist und auch in der wissenschaftlichen Sprache meistens nicht wertfrei verwendet wird. Die Kenn19 Zeichnung einer Personengruppe als konservativ wird als Werturteil verstanden, gleichgültig, ob damit Ablehnung oder Zustimmung verbunden ist. Obwohl der Begriff Konsetvatismüs in der Wissenschaft Und Politik seit den letzten hundertundfünfzig Jahren in den unterschiedlichsten Weisen gebraucht worden ist, erweist sich seine Verwendung auch heute noch als notwendig und nützlich.

Ist es möglich, einen festen Katalog konservativer Denkinhalte aufzustellen? Man mag diese Frage vielleicht zunächst bejahen und auf eine Reihe standardisierter konservativer Denkvorstellungen verweisen: Autorität als Leitbild für den Aufbau von Familie, Staat, Gesellschaft und Wirtschaft; bevorrechitigte Stellung von Kirche und Religion im öffentlichen Leben; organischer Staatsgedanke; Abwehr-haltung gegenüber „zersetzenden''Einflüssen in Kultur und Gesellschaft; Erhaltung der traditionellen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung.

Einwände gegen eine politische Definition des Konservatismus Es fragt sich, ob ein solcher oder ähnlicher Katalog kenservativer politischer Ideen zür Erfassung des Phänomens Konservatismus ausreicht. Ungeklärt bleibt nämlich die Frage, warum überhaupt bestimmte Persohengruppen und soziale Schichten „konservativ" sind. Welche Brklärungsmögiichkeiten gibt es für did Motivationsstruktur des Konservatismus? Wenn eine bestimmte soziale Schicht konservativ denkt und handelt, muß sie dafür Gründe haben. Die blöße Feststellung konservativer Denkinhalte Und Verhaltensweisen ist wissenschaftlich unbefriedigend. Sie Würde das Zustandekommen des Konservatismus lediglich dem Züfäll der jeweiligen politischen Gesinnung überlassen. Auch die Begrenzung des Konservatismus auf Parteien und politische Gruppierungen wäre zu einseitig. Der Politik, auch der Politik von Parteien, würde damit eine Selbständigkeit zugeschrieben, die sie gar nicht hat. Zweifellos hat die Politik in einem gewissen Rahmen ihre eigenen Gesetze, mit deren Hilfe sich zahlreiche politische Handlungen erklären lassen. Aber die Bedingungen politischen Handelns sind nicht in der Politik selbst zu suchen.

Politik, als 6 äÜCh konservative Politik, erschließt sich dicht aus sich selbst, sondern ist das Resultat einet Vielzahl ökonomischer, gesellschaftlicher und kultureller Faktoten. Die politische Geschichtsschreibung neigt dazu, den politischen Bereich von den ökonomischen, sozialen Und kulturellen Bedingungen abzuson-dern und ihre Aussagen gleichsam am abstrakten politischen Modell zu exemplifizieren. Ein solches Verfahren ist methodisch durchaus legitim, solange dicht die am Modell der „Politik" gewonhenen Aussagen verabsolutiert werden. Politische desthichtsschreibung und Politikwissenschaft stehen jedoch Ständig VOr der Gefahr, ihre politischen Aussagen zu vetabsolutieren, weil die Komplexität der der Politik zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht genügend ausgeiotet wird. Für die Theorie des Konservatismus folgt daraus, daß sie sich nicht auf einen katalogättigeh Nachweis konservativer politischer Denkinhalte beschränken kann. Fine ureicliende Erklärung des Konservatismus muß vielmehr auf die ökonomischen, sozialen Uhd kulturellen Bedingungen zürückgteifen, die SözialpsycholOgisChe Motivationsstrüktur auf-zeigen und die Gesamtstruktur des Konservatismus, die weit übet den politischen Bereich hinausgreift, Umfassen.

Die Vielschichtigkeit des Konservatismus Die Frage, ob eine bestimmte politische Handlung „konservativ" ist, läßt sich nicht anhand eines überzeitlichen Konservatismus-Schemas beantworten. Der Konservatismus ist kein Naturgesetz. Eine bestimmte politische Handlung läßt sich erst aus dem Strukturzusammenhang, in dem sie einzuordnen ist, als konservativ oder progressiv qualifizieren. Diese Aussage sei am Beispiel des Nationalismus erläutert. Der Nationalismus ist nicht notwendig konservativ. Der Nationalismus der liberalen Bewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist als progressiv, der Nationalismus der am Ersten Weltkrieg beteiligten europäischen Mächte dagegen als konservativ zü Werten. Seine konservative Qualifikation erhielt der Nationalismus erst durch die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa herrschende historisch-gesellschaftliche Konstellation. Eine Theorie des Konservatismus muß diese Vielschichtigkeit des Konservatismus erfassen. Aus diesem Grund weicht die vorliegende Theorie des Konservatismus von der herkömmlichen Bestimmung des Konservatismus als einer Parteirichtung uhd politischen Ideologie ab. Konservatismus wird hier als allgemeine historische Tendenz, nicht aber als die Geschichte einzelner politischer Parteien verstanden. Konservatismus ist also nicht eine Frage der Bezeichnung, sondern der vorgegebenen historiöCh-gesellschaftlichen Struktur. Aus dieser Perspektive können auch liberale Und sozialdemokratische Parteien; die sich selbst als progressiv verstehen, Unter dem Begriff Konservatismus erfaßt werden, obwohl eine selche Kategorisierung von dem programmatischen Selbstverständnis der Parteien her. zunächst als widersinnig erscheinen mag. Eibe wissenschaftliche Analyse kann jedoch nicht die Selbsteussage einer Partei unbesehen als wissenschaftlich erwiesene Tatsache übernehmen. Die Gefahr einer unkritischen Theore-tisierung parteipolitischer Praxis und Selbstdarstellung ist gerade in der Parteiengeschichte sehr leicht gegeben. Aus diesen Überlegungen heraus wird die folgende Theorie des Konservatismus bewußt von einer Theorie konservativer Parteirichtuhgen und Parteiprogramme abgesetzt.

Progressismus — Konservatismus Die Gegenbewegung zum Konservatismus ist der Progressismus. Beide historischen Kräfte sind jedoch in einem dialektischen Verhältnis miteinander verknüpft. Der Konservatismus ist leichter Zu erfassen, weil er sich auf historisch realisierte Strukturen bezieht, die ohne weiteres intellektuell nachzuvollziehen sind. Die Darstellung des Progressismus, der eine nbch nicht realisierte Zükünft vofwegnimmt, iät schwieriger, weil Sie bei dem Analytiker die Bereitschaft züm Utopischen Denken und den Glauben an die Perfektibilität der menschlichen Gesellschaft votauSSetzt. Ebenso wie der Konservatismus ist der Progressismus nicht bloß eine Parteirichtung oder ein Programm. Der Progressismus umfaßt eine in der Gesellschaft angelegte und aus ihr zu entwickelnde Tendenz. ÄUcll der Progressismus ist nicht äuf ein überzeitliches Schema zu reduzieren. Er ist ein PföZeß, der der ständigen Veränderung unterworfen ist. Auch hier gilt, daß bestimmte politische Handlungen erst durch ihren historischen Stellenwert als progressiv zu qualifizieren sind. Die Weimarer Reichsverfassung Von 1919 war beispielsweise in ihrer Konzeption gegenüber der Reichsverfassung voh 1871 ohne Zweifel „progressiv", dennoch wirkte sie sich unter den in der Weimarer Republik vorgegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen als konservatives Ihstrument aüs, weil sie den Gegnern der Republik zur demokratischen Legitimität verhalt. Unter anderen politisch-gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen hätte sich dieselbe Verfassung durchaus progressiv auswirken können. Der Progressismus wird daher ebenso wie der Konservatismus weniger in seinen Ideen und Programmen als vielmehr in den gesellschaftlichen Kräften, die diese Ideen realisieren, faßbar und meßbar.

