In dieser Ausgabe wird der Konservatismus sowohl als zeitgeschichtliches Faktum wie als Gegenstand politikwissenschaftlicher Theorie behandelt. Während die historische Perspektive infolge der zeitlichen Distanz zunehmend unproblematischer wird, sind die bisher vorliegenden Versuche einer systematischen Analyse noch weitgehend umstritten. Die Redaktion ist gern bereit, weitere Stellungnahmen zu diesem Thema, die ihr zugehen, entgegenzunehmen und in einer späteren Folge zu veröffentlichen.
Definition des österreichischen Faschismus
Im Jahre 1935 erschien in einem angesehenen Züricher Verlag ein Buch des ehemaligen österreichischen Vizekanzlers Ing. Franz Winkler mit dem Titel: „Die Diktatur in Österreich". Der Verfasser, Angehöriger des liberal-nationalen Landbundes und drei Jahre lang Minister in den Regierungen Ender, Buresch und Dollfuß, berichtete aus intimer Kenntnis von Vorgängen und Zusammenhängen über das Entstehen des sogenannten „autoritären Kurses" in Österreich und meinte, vor allem in außenpolitischen Komponenten — damit war der übermächtige Einfluß Italiens gemeint — die Ursache für die Beseitigung der Demokratie in Österreich erblicken zu können. (Die Forschungen nach dem Zweiten Weltkrieg haben übrigens ergeben, daß Winkler, obwohl sein Buch scheinbare Objektivität ausstrahlt, zumindest im Vorfeld des Mordes an Kanzler Dollfuß konspirativ beteiligt war, ohne daß diese Betätigung 1938 honoriert worden wäre
1969 veröffentlichte der ehemalige österreichische Bundeskanzler Dr. Kurt von Schuschnigg sein drittes Buch „Im Kampf gegen Hitler". Der ehemalige Kanzler versuchte unter genauer Berücksichtigung des Staatsnotstandes der Jahre 1932/33, den Aufbau einer Abwehrfront in Österreich gegen den Nationalsozialismus als eine Art Koalition verschiedener Gruppen, von den Christlichsozialen alt-demokratischer Prägung bis zur Heimwehr — so weit sie sich zu Österreich bekannte —, darzustellen, wobei allerdings der Druck Italiens dieses Almalgam verschiedenster Richtungen zu einer pseudofaschistischen Front werden ließ.
Die oft gebrauchten Ausdrücke „Austrofaschismus" und „Klerikofaschismus" für diese Epoche der österreichischen Geschichte treffen dennoch keineswegs jenes Konglomerat von Bewegungen und Ideen, Persönlichkeiten und historischen Zufällen, die es im Jahre 1933 dem damaligen Bundeskanzler Dr. Dollfuß ermöglichten, unter massiver Hilfe Italiens, dessen außenpolitische Interessen in Österreich für diese Epoche durch die jüngsten Forschungen immer deutlicher enthüllt werden, eine Abwehrfront gegen Hitler aufzubauen, die immerhin bis zum März 1938 hielt.
Eine Begriffsklärung, ob es sich hier um eine österreichische Variante des Faschismus handle, ja, was man überhaupt darunter zu verstehen habe, ist außerordentlich schwierig und kann auch durch wortreiche Untersuchungen, die aus anderen Systemen gewonnene und nicht ohne weiteres übertragbare Denkmodelle auf die damaligen österreichischen Verhältnisse anwenden, kaum gefunden werden
Parlamentarische und militärische Konstellationen
Die Gründung der Republik Österreich zeigte, schon was die Grenzziehung betraf, den übermächtigen Einfluß Italiens, das sich etwa bei der Ziehung der Kärntner Grenze und der Frage des Burgenlandes für Österreich einsetzte, um eine günstige Ausgangsposition gegen Jugoslawien und die Tschechoslowakei via Österreich zu gewinnen. Das Anschlußverbot, auch von Italien begünstigt, und der anhebende Kampf um die Vormachtposition im Donauraum zwischen der Kleinen Entente und dem faschistischen Italien, die Revisionspolitik Ungarns und vorerst die nicht gelöste Habsburgerfrage wirkten sich auch auf die Bildung des Lagers der „Rechten" in Österreich entscheidend aus.
