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Zur Analyse von Drohpolitik in den internationalen Beziehungen | APuZ 26/1970 | bpb.de

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APuZ 26/1970 Bundeswehr und Friedenssicherung Zur Analyse von Drohpolitik in den internationalen Beziehungen

Zur Analyse von Drohpolitik in den internationalen Beziehungen

Dieter Senghaas

/ 77 Minuten zu lesen

Wie Krieg so wird auch Drohpolitik von vielen Autoren zu jenen politischen Praktiken gerechnet, die vor allem die internationale Politik kennzeichnen sollen Noch in den fünfziger Jahren war diese Vorstellung in den meisten „klassischen" Einführungen in die internationale Politik und die Theorie internationaler Beziehungen zu finden. Wenn jedoch heute Drohpolitik nicht mehr als eine gegebene, gleichsam fixe Größe internationaler Politik erscheint und wenn sie zumindest in einigen wissenschaftlichen Abhandlungen nicht mehr als unumstößliches Merkmal der Politik zwischen Staaten und Gesellschaften einfach hingenommen wird, dann ist dies sicher zum Teil ein Verdienst der Friedensforschung, in der Drohpolitik nicht nur registriert, sondern vielmehr unter verschiedenen Gesichtspunkten im Detail analysiert wird Die Untersuchung von Drohpolitik hat sich dabei für die Friedensforschung als besonders ergiebig erwiesen, weil die Thematik sich über verschiedene Ebenen der Analyse erstreckt und damit die Expertise mehrerer Disziplinen erforderlich macht. Darüber hinaus zeigt sich immer deutlicher, daß nicht nur die allgemeine Theorie internationaler Beziehungen von seifen der Friedensforschung neue Impulse erhalten hat sondern daß die Beschäftigung mit Drohpolitik auch für Gegenstandsbereiche von Bedeutung ist, die nicht unmittelbar mit internationalen Beziehungen etwas zu tun haben. Zu denken wäre hier an eine Vielzahl von innenpolitischen Konflikten, in denen Drohungen und Gegendrohungen zum Teil eine beachtliche Rolle spielen. Ich werde mich im folgenden jedoch auf die Analyse von Drohpolitik beschränken, insoweit sie sich auf außen-politische und international relevante Bedrohungsvorstellungen, Drohstrategien und auf Interaktionserscheinungen der internationalen Politik bezieht. Doch werde ich auf andere Bereiche, die nicht unmittelbar der internationalen Politik zuzurechnen sind, zurückgreifen, sofern sich in ihnen für das vorliegende Thema wichtige Erkenntnisse auffinden lassen.

I. Drei Grundfragen für die Untersuchung internationaler Beziehungen

INHALT I. Drei Grundfragen für die Untersuchung internationaler Politik II. Eine einfache Typologie internationaler Beziehungen III. Elemente einer Analyse von Abschreckungspolitik IV. Autismus und gesellschaftliche Wirklichkeit V. Abschreckungspolitik und autistische Feindschaft VI. Autismus, Realitätsprüfung und internationale Beziehungen VII. Aggressivität und Realitätsverlust Entscheidungsprozesse in Drohpolitik und Eskalation IX. Der Übergang von dissoziativer zu assoziativer Friedenspolitik X. Instrumٓ

Ehe ich mich mit der Analyse von Drohpolitik im allgemeinen und besonders mit Abschrekkungspolitik beschäftige, möchte ich zu Beginn wenige allgemeine Überlegungen zur Analyse von internationaler Politik formulieren, die sich später für eine differenzierte Untersu-chung von Drohpolitik noch als wichtig erweisen werden.

Ich möchte vorschlagen, daß wir bei der Analyse von internationaler Politik, gleichviel mit welchen Themen wir uns beschäftigen, wenigstens immer drei Grundfragen anfangs stellen: 1. Wie groß ist der Anteil realer Austausch-prozesse an den sogenannten internationalen oder transnationalen Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Staaten? Wir fragen hier also nach den an den einzelnen Staatsgrenzen — wenigstens prinzipiell — meßbaren Transaktionsströmen wie beispielsweise den Warenströmen (Import/Exporthandel; Kapitalverkehr), den Menschenströmen (Ein-und Auswanderung; Besuche und Tourismus-, Studentenaustausch) und den Informationsströmen (diplomatische Beziehungen; Geheimdienste; Teilnahme an internationalen Organisationen; Patente; Lizenzen u. a.). Für bestimmte analytische Zwecke kann es nützlich sein, solche Austauschprozesse in öffentliche und private zu unterteilen, was — wenn man darauf Wert legt — einer Unterscheidung von internationalen und transnationalen Beziehungen gleichkäme Wir nennen diese Art von Austauschbeziehungen wirklich, realistisch oder besser einfach real, weil es sich bei ihnen um Transaktionen handelt, die erkennbar Grenzen überschreiten und deren Einzel-und aggregative Bewegungen sich in Statistiken zu Buche schlagen Ihr Ursprungsland läßt sich meist genau bezeichnen; und nach erfolgter Transaktion sind sie greifbar in einem zweiten oder schließlich n-ten Land

2. Wir sollten immer die Frage stellen, welchen Anteil an internationalen Beziehungen Freund-und Feindbilder haben, also psychologische Prozesse, die internationale Beziehungen beeinflussen, ohne daß sie sich — dem Handel vergleichbar — an den GrenzÜbergängen von Staaten ohne weiteres immer messen ließen Auch solche psychologischen Prozesse sind prinzipiell meßbar, obgleich es bis heute kein UNO International Image Yearbook gibt, so wie es beispielsweise ein UNO International Trade StatistiCs Jahrbuch gibt. Doch die Frage, ob es sich bei diesen psychologischen Prozessen um Transaktionen im strengen Sinne handelt und ob sie nicht . Beziehungen'eigener Art darstellen, ist schwieriger zu beantworten. Auch ihr Ursprungsland läßt sich bezeichnen; doch ist ihre Transaktion in einen zweiten oder n-ten Staat weniger leicht faßbar und ihre Ankunft in einer Bezugsgruppe jenseits der Grenzen oft noch schwieriger greifbar, wenn auch — wie erwähnt — diese Prozesse einer detaillierten Analyse durchaus zugänglich sind Wie immer man sie analysiert, so sind doch psychologische Prozesse in den internationalen Beziehungen nicht mit den realen Austauschprozessen auf eine Stufe zu stellen.

3. Wir sollten uns bei der Analyse von internationalen Beziehungen immer die Frage nach der Symmetrie oder Asymmetrie von solchen Beziehungen stellen. Die meisten Theorien und Theoreme über internationale Beziehungen haben in den vergangenen Jahrzehnten diese grundlegende Differenzierung kaum berücksichtigt. Unsere analytischen Konzeptionen enthalten, meist implizit, die Annahme der Symmetrie von wechselseitigen Beziehungen (eine Neigung, die wahrscheinlich ein Über-bleibsel des Völkerrechts in der allgemeinen Analyse internationaler Beziehungen ist). Die politische, militärische, ökonomische und wissenschaftlich-technologische Diskrepanz zwischen den Nationen ist aber heute so groß, daß wir ohne die bewußte und ausdrückliche Berücksichtigung symmetrischer und/oder asymmetrischer Beziehungen zwischen Nationen nicht mehr auskommen wenn wir nicht ent-scheidende politische Realitäten in den internationalen Beziehungen verkennen wollen. Wir werden in der Beschäftigung mit internationalen Beziehungen in der Zukunft deutlicher erkennbar machen müssen, wann wir uns mit „topdog-topdog" -, mit „topdog-underdog" -, mit „underdog-topdog" -und schließlich mit „underdog-underdog" -Erscheinungen auseinandersetzen

II. Eine einfache Typologie internationaler Beziehungen

Tafel 1; Typen internationaler Beziehungen REALE BEZIEHUNGEN

Es ist nun meine These, daß Drohpolitik — wie im übrigen auch andere Formen internationaler Politik — verschiedenartige Entstehungsgründe und besonders Verlaufsformen je nach der Kombination der drei genannten Dimensionen internationaler Beziehungen annimmt. Um diese These zu verdeutlichen, scheint es mir sinnvoll, einige denkbare Kombinationen von realen Austauschprozessen und psychologischen Prozessen (in der Art einer Kreuztabelle) aufzuzeigen. Ich gliedere dabei die realen Austauschbeziehungen in solche, die eine beachtliche Größe annehmen (hohe), und jene, die weniger relevant sind (niedrige), und schließlich solche, die nur in einem ganz minimalen Ausmaße oder gar nicht existieren. Diese Bestimmungen ließen sich in einer empirischen Untersuchung durchaus operationalisieren, beispielsweise indem man einheitliche oder nach der Größe von Nationen differenzierte Schwellenwerte des Anteils des Außenhandels am Bruttosozialprodukt oder der Außeninvestitionen an den gesamten Inneninvestitionen und dgl. festlegen würde

Gleichermaßen sollen die psychologischen Prozesse in drei Intensitätsgrade (die manchmal mit Häufigkeitsgraden übereinstimmen können) unterteilt werden: in intensive, schwache und keine Feindbilder und dazu parallel in keine, ambivalente und schwache Freundbil-der. Die Bezeichnung des Intensitätsgrades der Freundbilder entspricht nicht — jeweils im umgekehrten Sinne — präzise derjenigen der Feindbilder, da es in der internationalen Politik zwar intensive Feindbilder gibt, jedoch kaum vergleichbar intensive Bilder der Zusammengehörigkeit und Loyalität. Die Loyali-Anmerkung:

Der Tafel liegt die Annahme symmetrischer Beziehungen zwischen Staaten zugrunde tät zwischen Nationen scheint, bestenfalls, eher korrekt als besonders innig zu sein

Wenn wir nun den besonderen Fall von einigermaßen gleichgewichtigen und symmetrischen Beziehungen unterstellen, so erhalten wir aus der Kombination der in drei Stufen geteilten realen und psychologischen Beziehungen formal neun, in Wirklichkeit acht Typen von internationalen Beziehungen, die sich nach dem Mischungsverhältnis von realen und psychologischen Komponenten unterscheiden. Tafel 1 verdeutlicht die neun bzw. acht kombinatorischen Möglichkeiten. Würden wir die realen Austauschbeziehungen in symmetrische und asymmetrische unterteilen, so würden sich schon insgesamt 18 denkbare Typen ergeben; sollten wir auch die Feind-und Freundbilder in symmetrische und asymmetrische unterteilen, so hätten wir schon eine — ganz und gar nicht unrealistische Zahl von 36 Typen internationaler Beziehungen erreicht. Eine solche Aufgliederung wäre jedoch für die nachfolgende Analyse wenig fruchtbar.

Wenn man Tafel 1 unter dem Aspekt von Drohpolilik betrachtet, so zeigen sich zwei Extremtypen Der eine Typ internationaler Beziehungen Kooperation enthält nur wenige Elemente von Drohpolitik (als Beispiel können die Beziehungen zwischen den nordischen Staaten gelten), während der zweite Extrem-typ Abschreckung Drohpolitik in einem übersteigerten Sinne repräsentiert (wie die Abschreckungskonstellation zwischen den USA und der Sowjetunion illustrieren mag). Die verbleibenden sechs Typen (Routine, Indifferenz, zwei Typen von Koexistenz, Kompetition und konfliktträchtige Verflechtung) enthalten je nach dem Mischungsverhältnis von realen Austauschbeziehungen und der Intensität von Feind-bzw. Freundbildern verschiedene Intensitätsgrade von Drohpolitik. Die verbleibende Größe „Leerpaare der internationalen Politik" repräsentiert zwar gerade keine Beziehungen, doch verkörpert sie einen guten Teil dessen, was das System internationaler Beziehungen ausmacht. Das mag paradox erscheinen, doch ist darin ein wichtiges Merkmal dieses Systems zu sehen

Wenn man nun die verschiedenartigen Entstehungsgründe, Verlaufs-und Ausdrucksformen von Drohpolitik untersuchen möchte, vor allem den Stellenwert, den Drohpolitik in den einzelnen Typen von internationalen Beziehungen einnimmt, so erweist sich die Analyse einer der Extremsituationen, nämlich der Abschreckungskonstellation, als besonders aufschlußreich. Denn aus ihrer Analyse lassen sich nicht nur — wie ich zeigen möchte — Erkenntnisse über Abschreckungspolitik im engeren Sinne gewinnen, sondern auch Einblicke in spezifische Merkmale der internationalen Politik überhaupt. Während das Abschreckungssystem, wie es heute zwischen den beiden Großmächten sowohl aus ideologischen als auch aus waffentechnologischen Gründen eine — fast könnte man sagen -— idealtypische Grenzkonstellation darstellt, so kann uns doch gerade die Analyse einer solchen, in vieler Hinsicht extrem auf Drohpolitik und Konflikt angelegten Beziehungsstruktur über weniger extreme Konstellationen, in denen also das Mischungsverhältnis von Konflikt und Kooperation ausgewogener ist, wichtige Informationen und Einsichten vermitteln. In diesem Sinne hat eine solche Analyse einen allgemeinen heuristischen Wert.

Im übrigen kommt der Analyse der gegenwärtigen Abschreckungspolitik eine bleibende Bedeutung zu, solange eine solche Politik mit hoher politischer Priorität von beiden Großmächten und ihren Verbündeten — bei aller Auflockerung der Bipolarität — weiterhin verfolgt wird. Dabei wäre folgendes zu bedenken: Beschäftigen wir uns heute mit Abschreckungspolitik, dann nicht zuallererst, um einzelne tagespolitische Aspekte dieser Politik noch einmal zu diskutieren, sondern um langfristig wirksame Kräfte zu erfassen, die, je länger Abschreckungspolitik verfolgt wird, um so mehr die oft wechselvollen tagespolitischen Ereignisse mitprägen. Wir fragen uns also heute eher nach den allgemeinen Merkmalen dieser Politik und ihren Folgeerscheinungen, um ein realistisches Bild über sie zu erhalten, als daß wir uns mit den Details ihrer Modalitäten beschäftigen. In einer umfassenderen Analyse müßten natürlich beide Arten der Analyse: jene, die sich mit einigermaßen dauerhaften Merkmalen und Ausprägungen dieser Politik auseinandersetzt, und jene, die sich mit der oft wechselvollen Ausübung von Abschreckungspolitik beschäftigt, zusammenfallen. In der nachfolgenden Diskussion möchte ich überdies auf eine zentrale kritische Größe internationaler Politik aufmerksam machen: die Probleme der Realitätsprüfung in internationalen Beziehungen, die bisher wenig systematisch analysiert worden sind. Die Ausmaße und Formen von Realitätsprüfung in der internalitionalen Politik variieren nicht nur hinsichtlich der in Tafel 1 dargestellten Typen internationaler Beziehungen (d. h. also je nach dem Mischungsverhältnis von realen Transaktionen und psychologischen Komponenten); sie stellen auch einen analytischen Schlüssel zum Verständnis von Drohpolitik in ihren extremen wie auch gemäßigten Ausdrucksformen dar.