Entwicklung zum Fortschritt?

Konservatismus und Progressismus sind bis auf den heutigen Tag bestimmende Kräfte der geschichtlichen Entwicklung in Europa. Mit dieser Aussage soll nicht einer Dialektik der Geschichte das Wort geredet werden. Noch weniger läßt sich die Geschichte der letzten Zweihundert Jahre als ein einzigartiger Aufstieg zum gesellschaftlichen Fortschritt deuten. Mart kann mit guten Gründen geradezu die entgegengesetzte Entwicklung aufzeigen, daß nämlich nicht der Fortschritt, sondern der Konservatismus auf breiter Front gesiegt habe. Die Bevölkerungsexplosion; die industrielle und wissenschaftliche Revolution, der Aufbau eines gesellschaftlichen Kommunikationssystems von ungeahnter technischer Differenziertheit und der Aufbau der modernen Wirtschaftssysteme sind zwar in der politischen Symbolik standardisierte Metaphern des Fortschritts, doch darf dieser wirtschaftlich-technische Fortschritt nicht mit dem gesellschaftlichen Fortschritt verwechselt weiden. So mochte aüch der Sturz von Monarchien als triumphaler Akt des Fortschritts gefeiert werden, aber War damit schon der gesellschaftlichie Fortschritt sichergestellt? War beispielsweise die deutsche Revolution 1918/19 ein Sieg des Fortschritts oder des Konservatismus? Im Zusammenhang mit dieser Frage stellt sich auch die Frage nach dem Erfolg des Faschismus. War der Faschismus tatsächlich nur ein Bruch mit einer im Grunde fortschrittlich verlaufenden geschichtlichen Entwicklung oder war er nicht vielmehr der Ausdruck einer Krise des bestehenden konservativen Systems?

Funktionen einer Konservatismustheorie Wissenschaftliche Begriffe wie der des Konservatismus bedürfen der ständigen Überprüfung, um festzustellen, wieweit sie in der Lage sind, Realitäten zu erfassen. Wenn in dieser Arbeit versucht wird, den Begriff Konservatismus zu umschreiben, so kann ein solcher Versuch selbstverständlich nicht auf das Terminologisch-Formale beschränkt bleiben. Jede Bestimmung geschichtswissenschaftlicher oder sozialwissenschaftlicher Begriffe enthält bereits eine sachliche Aussage. Daher ist eine Bestimmung des Konservatismus ohne eine Theorie des Konservatismus nicht möglich. Diese Theorie hat vor allem die Aufgabe, die begriffliche Verständigung zu erleichtern, wozu eine terminologische Kurzdefinition nicht ausreicht.

Ferner soll die Theorie des Konservatismus den methodischen und sachlichen Bezugsrahmen aufzeigen, der für die Bestimmung des Begriffs Konservatismus maßgebend ist. Eine solches Verfahren mag zunächst ein wenig umständlich erscheinen. Aber gerade der Historiker bedarf der Theorie, um sich davor zu schützen, unkontrolliert und unkritisch Begriffe der politischen Alltagssprache in die wissenschaftliche Sprache zu übernehmen. Auch das sorgfältigste historische Quellenstudium kann nicht verhindern, daß das Ergebnis einer historischen Untersuchung durch die Festsetzung der Begrifflichkeit möglicherweise von vornherein determiniert ist. Es ist sicherlich dringend erforderlich, der Theorie innerhalb der Geschichtswissenschaft einen breiteren Raum zuzuweisen, als ihr bisher zugestanden wurde.

Konservatismus als gesellschaftlicher Prozeß Der Konservatismus soll im folgenden als gesellschaftlicher, politischer und ideologischer Prozeß verstanden werden, der in der Geschichte Europas und der westlichen Welt seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart wirksam ist. Durch die Definition des Konservatismus als historischer Prozeß soll ausgedrückt werden, daß es sich bei ihm nicht um ein historisch einmaliges und zeitlich genau fixierbares System gesellschaftlicher und ideologischer Verhaltensmuster sowie politischer Herrschaftsstrukturen handelt, sondern um einen Vorgang, der selbst der Veränderung un Jahrhunderts bis in die Gegenwart wirksam ist. Durch die Definition des Konservatismus als historischer Prozeß soll ausgedrückt werden, daß es sich bei ihm nicht um ein historisch einmaliges und zeitlich genau fixierbares System gesellschaftlicher und ideologischer Verhaltensmuster sowie politischer Herrschaftsstrukturen handelt, sondern um einen Vorgang, der selbst der Veränderung unterworfen ist und der den Ablauf der eigenen Veränderungen aus sich heraus steuert.

Konservatismus in dem hier vorliegenden Verständnis ist mehr als eine Gesinnung, ein Gedankensystem oder ein Denkstil 17). Eine Ideengeschichte der Klassiker konservativen Denkens reicht zur Erfassung der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Konservatismus nicht aus, zumal da die Veröffentlichung der wichtigsten Werke der „Klassiker" in die erste Hälfte des Jahrhunderts fällt, Konservatismus aber ein historisch-gesellschaftlicher Prozeß ist, der bis in die Gegenwart reicht 18). Ebensowenig ist Konservatismus eine bestimmte formale psychologische Eigenschaft oder Haltung, die sich gleichermaßen auf Progressive und Konservative anwenden läßt 19). Allerdings ist eine solche psychologische Verwendung des Begriffs Konservatismus heute weitverbreitet, so daß beispielsweise orthodoxe Kommunisten als „konservativ" bezeichnet werden.

Die psychologische Verwendung des Begriffs „konservativ" ist deswegen irreführend, weil sie im allgemeinen zu einseitig auf die individuelle Haltung eines einzelnen bezogen ist. Danach gilt eine Persönlichkeit als „konservativ", wenn sie sich gegen Veränderungen ihrer Lebensweise und Umweltbedingungen wehrt. Eine solche individual psychologisch „konservative" Haltung ist jedoch nicht mit dem politisch-gesellschaftlichen Konservatismus zu verwechseln. Beispielsweise kann ein Progressiver in seinem persönlichen Lebensstil und seinem Umgang mit Menschen durchaus „konservativ" und autoritär sein. Die individualpsychologische Deutung des Konservatismus führt daher zu keinem brauchbaren Ergebnis. Fruchtbarer ist allerdings der sozialpsychologische Ansatz. Sozialpychologische Faktoren spielen zweifellos im Konservatismus als kollektives Bewußtsein und kollektives Verhalten eine bedeutende Rolle. Ein durchgängiges sozialpsychologisches Motiv des Konservatismus ist die soziale Angst. Inhaltsanalysen konservativer Äußerungen erweisen, welche zentrale Funktion die Angst vor Geheimbünden, umstürzlerischen Bewegungen, Untergrundbewegungen, Revolutionen, vor Liberalen, Sozialisten oder Kommunisten für die Konstituierung des konservativen Bewußtseins hat. Die Sozial-psychologie kann sicherlich einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Motivationsstruktur des Konservatismus leisten.

Für den wissenschaftlichen Sprachgebrauch muß daran festgehalten werden, daß der Konservatismus nicht als individuelle psychologische Haltung zu werten ist, sondern anhand objektiver politischer, sozialer, ökonomischer, sozialpsychologischer und kultureller Kriterien bestimmt werden muß. Karl Mannheim sieht in dem Konservatismus einen „objektiven, geschichtlich eingebetteten, dynamisch sich abwandelnden Strukturzusammenhang" und bezeichnet konservatives Handeln als „ein Handeln im Sinne eines objektiv vorhandenen Strukturzusammenhangs" Die in dieser Arbeit vorgelegte Definition des Konservatismus als gesellschaftlicher Prozeß geht über den Ansatz von Mannheim hinaus. Konservatismus ist mehr als ein (ideologischer) Strukturzusammenhang, er ist eine objektiv nachweisbare historisch-gesellschaftliche Realität.