Die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung im Februar 1919 hatten auf der „Rechten" den Christlichsozialen, Großdeutschen und anderen Splitterparteien eine knappe Unterlegenheit gegenüber dem mächtigen Block der Sozialdemokratischen Partei gebracht
Zum Unterschied von der Weimarer Republik gab es zu Beginn der republikanischen Geschichte Österreichs keine politisierende Armee oder gar eine ehemalige Oberste Heeresleitung, die um sich Freikorpsverbände hätte sammeln können, um damit Politik zu machen. Was allerdings die Sozialdemokratie in ihrem Wehrprogramm erstrebte, war eine Volksarmee, demokratisch und republikanisch im Gegensatz zur habsburgischen Tradition, und im Äußeren, in Uniform und Abzeichen, eine Nachahmung der deutschen Reichswehr, als Ausdruck von „Deutschösterreichs Weg zur einstigen großen Gemeinschaft der Nation"
Die Volkswehr war aber nicht die einzige bewaffnete Formation, die schon im Jahre 1919 ideologisch und politisch die Lager von rechts und links nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Waffen füllte. Aus freiwilligen Ord-nungsund Schutzverbänden entstanden Bauern-, Flur-, Orts-, Bürger-und Heimwehren, die schon im Jahre 1919, etwa im Kärntner Grenzkonflikt, eingesetzt waren und von den Alliierten Kontrollkommissionen in Wien eifrigste Unterstützung erfuhren, da im Hochsommer 1919 die kommunistische Bedrohung Österreichs der Pariser Friedenskonferenz besonderes Kopfzerbrechen bereitete. Nach einwandfreien Angaben aus dem Wiener Kriegs-archiv sind unter alliierter Kontrolle im Jahre 1918 1200 Maschinengewehre und 80 000 Gewehre, zu denen noch beträchtliche andere Waffenmengen kamen, an die Bevölkerung ausgegeben worden, ohne jemals in die staatlichen Arsenale zurückzufließen
Wenn auch beide Formationen bei Grenzkonflikten eingesetzt wurden — so die Arbeiter-wehren im Burgenland und die ursprünglichen Heimwehren in Kärnten —, blieben sie kein Instrument der Landesverteidigung, sondern wurden zu politisch äußerst wirksamen Bürgerkriegsarmeen, und zwar schon vor 1927. Inden Heimwehren der ersten Stunde, also in der Zeit vor 1927, die hauptsächlich von Tirol aus unter der Führung des christlich-sozialen Abgeordneten Dr. Richard Steidle gegründet wurden, fanden sich sehr viele Parallelen zu den deutschen Freikorps. Die Zusammenarbeit der bayerischen Einwohnerwehren mit der österreichischen Heimwehr bewirkte, daß seit Horthys Machtübernahme in Ungarn intensive Putsch-vorbereitungen österreichischer Heimwehrorganisationen gemeinsam mit Ungarn gegen die Koalitionsregierung Renner 1919/20 in Wien unternommen wurden und daß Ludendorff sich selbst als Oberbefehlshaber einer solchen weit über den Donauraum hinausgreifenden Aktion anbot, wobei Oberst Bauer eine wesentliche Rolle spielte
Im Osten Österreichs hatten sich parallel dazu halbmilitärische Verbände unter dem Namen „Frontkämpfervereinigung Deutsch-Osterreichs"gebildet, deren Führer, Oberst Hermann Hiltl, vor allem den Kampf auf „arischer Grundlage" gegen die „volkszerstörenden Elemente wie Sozialdemokraten und Kommunisten" predigte und in Feldübungen, Bereitschaften und Aufmärschen den Versuch unternahm, mit den hauptsächlich auf die westlichen Bundesländer beschränkten Heimwehrbewegung zu konkurrieren. In dieser Wehrformation findet man übrigens schon in den zwanziger Jahren eine Geheimorganisation für einen ausgewählten jungen Nachwuchs, genannt „Der eiserne Kern", der in einem Merkblatt als „ausführendes Organ des Führers" und als „Seele der Bewegung" bezeichnet wurde. Auch die später von den Heimwehren und den Christlichsozialen so hochgespielte stände-staatliche Ideologie, deren besonderer Befürworter namentlich in akademischen Kreisen Othmar Spann gewesen ist, findet sich bereits in den ideologischen Schriften der Frontkämpfervereinigung vor 1927