Doch beginnen wir mit der Diskussion einiger Elemente einer Analyse von Abschreckungspolitik und von extremer Drohpolitik im allgemeinen

III. Elemente einer Analyse von Abschreckungspolitik

Abbildung 5

1. Das erste Merkmal, mit dem sich Abschrekkungspolitik charakterisieren läßt und das ihre gesamte Programmatik heute durchzieht, besteht in dem grundlegenden Paradoxon, daß mit Abschreckungspolitik offene Gewaltanwendung und Kriege gerade durch die laufende Vervollkommnung der Kriegsmittel verhindert werden sollen. Es ist eine Politik, die ständig mit dem Ernstfall — dem Ausbruch von kriegerischen Konflikten — rechnet und in der die Vorbereitungen auf den Krieg zu einem Dauerzustand werden. Der Krieg überschattet in dieser Politik alles gesellschaftliche Leben, weil ja gerade seine politisch-propagandistische Vorwegnahme und die für die Glaubwürdigkeit von Abschreckungspolitik erforderlichen organisatorischen und psychischen Konsequenzen aus einer solchen Antizipation als Bedingung seiner Eindämmung begriffen werden Der Versuch, mit Abschreckungspolitik den Krieg zu verhindern, führt nicht nur möglicherweise, oder mit hoher Wahrscheinlichkeit, sondern notwendigerweise zu dessen umfassender Vorbereitung Die seit spätestens dem Ersten Weltkrieg problematische Trennung von Krieg und Frieden wird mit der Entwicklung von Abschreckungspolitik vollends hinfällig, da angespannte Kriegsvorbe-* reitung als Grundlage der Effizienz dieser Politik erscheint. Wird Friedenspolitik unter den Prämissen angestrengter Kriegspolitik betrieben, so ist die Herausbildung von starren Feindschaftskonstellationen kaum vermeidbar. Doch deutlicher wird dies noch in den folgenden Merkmalen von Abschreckungspolitik: 2. Glaubwürdige Abschreckungspolitik ist nur praktikabel im Rahmen eines einigermaßen umfassenden Gewaltspektrums, das heißt auf der Grundlage von nach Intensitätsgraden abgestuften und differenzierten Gewaltapparaten. Die Geschichte der Abschreckungspolitik ist begleitet von dem ständigen Hinweis auf mögliche katastrophale Lücken in den Abschrekkungsdoktrinen und Abschreckungsapparaten, die, sollten sie bestehen bleiben, der potentielle Gegner für sich ausbeuten könne, wenn er nur wolle. Diese Doktrin zukünftiger katastrophaler Lücken beruht auf der ständig wiederholten Unterstellung der schlechtesten aller möglichen Absichten beim Gegner und gleichzeitig seiner besten Fähigkeiten in der Entwicklung von neuen militärischen Strategien und Waffentechnologien. Für die Abschreckungspolitik, wie sie sich in den letzten 20 Jahren entwickelt hat, sind die beispiellosen Differenzierungen in den politischen und kriegerischen Konflikterwartungen nicht zufällig.

Der Zwang zur Suche nach immer neuen möglichen Lücken in den eigenen Apparaten, nach immer neuen möglichen Entwicklungen auf der Gegenseite, nach möglichen Gefahren in zehn und zwanzig Jahren kann nicht nur durch die tatsächlich fortschreitenden technologischen Entwicklungen der subkonventionellen, der konventionellen und der nuklearstrategi-sehen Waffenarsenale und Waffensysteme erklärt werden auch nicht allein durch den technologischen Zwang zur frühzeitigen und vorbeugenden Planung für denkbare Ernstfälle sondern zu einem guten Teil nur durch die Art und Weise, in der Abschrekkungspolitik als eine politische Handlungsorientierung selbst wirksam werden kann. Denn eine Abschreckungspolitik, würde sie sich nur auf einen Ausschnitt des politisch denkbaren und technisch möglichen Konfliktspektrums konzentrieren — also beispielsweise nur auf konventionelle Waffenpotentiale und nicht auf taktische oder strategische Waffensysteme und nicht auf nukleare —, würde leicht nach ihren eigenen Prämissen unglaubwürdig werden Noch im August 1969 rechtfertigte der amerikanische Verteidigungsminister Laird beispielsweise die amerikanische Produktion von chemischen und bakteriologischen Waffen eben mit Gründen angemessener Abschreckung

Der Grund hierfür ist einfach. Würde in einem nur teilweisen Abschreckungssystem der Gegner die ausgesparten Konfliktstufen — also beispielsweise auf der Ebene konventioneller Kriegsführung — nicht für sich ausbeuten, würde der Gegner sich in jenen Bereichen friedfertig zeigen, in denen er nicht mit Waffenapparaten abgeschreckt wird, so würde die Glaubwürdigkeit der Abschreckungspolitik, die von der Existenz eines immer potentiell aggressiven Gegners abhängt, untergraben. Das heißt, auf der Entwicklungshöhe der heute bestehenden und denkbaren Waffenpotentiale erscheint Abschreckungspolitik nur als glaubwürdig, wenn sie in einem breiten Spektrum angedrohter Vergeltung betrieben wird. Ein teilweises Abschreckungssystem, das sich konzentriert auf die Abschreckung eines einzigen Konflikttyps beschränkte, könnte leicht dazu beitragen, die Legitimation oder auch nur die Plausibilität von Abschreckungspolitik insgesamt zu untergraben. Ein leidlich umfassendes Abschreckungssystem garantiert demgegenüber, daß der Gegner immer in der Rolle des Aggressors bleibt. In potentiellen fixiert einem wechselseitig umfassenden Abschrekkungssystem wie dem zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten erscheint gewissermaßen symmetrisch der eine dem andern ständig als möglicher Aggressor.

Den besten Ausdruck findet diese Situation in der Doktrin der Eskalation, in der in einer Version 44 Intensitätsstufen internationaler Konflikte unterschieden wurden, inklusive 20 Typen von Nuklearkriegen Diese Eskalationsleiter reicht von diplomatischen Aktionen im herkömmlichen Stil über subversive oder propagandistische Manöver, den verschiedenen Formen konventioneller und taktisch-nuklearer Kriege bis zu den heute für möglich und denkbar gehaltenen vielfältigen Spielarten thermonuklearer-strategischer sowie chemischer und biologischer Kriegführung. Obgleich diese Vielfalt von Kriegstypen und die ihnen zugeordneten, in ihrer Zerstörungskapazität auf allen Ebenen ungeheuerlichen Waffenapparate „nur" zur Abschreckung des potentiellen Gegners dienen sollen, darf doch nicht übersehen werden, daß die strategische Diskussion der vergangenen 20 Jahre dazu geführt hat — wie einer ihrer prominentesten Vertreter, Herman Kahn, formulierte —, wieder über das Undenkbare denken zu lernen, das heißt nicht nur konventionelle Kriege als immer noch sinnvoll und praktikabel zu propagieren, sondern auch eine Reihe von Typen nuklearer Kriege als nicht nur denkbare und mögliche, sondern gegebenenialls sinnvolle politische Gewalthandlungen zu begreifen

Was also vor zwanzig Jahren, angesichts des ersten gezielten punktuellen Einsatzes nuklearer Waffen, für die zukünftige politische Praxis für undenkbar galt: die Definition dieser neuen Waffen als Instrumente der Politik, ist heute dem Bereich des Undenkbaren entrissen. Das Bild des zivilisationsvernichtenden Nuklearkrieges gilt heute in der strategischen Diskussion als veraltet. Nukleare Kriege wie konventionelle erscheinen als auffächerbar und als mögliche Mittel der Politik. Nach Her-man Kahns abwegigen Vorstellungen werden bei entsprechenden Vorbereitungen die überlebenden eines solchen Krieges die Toten nicht beneiden!

Nun mag es sein, daß man solche Überlegungen wie die Kahns und anderer Strategen weniger ernst nehmen und vielleicht als Hirngespinste übersehen sollte, vor allem, wenn man den beschränkten Realismus eines solchen Denkens und Planens berücksichtigt. Doch es bleibt eine nicht weg zu diskutierende Tatsache, daß auf der Grundlage dieser und ähnlicher — innenpolitisch wirksamer — Überlegungen die Militärplanung der fünfziger und sechziger Jahre beruhte, und im Augenblick hat es nicht den Anschein, daß solche phantastischen Prämissen etwa einer kritischen Über-prüfung unterzogen würden; schon gar nicht steht ihre Revision in Aussicht.

3. Eng verklammert ist mit den schon erwähnten Merkmalen die der Abschreckungspolitik eigentümliche Tendenz, mehr Konflikt-möglichkeiten wahrzunehmen als wahrscheinlich sind (overperception), übermäßig auf diese Wahrnehmung in den eigenen Vorbereitungen auf mögliche Kriegsfälle zu reagieren (overreaction) und immer konservativ für den schlimmsten Fall zu planen (overdesign). Die politische Denk-und Handlungsstruktur ist so einfach wie folgenschwer: In der politischen Analyse und in der Praxis erscheint der Gegner nicht nur mit technisch fortgeschrittenen Waffensystemen ausgestattet; man unterstellt ihm überdies den Willen und die Absicht, Risiken einzugehen, die man selbst — würden sie von der eigenen politischen Führung verfolgt — für wahnsinnig halten würde. Man neigt von einer solchen Prämisse her dazu, nicht auf Tatsachen zu reagieren, sondern auf Eindrücke und Meinungen, die dann alsbald in einer Weise die Wirklichkeit gestalten, so als ob die „Reaktion" anfänglich auf reale und nicht nur auf vorgestellte Tatsachen sich bezogen hätte. Dieser folgenschwere Mechanismus ist in seiner ganzen Tragweite beispielsweise von McNamara am Ende seiner Amtszeit eingestanden worden, und inzwischen haben viele Analysen, die im Zusammenhang der ABMund MIRV-Diskussion entstanden sind, auf ihn wieder und wieder aufmerksam gemacht 4. Die Abschreckungspolitik ist in diesem Sinne eine Politik umfassender präventiver Notstandsmaßnahmen für denkbare und mögliche internationale Konflikte. Sie lebt in der Erwartung der schlimmsten aller Möglichkeiten. Dabei überlebt sie nur durch eine laufend neu zu schaffende Legitimierung. Ihre sozialpsychologische Rechtfertigung gewinnt sie durch die Propagierung von teilweise intensiven Feindbildern, die ihrerseits wiederum, direkt oder indirekt, das Spektrum möglicher Konflikterwartungen bestimmen. Der „Antiimperialismus" in der Sowjetunion und der mehr oder weniger latente oder manifeste „Antikommunismus" im Westen haben hier spiegelbildliche Funktionen. Auf der Basis von Feindbildern, die in ihren Intensitätsgraden durchaus wellenförmig variabel sein können (wenn Perioden intensiver Feindbilder abgelöst werden von Perioden entspannter Feindbilder), läßt sich jegliche Verteidigungsmaßnahme potentiell rechtfertigen Darüber hinaus erzwingt die Existenz ungeheuerlicher Zerstörungspotentiale zumindest punktuell äußerst intensive Feindbilder. Denn soll die eigene Androhung solcher ungeheuerlichen Gewalt nicht unmenschlich und amoralisch sein, muß der Gegner — wenn nötig — wie ein Krimineller erscheinen. Totale Zerstörungspotentiale erfordern tendenziell den totalen Feind, sollen sie nicht total unmenschlich sein. Es ist eine wenig artikulierte, doch insgeheim äußerst wirksame Dialektik, die hier zum Tragen kommt, und die Verteidiger von Abschreckungspolitik neigen dazu, immer dann furchterregende Feindbilder neu zu propagieren, sobald die Rationalität ihrer Politik in Frage gestellt wird oder eine neue mögliche Stufe des Rüstungswettlaufes abzusehen ist. 5. Früh in der Geschichte der Abschreckungspolitik haben politische Analytiker die Bedeutsamkeit der psychologischen und moralischen Unterstützung dieser Politik durch weite Teile der Bevölkerung erkannt. Es wurde sehr schnell klar, daß die Wirksamkeit von Abschreckung weniger in den technischen Apparaten als in der Bereitschaft, gegebenenfalls die äußersten Mittel einzusetzen, besteht. Da Abschreckungspolitik eine Psychostiategie ist, sind Waffensysteme ohne den deklarierten Willen zu ihrem eventuellen Einsatz unglaubwürdig. Diese Hintergrundbedingung glaubwürdiger Abschreckungspolitik erzwingt nun aber tendenziell die psychologische Militarisierung der Abschreckungsgesellschaften

Abschreckungspolitik erscheint auf dieser Grundlage als eine seltsame Mobilisierung und gleichzeitige Eindämmung gesellschaftlicher Aggressivität, als eine Symbiose von Angst und Gewalt. Die durch sie produzierte Angst und Gewaltbereitschaft ist nicht ein ärgerliches Nebenprodukt, sondern hat im Rahmen dieser Politik funktionalen Wert. Ohne die Mobilisierung von Angst, Furcht, Gewalt-bereitschaft und Aggressivität würde Abschreckungspolitik leicht ihre Plausibilität verlieren. Indem Abschreckungspolitik in der Tendenz einsatzfähige und einsatzbereite Gesellschaften erfordert, gleicht sie jedoch in ihrer Konsequenz einer Erziehung zum Unfrieden. Die Folgen für die Entwicklung von rigiden Feindschaftsstrukturen liegen bei diesem Merkmal auf der Hand. 6. Doch nicht nur diese Folgeerscheinung gehört zu den großen Fragwürdigkeiten dieser Politik. Die ihr eigentümlichen Schwächen bilden zum Teil auch die Grundlage für ihre laufende Fortentwicklung; sie lassen sich von einer anderen Beobachtung her erläutern. Abschreckungspolitik soll die militärische Umwelt stabilisieren, das heißt, den Ausbruch von tatsächlichen Gewalthandlungen verhindern helfen. Sie soll darüber hinaus stabilisierende Rückwirkungen auf das politische Verhalten ihrer Verfechter und Gegner haben

Nun ist Abschreckungspolitik Drohpolitik. Mit Drohpolitik ist aber niemals langfristig Stabilität zu erreichen. Jede konsequent verfolgte Drohpolitik hat Stabilität untergrabende Wirkungen auf jeder einmal erreichten Ebene wechselseitiger Abschreckung, da die jeder Abschreckungspolitik zugrunde liegenden Feindbilder und die sie charakterisierenden Motivationen wie Furcht, Mißtrauen, Feindschaft sowie mobilisierte und gleichzeitig eingedämmte Aggressivität jede erreichte Entwicklungshöhe von Waffensystemen immer schon als veraltet erscheinen lassen und überdies einer an möglichen Konflikterwartungen orientierten Politik Weiterentwicklung und anhaltendes Wachstum garantieren. Darüber hinaus ist Drohpolitik elementaren psychologischen Gesetzen unterworfen. Sie verliert, wie jede Drohung, an Glaubwürdigkeit, wenn nicht gelegentlich angedrohtes Verhalten auch praktiziert wird, um Drohpolitik als solche wieder zu bestätigen. Man muß, wenn man Abschreckungspolitik analysiert, in diesem Zusammenhang auch die Krisen-und Kriegs-aktivitäten der Großmächte in der Dritten Welt sehen. Die in der Nordhälfte der Erde im Rahmen des Abschreckungssystems nur latent pulsierende Gewalt zeigt offen ihre Brutalität in der Beziehung der Großmächte, vor allem auch Amerikas, zur Dritten Welt Der Vietnam-Krieg, so irrsinnig und mörderisch er ist, stellt nur ein Beispiel von vielen Möglichkeiten offener interventionistischer Politik dar, die ihrerseits auf das Wachstum von Abschreckungspolitik positiv und verstärkend zurückwirkt und, obgleich in einem anderen Bezugsrahmen sich abspielend, zur Rationalisierung von Abschreckungspolitik beiträgt.