Vielleicht bedarf es zur Erhärtung der Definition des Konservatismus als gesellschaftlicher Prozeß noch einer weiteren begriffstheoretischen Erläuterung. Viele der von Historikern verwendeten Begriffe wie Staat, Land, Reich, Bund, Partei, Recht und — mit einer gewissen Einschränkung — auch Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur haben den Nachteil, daß sie zu statisch definiert sind und so das Prozessuale der Geschichte nicht in den Griff bekommen. Anders verhält es sich bei historischen Begriffen wie Krieg, Bewegung, Revolution, die darauf abzielen, die geschichtliche Dimension eines Vorgangs zu erfassen. Zu dieser letzteren Kategorie historischer Begriffe wäre auch der Begriff Konservatismus zu rechnen. Er unterscheidet sich allerdings auch wieder von Begriffen wie Krieg, Bewegung, Revolution, als diese zunächst überzeitlich und amorph und damit nicht näher qualifizierbar sind. Von der Begriffssystematik her würden vielleicht di i Begriffe Reformation und Säkularisation dem hier vorgetragenen Verständnis des Begriffs Konservatismus formal am nächsten kommen, weil sie einen inhaltlich bestimmbaren und zeitlich abgrenzbaren historischen Vorgang definieren.

Der Konservatismus konkretisiert sich immer in bestimmten, allerdings veränderlichen gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Strukturen und wird so geschichtlich manifest. Konservatismus ist aber nie voll identisch mit einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse, Partei oder Ideologie. Die gesellschaftlich-politische Macht des Konservatismus beschränkt sich auch nicht auf den Machtbereich der sich konservativ nennenden Parteien.

Die in der Politik-und Geschichtswissenschaft übliche Bestimmung des Konservatismus als Parteirichtung und politische Bewegung geht im Gegensatz zu der hier vertretenen Konservatismustheorie mehr von einem statischen Ansatz aus. Konservatismus erscheint dort als ein mehr oder weniger feststehendes Muster bestimmter ideologischer Inhalte und politischer Programmpunkte. Der Konservatismus wird dabei in einem gewissermaßen überzeitlichen Kanon politischer Wertvorstellungen erfaßt. Die in diesem Aufsatz dargelegte Konservatismustheorie weicht dagegen in wesentlichen Punkten von der bekannten Konservatismus-Konzeption ab und darf mit jener nicht verwechselt werden. Konservatismus ist in dem hier vorliegenden Verständnis kein politisch-ideologisches Fixum, sondern ein komplexer sozialer Prozeß. Die Ideologie-und Parteigeschichte des Konservatismus ist dabei nur ein Aspekt — und in der Vielfalt der Aspekte nicht einmal notwendig der zentrale.

Die Kennzeichnung des Konservatismus als sozialer Prozeß soll verdeutlichen, daß der Konservatismus vom politischen Bereich allein her nicht aufzuschlüsseln ist. Konservative Politik ist ein Ausdruck des Konservatismus, aber nicht seine Substanz. Der Konservatismus realisiert sich als Integration sozialer, ökonomischer, kultureller und politischer Verhältnisse, die einander bedingen und aufeinander einwirken, wobei Ursache und Wirkung voneinander kaum zu unterscheiden sind. Die Komplexität und Mehrdimensionalität des konservativen Systems soll durch den Begriff sozialer Prozeß erfaßt werden.

Die Geburt des Konservatismus 1789

Blickt man in die Geschichte der Neuzeit zurück, so entstand der Konservatismus in dem Augenblick, als die Gesellschaft . machbar'wurde, als es möglich wurde, Zukunftsprojektionen über den Aufbau der Gesellschaft, die radikale Veränderungen der b 'Stehenden gesellschaftlichen Strukturen vorsahen — sei es durch Reformen, sei es durch Revolutionen —, in die Tat umzusetzen. Die reale Möglichkeit des durchgreifenden gesellschaftlichen und politischen Umbruchs bewies zum erstenmal die Französische Revolution. Der Konservatismus existiert daher seit 1789 als reale gesellschaftliche Macht. In Burkes „Reflections on the Revolution in France" von 1790 findet sich das klassische ideologische Dokument des sich zum Kampf gegen die Revolution sammelnden Konservatismus.

Seitdem die Welt veränderbar geworden war, gab es keine gesellschaftliche Herrschaft mehr, die sich selbst Ewigkeitswert zuschreiben durfte. Um so nachdrücklicher mußte sich der Konservatismus darum bemühen, die bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse in einen ideologischen Schleier einzuhüllen, um sie dem Zugriff des Progressis-mus zu entziehen. So schrieb Burke in seinen „Reflections on the Revolution in France": " ‘Each contract of each particular state is but a clause in the great primeval contract of eternal Society, linking the lower with the higher nations, connecting the visible and the invisible world, according to a fixed compact sanctioned by the inviolable oath which holds all physical and all moral natures, each in their appointed place. ”

Um die bestehende Sozialordnung dem Zugriff der Revolutionäre zu entziehen, verleiht Burke ihr die religiöse und metaphysische Weihe, die sie unangreifbar machen soll. Der Konservatismus der ersten Stunde versteht es, Religion und Kirche als Eckpfeiler konservativer Ideologie und Mystik zu benutzen. Die enge Verbindung von Religion und Politik, die Theorie und Praxis des europäischen Konservatismus im 19. Jahrhundert entscheidend prägte, ist bereits bei Burke mit der eindrucksvollen Kraft konservativer Symbolik vorgezeichnet. Es bleibt die Frage, ob die Religion auf den Konservatismus oder der Konservatismus auf die Religion angewiesen war. (Die weitgehende Trennung von Staat und Kirche erfolgte erst in der neueren Zeit.) Immerhin spricht die historische Entwicklung des Konservatismus für die Priorität des politisch-gesellschaftlichen Interesses. Der Konservatismus suchte und fand in der Religion, oder genauer, in den kirchlichen Institutionen und Lehren eine willkommene Bereicherung der konservativen Instrumentariums.

Man kann selbstverständlich die Frage aufwerfen, ob es nicht bereits vor der Französi-sehen Revolution konservative und progressive Tendenzen gegeben habe und ob nicht sogar die gesamte Geschichte als ein Kampf zwischen Konservatismus und Progressismus gedeutet werden kann. Ein solches Verfahren wäre grundsätzlich nicht auszuschließen. Allerdings würde in diesem Fall der Begriff des Konservatismus derart ins Uferlose ausgeweitet, daß er für die wissenschaftliche Analyse nur noch wenig relevant ist. Die Feststellung, daß es schon immer in der Geschichte beharrende und vorwärtstreibende Kräfte gegeben hat, wird sicherlich kaum dazu beitragen, das historische Urteil zu schärfen und die Forschung methodisch zu befruchten. Der Wert historischer Begriffe liegt nicht in ihrer Universalität, sondern in ihrer relativen Präzision. Daher wurde der Ursprung des Konservatismus in der vorliegenden Theorie bewußt mit der Französischen Revolution angesetzt.

Das Problem einer historisch umfassenden Konservatismustheorie Im folgenden soll die Konservatismustheorie am kybernetischen Modell erläutert und präzisiert werden. Dieses Vorhaben wirft die Frage auf, warum es notwendig ist, Modelle in die Geschichtswissenschaft einzuführen. Die Verwendung von Modellen in der Geschichtsschreibung ist im Grunde genommen nicht neu. Sie hat schon immer mit Modellen gearbeitet, wobei sie sich allerdings häufig des Modell-charakters ihrer Aussage kaum bewußt war. Die Konzeption des „europäischen Staaten-systems", die „Idee der Staatsräson", der Begriff des „Nationalstaats", die Konzeption der „Volksgemeinschaft" sind ebenso wie die Konzeption einer „organischen Entwicklung" oder eines „dialektischen Prozesses" der Geschichte Modelle, an denen der Historiker seine Aussagen exemplifiziert. Um der Gefahr der Hypostasierung zu begegnen, bedarf es einer ständigen Kritik der in der Geschichtswissenschaft angewandten Modelle. Jedes historische Modell, selbstverständlich auch das in diesem Aufsatz dargelegte Konservatismus-Modell, ist problematisch und anfechtbar.