Sozialdemokratie und rechtsorientierter Militarismus
Enttäuscht nach ihrem Austritt aus der Regierung im Jahre 1920 konzentrierte sich die Sozialdemokratie um den stark links stehenden'Dr. Otto Bauer, in der Hoffnung, daß die Über-windung der kapitalistischen und der Über-gang zur sozialistischen Gesellschaftsordnung eines Tages doch erreicht werden könnte
Ihr unbeugsamer Gegenspieler war Prälat Ignaz Seipel, dessen Werk der Währungssanierung im Jahre 1922 allzu häufig seine dominierende Rolle in der österreichischen Innenpolitik überschattet
Das Jahr 1927 bringt die Wende zum permanenten Bürgerkrieg durch die blutigen Ereignisse in Wien nach dem Freispruch von Front-kämpfern, die Arbeiter getötet hatten. Die Folge war der Aufschwung der Heimwehren unter intensiver finanzieller Unterstützung und Rüstungshilfe durch Ungarn und Italien, wobei sich beide für den Fall eines Zerfalls der österreichischen Republik über die entsprechenden Aufteilungsgebiete einigten
Das Vordringen faschistischer Gedankengänge innerhalb der Heimwehr nach dem Jahre 1927 ist in einzelnen Gebieten nachweisbar. So berichtete eine 1935 erschienene Chronik der Salzburger Heimwehr von einzelnen Gauführern, die in Italien nach Sprachstudien das faschistische System an der Wurzel gründlich studierten, um in Österreich entsprechend zu agitieren
In diesem Jahre sah sich Bundeskanzler Schober unter dem Druck Italiens und der Heimwehrbewegung veranlaßt, ohne den Boden der Demokratie zu verlassen, eine Verfassungsreform durchzusetzen, die im wesentlichen auf eine Stärkung der Stellung des Bundespräsidenten und die Einführung eines Notverordnungsrechtes nach dem Muster der Weimarer Republik hinauslief. Die Sozialdemokratie hatte damals in einer beispiellosen polemischen und politischen Abwehrschlacht taktisch gesiegt. Sie konnte zwar die Gefahr abwehren, daß durch die Verfassungsreform die Sonderstellung ihres „roten Wien" gebrochen wurde, sie konnte weiterhin die beabsichtigte Schmälerung der Sozialgesetze verhindern, übersah aber, daß das berüchtigte Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz aus dem Jahre 1917 weiterhin auch in der reformierten Verfassung verblieb — jenes Hintertürchen, durch das später das autoritäre System eingeschleust werden sollte
Als bei einem Aufmarsch im Jahre 1928 in Wiener Neustadt durch die feindlichen Bürgerkriegsarmeen fast eine Staatskatastrophe heraufbeschworen wurde, auf die übrigens Italien und Ungarn lauerten, hat Seipel davon gesprochen, daß man für den Fall des Aufmarsches der „Widersacher Christi" in besser organisierten und bewaffneten Gruppen alles tun müsse, um die Mängel der eigenen Ausrüstung und Organisation zu beheben und sich die wahre Liebe für das Volk darin zeige, daß man den Entscheidungskampf nicht scheue
Auch angesichts der Katastrophe der Österreich schwer treffenden Wirtschaftskrise der Jahre 1930/31 kam es weder zu einer Bejahung des Staats noch zu einer Versöhnung der Gegensätze, obgleich es an warnenden Stimmen, die jedoch einsam blieben, nicht fehlte. So sei nur an Dr. Karl Renners sehr gemäßigtes Verhalten innerhalb der Sozialdemokratischen Partei der dreißiger Jahre erinnert, ebenso wie an die Warnung des christlichsozialen Arbeiterführers Leopold Kunschak, daß die bewaffneten Scharen der Heimwehren mit ihren Programmen der schrankenlosen Antidemokratie eines Tages zum Verhängnis für den Staat werden könnten