Verstärkend wirkt auf diese Eigendynamik von Drohpolitik auch die ununterbrochene, systematisch geplante und organisierte Innovation von Militärtechnologie, die gerade auch unter entspannten politischen Bedingungen einmal erreichte „Stabilitätsniveaus" in Frage zu stellen tendiert 1. Die Tragweite von Abschreckungspolitik läßt sich erkennen, wenn man bedenkt, wie wenig in dieser Politik Zweck und Mittel unterschieden werden können. Dies hängt damit zusammen, daß Abschreckungspolitik eine spezifische stereotype politische Intelligenz fördert, die die Wirklichkeit unter Drohperspektiven erfaßt und auf die laufende Neustrukturierung dieser Wirklichkeit im Sinne der Drohpolitik einwirkt. Die politische Definition der Realität ist in dieser Politik verklammert mit Mitteln und Strategien, die die Bestimmung dessen, was wirklich ist, gleichermaßen produzieren, wie sie diese widerspiegeln.

In diesen zirkulären Rückkoppelungsprozessen zwischen sich wechselseitig unterstützenden stereotypen Wahrnehmungen und einer politischen Praxis, die im wesentlichen sich immer nur selbst bestätigt (da eine negative Politik wie Abschreckungspolitik eine unzweideutige Erfolgskontrolle nicht erlaubt), ist der Kern einer enormen, die Abschreckungspolitik kennzeichnenden Lernpathologie zu suchen. Nun ist ein lernoffener Realitätsbezug und eine echte praktische Erfolgskontrolle die Basis jeder rationalen Politik. Das gefährliche an der Abschreckungspolitik ist also darin zu sehen, daß nicht nur die Fähigkeit zu angemessener Realitätsprüfung im Rahmen dieser Politik untergraben wird, und damit politische Selbsttäuschung, Verblendung und Blindheit mit möglicherweise katastrophalen Folgen gefördert wird sondern daß eine durch fiktive Konflikterwartungen und paranoide Feindbilder gehemmte und eingeschränkte Wirklichkeitserfassung Hand in Hand geht mit riesigen Zerstörungspotentialen und einer im Grunde genommen unkritisch affektorientierten, kollektive psychologische Aggressionsreservoirs manipulierenden politischen Strategie.

Wenn wir eines hinsichtlich des Ausbruchs von tatsächlicher Aggression jedoch wissen, dann dies, daß die Wahrscheinlichkeit von Gewalthandlungen immer dann sich erhöht, wenn eine reduzierte kritische Realitätsprüfung aufgestauten Aggressionen blind freien Lauf läßt und eine wachsende Selbstbezogenheit zu einem Verlust von Selbstkontrolle und zur Mißachtung umfassender Realitätsbezüge führt. Die Geschichte ist voll von Beispielen, in denen politische Eliten und Völker sich geistig und emotional in einem Maße über sich selbst und ihre Umwelt täuschten und, wie Süchtige, Gefangene ihrer selbst wurden, daß nur noch katastrophale Niederlagen einen realitätsangemessenen Bezug zur Wirklichkeit wieder herzustellen vermochten. Ich werde auf diese Probleme später eingehender zurückkommen. 8. Die bisher erwähnten Merkmale der Abschreckungspolitik lassen sich mit dem soziologischen oder psychologischen Begriff des Autismus zusammenfassen. Autistisch oder extrem selbstbezogen nennen wir dabei in einem latenten oder manifesten Konfliktfeld, gerade auch in der internationalen Politik ein Kommunikationsmuster, in welchem die Umwelt-bilder, wie sie im Innensystem eines Akteurs entstehen, die tatsächlichen realitätsadäquaten Informationen aus der Umwelt selbst überwiegen. mehr sich, aus welchen Gründen Je auch immer, diese Selbstbezogenheit weiterentwickelt, um so blinder und tauber wird ein Akteur gegenüber seiner Umwelt. Er begibt sich dabei, je länger um so mehr, in einen Teufelskreis, der eine Selbstkorrektur dieses Handelns und damit eine Korrektur der eigenen frühen Wahrnehmungen der Absichten des so-genannten Gegners immer schwieriger, wenn nicht unwahrscheinlicher macht. Die aus anderen Quellen in einem Akteur aufgestauten Aggressionen, beispielsweise jene, die aus der Art und Weise der Erziehung, der Arbeitsgestaltung und der Familienstruktur sich ergeben, können dann leicht auf den soge-nannten Gegner projiziert werden. Der Konflikt in einem autistischen Kommunikationssystem nimmt dann eine Schärfe an, die durch die Absichten und das wirkliche Verhalten der jeweiligen Gegenspieler in der internationalen Politik nicht mehr zu erklären ist. Mit wachsender Selbstbezogenheit werden Konflikte dann nicht nur fiktiver, sondern auch potentiell virulenter, und ihre Dynamik läßt sich immer weniger aus dem interaktiven Zusammenspiel der Gegner verstehen. Sie wird in wachsendem Maße dann nur noch begreifbar aus der im jeweiligen Akteur entwickelten, in autistischer Abgeschlossenheit produzierten, potentiell aggressiven Eigendynamik.

Abschreckungspolitik, wie sie zwischen den beiden Großmächten praktiziert wird, läßt sich heute nur noch als autistisch kennzeichnen. Die Rüstungskomplexe in Ost und West sind zwar lose aufeinander bezogen, doch ihr wirkliches Wachstum wird heute hier und dort autonoin in den jeweiligen Abschreckungsgesellschaften bestimmt. Das mag zu Beginn der Geschichte des Kalten Krieges in der Tat anders gewesen sein. Doch heute würden wir die politische Realtität verkennen, wenn wir das Abschreckungssystem als ein System mit hoher Interaktionshäufigkeit zwischen der Sowjetunion und den USA interpretieren würden. Was sich heute im Abschreckungssystem bemerkbar macht, könnte man viel eher als Schumpeter-Effekt bezeichnen.

Joseph Schumpeter hat in einer berühmten soziologischen Abhandlung 1919 die These vertreten, daß in der Geschichte der Menschheit Neigungen zur gegenstandslosen Expansion ohne bestimmte utilitaristische Ziele, daß heißt also nicht-rationale oder rein irrationale Neigungen zu Krieg und Eroberung eine große Rolle spielten Es scheint paradox, so schrieb er, daß zahllose Kriege, vielleicht die Mehrzahl aller Kriege, ohne zureichenden Grund geführt worden sind, nicht so sehr von einem moralischen Gesichtspunkt her gesehen als aus dem Blickwinkel eines überlegten und vernünftigen Selbstinteresses. Seine Erklärung dieser objektlosen Aggressivität suchte er in psychologischen Dispositionen und sozialen Strukturen, die vielleicht auf einer frühen Phase der Geschichte eines Staates einmal nötig waren, um auf eine tatsächlich existierende auswärtige Bedrohung zu antworten; die sich jedoch am Leben erhalten würden, lange nachdem sie ihre objektive Bedeutung und ihre lebensbewahrenden Funktionen verloren hätten

Das zentrale Argument Schumpeters war eine Theorie sozialen Lernens: um Herausforderung angemessen zu beantworten, entwickeln Nationen und Eliten oft organisationsintensive Strategien, die es ihnen später wiederum schwer machen, sich neuen Aufgaben zuzuwenden Sie verschreiben sich noch zu einem Zeitpunkt einer Strategie, zu dem diese schon längst ceaenstandslos und überholt ist. Ihre riesin n ohiektiv funktionslosen Rüstungs-komplexe entwickeln dann eine eigene Wachstumsdynamik.deren Richtung und Geschwindiqkeit in keinem Zusammenhang mehr steht mit der ursprünglichen, vielleicht realen Bedrohuna. Was Schumpeter 1919 beobachtete, * ist gewissermaßen das soziologische Substrat der erwähnten autistischen Selbstbezogenheit von Abschreckungspolitik.

Gerade die jüngste Rüstungsdiskussion über neue Defensiv-und Offensivsysteme in Ost und West hat gezeigt, wie sehr die jeweilige Eigendynamik der Rüstungskomplexe den trotz Koexistenzparolen immer noch äußerst intensiven Rüstungswettlauf bestimmen. Sie haben ein weiteres demonstriert: nämlich in welche Lernpathologie die Abschreckungspolitik sich selbst hineinmanövriert hat. Wir nennen dabei lernpathologisch in diesem Zusammenhang jene politischen Prioritäten, strategischen Orientierungen, institutionellen und organisatorischen Gebilde und Systeme internationaler Beziehungen, die durch weitere Investitionen nicht zur Auflockerung in internationalen Konfliktfronten oder zur Überwindung alter Konflikte führen, sondern zur Verhärtung und Verschärfung überkommener, und die darüber hinaus dazu neigen, neue gefährliche Konflikte in fast systematischer Regelmäßigkeit zu produzieren. Abschreckungspolitik ist in dem Sinne pathologisch, daß — einmal begonnen — sie sich ständig in einem Zirkel sich selbst erweiternder Abschreckungspolitik bewegt.

Ehe ich mich noch einmal ausführlicher mit der für meine Überlegungen zentralen Konzeption des Autismus beschäftige, möchte ich zunächst noch ein weiteres Merkmal von Abschreckungspolitik umreißen: 9. Für das Verständnis der diesseits und jenseits der Fronten autonom sich entwickelnden Trägheitsmomente von Abschreckungspolitik und der Zählebigkeit des „Schumpeter-Effekts" ist die Verschränkung der Existenz einer Machtelite und einer inkrementalistischen politischen Willensbildung entsprechender, an Abschreckungspolitik beteiligter, Gruppen von zentraler Bedeutung. Diese Verschränkung gilt vor allem für die USA, wo sie sich relativ einfach nachweisen läßt.

Es ist zu vermuten, daß — wenn auch im Detail verschieden — ähnliche Vorgänge in der Sowjetunion sich feststellen lassen; die Forschung darüber ist jedoch äußerst unbefriedigend. Das entscheidende Merkmal der soziologischen Basis von Abschreckungspolitik — und wahrscheinlich jeder ausgedehnten Rüstungspolitik — ist ihr pluralistischer, das heißt auf der Mitwirkung vieler Gruppen beruhender Entscheidungsprozeß, dessen Beteiligte jedoch, trotz aller Gruppenvielfalt, eine Machtelite bilden deren Kohärenz sich durch den engen inhaltlichen Toleranzspielraum in substantiellen strategischen Grundorientierungen (beispielsweise Abschreckungspolitik vs. Abrüstungspolitik) konstituiert.

Die Zählebigkeit von Abschreckungspolitik erklärt sich eben genau nicht aus einem wie immer gearteten „Verschwörungszusammenhang", sondern aus dem verflochtenen Zusammenspiel vielfältiger einflußreicher Gruppen in der Politik, Wirtschaft, der Arbeiterbewegung, dem Militär, der Wissenschaft und vor allem auch den Massenmedien. Ja es läßt sich in der Geschichte der Abschreckungspolitik geradezu beobachten, wie aus kompetitiven Auseinandersetzungen über die Modalitäten dieser Politik ihre innenpolitische (soziologische) Basis sich aufgliederte und erweiterte, so daß heute eine größere Zahl von Gruppen und mehr Menschen von einer Veränderung dieser Politik betroffen wären als zu Beginn ihrer Geschichte oder noch vor zehn Jahren, (was übrigens einen einfachen operationalen Test über die Existenz oder Nichtexistenz eines Rüstungskomplexes darstellt.) Wollte man neben dieser allgemeinen soziologischen Basis, die sich allein schon durch die Größe der durch Abschreckungspolitik mobilisierten menschlichen und wirtschaftlichen Ressourcen ergibt, spezifische Interessen umschreiben, die ein ganz besonders partikulares Interesse an der Perpetuierung von Abschreckungspolitik haben, dann wäre auf das Militär, auf die Rüstungsindustrie und die von ihr abhängigen Menschen in Industrie, Wissenschaft und Massenmedien, auf Teile des politischen Establishments und der Administration hinzuweisen, vor allem jedoch auf den Trend, daß eine Privatwirtschaft heute in den fortgeschrittensten Bereichen der Technologie Forschungs-und Entwicklungskosten nicht mehr aus eigenen Kräften aufbringen kann, diese im Grunde genommen sozialisiert sind, während die Profite weiterhin privatisiert bleiben (was Galbraith konsequenterweise jüngst zu der Forderung nach Verstaatlichung dieser Rüstungsindustrie veranlaßt hat). Diese Aspekte der politischen Ökonomie von Abschreckungspolitik sind jedoch an anderer Stelle ausführlich diskutiert worden

Ehe ich versuche, die genannten Elemente einer Analyse von Abschreckungspolitik modellartig zusammenzufassen, möchte ich jedoch auf die kurz gestreifte Konzeption des Autismus und insbesondere autistischer Feindschaft näher eingehen, da in dieser Konzeption der analytische Schlüssel zum Verständnis einiger wesentlicher Aspekte internationaler Beziehungen, vor allem unter den Bedingungen von Drohpolitik und von Spannung, Feindschaft, Krisen und Konflikten zu sehen ist.

IV. Autismus und gesellschaftliche Wirklichkeit

Abbildung 6

Da die Konzeption der autistischen Feindschaft und des Autismus im allgemeinen bisher — soweit ich sehe — weder in der allgemeinen Theorie internationaler Politik noch in der Friedensforschung diskutiert worden ist, und um Mißverständnisse nicht aufkommen zu lassen, möchte ich auf die schrittweise Einführung des Begriffs, zunächst in die psychologische Terminologie und später in die Sozialpsychologie und Soziologie hinweisen Bleuler, von dem der Begriff stammt verstand un-ter autistischem Denken ein Denken, „das keine Rücksicht nimmt auf die Erfahrung und das auf eine Kontrolle der Resultate an der Wirklichkeit und eine logische Kritik verzichtet, d. h. das also analog und in gewissem Grade geradezu identisch ist mit dem Denken im Traume und dem des autistischen Schizophrenen, der, sich um die Wirklichkeit möglichst wenig kümmernd, im Größenwahn seine Wünsche erfüllt und im Verfolgungswahn seine eigene Unfähigkeit in die Umgebung projiziert. . . . Dieses Denken hat seine besonderen von der (realistischen) Logik abweichenden Gesetze; es sucht nicht Wahrheit, sondern Erfüllung von Wünschen; zufällige Ideenverbindungen, vage Analogien, vor allem aber affektive Bedürfnisse ersetzen ihm an vielen Orten die im strengen realistisch-logischen Denken zu verwendenden Erfahrungsassoziationen, und wo diese zugezogen werden, geschieht es doch in ungenügender, nachlässiger Weise."

Dieses autistische Denken beobachtete Bleuler nicht nur bei akut autistisch-pathologischen Individuen; autistisches, also mehr Affekten als Erfahrung folgendes Denken, fand er auch in den zeitgenössischen Wissenschaften, vor allem der Medizin. Für ihn waren Scheinerklärungen und wenig begründete oder wenig begründbare Anleitungen zur medizinischen Therapie Ausdruck einer nicht ausreichend realitätsbezogenen Theorie. Mit dem Fortschritt der Wissenschaft sah er dieses Denken im Rückzug. „Je mehr sich unsere Erkenntnisse erweitern, um so kleiner wird beim Gesunden ganz von selbst das Gebiet des autistischen Denkens; unsere heutigen Vorstellungen vom Weltall, seiner Geschichte und seiner Einrichtungen sind, wenn auch noch vielfach hypothetisch, so doch nicht mehr autistisch: wir ziehen aus dem, was wir sehen, in logischer Weise Schlüsse, und sind uns bewußt, welcher Teil dieser Schlüsse nur Wahrscheinlichkeitswert hat." Wo die Kompliziertheit und Unübersehbarkeit mancher Probleme so groß ist, daß ihnen das realistische Denken unmöglich gerecht werden kann, sah Bleuler — auch bei richtigen Fragestellungen — die Gefahr, daß die Grenzen zwischen unbegründeter Hypothese und autistischer Scheinerklärung verschwinden.