Des weiteren bliebe zu fragen, warum die Kybernetik in die Geschichtswissenschaft eingeführt werden soll. Reicht das bisher bekannte theoretische Instrumentarium nicht aus?

Die grundlegende Schwierigkeit jeder modernen Wissenschaft, also nicht nur der Geschichtswissenschaft, besteht darin, die Masse der zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Informationen zu koordinieren, auszuwerten und zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verarbeiten. Das Problem stellt sich insbesondere in der Geschichtswissenschaft, seitdem es unbestritten ist, daß sie nicht mehr isoliert neben den benachbarten Sozial-wissenschaften bestehen kann. Die größte Schwierigkeit, die sich dem heutigen Historiker stellt, ist weniger die, an ausreichendes Material heranzukommen — das Material steht in einer in der bisherigen Geschichte dieser Disziplin noch nie erreichten Fülle zur Verfügung —; die Schwierigkeit besteht vielmehr gerade darin, die ungewöhnliche Material-häufung zu bewältigen. Hier bietet die Kybernetik neue Lösungsmöglichkeiten an. Das Verfahren der Kybernetik ermöglicht die denkerische Verarbeitung einer beliebigen Anzahl von Informationen. Die historische Kybernetik wertet die Einzelergebnisse empirisch-historischer Untersuchungen unterschiedslos als „Informationen", die die Grundlage für die Erstellung neuer Informationen abgeben.

Im Mittelpunkt des historisch-kybernetischen Verfahrens steht nicht mehr wie in der überkommenen historischen Methodenlehre die Quelle, sondern der abstrakte Begriff der Information. Die sogenannten Quellen sind lediglich ein Teil des kybernetischen Informationssystems der Geschichtswissenschaft. Die Erkenntnisse, die der Historiker aus der Erforschung der Quellen erwirbt, sind nicht notwendig wertvoller als die theoretisierten und systematisierten Informationen, die benachbarte sozialwissenschaftliche Disziplinen zur historischen Erkenntnis beitragen können. Der Wert von „Quellen" — übrigens ein bereits vom Wort her höchst problematischer Begriff — kann nicht in einer wie auch immer gearteten Ursprünglichkeit, sondern in ihrem jeweils auswertbaren sachlichen Informationsgehalt für die wissenschaftliche Analyse gesehen werden. Die Einführung der Kybernetik kann dazu beitragen, die Geschichtswissenschaft von einer nach wie vor verbreiteten Mystifizierung der sogenannten Geschichtsquellen, einer Erblast der Romantik und des Historismus, zu befreien und die Geschichtswissenschaft auf den methodischen und theoretischen Stand vergleichbarer Wissenschaften zu bringen.

Die beiden historischen Prozesse des Konservatismus und Progressismus lassen sich nach den Modellen der Kybernetik als integrative gesellschaftliche Steuerungssysteme darstellen, die sich durch einen zielverändernden Rückkopplungsprozeß und Lernprozeß ständig verändern. Anhand eines kybernetischen Modells läßt sich auch die Tatsache deutlicher erklären, daß der heutige Konservatismus äußerlich gesehen mit der soziologischen, politischen und ideologischen Struktur des Konservatismus der Zeit vor 150 Jahren kaum noch etwas gemeinsam hat. •

Wenn, grob skizziert, um 1800 der soziale Träger des Konservatismus der kirchliche und weltliche Adel sowie die ständisch gebundenen sozialen Schichten waren, um 1900 das mittlere und gehobene Bürgertum, und heute ein großer Teil der Arbeiterschaft zur sozial tragenden Schicht des Konservatismus gerechnet werden muß, dann läßt sich natürlich die Frage stellen, mit welcher Berechtigung diese drei deutlich voneinander unterschiedenen sozialen Schichten einheitlich als soziale Träger des Konservatismus klassifiziert werden können. Ein ähnlicher Einwand läßt sich vorbringen, wenn man die politischen Formen des Konservatismus miteinander vergleicht: um 1800 die absolutistische Monarchie und der Ständestaat, um 1900 der bürgerliche Nationalstaat mit gemäßigt parlamentarischem System, heute der Sozialstaat auf massendemokratischer Grundlage. Am augenfälligsten sind die Unterschiede beim Vergleich der konservativen Ideologien untereinander: um 1800 ständisches Prinzip, Einheit von Thron und Altar; um 1900 bürgerlicher Liberalismus und Nationalismus; heute ideologischer Pluralismus mit vorherrschender Tendenz eines antiideologischen Pragmatismus.

Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen ist offensichtlich eine materiale Definition des Konservatismus nicht möglich. Die jeweiligen konkreten Realitäten des Konservatismus scheinen zueinander in einem unlösbaren Widerspruch zu stehen. Dieser Widerspruch kann mit Hilfe einer individualisierenden, auf dem Verstehensbegriff aufbauenden Geschichtstheorie nicht aufgelöst werden. Aus dem vorliegenden Problem ergibt sich daher die Notwendigkeit, andere, der historischen Wirklichkeit adäquatere Geschichtstheorien anzuwenden.

Das kybernetische Modell Karl Wolfgang Deutsch hat in seinem Buch „The Nerves of Government", das 1969 unter dem Titel „Politische Kybernetik" in deutscher Übersetzung erschienen ist, neue Wege aufgezeigt, wie die Erkenntnisse der modernen Steuerungs-und Kommunikationsforschung für die Sozialwissenschaften fruchtbar gemacht werden können Die mögliche Verwendbarkeit kybernetischer Modelle in der Geschichtswissenschaft wird allerdings von Deutsch nur am Rande gestreift, obwohl gerade in der Geschichtswissenschaft die Erprobung kybernetischer Modelle zu einer Intensivierung des arg verkümmerten historischen Methodenbewußtseins beitragen könnte.

Das selbstregulierende Kommunikationssystem bietet der Geschichtswissenschaft ein theoretisches Modell für die Lösung des zentralen methodischen Problems, nämlich der Aufschlüsselung der Korrelation von Kontinuität und Diskontinuität, von Identität und Wandel. Ein selbstregulierendes Kommunikationssystem, kurz Regelsystem genannt, besitzt die Fähigkeit, Informationen von außen aufzunehmen, zu verarbeiten, aufgrund dieser verarbeiteten Informationen Entscheidungen zu treffen und das Regelsystem selbst nach diesen Entscheidungen auszurichten, sich also selbst zu steuern. Der wichtigste Vorgang in einem solchen Regelsystem ist der sogenannte Rückkopplungsprozeß. Auf dem Wege der Rückkopplung kontrolliert das Regelsystem selbsttätig, ob die getroffene Entscheidung und deren Ausführung richtig sind. Im Bereich des menschlichen Nervensystems beispielsweise gewährleistet die Rückkopplung, daß das Herz ohne bewußte Entscheidungen des Menschen regelmäßig arbeitet. Uber diese einfache Rückkopplung hinaus gibt es die vielverändernde Rückkopplung. Dabei werden auf dem Wege der Rückkopplung die inneren Strukturprinzipien und damit auch das vorgeschriebene Ziel eines solchen Regelsystems geändert, neue Ziele gesetzt, auf die sich das System umstellen muß, um sein inneres Ungleichgewicht zu überwinden

Diese zielverändernde Rückkopplung ist die Grundlage eines komplizierten Lernprozesses, wie wir ihn beispielsweise bei der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit vorfinden. Der Mensch nimmt Informationen aus seiner Umwelt auf, verarbeitet sie, trifft Entscheidungen über sich selbst, wobei er mehrfach seine eigenen Ziele verändert, ohne sich dabei selbst, seine Identität, aufzugeben.