Das am 18. Mai 1930 verkündete „Korneuburger Programm", übrigens aus dem Seminar Othmar Spanns stammend, vermischte deutsch-nationale, österreichisch-patriotische und faschistische Gedankengänge in unklarer Form und lehnte den westlichen demokratischen Parlamentarismus ab, wobei die Forderung nach der Machtergreifung im Staate allzu deutlich durchklang
Konstituierung des „autoritär-ständischen" Staatssystems
Am Vorabend der wirklichen Entscheidungen waren die Kräfteverhältnisse durch die letzte Nationalratswahl im November 1930 für das bürgerliche Lager noch prekärer geworden
In dieser Situation übernahm jener Mann, mit dem das autoritäre System in seinen Anfängen verbunden ist, Dr. Engelbert Dollfuß, die Regierung, gestützt auf eine notdürftige Koalition aus Christlichsozialen, Landbund und Heimatblock, wobei die verbliebenen Heimatblockabgeordneten mit Starhemberg an der Spitze zum Zünglein an der Waage in innen-und außenpolitischer Hinsicht werden mußten. Der neue Kanzler, aus der bäuerlichen Schicht Niederösterreichs kommend, hatte aus dem Erlebnisbereich seiner politischen Jugend und als Frontoffizier die verschiedensten Wandlungen durchgemacht
Die taktisch unkluge Opposition der Sozialdemokraten gegen die Lausanner Anleihe ließ in Dollfuß den Entschluß reifen, sowohl der Heimwehr als auch Mussolini nachzugeben. Der Eintritt des Wiener Heimwehrführers Emil Fey am 17. Oktober 1932 in das Kabinett war ein Alarmzeichen
In dieser eigentümlichen doppelten Abwehr-stellung nach innen und außen kamen dem Kanzler die Ereignisse vom 4. März 1933, als der Nationalrat durch Rücktritt seiner drei Präsidenten geschäftsunfähig geworden war, sehr gelegen und zwangen ihn zum Handeln. Unter dem Einfluß der Heimwehr, aber auch einer Reihe anderer Beraterkreise, zu denen sicherlich der spätere Wiener Bürgermeister Schmitz
Frontstellung gegen Sozialdemokratie und Nationalsozialismus
Der Staatsapparat, im besonderen die Exekutive, die Industrie, vor allem aber die Bauernschaft, waren das Fundament für diese Maßnahmen, die jenes System einleiteten, welches Dollfuß selbst als „autoritär-ständisch" bezeichnete und das bis zu seiner letzten Phase im Jahre 1938 nicht faschistisch strukturiert war, sondern sich auf die feudalistischen Traditionen des altösterreichischen Polizei-systems stützte und sich in ad hoc gegenüber dem Nationalsozialismus gebildeten, staatsparteiähnlichen Formen organisierte. Dabei kam ihm der Umstand zugute, daß die sozialdemokratische Parteiführung, gelähmt durch die Ereignisse des 4. März und durch die Verhinderung einer neuerlichen Parlamentssitzung am 15. März durch die Kriminalpolizei, die letzte Chance vergab, mit dem Mittel des Generalstreiks der Regierung entgegenzutreten
Die Nationalsozialisten, gestärkt durch Hitlers Machtübernahme und angeheizt durch die Forderung der Landesleitung der NSDAP Österreich nach raschen Erfolgen gegenüber der Regierung Dollfuß, brachten das kaum etablierte autoritäre System in eine bedrohliche Krise. Die nationalsozialistische Terrorwelle seit März 1933, Hitlers Entschluß, radikal vorzugehen, führten am 19. Juni zum Parteiverbot der NSDAP, zur „Tausendmarksperre" und der Aufstellung einer österreichischen Legion auf deutschem Boden, die sich aus arbeitslosen nationalsozialistischen Flücht-lingen zusammensetzte — kein Wunder in einem Land, in dem sich 1932 die Massenarbeitslosigkeit an der Sechshunderttausendergrenze bewegte. Dollfuß war sich darüber im klaren, daß sich der autoritäre Stände-staat, von dem er, aber auch seine engsten Mitarbeiter, wie z. B. Schuschnigg, seit März sprachen, nicht nur allein durch Verfassungsmanipulationen durchsetzen ließ, sondern einer Institution bedurfte, die als Sammelbewegung die Abkehr vom Parteien-staat proklamieren sollte und gleichzeitig ein politisches Machtinstrument in der Hand von Dollfuß werden mußte.