Soviel zur Einführung des Begriffs durch Bleuler in die Psychologie. Obgleich ich auf einige Aspekte dieser Charakterisierung von autistischem Denken später zurückkommen werde, so ist doch der zweite, über die Individualpsychologie hinausgehende Versuch, die Konzeption des Autismus in die Sozialwissenschaften einzuführen, für uns hier von größerer Bedeutung. Dieser Versuch stammt von Theodore M. Newcomb aus dem Jahre 1947, dessen Anregungen weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, als ihnen eigentlich gebührt Newcomb interessierte sich vor allem für die psychologischen und sozialen Bedingungen, unter denen feindschaftliche Impulse und Motive sich in dauerhafte, ja hartnäckige Attitüden verfestigen. Die zentrale These des von ihm entwickelten Theorems, das er gleichermaßen auf Individuen und Gruppen bezog, lautete: „Die Wahrscheinlichkeit, daß sich zählebige feindschaftliche Attitüden entwikkeln werden, variiert in dem Maße, in dem die wahrgenommene zwischenpersönliche Beziehung autistisch bleibt, in dem also ihre Abgeschlossenheit durch irgendwelche Formen von Kommunikationsschranken sich aufrechter-hält." Newcombs Überlegungen beruhen also auf einem relativ einfachen Sachverhalt: Attitüden sind ihm zufolge der Ausfluß von Wahrnehmungen und Bewertungen, die in einem bestimmten sinnträchtigen Bezugsrahmen sich einstellen und entwickeln. Sollte die Kommunikation im Falle sich enwickelnder feindschaftlicher Beziehungen (gleichviel aus welchem Grund) abbrechen oder abgeschnitten werden, so ist eine Modifizierung des ursprünglichen Bezugsrahmens, innerhalb dessen die feindschaftlichen Impulse entstanden, weniger wahrscheinlich, als wenn ein offener Austausch zwischen den verfeindeten Individuen oder Gruppierungen weiterhin stattfinden würde. Der in Newcombs Bestimmung autistischer Feindschaft wesentliche Hinweis auf die wachsende Selbstbezogenheit der verfeindeten Parteien bei sich entwickelnden feindschaftlichen Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen ist eine wichtige Einsicht, die ich später in dem zu entwickelnden systemanalytischen Autismus-Modell von Drohpolitik wieder aufgreifen möchte. In der psychologischen Literatur bis 1947 entdeckte Newcomb nur wenige Hinweise auf „Autismen", wohl aber glaubte er zu Recht, daß viele psychotherapeutischen Handlungsanleitungen implizit auf der Diagnose von autistischen Prozessen beruhen, allein schon durch ihre Betonung einer für jede erfolgversprechende Therapie unerläßlichen Überwindung von Kommunikationsschranken zwischen Patient und Therapeut und der Beseitigung von falschen Realitätsbildern, die ihrerseits, wie im Falle von Psychosen und Neurosen, als Ergebnis von lernpathologischen Realitätsbezügen zu verstehen sind. Was sich am einzelnen Individuum schon feststellen läßt, ist noch deutlicher im Falle verfeindeter Gruppen zu beobachten, weil hier die bekannten kulturellen und sozialen Verstärkungsmechanismen anfängliche feindschaftliche Impulse steigern und überziehen helfen und die wachsende kommunitative Selbstabkapselung oft von der Gruppe mit positiven Sanktionen belegt wird.

Newcomb unterschied zwei Formen von Kommunikationsschranken: einmal die offene, in welchem Falle einfach der Informationsaustausch aussetzt oder Kommunikation allmählich versiegt; zum zweiten die mehr insgeheimen Kommunikationsschranken in einem Kommunikationsprozeß, in welchem ein mit spezifischen Sinngehalten psychologisch besetzter Bezugsrahmen die Erfassung der Bedeutung bestimmter, oft rege aus der Umwelt übermittelter Informationen nicht erlaubt.

Wenn einem Individuum oder einer Gruppe nun bestimmte Bedeutungsgehalte von Informationen, obgleich übermittelt, sinngemäß unzugänglich sind, so sind beide zum Teil in einer Weise von Kommunikation abgeschnitten, wie wenn es eine Kommunikation selbst gar nicht geben würde. Von Kommunikationsprozessen und den an sie gehefteten Bedeutungsgehalten her gesehen, käme demgegenüber die Entwicklung eines weltoffenen, sinnerfüllten Bezugsrahmens der Überwindung engstirniger, extrem gruppenspezifischer Bedeutungsgehalte und damit autistischer Kommunikationsstrukturen gleich. Bedeutungsgehalte würden, wo sie unzugänglich waren, kommunikabel.

Während nun im Individuum autistische Feindschaft sich oft in der Auseinandersetzung mit konkreten individuellen oder sozialen Widerparts einstellt, scheint sich gruppenspezifische autistische Feindschaft oft ohne den direkten oder wenigstens anfänglich realitätsbezogenen Kontakt zu anderen Gruppen zu ergeben. Die Mitglieder einer Gruppe definieren ihr Verhältnis zu einer als feindlich perzipierten Gruppe nicht zuallererst als feindlich, weil sie mit dieser in unmittelbare Berührung kommen, sondern weil ihr Kontakt zu dieser Gruppe vor allem ein Kontakt mit den Vorurteilen über diese Gruppe ist, mit Vorurteilen, die oft institutionell — wie im Falle der rassischen Segregation — verankert sind.

Nach Newcomb hat Erich Lindemann noch einmal den zentralen Gedanken der Konzeption autistischer Feindschaft angesprochen als er diese als einen Teufelskreis bezeichnete, durch den eine, auf feindliche Reaktionen angelegte, Gruppe allmählich die Kommunikationskanäle mit dem potentiellen Feind abbaut und somit eine Korrektur der ursprünglichen feindschaftlichen Wahrnehmungen und eine Kehrtwendung durch freundlich gemeinte Handlungen verhindert. Aufgestaute Feindschaft von anderen Quellen wird dann gegen den Feind gerichtet, und jeder Versuch, den Feind als Zielobjekt solcher Feindschaft ungeeignet zu machen, wird nur erneute und verstärkte Feindschaft auslösen. In Lindemanns Darstellung erscheint Autismus nicht nur als wenig realitätsgerechtes Denken (wie in der ursprünglichen Bleulerschen Fassung), auch nicht nur als Abbau von Kommunikation (wie im Falle der Newcombschen Definition), sondern ergänzt durch eine „Sündenbocktheorie" (scape goat theory), die sich bekanntlich sehr häufig auch in Beiträgen zur Analyse internationaler Politik wiederfindet.

V. Abschreckungspolitik und autistische Feindschaft

Ich habe diese wenigen alten Ansätze der Diskussion autistischer Feindschaft hier breiter dargelegt, um zu zeigen, aus welchen Erfahrungsbereichen sie stammen. Ich glaube nun, daß sich die Konzeption des Autismus und autistischer Feindschaft systemanalytisch und kommunikationstheoretisch verallgemeinern läßt und daß sie sich besonders dazu eignet, die Struktur und Eigendynamik von Abschrekkungspolitik zu erhellen. Ich möchte in Umrissen meine Überlegungen mit Hilfe einer Modellanalyse entwickeln. Tafel 2 (s. S. 37) soll zur Veranschaulichung der hier zu entfaltenden Argumente dienen

Der Kern der Struktur einer Abschreckungsbeziehung, wie sie sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten zwischen den beiden Großmächten herausgebildet hat, setzt sich aus drei Komponenten zusammen: 1. Einem minimalen Anteil von realen Austauschbeziehungen im Sinne der eingangs erwähnten Größen wie Handel, Tourismus und dergleichen. Für die Selbsterhaltung der beiden beteiligten Mächte sind diese Beziehungen von völlig untergeordneter Bedeutung. In bestimmten Sektoren wie den strategisch wichtigen Wirtschaftsgütern wurde dieser Austausch lange Zeit geradezu peinlich genau obstruiert 2. Einem beschränkten Anteil von Drohungen, die von jeweils einer Elite ausgesprochen werden und tatsächlich auch von der Gegenelite wahrgenommen und von den Eliten in das jeweilige eigene Massenpublikum weitergeleitet werden. Auf diesen Droh-Transaktionsbahnen werden auch jene Informationen ausgetauscht, die schließlich zu einer hohen Kovarianz des Verhaltens in für entscheidend gehaltenen Bereichen wie dem militärisch-technologischen Wettlauf, der wirtschaftlichen Rivalität, dem Verhalten gegenüber Dritten, den weltpolitischen Prestigeunternehmungen und dergleichen führen. Oft führen Versuche, dem Gegner mit dessen ideologischen, ökonomi39 sehen und militärischen Waffen zu begegnen, zu Strukturangleichungen als Basis effizienter feindorientierter Politik. 3. Die entscheidende dritte Komponente von Abschreckungsbeziehungen ist jedoch das überwiegen innengerichteter gegenüber außenorientierten Prozessen und, als Folge von Drohpolitik, die Entwicklung eines autistischen Milieus, in dem sich diese Politik schließlich reproduziert. Dabei zeigt sich, daß die „feindorientierten" Prozesse innerhalb der jeweiligen Elite und dem ihr zugeordneten Massenpublikum anteilmäßig realer sind als die scheinbar direkten, oft nur über selbsterzeugte fiktive Konflikterwartungen und eine entsprechende Drohpolitik vermittelten „Außenbeziehungen" zum Feind. Indem der ferne Feind im Willensbildungsprozeß internalisiert wird, ist er immer in der einen oder anderen Form „präsent". Während Konflikterwartungen und Droh-Rhetorik sich auf ihn richten und gleichzeitig reale Austauschbeziehungen auf ein Minimum zusammenschrumpfen, reflektieren solche projektiven Beziehungen in der Wirklichkeit unvermeidbar auf die Motivationen und Handlungen der jeweiligen Elite und des jeweiligen Massenpublikums zurück und wirken bestätigend und verstärkend auf deren Selbstverständnis. Die Außenorientierung in einer Abschreckungsbeziehung ist also so real wie sie gleichzeitig fiktiv ist: real, weil es den Gegner gibt, und fiktiv, weil die Konflikte, die man mit diesem Gegner erwartet, in einem großen Ausmaße diesseits der Front-linien formuliert werden. Obgleich das Abschreckungssystem den Schein höchster Interdependenz und Außenorientiertheit verbreitet, ist es doch hinsichtlich wesentlicher Komponenten Ausdruck unvergleichlicher Abkapselung und Isolierung.

Das Zusammenspiel der drei genannten Komponenten: minimale reale Austauschprozesse, gelegentliche Drohübermittlungen, die tatsächlich beim Gegner ankommen, und vor allem eine nicht zuletzt in projektiven Außenbeziehungen sich niederschlagende Selbstabkapselung der Hauptantagonisten, ist der Hintergrund, der es erlaubt, Abschreckungspolitik als ein Phänomen autistischer Feindschaft zu bezeichnen. Dabei ist die Erkenntnis, daß Abschreckungspolitik zur Entwicklung von autistischer Feindschaft beiträgt und daß das System wechselseitiger Abschreckung Feindschaft in einer autistischen Struktur fixiert, heute — nach einer zwanzigjährigen Geschichte und mehreren Entwicklungsphasen dieser Politik — sicher einfacher zu gewinnen, als das beispielsweise anfangs der Fall gewesen war, obgleich es manche Warnungen in dieser Hinsicht gab. Die hartnäckigen Widerstände heute gegen eine zunächst vielleicht nur intellektuelle Revision dieser Politik zeigen jedoch, wie stark ihre Ausstrahlungskraft war und wie zählebig die von ihr ausgehende Verblendung offensichtlich immer noch ist.

Für die Herausbildung autistischer Feindschaftsstrukturen in der Abschreckungspolitik sind neben den schon früher erwähnten Merkmalen der Abschreckungspolitik eine Reihe von unter allgemeinen Gesichtspunkten analysierbaren Mechanismen verantwortlich gewesen. Anatol Rapoport hat sie in anderem Zusammenhang als „Lock-in" -Effekte beschrieben J. David Singer hat jüngst die Bedeutung von positiven Rückkoppelungsprozessen in internationalen Krisen und Konflikten, die zur Verschärfung eines Konfliktes und zur Verhärtung beiderseitiger Positionen führen, diskutiert Vor allem die von Singer analysierten Mechanismen tragen dazu bei, daß aus Gründen der innenpolitisch motivierten Verhärtung von Positionen die oft zu Beginn eines Konflikts noch beobachtbaren realen Kommunikationschancen zwischen den Antagonisten Schritt für Schritt unmöglich werden, bis schließlich Kommunikation und Kompromißbereitschaft in der Eskalation gegenseitiger propagandistischer Anfeindung untergehen. Ist dieser Punkt in einer Konfliktspirale erreicht — und im Falle der Abschrekkungspolitik muß das relativ früh in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren gewesen sein —, dann beginnen innenpolitisch propagandistisch hochgespielte Umweltbilder entscheidend realistische Kommunikationsströme mit verläßlichen Informationen aus der Umwelt zu übertrumpfen, und neue Informationen und ihre Auswertung verlieren immer mehr an Objektivität, die ohnehin in der inter-nationalen Politik nur schwierig zu erreichen ist Das gezeichnete Modell wechselseitiger Abschreckungspolitik bezieht sich also mehr auf eine Phase von Abschreckungspolitik, in der der „Lock-in" -Effekt schon wirksam geworden ist, beide Antagonisten sich also in ihre Positionen schon „eingeschlossen" haben, als auf eine Anfangsphase in der Entwicklung wechselseitiger Abschreckung, in der die zirkuläre Verursachung von Drohung und Gegen-drohung mit den für sie charakteristischen kumulativen Effekten erst einsetzt.