Anwendbarkeit des kybernetischen Modells in der Geschichtswissenschaft Ein solches Modell der zielverändernden Rückkopplung ist nicht nur, wie in diesem Beispiel, auf die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit, sondern auch auf historische Phänomene aus dem Bereich der politischen, der Wirtschafts-, Sozial-und Kulturgeschichte anwendbar. Das kybernetische Modell wird sich besonders bei in sich komplexen Gegenständen der Geschichtswissenschaft und bei interdisziplinären Studien empfehlen. Dabei kann es sich beispielsweise um eine Biographie, die Geschichte des Bürgertums im 19. Jahrhundert, die Geschichte des europäischen Staatensystems oder die Geschichte des Ost-West-Gegensatzes handeln. Ein weites Feld für die Anwendbarkeit kybernetischer Modelle bietet die Erforschung solcher „Ismen" wie Imperialismus, Nationalismus, Liberalismus, Sozialismus oder — wie im vorliegenden Fall — Konservatismus.

Die sozialen Träger des Konservatismus sind bestimmte Schichten und Gruppen, die sich, wie sich am kybernetischen Modell erklären läßt, beim Ablauf des Prozesses , Konservatismus'durchaus ablösen können. Das gleiche gilt für die konservative Ideologie, die einem ständigen zielverändernden Rückkopplungsprozeß unterworfen ist, dadurch neue Inhalte erhält und alte abstößt, aber dennoch ihren Charakter als konservative Ideologie beibehält. Gleichermaßen wird die konservative Politik durch den Rückkopplungsprozeß gezwungen, sich ständig neue Ziele zu setzen, um sich neuen historischen Situationen anzupassen.

Konservatismus als integratives gesellschaftliches Steuerungssystem Es ist einsichtig, daß die Anwendung des kybernetischen Modells auf den Konservatismus jede monokausale Erklärung ausschließt. Die Entstehung und Wandlung des Konservatismus ist weder ausschließlich auf die Veränderung der Produktionsverhältnisse noch auf die Veränderung der konservativen Bewußtseinsinhalte zurückzuführen. Der Konservatismus erschöpft sich nicht in bestimmten, einzeln angebbaren Persönlichkeiten, Ideen oder Parteien. Für die Erfassung der geschichtlichen Wirklichkeit des Konservatismus ist eine Geistesgeschichte konservativer Denker ebenso fruchtbar wie unfruchtbar wie andererseits die Einzwängung des Konservatismus in die Be-grifflichkeit eines historisch-dialektischen Ökonomismus.

Der Konservatismus als selbstregulierendes Steuerungssystem empfängt seine Informationsdaten aus den jeweils bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen sowie aus der ständigen, mehr oder minder starken gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Bedrohung durch den Progressismus. Im Gegensatz zum Progressismus ist der Konservatismus kein originäres Regelsystem, aber gerade deswegen um so anpassungsfähiger und — historisch gesehen — erfolgreicher. Da der Konservatismus, der sich an der Erhaltung der bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse orientiert, nicht derart prinzipiengebunden ist wie der Progressismus, verfügt er über eine bedeutend umfangreichere Skala von Möglichkeiten, sich auf neue Situationen einzustellen. Er orientiert sich an der Gegenwart und keineswegs, wie ihm häufig unterstellt wird, an der Vergangenheit. Auf seinem Realismus in der Einschätzung der gegenwärtigen Situation beruht seine traditionelle gesellschaftliche, politische und ideologische Macht.

Der Konservatismus verfügt über eine große Integrationskraft und versteht es, wirtschaftliche, geistige, politische und gesellschaftliche Interessen in ein scheinbar unauflösbares System zu verschmelzen. Die intellektuelle Schlichtheit und Naivität der konservativen Ideologie steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit. Das Verhältnis des Konservatismus zur Vergangenheit ist unkritisch und unreflektiert: Er neigt dazu, in ihr eine Rechtfertigung der Gegenwart zu sehen. Er versteht es, kleinere Wunden am sozialen Körper schnell zu heilen, gewöhnliche Konflikte und Spannungen zu lösen, sich äußeren Einflüssen zu öffnen und neu hinzugekommene Kräfte zu integrieren. In diesem Zusammenhang wäre beispielsweise die integrative Funktion der Sozialpolitik, die ja keineswegs ein Monopol der Progressiven darstellt, im System des Konservatismus zu erwähnen. Das gleiche gilt für die relative Großzügigkeit in der Gewährung der Presse-und Meinungsfreiheit, solange diese nicht als systembedrohend angesehen wird.

Defekte des konservativen Steuerungssystems Das konservative Steuerungssystem versagt, wenn es darum geht, substantielle Antagonismen im Innern der Gesellschaft oder in den internationalen Beziehungen zu bewältigen. Der Konservatismus vermochte die bürgerlichen Revolutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zu verhindern. Der Konservatismus des 20. Jahrhunderts erwies sich als unfähig, die durch den Kommunismus und Faschismus aufgeworfenen Probleme zu bewältigen. Der Erste und der Zweite Weltkrieg sind im wesentlichen auf das Versagen des internationalen Steuerungssystems des Konservatismus zurückzuführen. Diese strukturellen Mängel hängen eng mit der Unfähigkeit des konservativen Regelsystems zusammen, die Zukunft als Zielinformation zu erfassen. Die Zukunft wird als direkte Bedrohung empfunden, obwohl der Konservatismus natürlich weiß, daß sie unvermeidbar ist. An diesem Punkt zeigt sich die fundamentale Schwäche des Konservatismus und die Überlegenheit des Progressismus, dessen Regelsystem in der Lage ist, einen größeren Bereich der geschichtlichen Wirklichkeit zu erfassen.

Die grundsätzliche Abwehrhaltung des Konservatismus gegen Zukunftsprojektionen bleibt unverständlich, wenn man nicht die soziale Angst als eines der wesentlichen Motive des Konservatismus zur Erklärung hinzuzieht. Die Sicherheit, die der Konservatismus sehr häufig nach außen zur Schau trägt, kann irreführend sein. Die Tatsache, daß so viele Versuche des Progressismus, den Konservatismus durch rationale Aufklärung zu überwinden, gescheitert sind, läßt sich wahrscheinlich nur aus dem Phänomen der sozialen Angst erklären. Die politischen und ideologischen Vorkämpfer des Progressismus übersehen häufig, daß gute Argumente noch keine Vertrauensbasis schaffen, um die soziale Angst zu überwinden.

Der Konservatismus als soziales System bringt kulturelle Verhaltensmuster hervor, die das öffentliche und private Leben weitgehend bestimmen. Es ist durchaus sinnvoll, in diesem Sinne von einer konservativen Moral zu sprechen. Die konservative Moral, die sich noch im 19. Jahrhundert weitgehend mit den kirchlichen Moralvorstellungen deckte, übt einen bestimmenden Einfluß auf die konservative Politik aus. Der rechtsstaatliche Schutz der Person, die Gewährung des Privateigentums, die Förderung der Familie als Keimzelle des Staates und der Gesellschaft gehören zu den unverzichtbaren Forderungen konservativer Moral, überspitzt formuliert kann man sagen, die konservative Moral will einen befriedeten Zustand in der gegenwärtigen Gesellschaft auf Kosten der Zukunft herstellen, die progressive Moral strebt eine befriedete Zukunft zu Lasten der Gegenwart an. Drei Phasen des Konservatismus Die allgemeine Theorie des Konservatismus sei im folgenden unter Berücksichtigung der am kybernetischen Modell gewonnenen Erkenntnisse in ihrer historischen Entwicklung konkretisiert. Ohne den Anspruch auf eine vollständige Systematik erheben zu wollen, lassen sich drei Phasen des Konservatismus unterscheiden: 1. Die Phase des klassischen europäischen Konservatismus, 2. die Phase des bürgerlich-nationalen Konservatismus, 3. die Phase des modernen Konservatismus. 1. Der klassische europäische Konservatismus 1789— 1848

Die Phase des klassischen europäischen Konservatismus, die sich durch die symbolischen Jahreszahlen 1789 und 1848 begrenzen läßt, wird von der Reaktion auf die Französische Revolution bestimmt, wie ja der Konservatismus überhaupt erst aus der Dynamisierung der Geschichte durch die Französische Revolution entstanden ist. Klassisch mag man diese Phase nennen, weil Ende des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die „Klassiker" des Konservatismus wie Burke, Gentz, Adam Müller, de Bonald, de Maistre und Haller in der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution ihre Schriften publizierten. Träger des Konservatismus waren Feudaladel und Kirche sowie die kirchlich und ständisch gebundenen Schichten. Politisch will der Konservatismus der ersten Phase — zumindest in Kontinentaleuropa — den monarchisch-absolutistischen Staat und das ständische Gesellschaftssystem erhalten.