Die im Mai gegründete Vaterländische Front war die gesuchte Institution, wobei allerdings die Ideologie dieser neuen Organisation, die sich auch gegen die christlichsoziale Partei und alle anderen Parteien richtete, ein Gemisch verschiedenster Ideen darstellte
So radikal sich die Vaterländische Front -— zum größten Teil aus Christlichsozialen und Heimwehren zusammengesetzt •— zunächst gab, so war sie doch nur eine Fassade der verschiedensten Strömungen innerhalb der Regierung, die nun daran ging, unter allen Umständen den Doppelkampf gegen Hitler und die Sozialdemokratie zu gewinnen. Ein Verfassungsumbau, der ein Abrücken von der parlamentarischen Demokratie bedeutete, wurde eingeleitet und die letzten Kontrollorgane, vor allem der Verfassungsgerichtshof, ausgeschaltet
Diesem Prozeß stand die Sozialdemokratische Partei, die zwar das Verbot der Nationalsozialisten begrüßt hatte, aber nun auf sich selbst die Gefahr zukommen sah, mit einer sich steigernden Lähmung gegenüber. Das Vorgehen der Regierung gegen die Arbeiterkammern, außerordentliche Maßnahmen auf dem Gebiet des Rechtswesens und der öffentlichen Sicherheit alarmierten zwar die Sozialdemokratie, jedoch beschränkte man sich auf Proteste. Der letzte Parteitag im Jahre 1933 beschloß, für den Fall der Auflösung der Partei oder der Gewerkschaften sowie der Besetzung des Wiener Rathauses durch einen Regierungskommissar und die gewaltsame Proklamierung einer faschistischen Verfassung den Kampf aufzunehmen. Keineswegs jedoch handelte man im Sinne der jahrelangen revolutionären Phraseologie oder war bereit, die noch vorhandenen Waffen einzusetzen. Otto Bauer tröstete sich damit, daß man sowohl die deutsche als auch die österreichische Diktatur sozusagen „überdauern" würde, ja er schrieb sogar im theoretischen Organ der Sozialdemokratie, im „Kampf", im Januar 1934 einen Artikel mit einer positiven Kritik des Ständegedankens
Der 12. Februar 1934 (Putschversuch der Marxisten), von dem wir heute wissen, daß er auf italienisches Drängen herbeigeführt wurde, zerriß die letzten Fäden zwischen der Regierung und der linken Opposition. Der Bürgerkrieg, die furchtbarste Wunde in der jüngsten österreichischen Geschichte, beschleunigte die Entwicklung auf allen Ebenen. Nun konnte man, die zerschlagenen Parteien im Untergrund bekämpfend, die langer-sehnte Verfassungsänderung durchführen, wobei man sich allerdings davor scheute, dies als revolutionären Akt zu setzen. Es wurde vielmehr durch ein Gemisch von Verfassungsbruch und Verfassungstreue mit Hilfe des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes und der Zustimmung der noch vorhandenen christlichsozialen und Heimwehr-Abgeordneten am 30. April eine neue Verfassung in Kraft gesetzt
Das bedeutet nicht, daß die Autoritätsregierung sich der . Vaterländischen Front'nicht bedienen, nicht alle, die ihrem Programm zustimmen, in ihr sammeln soll. Aber die politischen Grundlagen, das Fundament der Macht der Autoritätsregierung kann auch die Vater-ländische Front'niemals darstellen. Trotz des Bestehens der . Vaterländischen Front'beruht die Autorität der Regierung nicht auf einem Massenmandat zur Führung, sondern auf dem Willen der Regierung, das Maß an Macht, das sie besitzt, bis zur Grenze des Möglichen zu gebrauchen."