Für die Analyse des Rüstungswettlaufes zwischen Ost und West bedeutet der hier entwikkelte Ansatz, die Analyse der Abschreckungspolitik als eine Erscheinung autistischer Feindschaft, eine wichtige teilweise Korrektur Rüstungswettlaufmodelle neigen dazu, eng aufeinander bezogene Aktion-Reaktionsphänomene zwischen den Perzeptionen und/oder den Handlungen der Antagonisten anzunehmen Noch bis in die jüngste kritische amerikanische Rüstungsdiskussion hinein läßt sich diese Annahme beobachten. Das ist insgesamt um so erstaunlicher, als erstens einmal die selbsterzeugten einseitigen Trägheitsmomente und die autonom entwickelten Drohperzeptionen und ihre organisatorischen Folgen auf jeder der beiden Seiten des Rüstungswettlaufes zumindest in den vergangenen zehn Jahren viel eindrucksvoller waren als die gewissermaßen fremdgesteuerten, von außen oktroyierten. Mit letzter Deutlichkeit sind die unilateralen, eigengewichtigen Beiträge zur Fortsetzung des augenblicklichen Rüstungswettlaufes in der Diskussion der ABM-und MIRV-Systeme offenkundig geworden. Doch schon die in den frühen sechziger Jahren stattfindende Auseinandersetzung um die „Counter-force" -Strategie und die „Minimum-deterrence" -Strategie haben das politisch vorherrschende Bild des engen Zusammenhangs von Aktion und Reaktion der beiden Gegner obsolet erscheinen lassen Und bei genauerer Analyse wäre nicht überraschend, wenn sich die sogenannten Ri-chardson-Prozesse, sieht man von der aggregativen Entwicklung von Budgetdaten ab, überhaupt nicht feststellen ließen. Das würde aber bedeuten, daß die Asymmetrien in einem gleichgewichtig und gleichläufig erscheinenden Rüstungswettlauf immer schon so groß sind, daß eine von anderen inhaltlichen Prämissen ausgehende Theorie in der Tendenz sich als falsch erweist Nun sind allgemeine Rüstungswettlauf-Theorien, wie sie heute die Diskussion bestimmen, durchaus einer neuen Interpretation zugänglich. Es bleibt jedoch erstaunlich, wenn auch politisch verständlich, daß die aus einsichtigen Gründen propagierten politischen'Vorstellungen, denen zufolge die eigenen Aktionen immer als eindeutige Re-aktionen auf spezifische Handlungen der Gegenseite erscheinen, auch die theoretische Diskussion maßgeblich geprägt haben.

Wenn ich in diesem Zusammenhang auf die erwähnten Überlegungen Rapoports und Singers zurückgreifen würde, also auf „Lock-in" -Effekte und die Wirkung positiver Rückkoppelung, so würde sich zunächst eine Zweiphasenmodell eines Rüstungswettlaufes anbieten: Anfangs wären ihm zufolge realistische Konfliktstoffe und Interessenauseinandersetzungen durchaus noch die bestimmenden Triebkräfte der gegenseitigen Auseinandersetzung, während mit wachsender Auseinandersetzung und sich intensivierenden Feindbildern die Rüstungskomplexe — sollten tödliehe Fehlentscheidungen sich vermeiden lassen — zu sich selbst erweiternden Organisationen sich entwickeln würden. Dabei könnte es sich durchaus ergeben, daß intensive Feindbilder zur Perpetuierung der Rüstungskomplexe nur zeitweilig propagiert würden und nicht so sehr eine ständige Begleitmusik der Rüstungspolitik wären, weil die Rüstungsapparate sich ’ einigermaßen schon konsolidiert hätten. Aber dies ist eine Vermutung, die genauso einer näheren Analyse bedürfte wie die in Tafel 3 (s. S. 40) angedeutete Stufenfolge der Entwicklung von Rüstungskomplexen. In dieser würden schwache oder intensive Feindbilder mit organisatorisch wenig oder übermäßig entwickelten Rüstungskomplexen Zusammentreffen. In einem ersten Typ von Rüstungskomplex würden schwache Feindbilder mit einem wenig ausgebildeten organisatorischen Komplex zusammenwirken; und im allgemeinen würden keine besonderen Neigungen zur Überreaktion auf feindliche Wahrnehmungen existieren. In einem zweiten Typ würden intensive Feindbilder die Sensibilität gegenüber Drohungen und feindlichen Wahrnehmungen aus der Umwelt wesentlich erhöhen; das Wachstum des anfänglich immer noch kleinen Rüstungskomplexes würde enorm gesteigert werden, bis schließlich dieser zweite Typ in den dritten hinübergleiten würde, in dem sich allmählich eine wachsende Selbstbestimmtheit der Rüstungskomplexe zeigen würde. Der vierte Typ wäre schließlich mehr durch die autonomen Eigenbedürfnisse bestimmt als durch interaktive Prozesse zwischen den Antagonisten Immer noch wäre auch hier der Schein von hohen Aktions-Reaktionsprozessen zur Legitimierung der übersteigerten Apparate erforderlich, während in Wirklichkeit auf dieser Höhe der Entwicklung die nicht mehr aus symmetrischen Handlungsfolgen erklärbaren Triebkräfte schon längst die Dynamik des Rüstungswettlaufes bestimmen würden

Das gezeichnete Autismus-Modell der Abschreckungspolitik, das vor allem die dritte und vierte Stufenfolge umfaßt, verdeutlicht nun eine Reihe von Merkmalen dieser Politik, die ich hier kurz andeuten möchte: 1. Das Autismus-Modell erfaßt die Struktur der Umwelt, in der eine lernpathologische Erzeugung von Konflikterwartungen, die nicht an tatsächlichen und wahrscheinlichen, sondern an denkbaren Konflikten orientiert sind, ermöglicht wird. Es erfaßt die Hintergrundbedingungen, auf denen die Doktrin der „katastrophalen Lücken" wirksam wird und eine auf immer differenziertere Konfliktspektren hinarbeitende Praxis von den Verfechtern der Abschreckungspolitik verfolgt wird. 2. Das Autismus-Modell erläutert weiterhin die Bedingungen des im Abschreckungssystem ständig drohenden Realitätsverlusts der Beteiligten. Es verdeutlicht die von der Struktur des Abschreckungssystems immer ausgehende und drohende Schwächung der Fähigkeiten und organisatorischen Kapazitäten angemessener Realitätsprüfung. Der Zirkel von beeinträchtigter politischer Intelligenz und mangelnder adäquater Realitätsprüfung erscheint somit als Ursache und Folge autistischer Politik. 3. Das Autismus-Modell von Abschreckungspolitik verdeutlicht weiterhin folgenschwere Zirkelprozesse in der Erfolgskontrolle dieser Politik. Die Erfolgskontrolle gleicht einer Selbstbestätigung: bestätigt wird die vermeintlich positive Wirkung einer negativen Politik, deren Erfolg jedoch weder verifizierbar noch falsifizierbar ist, weil durch eine negative Politik — wie selbst Kissinger einmal zurecht schreibt — nicht bewiesen werden kann, warum etwas nicht eintrat, was eigentlich erwartet wurde. „Man kann niemals beweisen, ob der Frieden erhalten wurde, weil eine strategische Doktrin die bestmögliche ist oder ob sie nur am Rande effektiv war. In der Tat läßt sich nicht einmal schlüssig beweisen, ob es, zuallererst einmal, überhaupt die Gefahr eines Angriffs in der Wirklichkeit gegeben hat." 4 Das Autismus-Modell von Abschreckungspolitik macht die relativ leichte Austauschbarkeit von Abschreckungsachsen einsichtig. Je autistischer ein Abschreckungssystem, um so größer die Feindfixierung und um so austauschbarer der konkrete Feind Man könnte behaupten, daß diese Austauschbarkeit nur durch die geringe Zahl von Nationen beschränkt wird, die sich glaubwürdig zu potentiellen Feinden hochstilisieren lassen. 5. Das Abschreckungssystem erlaubt auch Entspannung, vor allem, sobald sich die Rüstungskomplexe mehr oder weniger verselbständigt haben (beispielsweise Typ IV in Tafel 3). Die propagierten Konflikterwartungen können dann — unter Beibehaltung der Abschrekkungsapparate — durchaus zeitweilig an Intensität verlieren; punktuelle Kooperation kann sich zeitweilig steigern; aber während solche dünnen Kommunikationsfäden zwischen den Antagonisten gesponnen werden, ohne daß die innenpolitischen Produktionsstätten der Abschreckungspolitik tangiert werden, bleibt die Gefahr einer Revitalisierung innenpolitisch erzeugbarer Konflikterwartung und die Reaktivierung von Feindschaftsbezeugungen immer groß In diesem Sinne legt das Autismusmodell der Abschreckungspolitik die These nahe, daß entscheidende Schwellen zu einer Veränderung von Abschreckungspolitik nicht so sehr während der durchaus denkbaren Verhandlungen zwischen den beiden Antagonisten überschritten werden, sondern viel eher durch den in der jeweiligen Innenpolitik durchzusetzenden Abbau der Rüstungskomplexe und ihrer verzweigten Organisationen und Apparate in Politik, Wirtschaft, Militär und Wissenschaft.

VI. Autismus, Realitätsprüfung und internationale Beziehungen

Nach diesen Überlegungen zur Abschreckungspolitik möchte ich nunmehr auf einige Zusammenhänge von Autismus, Realitätsprüfung und internationalen Beziehungen eingehen. Diese beziehen sich immer noch auf die Analyse von Abschreckungspolitik, andererseits wird mit ihnen eine allgemeine Dimension internationaler Beziehungen angesprochen. Dabei muß ich zunächst einmal etwas ausführlicher die Konzeption der Realitätsprüfung erläutern. Die Konzeption der Realitätsprüfung taucht gelegentlich im Rahmen der Individual-Psychologie als analytische Größe auf. Erst in allerjüngster Zeit wurde sie in Ansätzen auf die Analyse internationaler Politik übertragen. In einem Essay hat Kenneth Boulding auf die extrem unterentwickelten Realitätsprüfungsprozesse im internationalen System verwiesen

Boulding unterstellt dabei in seiner Abhandlung, daß verzerrte Umweltsbilder, vor allem Bilder über die internationale Politik, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer der internationalen Politik endemischen Lernpathologie führen. Die Bedeutung seiner Beobachtung liegt vor allem in der Feststellung, daß das internationale System in einem organisatorischen Sinne pathologisch ist; das heißt, daß die Lernpathologie systembedingt ist, solange die vorherrschende Struktur internationaler Beziehungen unverändert bleibt. Man kann dann diese Anfälligkeit zur Lernpathologie etwas variieren, jedoch sind die Chancen, sie zu überwinden, ohne bewußt verfolgte struk-turelle Eingriffe gering. In einem ähnlichen, allgemein gehaltenen Versuch hat Morton Kaplan die internationale Politik als Quelle dysfunktionaler Spannung beschrieben Ihm zufolge führen diese zu einer ungenauen Orientierung an der Realität; sie können für die Erreichung von gesetzten Zielen hinderlich sein, oder sie erlauben, . diese gegebenenfalls nur bei sehr hohen Kosten anzustreben. Obgleich sie manchmal von Regierungen als Instrument der Politik verstanden und benutzt werden, können sie nichtsdestoweniger schließlich zu einem Zusammenbruch der Kapazitäten der Realitätsprüfung führen.

Es ist nun sicher richtig, daß ein Teil dieser und ähnlicher Ideen seit langem zum Bestand der psychologischen Beiträge zur Analyse internationaler Politik gehört. Doch haben Psychologen bis heute eigentlich kaum einen durchgängigen systematischen Ansatz zur Analyse der Realitätsprüfung auf verschiedenen sozialen Ebenen, vom Individuum bis zu den internationalen Beziehungen, formuliert. Immer wieder wurde deshalb von Kritikern zu Recht festgestellt, daß das Problem der Ebene oder Einheit der Analyse von seifen derjenigen Psychologen, welche den Ausbruch internationaler Feinschaft und Gewalt als das Ergebnis einer Summierung individueller psychologischer Prozesse angesehen haben, nicht zureichend erfaßt worden ist. So wurden vor allem in der „maximalistischen" Position individuelle Bedürfnisse und Mechanismen der individuellen Psyche direkt mit Handlungen höherer gesellschaftlicher Einheiten, gerade auch von Staaten, in Zusammenhang gebracht. Diese Art von Kritik hat häufig zur Formulierung von „minimalistischen" Positionen geführt, in denen angenommen wird, daß vor allem nichtpsychologische Faktoren zu den Determinanten internationaler Gewalt und des Ausbruchs von Feindschaften gehören würden.

Ein angemessener Ansatz müßte nun ausführlich strukturelle und psychologische Variablen, die die Prozesse der Realitätsprüfung auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen jeweils bestimmen, kombinieren. Jede Ebene könnte ja ihre eigenen Charakteristika haben, und es ist wichtig, daß diese dann nicht miteinander vermengt werden.

Die Voraussetzung angemessener Realitätsprüfung läßt sich nun vielleicht am besten am Beispiel von Individuen aufzeigen. Die Annahmen der Ich-Psychologie sind dabei von größter Relevanz, weil in ihr, implizit oder explizit, die Informations-und Kontrollprozesse, die individueller Realitätsprüfung zugrunde liegen, beleuchtet werden. Allgemein gesprochen läßt sich sagen, daß das Individuum — im Durchschnitt — optimale Voraussetzungen für eine angemessene Realitätsprüfung besitzt. Es besitzt eine große Kapazität für die Verarbeitung von Informationen jeglicher Art: Informationen aus der Umwelt, Informationen aus dem Gedächtnis und Informationen über Informationen. Abgesehen von dieser organisatorischen Fähigkeit zur Informationsverarbeitung hat das Individuum eine hohe Selbststeuerungskapazität, die eine Anpassung an sich verändernde Umwelten und die eine interne Neuausrichtung als Folge kritischer Realitätsprüfung ermöglicht. Individuen können sich bis zu einem gewissen Grade gegen Informationen jeglicher Art abkapseln, ohne ihre Selbstkontrolle zu verlieren. Solche „Verhärtung" ist ja gerade typisch für die Strukturierung dessen, was wir Persönlichkeit nennen.

Da Individuen immer Teil größerer Einheiten sind (wie Familien oder Arbeitsgruppen), so findet ein Großteil der Realitätsprüfung allein schon durch die Interaktion mit der unmittelbaren Umgebung statt. Es lassen sich also durchaus Individuen vorstellen, die einen Teil der genannten Fähigkeiten, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, verloren haben und die dennoch fähig sind zu einer nicht-pathologischen Interaktion mit ihrer Umwelt, da die Interaktion selbst als Medium der Realitätsprüfung dienen kann. Man kann sich auch Individuen vorstellen, die sich Offenheit gegenüber ihrer Umwelt bewahrt haben, die aber einen Teil ihrer Fähigkeit zur Selbstkontrolle verloren haben und die dennoch eine Art von Realitätsprüfung während ihrer meist hoch strukturierten Interaktion mit der äußeren Umwelt erfahren würden. In beiden Fällen würde einer verminderten Fähigkeit zur Informationsverarbeitung und Selbstkontrolle durch die unausweichliche Begegnung mit der Natur und gesellschaftlichen Realitäten entgegengewirkt. Solche Interaktion erscheint also zunächst als Basis und weiterhin möglicherweise auch als Ersatz für individuelle Realitätsprüfung. Doch müssen wir betonen, daß diese Beziehung nur gültig ist, solange die Umwelt nicht selbst schon auf die individuelB len Fähigkeiten zur Realitätsprüfung schwächend einwirkt.