Die klassische Phase des Konservatismus war sicherlich auch zugleich seine schwächste Phase. Das konservative Regelsystem war überfordert, die Komplexität der historischen Situation in den Griff zu bekommen, weil sein Informations-, Verarbeitungsund Entscheidungssystem noch in den Anfängen steckte. Da die Ideologie des Progressismus die Gegenwart der historischen Kritik unterwarf, um darauf die Zukunft aufzubauen, sah sich der Konservatismus gezwungen, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu verteidigen. Von daher rührt auch die seltsame Fama, daß der Konservatismus, der, wenn überhaupt, nur ein sehr pragmatisches Verhältnis zur Geschichte hat, eine historische, der Progressismus demgegenüber eine unhistorische Ideologie sei. Immerhin war diese scheinbare Umkehrung der Fronten vom Erfolg her gesehen einer der klügsten ideologischen Schachzüge des Konservatismus, weil er damit den geschichtsbewußten Progressismus an seiner Basis traf. 2. Der bürgerlich-nationale Konservatismus 1848— 1918

Wenn auch die Auseinandersetzung zwischen Konservatismus und Progressismus — letzterer wurde in dieser ersten Phase durch den bürgerlichen Liberalismus vertreten — von den Zeitgenossen mit großer Intensität erlebt wurde, so war dieser Kampf doch im Vergleich zu den späteren Phasen relativ harmlos. Die Beschleunigung des gesellschaftlichen Verdichtungsprozesses, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch den rapiden Bevölkerungsanstieg, die Entfaltung des modernen Kapitalismus, die verkehrsmäßige Erschließung durch Eisenbahn und Dampfschiffahrt, den Aufbau eines nationalen und internationalen Kommunikationsnetzes und den zunehmenden Einfluß der Wissenschaft auf gesellschaftliche Vorgänge bewirkt wurde, verstärkte das gesellschaftliche Bewußtsein der Verfügbarkeit und Gestaltbarkeit der Welt.

In dieser zweiten, der bürgerlich-nationalen Phase, die sich mit den Jahreszahlen 1848 und 1918 abstecken läßt, wird das Bürgertum, das seine Identität in der modernen Nation findet, zum Träger des Konservatismus. Der Kampf mit der früheren feudalen Oberschicht wird beigelegt. In Deutschland beispielsweise kommt es zu einem Ausgleich großagrarischer und großindustrieller Interessen. Gegenüber der ersten Phase besitzt der bürgerlich-nationale Konservatismus eine wesentlich verbreiterte gesellschaftliche Basis. Die politische Form des bürgerlich-nationalen Konservatismus ist der Nationalstaat mit gemäßigt parlamentarischer Verfassung. Das ständische Gesellschaftsprinzip wird durch das kapitalistische Leistungsprinzip ersetzt. Die ideologische Selbstdarstellung des bürgerlichen Konservatismus gipfelt in der Nation, deren idealistischer gesellschaftlicher Wertekodex das kapitalistische System überhöht und diesem zugleich seine eigentliche Weihe gibt.

In der ersten Phase des Konservatismus war der Liberalismus die dem Konservatismus entgegengesetzte progressive Kraft. In der zweiten, der bürgerlich-nationalen Phase sind Konservatismus und Liberalismus keine Gegensätze mehr. Im politischen Tageskampf stehen sich zwar nach wie vor konservative und liberale Parteien einander gegenüber, doch sind die liberalen Parteien bereits Bestandteil des konservativen Systems. Der Übergang des Liberalismus vom Progressis-mus zum Konservatismus läßt sich an dem Verhältnis des Liberalismus zur Nation verfolgen. Die „Nation" war seit der Französischen Revolution eine Kampfparole der europäischen Linken, ein Symbol der freiheitlichen Bewegung gegen jede innere und äußere Unterdrückung. Etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzieht die wirtschaftlich und gesellschaftlich erfolgreiche bürgerliche Bewegung die Umwertung der ehemals progressiv verstandenen Idee der Nation zum Symbol der Erhaltung des Status quo der neu entstandenen Sozialstruktur. In der Nation gipfelt nun die politische Selbstdarstellung des siegreichen Bürgertums. Damit ist die Nation, einstmals eine Utopie zur Befreiung des Bürgertums von absolutistischer und feudaler Bevormundung, zum sozialen Herrschaftsinstrument des Bürgertums geworden.

Der bürgerlich-nationale Konservatismus ist ein internationaler Prozeß. Auf der außerordentlichen Kompliziertheit und Differenziertheit seines Regelsystems beruht seine ungewöhnliche integrative Kraft. Ob der bürgerliche Konservatismus den Sozialismus tatsächlich als die Bedrohung schlechthin empfand, mag offenbleiben. Der bürgerliche Konservatismus ist gegenwartsorientiert. Er hat es kaum noch nötig, sich ideologisch zu verteidigen. Im Ersten Weltkrieg kann er den Triumph erleben, daß sein erbitterster Feind, der Sozialismus in Deutschland, England und Frankreich, fasziniert von der Größe der Nation, vor dem Konservatismus kapituliert und ihm seine Gefolgschaft als Kanonenfutter zur Verfügung stellt. Im Ersten Weltkrieg erweist sich aber auch die Unfähigkeit des bürgerlich-nationalen Konservatismus, einen internationalen humanen Wertekodex selbstregulierend zu verarbeiten. Das konservative Regelsystem war strukturell nicht in der Lage, durch einen Lernprozeß die historische Situation zu bewältigen und den Tod von Millionen zu verhindern. 3. Der moderne Konservatismus 1918 bis zur Gegenwart Den Beginn der dritten, gegenwärtigen Phase des Konservatismus wird man mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ansetzen können. Der Krieg hatte den internationalen Konzentrationsprozeß beschleunigt, so daß jetzt der amerikanische Konservatismus ohne größere Differenzierungen in den Gesamtkomplex Konservatismus einzubeziehen ist. Durch den Ausbau eines gewaltigen Kommunikationsnetzes publizistischer, wirtschaftlicher und politischer Art hat die gesellschaftliche Verdichtung eine bis dahin unbekannte Intensität erreicht. An die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft tritt die Massengesellschaft, die die bürgerliche Gesellschaft nicht beseitigt, sondern integriert. Die Strukturen der bürgerlich-nationalen Gesellschaft sind jedoch weitgehend erhalten geblieben.

In einem Prozeß der Oligarchisierung hat sich bei gleichzeitiger Übernahme der früheren bürgerlichen Oberschicht eine neue Oberschicht gebildet, die sich zu einem großen Teil aus der Massengesellschaft rekrutiert. Diese Oberschicht ist der eigentliche Träger des modernen Konservatismus. Wirtschaftlich basiert dieser Konservatismus auf dem an Massenkonsum und Massenproduktion orientierten Industriekapitalismus. Das Gesellschaftssystem ist unter Beibehaltung des Leistungsprinzips des Wirtschaftsliberalismus formal weitgehend egalitär verfaßt.