Zementierung des zentralistischen Verwaltungsstaats
Eine Etablierung der neuen Organisationsformen, ja sogar die da und dort angekündigten Wahlen in berufsständische Körperschaften konnte der Bundeskanzler nicht mehr erleben. Am 25. Juli 1934 fiel Dr. Dollfuß unter den Kugeln von Angehörigen der SS-Standarte 89, welche auf Befehl Hitlers jenen Putsch durchführten, dessen Verlauf blitzartig die labile Situation Österreichs zeigte. Wie wir heute wissen, standen italienische und jugoslawische Truppen bereit, selbst mit dem Risiko eines bewaffneten Zusammenstoßes auf österreichischem Boden, einzumarschieren, wobei Italien unter Umständen die Aufteilung Österreichs mit Ungarn in die Wege geleitet hätte
Der Nationalsozialismus, nun in eine beispiellose Niederlage gedrängt, hielt sich jedoch im Untergrund ebenso zäh wie die Sozialdemokraten, wobei er in seiner unterirdischen Propaganda der Genugtuung über das gewaltsame Ende des Kanzlers Ausdruck gab. War angesichts der Julikrise, die um ein Haar Mitteleuropa an den Rand des Krieges brachte, durch einen Personenwechsel auch ein Systemwechsel möglich? An die Spitze der Regierung trat auf Wunsch des Bundespräsidenten Miklas der bisherige Unterrichtsminister Dr. Kurt von Schuschnigg, christlichsozialer Abgeordneter, Führer des katholisch-monarchistischen Wehr-verbandes, der „Ostmärkischen Sturmscharen", und Vertrauensmann hoher kirchlicher Kreise, in seiner Veranlagung nicht der Improvisator wie Dollfuß, der an seinen geschichtlich vorgezeichneten Weg bis zu seiner Todesstunde glaubte, sondern ein feinsinniger, zurückhaltender Typ, der mehr in den Bereich der Wis-senschaften gepaßt hätte. Sein Gegenspieler in der Regierung blieb zunächst noch der Führet der Heimwehren, Erbst Rüdiger Fürst Stärhemberg, der äuf dein Umiweg über Fteikorps, Nationalsozialismus und rechten Flügel der Heimwehreh zum Vertreter der echt faschisti-scheh Richtung dieser Bewegung geworden War. Zunächst forderte et hoch eine Teilung det Macht, indem er als Vizekanzler in der neuen Regierung Schuschnigg wieder Positioneh einhahm, die Döllfuß kUfz vor seibern Tode den Heimwehren abgerungen hatte
Schuschnigg hätte, selbst wenn er dazu gewillt war, eine Abkehr Vbn der „Dollfuß-Straße" — wie mah propagandistisch den autoritären Kuts nante — nicht durchführen kühnen. Die erste Begegnung mit Mussolini im August 1934 bewies ihm schon, daß Italien nicht nur entschlessen wär, Österreich aufzu-rüsten, sonderh aüch die Einmarschdrohungen des Juli 1934 füt jedeh Weiteren Eventualfall Geltung hatteh, worauf sich dann die mililä-
rischen BeSpteChüngen ^Wischen dem österreichischen Bundesheer Und det italienischen Armee in deh Jähren 1934 bis 1936 gründeten, die eine Abwehrstellung österreichisch-italie-scher Divisionen in Tirol, Salzburg und OberÖsterreich gegen einen deutschen Einmarsch vötsäheti. Der Kanzler wurde auch ermähnt, die von Dollfuß eingegangenen Verpflichtungen, darunter das Dürchmarschrecht Italiens gegen Jugosiawieh durch Österreich, einzuhal-teh ühd den Kurs im Inneren fortzusetzen
Die Vaterländische Front als Katalysator
Zunächst drängte sich die Frage auf, wie man die Arbeiterschaft, die infolge der Ereignisse des FebrUar 1934 dem neben Stäat verbittert gegenüberstand, gewinnen könnte: Schott Dr. Döllfuß hatte seinen Jugendfreund und Regimentskameraden, den Wieher S 6ziolgen Dr. Erbst Karl Winter