Die Voraussetzung für eine angemessene Realitätsprüfung auf der Ebene von sozialen Gruppen kann man nur als ambivalent bezeichnen. Soziale Gruppen können in sich abgeschlossen sein, jedoch auch einen umfassenderen „Horizont" als ihre Mitglieder haben. Ihre größte Fähigkeit besteht in der Speicherung von Informationen, die das Lebensalter von Individuen übersteigen. Auch haben sie gegenüber Individuen ein größeres Handlungspotential. Da aber Gruppen selbst schon einen beachtlichen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausmachen, ist ihre Realitätsprüfung weniger interaktiv als bei Individuen. Doch selbst große Gruppen werden immer noch relevanten sozialen Realitäten begegnen, die sie nicht selbst repräsentieren und schon gar nicht kontrollieren. Ihre Fähigkeit, sich neuen Umwelten anzupassen, sich mit ihren internen strukturellen Problemen und vor allem einer sich wandelnden Mitgliedschaft auseinanderzusetzen, ist meist groß genug, um vor einer soziologisch begründeten Lernpathologie zu schützen

Es ist schwierig, die präzisen Ausmaße der Fähigkeit zur Realitätsprüfung ganzer Staaten allgemein abzuschätzen. Wie im Falle von Individuen und sozialen Gruppen werden diese äußerst variieren; geographische Lage, Geschichte und soziologische Grundstruktur werden in einzelnen Nationen sicher eine beachtliche Rolle bei der Ausprägung von Realitätsprüfungskapazitäten spielen; auch dürften diese je nach der Größe von Staaten sich unterscheiden. Weiterhin bestehen markante Unterschiede solcher Kapazitäten für die Innen-und die Außenpolitik. Im allgemeinen dürften Nationen — gemessen an ihrer Größe und Machtfülle — keine zureichenden Informations-und Selbstkontrollkapazitäten besitzen, um zunächst einmal ihre eigene komplexe Innenwelt und schließlich die internationale Umwelt angemessen zu erfassen. Dabei sind die Chancen zur Realitätsprüfung und zur Erfolgskontrolle politischen und gesellschaftlichen Handelns in der Innengesellschaft noch auf solidere Basis gestellt als in der internationalen Politik. Innenpolitisch verfolgte Strategien — beispielsweise in der Sozialver-Sicherung oder Konjunkturpolitik — lassen sich in ihren Auswirkungen früher oder später tatsächlich einigermaßen erfassen. Die Rückkoppelungsprozesse mögen träge und langsam sein, doch sie existieren; und bei bewußter Planung können sie einigermaßen verläßlich werden

Dasselbe gilt für die internationale Politik nur bedingt, und wenn überhaupt, dann vor allem für Wirtschaftsbeziehungen und am wenigsten für politische und militärische Handlungsfolgen. Gerade im Hinblick auf letztere liegt der entscheidende Unterschied zur Innenpolitik in den beispiellos großen zirkulären im Gegensatz zu den geringfügigen interaktiven Realitätsprüfungsprozessen.

Verglichen mit den innerhalb von Nationen sich abspielenden äußerst komplexen, äußerst dichten und äußerst realitätserfüllten Interaktionsprozessen erscheint — übertrieben formuliert — das, was in internationalen Beziehungen im Durchschnitt sich abspielt, wie eine Handlungsfolge in „Leerräumen", was noch näher zu umschreibende Auswirkungen auf Entscheidungsprozesse in der internationalen Politik hat.

Auch wirken die tatsächlich zwischen Staaten sich abspielenden Austauschprozesse — aufgrund des sehr selektiven Charakters von Transaktionen — in einem viel geringeren Maße als selbstregulative Korrektive, und vor allem vermögen sie unterentwickelte soziale Intelligenz und Kontrollkapazitäten nur bedingt zu kompensieren. Die soziale Wirklichkeit, welche kognitive Umweltbilder und oft das Verhalten von Nationen bestimmt, ist in der internationalen Politik meist — vor allem bei gleichgewichtigen Beziehungen — mit der Größe der jeweiligen Innengesellschaft und den aus ihr sich ergebenden Handlungsdeterminanten deckungsgleich.

Wenn wir uns nun auf der nächst höheren analytischen Ebene dem internationalen System selbst zuwenden, so zeigt sich, daß die organisatorisch verankerten Kapazitäten zur Realitätsprüfung nur marginal ausgebildet sind, obgleich sie in Teilsektoren — wie man beispielsweise an der Arbeit von internationalen Organisationen und an den Produkten der Statistischen Abteilung der UNO ablesen kann — äußerst umfassend sein können, den Horizont des einzelnen Nationalstaates wie bei-spielsweise in den Fragen internationaler Sicherheit durchaus übersteigen. Das Handlungs-und Kontrollpotential ist demgegenüber, wenn überhaupt, äußerst dürftig entwikkelt. Realitätsprüfung auf dieser Ebene scheint in der Tat eher eine Hilfsfunktion für einzelne Nationalstaaten darzustellen, als daß sie einen integrativen Teil eines Systems mit eigener sozialer Realität bilden würde, wenn auch diese Realität zum Teil im Entstehen und Wachsen ist.

Die hier gezeichneten Grundlinien der Realitätsprüfungsprozesse von Staaten hinsichtlich ihrer Außenbeziehungen decken sich nun insbesondere mit der Wirklichkeit des Abschrekkungssystems und einer Umwelt, in der Drohpolitik systematisch verfolgt wird. In ihnen trifft in der Tat der Versuch der Minimisierung von realen Austauschprozessen (man denke an die Dulles-Ara!) zusammen mit Drohhaltungen, die — aus den früher erwähnten Gründen — zur lernpathologischen Selbsterweiterung neigen und zur Auffächerung und Ausweitung der Interessenbasis von Drohpolitik führen, ohne daß diese Entwicklung maßgeblich durch eine kritische Realitätsprüfung oder die Steigerung der Voraussetzungen zur kritischen Realitätsprüfung korrigiert würde. Ein solcher Mangel ist jedoch um so problematischer, je größer die Machtfülle und Zerstörungspotentiale werden, über die Regierungen verfügen.

Doch was im Abschreckungssystem und in Abschreckungspolitik sich geradewegs idealtypisch zeigt, deutet auf eine generelle Neigung internationaler Politik hin. Während im Abschreckungssystem, auf der Basis der früher diskutierten autistischen Feindschaftsstrukturen, die Realitätsprüfung unvergleichlich selbstbezogen ist und geradewegs die kognitive Grundlage seiner Dynamik abgibt, sind autistische Komponenten in der Realitätsprüfung und Ansätze zu autistisch bestimmtem Verhalten in der internationalen Politik in Fülle zu beobachten. Die Grundlage dafür ist in der bis heute vorherrschenden Struktur internationaler Beziehungen zu suchen, die — sicher mit Ausnahmen — die Neigung zur Selbstbezogenheit auch in jenen Fällen noch stärkt, in denen Staaten in ihrem überleben klar auf die Interaktion mit anderen angewiesen sind, und in der — im allgemeinen — die realen Komponenten internationaler Beziehungen weniger breit, weniger vielfältig und weniger dicht entwickelt sind, als daß sie ein klares und maßgebliches Gegengewicht gegen projektive Scheinbeziehungen zur weiteren Umwelt bilden würden oder bilden könnten.

Die in der Tafel 1 zwischen den Extremfällen Abschreckung und Kooperation liegenden sechs Typen internationaler Beziehung haben mindestens in fünf Fällen eine mehr oder weniger pointierte Neigung zu autistisch bestimmter Perzeption und darauf beruhendem Verhalten. Nehmen wir einmal an, daß diese Typen nicht nur klassifikatorische Artifakte sind, sondern daß die ihnen zugeordneten Fälle in der Wirklichkeit auffindbar sind (woran kaum zu zweifeln ist), dann würde man — bei einem hier einmal unterstellten gleichmäßigen Verteilungsmuster—-für einen „nichtautistischen Fall" vier bis eventuell sechs „autistische" oder „zu Autismus neigende" Fälle beobachten können. Wenn man bedenkt, daß die Beziehungen zwischen „Topdogs" (also beispielsweise England und Deutschland in der Vergangenheit) keineswegs friedfertig sein müssen, ja daß sie meist dem Typ der konfliktintensiven Verflechtung entsprechen, wenn man weiter bedenkt, daß Abhängigkeitsverhältnisse, auch wenn sie lebensnotwendig sind, zu auf breiter Basis anzutreffenden Ressentiments oder Frustrationen führen können, dann dürfte diese Einschätzung der Verteilungsmuster der Typen internationaler Beziehung wahrscheinlich gar nicht unrealistisch sein

VII. Aggressivität und Realitätsverlust

Meine Überlegungen bis hierher erlauben nun auch eine vorläufige Antwort auf eine der wichtigsten Fragen in der Analyse internationaler Politik, die mit den eben diskutierten Problemen eng Zusammenhängen: Warum bricht eine kritische Realitätsprüfung im Verhalten von Nationen — vor allem in Eskalationsprozessen — unvergleichlich schneller und widerstandsloser zusammen, als wir das gewöhnlich bei Individuen und sozialen Gruppen und in innenpolitischen Problembereichen beobachten können? Und wie ist hinsichtlich dieser Frage Drohpolitik zu bewerten? Auch hier möchte ich mit einigen Hinweisen auf Überlegungen der Ego-Psychologie beginnen, ohne „individualistische Trugschlüsse" zu begehen. Nach verschiedenen psychologischen Theorien ist eine angemessene Realitätsprüfung durch Individuen von den Leistungen des Ichs abhängig, das — wie in der psychoanalytischen Theorie — zwischen den Ansprüchen des Es und den Erfordernissen der externen Realität zu vermitteln hat. Das Ich funktioniert dabei wie ein kybernetisches Kontrollzentrum, dessen primäres Ziel gewöhnlich in der Selbsterhaltung und der unverminderten Lebensfähigkeit des Individuums besteht.

Ein Verlust an Ich-Leistungen kann nun zu einem Verlust an Selbstkontrolle und zu einer allmählichen Entfremdung von der Realität führen. Diese wird dann unangemessen und unpräzise wahrgenommen; und mit einer Freisetzung affektiver Impulse steigert sich schließlich noch die Intelligenzschwächung des Ichs. Das Verhalten wird dann mehr durch blinde Impulse als durch kritische Realitätsprüfung bestimmt. Mit einer Erhöhung der Suggestibilität geht dann eine Freisetzung latenter, potentiell aggressiver Impulse einher.

In der Sprache der Kybernetik könnte man argumentieren, daß die selbst-korrektiven oder negativen Rückkoppelungsprozesse mit dem Verlust an Ich-Leistung allmählich zurückgedrängt werden, während positive, selbsterweiternde oder verstärkende Rückkoppelungsprozesse zunehmen. Mit der Überhandnahme eines primär affektorientierten Verhaltens — unterstützt durch positive Rückkoppelungsmechanismen — wird die Neigung zu kognitiver Regression überwältigend — und die Wahrscheinlichkeit einer Selbstkorrektur verringert.

Der enge Zusammenhang zwischen Ich-Leistung und der Entwicklung und Freisetzung von Aggressivität ist besonders im Zusammenhang der Gruppen-und Massenpsychologie behandelt worden Wenn Individuen in bestimmten Gruppen ihre eigene Autonomie zum Teil aufgeben, wenn Kenntnis und Erfahrung der Realität und die Realitätsbewertung in ihrem Ich ersetzt werden Burch Realitätsbezüge, die nicht mehr unmittelbar erfahren werden und nicht mehr Teil und Ergebnis der eigenen selbständigen Realitätsprüfung sind, wächst Suggestibilität. Emotionalität überwiegt dann kritische Vernunft, und das Individuum neigt leicht zu einer libidinös besetzten unkritischen Identifikation mit Führern und sozialen Bewegungen. Auf der Grundlage dieser Analyse ist es dann nicht so sehr ein primärer, unaufschiebbarer und dem Individuum inhärenter Trieb oder Impuls, sondern eher Apathie, welche Individuen zu Aggressivität geneigt macht

Nun sind Staaten — wie dargelegt — viel weniger zureichend mit Fähigkeiten zur Realitätsprüfung ausgerüstet, obgleich sie meist eine beispiellose Machtfülle besitzen und in einer Umwelt sich bewegen müssen, in der leicht Spannungen, Feindschaft und potentielle Aggression entstehen. Die Gefahr, die dabei für Nationen besteht, liegt nicht nur, was die Erfassung der Außenwelt angeht, in der Anfälligkeit für Informationsverzerrung und Perzeptionsstörungen, sondern gerade auch in der immer drohenden Unterminierung einer angemessenen Selbstwahrnehmung und Selbstkritik — und damit zusammenhängend in der Schwächung ihrer Fähigkeit zur Selbstkontrolle Die vielen Autoren unerklärliche Neigung von Nationen zu Drohpolitik und eskalierendem Verhalten, an dessen Ende oft Gewalthandlungen stehen, wird einigermaßen einsichtig, wenn man Aggressivität und tat-sächliche Aggression in der internationalen Politik als das Ergebnis eines sowohl nach außen wie nach innen wirksam werdenden kognitiven Realitätsverlustes auf der Basis ohnehin schon unterentwickelter Fähigkeiten zur Realitätsprüfung und Selbstkontrolle interpretiert, wobei der Verlust an Selbstkontrolle durch das Anwachsen affektbedingten Handelns gesteigert wird

Dies ist der allgemeine Hintergrund, warum Nationen, nachdem sie sich einmal anfänglich in Kollisionskurse verwickelt haben, Schwierigkeiten haben, ihr Engagement zu dämpfen oder sich von einmal verfolgten Strategien loszusagen. Von außen betrachtet erscheint ein solches Engagement oft selbst-bewußt und stufenweise kalkuliert. Und die politische Propaganda versuchte, in der Vergangenheit nicht weniger als heute, in diesem Zusammenhang immer wieder das Bild einer überlegten, von einer detaillierten Konzeption getragenen Strategie, sei es der Drohung oder der Eskalation, zu vermitteln, während Staaten in Wirklichkeit in vielen solchen Fällen eher blind getrieben werden, als daß sie ihr eigenes Handeln selbst verstünden und überdies noch zu kontrollieren imstande wären

Der gefährliche Aspekt der Unterhöhlung von kritischen Intelligenzressourcen liegt im Falle von Nationen also nicht nur in der, wie später noch eingehender zu erläutern ist, Verzerrung der Informationen aus der Umwelt und dem allmählichen Aufbau von Feindbildern und entsprechenden Attitüden, sondern gerade auch in der graduellen Untergrabung eines realitätsangemessenen Selbstverständnisses und den darauf beruhenden Handlungsfolgen und ihrer kritischen Kontrolle.