Das Steuerungssystem des modernen Konservatismus ist im hohen Grade labil und krisenanfällig. Obwohl ihm technische Möglichkeiten in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß zur Verfügung stehen, ist er nicht in der Lage, durch zielverändernde Rückkopplung die technischen Möglichkeiten mit einem dem geschichtlichen Fortschritt entsprechenden moralischen Wertesystem in Einklang zu bringen. Während der bürgerlich-nationale Konservatismus in der Nation einen entsprechenden gesellschaftlichen Moralkodex besaß, ist der moderne Konservatismus so gesehen amoralisch.

Der Konservatismus der „modernen Gesellschaft" Der Konservatismus der dritten Phase wirkt modern. Seine ausgesprochene Bereitschaft zum technologischen Fortschritt hat dazu geführt, daß seine konservative gesellschaftliche Grundstruktur häufig gar nicht erkannt wird. Die den modernen Konservatismus tragenden gesellschaftlichen Kräfte empfinden sich selbst als „fortschrittlich". Die wirtschaftlichen, gesellschaftlich-organisatorischen und technisch-zivilisatorischen Leistungen des modernen Konservatismus ragen derart hervor, daß es fast abwegig erscheinen mag, ihn mit der ersten Phase des Konservatismus zu vergleichen. Zwar gibt es auch in der Gesellschaft des modernen Konservatismus noch Reststrukturen einer ständischen Gesellschaft, aber insgesamt gesehen hat der moderne Konservatis29 mus die ständische Gesellschaft endgültig überwunden. Die sogenannten Funktionseliten in Wirtschaft, Verwaltung, Politik, Kultur und Gesellschaft sind mit einer ständischen Oberschicht nur schwer zu vergleichen. Der heutige Konservatismus versteht sich selbst als „moderne Gesellschaft" und weist jeden Versuch, ihn als Konservatismus zu klassifizieren, entschieden von sich. Diese dem Konservatismus der dritten Phase eigene „Modernität" darf jedoch nicht mit dem gesellschaftlichen Progressismus verwechselt werden. Es kennzeichnet die Situation des modernen Konservatismus, daß es in diesem System kaum noch einflußreiche Parteien gibt, die sich selbst als konservativ bezeichnen.

Arbeiterschaft und Konservatismus Ein besonderes Problem des modernen Konservatismus ist das Verhältnis von Arbeiterschaft und Konservatismus. Die moderne Gesellschaft ist eine Industrie-und Massengesellschaft. Der moderne Konservatismus wäre daher nicht erfolgreich gewesen, wenn er nicht von breiten Schichten der Arbeiterschaft getragen würde. In dieser dritten Phase des Konservatismus versteht sich die Arbeiterschaft nicht mehr als Proletariat. Das politisch-gesellschaftliche Verhalten der Arbeiterschaft wird daher auch nicht von ihrer „objektiven" Klassenlage bestimmt. Die Sozialpsychologie der Arbeiterschaft ist weit komplizierter, als es viele linke Ideologien wahrhaben wollen. Bürgerlich-konservative Orientierungsmuster gewinnen einen zunehmenden Einfluß auf das wirtschaftliche, gesellschaftliche und private Verhalten des Arbeiters, der zum Konsum-bürger'aufgestiegen ist und erheblich mehr zu verlieren hat als seine Ketten. Die Arbeiterschaft identifiziert sich weitgehend mit dem bestehenden sozial-kulturellem und sozioökonomischen System und übernimmt zugleich dessen konservativ-nationale Wertvorstellungen.

Obwohl die politische Repräsentation der Arbeiterschaft, die Sozialdemokratie, sich selbst als progressiv versteht und in zahlreichen Äußerungen diesen Progressismus immer wieder proklamiert, vollzieht sich die politische Praxis der Sozialdemokratie nach dem Gesetz, das ihr das konservative System auferlegt. Als Beispiel sei das Verhalten der Sozialdemokratie in den Jahren 1918/19 genannt. Die Tatsache, daß die Sozialdemokratie im Rat der Volksbeauftragten und in ihrer ersten parlamentarischen Regierung unter Scheide-mann nahezu ausschließlich bürgerlich-nationalen und bürgerlich-liberalen Leitbildern folgte und auf eine soziale Revolution verzichtete, beweist, daß sie bereits fest in das System des Konservatismus integriert war.

Die Schärfe, mit der die politische Auseinandersetzung zwischen rechten und linken Parteien in der Weimarer Republik geführt wurde, scheint dieser Aussage zu widersprechen. Die vorliegende Konservatismustheorie ist jedoch keine Theorie des parteipolitischen Konservatismus. Diese Überlegungen gehen vielmehr — wie schon mehrfach angedeutet — von der Bestimmung des Konservatismus als eines sozialen Prozesses aus. Aus dieser Sicht sind die Parteien nicht der Motor des sozialen Prozesses, sondern dessen Produkte. Eine einseitig politisch orientierte Geschichtsschreibung neigt dazu, das Freund-Feind-Verhältnis zwischen der bürgerlichen Rechten und der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik zu verabsolutieren. Die Politik ist aber nur ein Teilbereich des historisch-gesellschaftlichen Prozesses und kann daher nicht von der allgemeinen ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung isoliert betrachtet werden. Zudem schließt auch das „Ende der Parteien 1933", der bürgerlichen Rechtsparteien ebenso wie der Sozialdemokratie, das als historisches Faktum schließlich auch der Erklärung bedarf, eine einseitige Deutung der geschichtlichen Entwicklung der letzten fünfzig Jahre aus der Perspektive der politischen und Parteiengeschichte aus.

Die Ideologie des modernen Konservatismus An die Stelle traditioneller konservativer Ideologien tritt eine moderne konservative Ideologie, wie sie beispielsweise in der Vorstellung einer „wissenschaftlichen Zivilisation", in der ein auf dem Leistungsprinzip aufbauendes technokratisches Modell zum gesellschaftlichen Leitbild erhoben wird, zum Ausdruck kommt. Die Ideologie der „wissenschaftlichen Zivilisation" verzichtet auf überkommene moralische Begründungen zur Rechtfertigung der bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und führt statt dessen den scheinbar neutralen Grundsatz der Sachgesetzlichkeit ein. Im Sinne dieser modernen konservativen Ideologie wird „ein neues Grundverhältnis von Mensch zu Mensch" geschaffen, „in welchem das Herrschaftsverhältnis seine alte persönliche Beziehung der Macht von Person über Person verliert, an die Stelle der politischen Normen und Gesetze aber Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlichen Zivilisation treten, die nicht als politische Entscheidungen setzbar und als Gesinnungsoder Weltanschauungsnormen nicht verstehbar sind" Trotz der Modernität dieser konservativen Ideologie kann nicht übersehen werden, daß sie auf die Legitimierung der bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse ausgerichtet und eben daher konservativ ist.

In seiner ideologischen Selbstdarstellung gibt sich der moderne Konservatismus nicht „konservativ", sondern „modern". Indem er den technischen Fortschritt nicht nur propagiert, sondern auch tatsächlich vorantreibt, wirkt er scheinbar progressiv. Dieser technische Fortschritt — im weitesten Sinn verstanden — ist aber nicht mit einem gesellschaftlich-politischen Fortschritt gleichzusetzen, der auf eine Humanisierung der menschlichen Gesellschaft abzielt. Der moderne Konservatismus steht wie gebannt vor dem Faszinosum einer technisierten und organisierten Welt, ohne eine Antwort auf die entscheidende Frage geben zu können, auf welches zukünftige gesellschaftliche Ziel diese technisierte Welt ausgerichtet werden soll. Von daher erklärt sich die Ratlosigkeit und ein Hang zum Kulturpessimismus.