Darüber hinaus aber war man nicht gewillt, voh Regierungsseite zu einer echten Versöhnung zü Schreiten, obgleich da und dort Ein-zeigespräche stattfänden und eine Reihe jüngerer Politiker aus den Kreisen des Vaterländischen Front darauf drängte, den Einbau der sozialdemokratischen Arbeiter selbst unter Deklaration ihrer Gesinnung in das neue Ständestaatssystem durchzuführen. Es sei nur an Alfred Maletas'aufsehenerregendes Buch „Der Sozialist im Dollfuß-Osterreich" erinnert, das 1936 erschienen, zwei Jahre später dem Verfasset eine Vieljährige KZ-Haft in Dachau ein-trüg, da et mit seinen Ideen den Nationalsozialisten, die sich ebenfalls um einen Durch-
bruch in das Läget der Arbeitet bemühten, in die Quere kam: Nicht hur Schuschniggs per-söhliche Abneigung gegen die Sozialdemokra-sie war für das Ausbleiben eines Ausgleichs mit det Arbeiterschaft verantwortlich zu machen, sondern auch die Tatsache, daß er bei jedem Annäherungsversuch vön selten des italienischen Schutzherr, von der nationalsozialistischen Propaganda und schließlich auch von der ungarischen Regierung, die sich gern if der Rolle eines politischen Sittenrichters in Osterreich gefiel, det wVolksfront-
methoden" geziehen werden könnte; In dem großen Prozeß gegen illegale Sozialisten im Jahre 1936 rief der junge Student Bruno Kreisky aus, daß die Regierung eines Tages gezwungen sein könnte, in einer Stünde der defahr äüch die Arbeiterschaft zum Wider-stand aüfrufen zu müssen; er erhielt dafür mehr als ein Jahr Zuchthausstrafe
Selbst die von der Regierung mit Hilfe des neuen Gewerkschaftsbundes (der trotz aller Ptessionen kaum die Hälfte det Mitgliederzäh-len der ehemaligen freien Gewerkschaften erreichte) durchgeführte wähl der Betriebsräte, die man jetzt Werksgemeinschaften annte, brachte eine beschämende Niederlage der Regierungskandidaten, da alle von der illegalen Sozialdemokratie vorgeschobenen Ver-trauensmänner die Mehrheit erzielten. Andererseits war sich Otto Bauet im Exil in Brünn nicht darüber im klaren, daß die Zeit gegen seine Prophezeihung von der Kürze des autoritären Regimes arbeitete. Renner sah die Situation viel klarer und fürchtete vor allem eine Hinwendung der Jugend zum Nationalsozialismus oder zu der bis 1934 bedeutungslosen KPO
Viel Zu spät gewährte die Regierung jetzt Gewerkschaftsvertretern ünd Sogar Führern des Republikanischen Schutzbundes Mitspracherecht, und Schuschnigg nahm in sein letztes Kabinett, das er ausdrücklich als „überparteilich" bezeichnete, einen erklärten Sozialisten, nämlich Staatssekretär Watzek, auf. Viel erfolgreicher war dagegen das Drängen der Nationalsozialisten auf Mitspracherecht, da nach dem mißglückten Putschversuch im Juli 1934 infolge der zunehmenden Deckung der österreichischen Nationalsozialisten durch Deutschland Besprechungen in Gang gekommen waren, welche auf ein Ende det Bombenpolitik’ zügunSten eines evolutionären Weges hinauslaufen sollten. Hitler hat diesen doppelten Weg sehr gefördert. Die Kreise det sogenannten „betont Nationalen", welche die im Un-tetgründ gebliebene Partei unterstützten, umfaßten Starke Gruppen der sogenannten Katholisch-Nationalen, von denen etwa Hugeimann und Seyß-Inquart hervortraten. Der Einbau einer eigenen nationalen Gruppe in die Vaterländische Front konnte aber zunächst ebenso wenig geduldet werden wie der einer sozialistischen, da man damit das Gtundkonzept aufgegeben hätte