Ich würde also die Neigung zur Eskalation und zum Griff zur Gewalt in der internationalen Politik als das Ergebnis des Zusammenspiels einer von engen Interessenfixierungen vorgezeichneten verzerrten Umweltorientierung und einer parallel sich entwickelnden, politisch wirksam werdenden Selbsttäuschung im Innern, die bis zum kollektiven Selbstbetrug führen kann, interpretieren Dieser doppelte Realitätsverlust bei sich aufbauenden Feindschaften wurde bisher in der Analyse der Zusammenhänge von Aggressivität und der Neigung zur Gewaltanwendung nur unzulänglich berücksichtigt. Die Brüchigkeit der politischen Vernunft von Staaten liegt aber nun gerade darin, daß im schlechtesten Falle weder aus der Innengesellschaft ausreichende kritische Kräfte gegen systematische Verdummungsprozesse, wie es eine Eskalationspolitik darstellt, sich mobilisieren lassen, und daß auch die weitere Umwelt bei wachsender Verfeindung nicht immer als verläßliches kritisches Korrektiv zu bewerten ist und somit die Irrtumsanfälligkeit im schlechtesten Falle von zwei Seiten gefördert wird. Verstärkend wirkt auf diese Prozesse, daß vor allem in konflikt-orientierten Wechselbeziehungen das Scheitern des Versuchs, eine wenig vorhersehbare und kontrollierbare Umwelt kontrollierbarer und vorhersehbarer zu machen, irritierend wirkt; der Griff zur tatsächlichen Aggression erscheint dann oft als befreiende, von Ungewißheit lösende Handlung, mit der klare Verhältnisse geschaffen werden sollen

Welchen Stellenwert hat nun eine systematisch verfolgte Drohpolitik in diesem Zusammenhang? Ihre problematische Bedeutung liegt darin, daß von ihr alle möglichen Impulse ausgehen, die die hier aufgezeigten Entwicklungstendenzen nachdrücklich verstärken. Indem Drohpolitik zu einer Unterbindung von offener Kommunikation und angemessener Realitätsprüfung führt, indem mit ihr der Boden für Feindschaften unablässig genährt wird und autistische Strukturen entwickelt werden, fördert sie genau das Gegenteil dessen, was eine rationale, die strukturellen Schwächen der internationalen Politik in Rechnung stellende Politik berücksichtigen müßte. (Ich komme auf diesen Punkt am Ende zurück). Als gefährlich erscheint dabei diese Politik nicht nur in ihrer Außenbeziehung, sondern auch hinsichtlich ihrer chronischen Folgeerscheinungen im Innern. Neben vielen, früher schon erwähnten gesellschaftspolitischen Auswirkungen sei hier nur darauf verwiesen, daß durch sie die denkbaren Ansätze einer kritischen und kommunikationsoffenen Beziehung zur Außenwelt von Seiten einzelner gesellschaftlicher Subsysteme eingedämmt, wenn nicht schlimmstenfalls verhindert werden, so daß schließlich eine kognitiv verarmte Infrastruktur hinsichtlich wesentlicher sicherheitspolitischer Fragen entsteht, die wiederum nur durch ganz besondere, bewußte politische Anstrengungen überwunden werden kann Im Verlaufe der Herausbildung einer konsequent betriebenen Abschreckungspolitik droht überdies die Gefahr, daß diese übermäßig oder überdeterminiert wird, das heißt daß ihre politischen, militärstrategischen, ökonomischen und sozialpsychologischen Komponenten je einzeln — und schon gar in Kombination — mit großer Wahrscheinlichkeit in ein und dieselbe Richtung die Neigung eines Staates zu Drohperzeptionen und Überreaktion, die schließlich im Aufbau von Rüstungskomplexen münden, fördern. Die von Drohpolitik aus Effizienzgründen erwünschte Konformität in der Innenpolitik führt dann in der Konsequenz zu einer Erosion von einer sonst möglichen selbständigen, also nicht gleichgeschalteten Realitätsprüfung.

Die breite Literatur zur psychologischen Analyse von internationaler Politik läßt sich nun in die vorangehenden Überlegungen durchaus einreihen. In ihr wurde meist die — manchmal stark und manchmal kaum ausgebildete — Aggressionsneigung von einzelnen Zivilisationen und Kulturen betont; besonderer Nachdruck wurde überdies auf die Rolle potentiell aggressiver Persönlichkeitstypen gelegt. Dabei liegt die Stärke dieser seit mehr als 30 Jahren verfolgten Diskussion in der Identifikation von Schlüsselvariablen einzelner Quellen (wie Individuen, Einflußgruppen, Politiker u. a.) möglicher Aggression. Dieser analytische Ansatz hat große Erkenntnisse zutage gefördert; man wird aber in den kommenden Jahren sich mehr darum bemühen müssen, die Prozesse der Bündelung einzelner Faktoren zu irrationalen Strategien und die Bedingungen des oft wider das Selbstinteresse gerichteten Verhaltens von gesellschaftlichen Aggregaten zu erklären.

Ich habe hier darzulegen versucht, warum die Prozesse der Realitätsprüfung in den Beziehungen der Staaten zu ihrer Umwelt problematisch sind und warum der potentiell autistische Charakter internationaler Politik und die vor allem für Individuen, aber auch manche sozialen Gruppen gegebene Realitätsferne der internationalen Beziehungen internationale Politik in wechselndem Ausmaße zu einem Gegenstand projektiver Scheinbeziehungen werden lassen Ich habe dabei die in der Struktur von internationalen Beziehungen wie die in der gesellschaftlichen Binnenstruktur liegenden Bedingungen der Anfälligkeit zu irrationalem Verhalten zu charakterisieren versucht, die im Falle von Abschreckungspolitik beispiellos verstärkt werden.

VIII. Entscheidungsprozesse, Drohpolitik und Eskalation

Die diskutierten Erscheinungen implizieren nun wichtige Konsequenzen für die politische Verhaltensanalyse. Der wohl wichtigste Teil einer solchen Analyse betrifft das Konflikt-verhalten von Nationen. Dabei wäre eine früher schon angeklungene Hypothese hier explizit zu formulieren: Ursprünglich realistische Konflikte tendieren dazu, im Verlaufe ihrer Eskalation von nicht-realistischen Komponenten überlagert zu werden Unter realistischen Konflikten wären dabei jene zu verstehen, die zur Klärung von konfligierenden Zielen beitragen und die wenigstens prinzipiell auf Zeit lösbar sind. Solche Konflikte müssen keineswegs mit Feindschaft und Aggressivität durchsetzt sein. Mit wachsender Intensität drohen jedoch realistische Konflikte in nicht-realistische umzuschlagen, die dann weniger einer Konfliktaustragung zwischen den konfligierenden Parteien dienen, sondern vielmehr der Freisetzung von Spannung und aggressiven oder quasi-aggressiven Impulsen. Realistische Konflikte können als Mittel zur Erreichung angestrebter Ziele betrachtet werden, auf die man sich festlegt, solange es sinnvoll und zweckdienlich ist, während nicht-realistische Konflikte wie im Falle von ideologischen Auseinandersetzungen ein Engagement mit sich bringen, das eine vergleichbare Flexibilität kaum zuläßt, da im Grenzfall eine kompromißoffene Auseinandersetzung gar nicht mehr auf der Tagesordnung steht, sondern Aggressivität selbst befriedigt werden soll.

Vor allem in Eskalationsprozessen gibt es Schwellen, bei deren Überschreiten realistische in nicht-realistische Konflikte Umschlägen. Die Rolle, die hier Entscheidungsträger maßgeblich spielen, ist dabei besonders zu betrachten

Die gleitende Eskalation von Konflikten wird nun mit einer Reihe von kognitiven Verzerrungen und Verhaltensverhärtungen im Entscheidungsprozeß begleitet, die in den vergangenen Jahren in der Friedensforschung eingehend diskutiert wurden und die ich aus diesem Grunde nur kurz umreißen möchte Zu solcher Verzerrung führen die bekannten Verteidigungsmechanismen des Ichs in der individuellen Psyche wie Repression, Verneinung, Projektion und Versetzung. Aber auch die Abfolge von erfahrener Frustration und sich manifestierender Aggression zieht kognitive Verzerrungen nach sich.

Da in einem sich eskalierenden Konflikt der Wille zur Beherrschung der Umwelt wächst, während gleichzeitig diese meist unkontrollierbarer — weil feindlicher — wird, neigen Entscheidungsträger oft dazu, die von ihnen darin erlebte kognitive Dissonanz durch eine merkliche Verfestigung ihrer bisherigen Position zu überspielen Schlägt sich ein solches Verhalten in organisatorisch fundierten Strategien nieder, dann kann hierdurch ein ganzer Informationsapparat, was die Suche, Verarbeitung und Auswertung von Informationen angeht, geprägt werden.

Eine weitere Ursache kognitiver Verzerrung ist die Unfähigkeit, Zweideutigkeiten, Unsicherheiten und Ungeklärtheiten (intolerance of ambiguity) zu ertragen Eine anhaltende offene Situation verleitet in feindlicher Umwelt sehr leicht dazu, daß durch massive Eingriffe abrupt klare Verhältnisse geschaffen werden sollen. Eine solche Unduldsamkeit gegenüber nicht erfaßbaren, intellektuell zweideutigen Situationen ist oft in kognitiv starren Denk-und Gefühlsstrukturen zu suchen: in der Neigung zu stereotypen Denkweisen, zur Übersimplifikation und zur Übergewißheit, die in ihrer Kombination gegenüber politischer Propaganda leicht willfährig machen.

Die Reduktion kognitiver Komplexität angesichts von perzipierter Spannung, erfahrener Furcht, wahrgenommener Feindschaft, wie auch unter Zeitdruck und erheblichem stress ist eine theoretisch wie empirisch wohl erforschte Dimension kognitiver Verzerrung

Der Druck zur kognitiven Vereinfachung von Informationsprozessen und -Inhalten bei in-tensiv wahrgenommener Feindschaft wird überdies unter mannigfaltigen Umständen und gerade in Fragen nationalen Patriotismus und internationaler Politik durch positive Gruppensanktionen noch verstärkt.

Schließlich gibt es eine ganze Reihe von Konformismuszwängen in Kleingruppen, die nicht geeignet sind, den Intelligenzpegel einer Gruppe zu erhöhen; auch höchste Entscheidungsgremien, die über Krieg und Frieden entscheiden, sind vor ihnen nicht gefeit

Die genannten Erscheinungen lassen sich oft gebündelt in sogenannten „autoritären Persönlichkeiten" wiederfinden. Die „authoritarian Personality" zeichnet sich ja gerade durch den Hang zu Dogmatismus, durch stereotypes Denken in Freund-Feindbildern, die Unduldsamkeit gegenüber Zweideutigkeiten, die Bereitschaft zur Gewaltanwendung, vor allem auch militärischer Gewalt in der internationalen Politik, die Neigung zu zwischen-ethnischem nicht-realistischem Konfliktverhalten und durch verwandte Attitüden und den aus ihnen ableitbaren Verhaltensweisen aus Darüber hinaus ist der Glaube an Macht und an Bestrafung als einem Mittel zur Kontrolle menschlichen Verhaltens und zur Lösung menschlicher und gesellschaftlicher Konflikte jenseits der engeren Analyse der „autoritären Persönlichkeit" seit nunmehr fast 30 Jah-ren in empirischen Studien als eine Dimension erkannt worden, die das Verhalten von Menschen in Krieg-und Friedensfragen maßgebend bestimmt

Es hat sich immer wieder gezeigt, daß Zwangsorientiertheit (compulsion) als eine Grund-attitüde sich durch primäre ideologische Faktoren wie „Militarismus", „Nationalismus", „Konservatismus", „religiöse Orthodoxie" und „politischen Zynismus" konstituiert, sowie durch Persönlichkeitsattribute wie „Extraversion", „Misanthropie", „Überdisziplin in der Kindererziehung" und unter anderem durch die Anfälligkeit zu Neurosen. Die Versuchung, mit Gewalt zu drohen und — auf der manifesten Verhaltensebene — Abschreckungspolitik tatsächlich zu verfolgen, ist unbezweifelbar dieser Dimension zuzuordnen. Diese Neigung zu Strafe und Zwang ausübendem Verhalten (punitiveness und compulsion) durchzieht dann häufig die Einstellungen zur Innenpolitik, Außenpolitik, zu moralischen und religiösen Fragen mit einer einheitlichen Ausrichtung und gibt ihnen Kohärenz und einen durchgängigen Sinn. Eine ähnliche Kohärenz läßt sich in der gegenteiligen Grundattitüde, die in der wissenschaftlichen Literatur mit Duldsamkeit (compassion) umschrieben worden ist, beobachten. In ihr treffen sich beispielsweise Internationalismus als ideologischer Faktor und Empathie (also die Fähigkeit und der Wille, andere Menschen und Völker in ihrem Eigenwert zu verstehen und als wertvolle Partner zu behandeln) als Persönlichkeitsattribut zusammen.

Manche Kritiker des individualpsychologischen Ansatzes zur Analyse des Verhaltens von außenpolitischen Entscheidungsträgern und Meinungsbeeinflussern sind nun geneigt, die genannten ideologisch-affektiven und kognitiven Persönlichkeitsattribute und die von ihnen ausgehenden Zwänge zu Fehlwahrnehmungen und Fehlentscheidungen zu leugnen oder doch zu verniedlichen. Ihnen zufolge sind Staaten in sich ruhende Gebilde und politisch handelnde Peisonen nur Rollenträger, die sich in einem Höchstmaß an einem rational definierten und wohlverstandenen Eigeninteresse orientieren würden.

Die Problematik solcher Argumentation liegt nun aber darin, daß in ihr unberücksichtigt bleibt, wie sehr allein schon die Umwelt, in der Entscheidungsträger hinsichtlich internationaler Politik agieren — wie ich zeigte —, eine problematische strukturelle Voraussetzung zur Lernpathologie besitzt. In Zeiten internationaler Spannung, von Krisen und Eskalation kann dann das Zusammentreffen von individueller Lernpathologie und eine durch die Situation bedingte, erhöhte Irrtumsanfälligkeit des internationalen Systems (was die Aufnahme, Bearbeitung und Bewertung von Informationen in seinen Subsystemen angeht) katastrophale Folgen zeitigen. Ein Interaktionseffekt zwischen beiden Faktoren mit kumulativen Wirkungen ist dann wahrscheinlicher als kühle, bewußt angestrengte politische Rationalität, die in vielen Theorien immer noch unterstellt wird Daß es auch letztere Reaktion geben kann, sei nicht bestritten, doch ihre Wahrscheinlichkeit ist gering.

Die Untersuchung von Fehlwahrnehmungen und Fehlkalkulationen in internationalen Krisen hat zu einigen Überlegungen geführt, die in diesen Zusammenhang passen. Es ist heute ziemlich unumstritten, daß diese Fehlleistungen zum Teil auf einer Informationssuche beruhen, die von falschen, wenn auch politisch einsichtigen Prämissen ausgeht, und daß sie in noch häufigeren Fällen nicht auf mangelnden Informationen, sondern auf der politisch motivierten irrigen Bewertung üppig vorhandener Informationen beruhen Was letzteren Fall angeht, so besitzen wir vor allem über Pearl Harbor und die Kuba-Krise genauere Untersuchungen hinsichtlich der Schwierigkeit, in der Fülle von Informationen (noise) die richtigen Zeichen (Signals) zu lesen

Wenn nun Entscheidungsträger selbst noch willentlich eine Krisen-und Eskalationspolitik verfolgen, dann verringert sich mit dem Grad an Selbstverblendung auch die nüchterne Bewertung der Umwelt: Ihre Neigung, auftauchende Informationen gemäß bestehender Theorien und Umweltbilder aufzunehmen, erhöht sich und die Balance zwischen dem immer bestehenden Trend zur Selbstabkapselung und einer realistischen Außenorientierung verschiebt sich zuungunsten letzterer Die Gefahr, ein Minimum an Informationen als ausreichende Grundlage zur Selbstbestätigung zu begreifen, verstärkt sich, und der Trend, die Gegenseite feindlicher und in ihren Handlungen koordinierter, zentralisierter und disziplinierter zu sehen als sie tatsächlich ist, steigert sich. Kurzfristig sinnvoll erscheinende politische Strategien (wie eine verstärkte Drohpolitik und Eskalation) werden dann unter Mißachtung von sozialen Kosten den langfristigen Kalkülen, die eine größere Vorsicht anraten, vorgezogen. Und die meist stillschweigende Annahme, die Gegenseite ließe sich durch Drohpolitik beeindrucken und ihre Motivationen könnten dadurch verändert werden, führt zur ohnehin in der internationalen Politik beobachtbaren Mißachung elementarer Klugheitsregeln menschlichen Verhaltens wie der Einsicht, daß Drohungen ohne das Versprechen positiven Gewinns und ohne die verläßliche Aussicht auf irgendeine Art von Belohnung politische Motivationen und Positionen bei der sich bedroht fühlenden Gegenseite nur noch verstärken Gerade die in Abschreckungsdiskussionen bis in diese Tage immer wieder bemühte Argumentation, durch diese Politik und ihre Waffenarsenale ließen sich vom Gegner Konzessionen erzwingen, gehört mehr in den Bereich der politischen und wissenschaftlichen Folklore, als daß die Wirklichkeit ihr entsprechen würde Eine solche Annahme kann sich aber in Krisenzeiten zur mörderischen Selbsttäuschung steigern. In der Tat sind ja zentrale entscheidungstheoretische Aspekte gerade der Abschreckungsdoktrinenäußerstproblematisch, ob es sich nun um den Bias für kurzfristig plausible „Sicherheitsvorkehrungen" mit unglaublich langfristigen nachteiligen Folgen oder um die Annahme rationaler Selbstkontrolle, um die Mißachtung kumulativer Risiken, die Annahme von Erfolgsaussichten für politisch rücksichtslos und teilweise absichtsvoll irrational verfolgte Strategien, die Unterstellung unveränderter Motivationsinhalte auf der Gegenseite auch bei rücksichtsloser Drohpolitik der eigenen Seite handelt oder um andere mehr Die Abschreckungsdoktrinen haben hier Annahmen propagiert, die zunächst sehr sugge-stiv und plausibel erscheinen, die jedoch weder für die Zeit vor 1945 noch für die Jahre danach richtig sind, abgesehen davon, daß sie für die internationale Politik aus den früher erwähnten Gründen höchst problematisch sind. Auch der ständige Hinweis, daß mit den Nuklearwaffen die Determinanten der traditionellen Politik in der Praxis völlig obsolet geworden seien, ändert nichts. Dieser Tatbestand wird zwar in einer inzwischen verbreiteten Einsicht ausgesprochen; inwieweit jedoch die Wirklichkeit nach den überkommenen obsoleten Prinzipien gerade auch mit Hilfe nuklearer Waffenpotentialen organisiert bleibt, diese Frage bleibt in einer solchen Argumentation meist sorgsam ausgespart.