Moderner Konservatismus und Faschismus Da der Faschismus zeitlich in die dritte Phase des Konservatismus fällt, wirft die Bestimmung des modernen Konservatismus notwendig die Frage nach dem Verhältnis von modernem Konservatismus und Faschismus auf. Die Systematik des vorliegenden Konservatismus-Modells erhaubt es nicht, den Faschismus, der ebenso wie der Konservatismus als gesellschaftlicher Prozeß und nicht in erster Linie als parteipolitische Bewegung zu sehen ist, isoliert von dem historischen Prozeß des Konservatismus zu betrachten. Selbstverständlich unterscheiden sich die faschistischen Parteien grundsätzlich von den bürgerlich-demokratischen und sozialdemokratischen Parteien, und zumal in den Ideologien sind die Gegensätze offensichtlich. Dennoch kann die Tatsache nicht geleugnet werden, daß die soziologische Basis des modernen Konservatismus mit der des Faschismus weitgehend identisch ist. Auch anhand einer historischen Sozialpsychologie des Faschismus, die den vor-und nachfaschistischen Zeitraum mit einbezieht, ließen sich sicherlich Verbindungen zwischen dem modernen Konservatismus und Faschismus, die sich allerdings nicht auf den politisch-ideologischen überbau, sondern auf die gesellschaftliche Basis beziehen, nachweisen. Es ist historisch nicht zu bestreiten, daß der Faschismus von den gleichen sozialen Schichten getragen wurde, deren politische Repräsentation in der vor-und nachfaschistischen Zeit die bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien waren. Zur Klarstellung sei gesagt, daß mit dieser Aussage keine politische Verbindung zwischen demokratischen und faschistischen Parteien gezogen wird. Die Gegensätze sind so offensichtlich, daß sie nicht eigens betont zu werden brauchen. Nur ergibt die rein politische Analyse des Faschismus keine ausreichende Erklärung des Faschismusproblems. Daher kann der Faschismus nur aus den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen, die ihn hervorgebracht haben, erklärt werden.

Moderner Konservatismus und soziale Angst Der moderne Konservatismus weist an zentraler Stelle seines Steuerungssystems wesentliche strukturelle Mängel auf. Er ist nicht in der Lage, auf eine Zukunftsgesellschaft hin projizierte Zielinformationen zu entwickeln, die seinem industriellen und technologischen Potential angemessen sind. Die Unfähigkeit des konservativen Steuerungssystems, adäquate Zielinformationen zu entwickeln und zu realisieren, macht den modernen Konservatismus im hohen Grade krisenanfällig. So läßt sich auch der Faschismus anhand des kybernetischen Modells aus der historischen und gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit des modernen Konservatismus als eine Krise des Konservatismus erklären. Zieht man das Beispiel der deutschen Geschichte heran, so antwortet der Konservatismus auf die Herausforderung der sozialistischen Revolution mit der „konservativen Revolution" des Faschismus. Aus dem Unvermögen, der progressiven Herausforderung zu begegnen, entstand die soziale Angst. Die soziale Angst ist, wenn man so will, eine pathologische Erscheinung des konservativen Steuerungssystems. Die soziale Angst kann als ein Schlüsselbegriff zur Erklärung der Motivationsstruktur des Faschismus angesehen werden. Eine historische Sozialpsychologie der sozialen Angst würde wahrscheinlich die Ursprünge des Faschismus genauer ermitteln als jede ideologiegeschichtliche und parteipolitische Analyse. Im übrigen wirkte der politische Stil des Faschismus auf die Zeitgenossen nicht „konservativ", sondern modern, wie überhaupt der für den Faschismus so charakteristischen Modernität eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für seinen historischen Erfolg zukommt. Die Modernität des Stils sollte den gesellschaftlich-politischen Fortschritt ersetzen. Der moderne Konservatismus glaubte, über den Schein-Progressismus des Faschismus die Zukunft bewältigen zu können.

Aus dem bisher Gesagten kann jedoch nicht geschlossen werden, daß der Faschismus eine notwendige Folgeerscheinung des modernen Konservatismus ist. Allerdings ist der Faschismus, wie die Geschichte der letzten fünfzig Jahr beweist, grundsätzlich als Möglichkeit im modernen Konservatismus angelegt, ohne daß diese Möglichkeit notwendig historisch realisiert werden muß.

Der Ansatz der Konservatismustheorie Zum Schluß sei noch einmal der Ansatz der vorliegenden Konservatismustheorie verdeutlicht. Im Unterschied zu einer rein partei-historischen und ideologie-geschichtlichen Bestimmung wird der Konservatismus als komplexer sozialer Prozeß verstanden, der sich historisch seit der Französischen Revolution nachweisen läßt. Der Schwerpunkt der Theorie bestand darin, anhand eines kybernetischen Modells die Mehrdimensionalität des Konservatismus aufzuzeigen. Es ging dabei nicht um eine Typologie des Konservatismus als individueller politischer Haltung. Es war daher auch nicht die Absicht dieser Studie, Kriterien zu erarbeiten, um einzelne Persönlichkeiten als „progressiv" oder „konservativ" einstufen zu können. Konservatismus in dem hier vorliegenden Verständnis ist nicht eine Frage der persönlichen Gesinnung, sondern der historisch vorgegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Er beschränkt sich nicht auf den politischen Bereich; Konservatismus ist vielmehr ein integrativer sozialer Prozeß, der von einer Vielzahl ökonomischer, gesellschaftlicher, kultureller und politischer Faktoren abhängig ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. J. G. Droysen, Grundriß der Historik, Halle/Saale 1925 3, § 83.

  2. J. Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln-Berlin 19674, S. 297.

  3. Habermas, a. a. O., S. 297.

  4. J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Berlin 1960, S. 29.

  5. G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1955, S. 16.

  6. Hegel, a. a. O„ S. 183.

  7. H. Rabe, Neuzeitliche Geschichtsschreibung, in: Fischer-Lexikon „Geschichte", Frankfurt a. M. 1961, S. 236.

  8. E. H. Carr, Was ist Geschichte?, Stuttgart 1963, S. 12.

  9. E. Kehr, Der Primat der Innenpolitik, hrsg. u. eingel. von H. U. Wehler, Berlin 1965, S. 27.

  10. A. Heuß, Verlust der Geschichte, Göttingen 1959, S. 60.

  11. F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart 1960, S. 7.

  12. Nietzsche, a. a. O., S. 7.

  13. K. R. Popper, Das Elend die Historizismus (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften. Studien in den Grenzbereichen der Wirtschafts-und Sozial-wissenschaften, Bd. 3), Tübingen 1965, S. 107.

  14. Popper, a. a. O., S. 103.

  15. Popper, ebenda, S. 112.

  16. Popper, a. a. O., S. 115.

  17. Mannheim beschränkt sich in seiner Studie auf den deutschen Konservatismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

  18. Bei Mannheim findet sich der Hinweis, „daß wir im Gegensatz zum Traditionalismus unter „Konservatismus" nicht einen allgemein psychologischen Tatbestand verstehen dürfen". Mannheim, a. a. O., S. 412.

  19. Mannheim, a. a. O., S. 416.

  20. Mannheim, a. a. O., S. 413.

  21. The Works of the Right Honourable Edmund Burke, London 1854— 1857, Bd. 2, S. 368 f.

  22. K. W. Deutsch, Politische Kybernetik, Modelle und Perspektiven, Freiburg 1969.

  23. Deutsch, a. a. O., S. 147.

  24. H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln-Opladen 1961, S. 21 f.

Weitere Inhalte

Wilhelm Ribhegge, geb. 1940, Studium der Fächer Geschichte, Englisch, Christliche Sozialwissenschaften und Soziologie, 1966 Staats-examen. Wissenschaftlicher Assistent an der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe — Abteilung Münster.