Außenpolitische Isolierung und innenpolitische Nazifizierung
Mit dem deutsch-österreichischen Abkommen vom 11. Juli 1937 über die Wiederherstellung normaler und freundschaftlicher Beziehungen zwischen beiden Ländern begann jedoch sehr rasch der Einfluß der Nationalen zu steigen, die nicht nur einen Sprechminister in Glaise-HOrstenau besaßen, sondern sich auch mittels der Kautschukparagraphen des Juli-Abkommens, die dauernde Interventionell des Dritten Reiches ermöglichten durchzusetzen* verstanden. Bezeichnenderweise ist schon 1937 entgegen dem Widerstand Schuschniggs durch ein sogenanntes „Volkspolitisches Referat", dessen Führung Seyß-Inquart im Rahmen der Vaterländischen Front übernahm, die Sektionierung der Vaterländischen Front eingeleitet worden. Aus diesem Gebilde ging die letzte Landesleitung der NSDAP im Untergrund hervor, welche die Machtübernahme grotesker-weise also mit Hilfe des Systems vorbereitete. Der Einheit der Regierung aber erwuchs auch in den Wehrverbänden, vor allem im Heimat-schutz, ein scharfer Gegner, der leicht in eine ähnliche Rolle wie die SA im Jahre 1934 hätte geraten können. Es ist nur Starhembergs Loyalität zu danken gewesen, daß dessen Wehrverbände nicht über Nacht entmachtet und die bewaffneten Garden in eine Miliz eingegliedert wurden, welche man dem Bundesheer unterstellt hätte, in dessen Oberkommando schon immer alle bewaffneten Formationen mit Mißtrauen betrachtet wurden
Eine besondere innen-und außenpolitische Komponente, die bei der Schilderung der Struktur des autoritären Regimes nicht übersehen werden darf, ist die von Dollfuß geförderte und von Schuschnigg, aber auch Star-hemberg, forcierte monarchistische Bewegung in Österreich gewesen. Gewachsen aus kleinen Vereinigungen und unterstützt von manchen Kreisen der Kirche waren die Monarchisten, denen man ebenfalls ein Traditionsreferat und damit eine Sektion zuteilen mußte, ein sehr wichtiger Faktor, weil sie als bewußte Kämpfer gegen den Nationalsozialismus und den . Anschluß'auftraten. Diese Gruppe stand aber in ihrem linken Flügel wieder im Gegensatz zu Schuschnigg, da Ernst Karl Winter, der aus ihren Reihen kam, ebenso wie Otto von Habsburg-Lothringen die Versöhnung mit der Arbeiterschaft im Rahmen einer kommenden sozialen Monarchie predigten. Daß diese Tendenzen des Regimes außenpolitisch die Schwächung der österreichischen Position beschleunigten, kann man aus deutschen Akten ebenso ersehen wie aus dem erschütternden Briefwechsel zwischen Otto von Habsburg und Schuschnigg am Vorabend der März-Ereignisse des Jahres 1938
Diese Überschneidung der verschiedensten Strömungen im Hintergrund, das Kräfteparallelogramm von außen-und innenpolitischen Komponenten, mußte zum Zusammenbruch führen, da 1937 Italien seine Hand von Österreich abzog, ja Mussolini, wie wir aus Cianos Tagebuch wissen, die Nazifizierung Österreichs gewiß nicht verhindern würde
Der 12. Februar 1938, mit dem plötzlichen Auftreten der Nationalsozialisten als kompletter Partei, zog, wie schon erwähnt, die Ansätze einer Teillegalisierung der Sozialdemokratie nach sich, und alle anderen Gruppen des einstmaligen österreichischen Nationalrates, einschließlich des Heimatschutzes, verlangten ihre Mitbestimmung an dem Geschehen der letzten Wochen Österreichs, wie man etwa aus Starhembergs Korrespondenz aus dem Schweizer Exil mit österreichischen Heimatfreunden und Hitler ersehen kann