IX. Der Übergang von dissoziativer zu assoziativer Friedenspolitik

Ich habe mich aus eingangs angegebenen Gründen in den vorangehenden Überlegungen mit wenigen Ausnahmen vor allem auf die Analyse eines Typs der früher entwickelten neun Typen von internationalen Beziehungen konzentriert, nämlich auf das System wechselseitiger Abschreckung, weil in ihm die Gefahrenpotentiale internationaler Politik am folgenschwersten sind und weil diese sich in der Abschreckungspolitik besonders verdeutlichen lassen. Mein Kommentar über die restlichen Typen kann zunächst relativ kurz und summarisch sein. Wann immer die realen Beziehungen zwischen Staaten sich erhöhen und Feindbilder keine beachtliche Rolle spielen und wann immer gleichzeitig ausreichende Kapazitäten zur verläßlichen wechselseitigen Koordination von Handlungen bestehen, wächst die Chance, daß Staaten in dauerhafte kooperative oder doch aggressionsfreie, kompetitive Beziehungen zueinander treten oder daß sie wenigstens lernen, friedlich miteinander zu koexistieren. Wachsende Interdependenz ohne angemessene Koordinationskapazitäten reichen nicht aus, denn sie könnten — bei der Struktur internationaler Beziehungen — leicht zu konfliktträchtigen Verflechtungen führen

In diesem Zusammenhang wären nun alle Friedensprogramme und praktischen Strategien zu sehen, die die realistischen Anteile an den internationalen und transnationalen Beziehungen erhöhen und Steuerungskapazitäten — vor allem mit Hilfe ausgebauter internationaler Organisationen — verstärken wollen. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Programme im Detail einzugehen, auch kann ich nicht die hier unmittelbar relevanten Probleme von Integration und transnationaler Assoziation im einzelnen behandeln Nur dies wäre festzuhalten: Die Schwelle zwischen Abschrekkung und Kooperation impliziert einen sozialen Wandel, der einer strukturellen Neuorganisation zwischenstaatlicher Beziehungen gleichkäme: dem Übergang von dissoziativer zu assoziativer Friedenspolitik

Galtung hat die erstere als den Versuch gekennzeichnet, Frieden durch Minimisierung von Kontakten und durch Trennung zu erreichen, während er assoziative Friedenspolitik durch Zusammenarbeit und organisatorisch abgesicherte Interdependenz charakterisiert. In dem assoziativen Friedenskonzept (und seiner Theorie) spielen „symbiotische" und „symmetrische" sowie in vieler Hinsicht sich überlappende und sich durchkreuzende Beziehungen eine besondere Rolle. Die Suche nach Verdichtung und Steigerung zwischenstaatlicher Realität und nach der Erhöhung der Chance und Wahrscheinlichkeit wirklichkeitsbezogener und adäquater Realitätsprüfung sowie die Bemühung, Strukturen, die autistische Feindschaft fördern, zurückzudrängen, ist unverkennbar in diesen Überlegungen. Dasselbe gilt für die in der allgemeinen politischen Integrationstheorie immer wieder diskutierten kritischen Größen, die integrationsfördernd sein sollen und die zur Herausbildung von solchen Gemeinschaften beitragen können, in denen Kriege nicht mehr denkbar sind: die Übereinstimmung von politisch-gesellschaftlichen Hauptwerten; die Erwartung eines Gewinnes politischer oder materieller Güter; die Fähigkeit, auf die Belange aller beteiligten Staaten einzugehen, vor allem auf die Nöte schwächerer Mitglieder (responsiveness); sowie eine wechselseitige Voraussagbarkeit der Motive und Handlungen, was eine ununterbrochene Kommunikation zwischen Staaten, vor allem ihren Eliten, impliziert sowie weitverbreitete aufgeklärte Loyalitäten gegenüber neuen politischen Einheiten.

Dieses Konzept verbindet emanzipative Schritte mit organisatorischer Innovation. Inwieweit diesen Vorstellungen heute schon eine Wirklichkeit entspricht, ist eine offene, empirisch zu untersuchende Frage. Die Gefahr, daß Eliten, vor allem partikulare mächtige Einflußgruppen, sich auf Kosten der Bevölkerungen zusammentun, und die Gefahren — angesichts bleibender Asymmetrien zwischen Staaten —, durch Integrationsprozesse alte Abhängigkeitsverhältnisse zu zementieren und neue vielleicht zu schaffen, sind nicht klein und bedürfen einer kritischen Analyse. Die harten Realitäten des Nationalstaates und internationaler Schichtung werden auf lange Sicht noch zähe Widerstände gegen eine breit angelegte internationale Kooperation bilden, in der die Neigung zu autistischer Feindschaft und zu interessenpolitischer Übervorteilung nicht mehr zu den entscheidenden Determinanten internationaler Politik gehörten.

X. Instrumentelle Drohpolitik in kooperativen Systemen

Wäre einmal die Entwicklungsstufe kooperativer Systeme jedoch erreicht, so würden sich auch noch auf ihr Elemente von Drohpolitik beobachten lassen Da Drohpolitik in einem solchen Zusammenhang einen ganz anderen Stellenwert als im Abschreckungssystem hat und da kooperative Systeme internationaler Politik gewissermaßen den zweiten Extremtyp internationaler Beziehungen darstellen, möchte ich im folgenden noch einige Merkmale dieser Art von Drohpolitik kurz diskutieren.

Kooperation oder kooperative Systeme internationaler Beziehungen sind gekennzeichnet durch relativ hohe Transaktionsströme realer Austauschprozesse, durch vorherrschende Bilder von wechselseitiger Kooperation und durch eine hohe positive Kovarianz der erwartbaren Gewinne und tatsächlichen Belohnungen. Das heißt, kooperative Systeme bauen nicht nur auf umfangreichen realen Austausch-prozessen auf, die unter optimalen Bedingungen vielfältiger Natur sind, so daß das bestehende Netz wechselseitiger Verbindungen durch den Ausfall einer bestimmten Art von Transaktion — wie beispielsweise eines bestimmten Handelsgutes — nicht ernsthaft berührt wird. Kooperative Systeme werden auch nicht nur durch die psychische Neigung zu kooperativen Selbst-und Umweltbildern und die geringe Wahrscheinlichkeit von eskalierenden Feindperzeptionen geprägt, sondern durch eine Form von interdependenter, gewissermaßen symbiotischer Lebensgemeinschaft.

Erfolg und Mißerfolg des einen berühren unmittelbar auch den anderen, also den Partner. Diesen Tatbestand erfaßt der Begriff der Kovarianz. Positiv ist die Kovarianz von Erfolgs-und Gewinnerwartungen, wenn der Erfolg des einen nicht zwangsläufig zum Nachteil des andern gereicht (wäre dies der Fall, so würde man heute von negativer Kovarianz oder einem Nullsummenspiel der Interessen sprechen).

In der Theorie internationaler Beziehungen werden Beziehungsmuster, die durch hohe Transaktionen und die Existenz einer markanten Präferenz hinsichtlich der Zusammenarbeit mit einem Partner geprägt sind, als integrierte oder integrative Systeme bezeichnet. Die Theorie der internationalen Integration versucht dabei, notwendige und zureichende Hintergrundbedingungen von Integrationsprozessen und Schlüsselvariablen (sowie deren typische Beziehungen) von Integrationsbewegungen analytisch zu erfassen.

Es ist nun meine These, daß in einem kooperativen System (wie beispielsweise heute zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland) nicht nur Interessenkonflikte existieren, sondern auch spezifische Formen von Drohpolitik sich feststellen lassen. Drohpolitik ist in einem solchen Zusammenhang ein Instrument oder ein Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen in einem nicht in Frage gestellten Rahmen kooperativer internationaler und transnationaler Beziehungen. Drohpolitik wird in einer solchen Umwelt meist punktuell verfolgt: Sie wird in wechselseitigen Auseinandersetzungen zeitweilig nach Maßgabe politischer Zweckdienlichkeit eingesetzt. Sie wirkt dabei als ein kurzfristig sinnvoll erscheinendes Regulativ, als ein Mittel zur Förderung neuer kooperativer Arrangements (was sich in den vergangenen Jahren sehr häufig in EWG-Verhandlungen beobachten ließ); wie manche Konflikte kann sie dann der Beschleunigung von wechselseitigen Anpassungsprozessen dienlich sein Unter den Prämissen eines nicht in Frage gestellten Rahmens kooperativer Politik kann selbst ein überraschendes Ultimatum noch zur weiteren Integration beitragen und damit zur Überwindung von zwischenstaatlichen Beziehungen, in denen — wie ich zeigte — Drohpolitik gewöhnlich eskalations-, aggressions-und kriegsfördernd wirkt.

Solche kooperativen Systeme haben Seltenheitswert in den internationalen Beziehungen. Dennoch, sie existieren gelegentlich; und eine instrumentell verstandene und instrumentell verfolgte punktuelle Drohpolitik ist in ihnen genauso häufig zu beobachten wie in innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen und im innenpolitischen Alltag aller Staaten. Hier wie in zwischenstaatlichen kooperativen Systemen wird diese Form von Drohpolitik dadurch geprägt, daß sie eingesetzt und verfolgt wird, nicht primär um Drohungen einem Partner zu übermitteln, sondern um mit Hilfe von Drohungen inhaltlich andersartige Zielsetzungen erfolgreich zu erlangen. Was Drohpolitik in diesem Zusammenhang instrumentell macht, ist die hohe Wahrscheinlichkeit, daß sie nicht zu einem Selbstzweck wird, also nicht um ihrer selbst willen verfolgt wird und also nicht chronisch wird.

Hier zeigen sich unmittelbar auch die Gefahren einer Drohpolitik, die eingesetzt wird, um den Entwicklungsgang und die Wachstumsprozesse eines kooperativen Systems einzudämmen oder zum Stehen zu bringen. Denn eine solche, auch nur für einen punktuellen Einsatz konzipierte Drohpolitik droht leicht in eine Obstruktionsstrategie umzuschlagen. Kooperative Systeme werden dann oft in Richtung auf jenen Typ internationaler Beziehungen getrieben, den ich als konlliktträchtige Verflechtung umschrieben habe, in dem also die tatsächlichen Transaktionen hoch und die Feindbilder ausgeprägt sind. (Man denke an das deutsch-englische Verhältnis vor 1914.) In einem kooperativen System, wie ich es zu zeichnen versucht habe, wird Drohpolitik als ein Mittel wechselseitiger Koordination nur vereinzelt, nur kurzfristig und nur mit spezifischen Zielsetzungen verfolgt, weil infolge der tatsächlichen realen Transaktionen und der positiven psychischen Prädispositionen wie auch offenen Kommunikationsprozesse eine dichte gesellschaftliche Wirklichkeit zwischen den kooperierenden Staaten entsteht, in der durch die ständige Interaktion auch ohne Drohpolitik eine wechselseitige Abstimmung von Zielsetzungen und eine gegenseitige Anpassung operativer Strategien sich abspielt. Was Realitätsprüfung, Selbstkontrolle und wechselseitige Beeinflussung angeht, so ist dieser eben umschriebene materielle wie psychische Sachverhalt die Grundlage der Mehrzahl der eher routinemäßig verfolgten als laufend strategisch neu konzipierten zwischenmenschlichen und innergesellschaftlichen Beziehungen. Daß wir für zwischenstaatliche Beziehungen eigens konzipierte Integrations-oder Assoziationstheorien entwickeln, deutet ja darauf hin, wie sehr die materiellen wie psychischen Voraussetzungen für die Herausbildung oder Existenz kooperativer Systeme in diesem Bereich zwischenmenschlichen und zwischenstaatlichen Handelns gewöhnlich, das heißt statistisch in der Mehrzahl aller beobachtbaren Fälle, fehlen. Und es nimmt dann auch nicht wunder bzw. ist es eine völlig realistische Einschätzung der Lage, daß mit Drohpolitik in der internationalen Politik eher Eskalation, Feindschaft, Aggressivität und Aggression, wenn nicht gar kriegerisches Verhalten assoziiert werden.

XL Chronische und instrumentelle Drohpolitik

Ich habe in dem vorliegenden Artikel mich bemüht, vor allem die beiden Extremtypen internationaler Beziehungen: Abschreckung und Kooperation, zu analysieren. Es bleibt zu betonen, daß in allen übrigen in Tafel 1 entwikkelten Typen die Gefahr sehr groß ist, daß durch eine nicht nur punktuell und instrumentell, sondern systematisch, geplant und permanent verfolgte Drohpolitik — im Sinne von anhaltenden Bedrohungsvorstellungen und Drohstrategien — autistische Strukturen sich herausbilden und autistische Prozesse aktiviert werden. Dies gilt vor allem — wie schon erwähnt — für den Typ konfliktträchtiger Beziehungen. Er war in der Geschichte der wechselseitigen Beziehungen der führenden Staaten am häufigsten. Denn diese führenden Staaten haben — allein schon aufgrund ihrer Größe — immer miteinander am meisten Handel getrieben, rege wechselseitig investiert und diplomatischen Austausch und gouvernementale Kommunikation gepflegt. Selten haben sich in diesen Beziehungen zureichende Koordinationsinstrumente zur wechselseitigen Abstimmung von Interessensphären herausgebildet; selten wurden Interessenkonflikte rational verhandelt und beigelegt.

In der Mehrzahl der Fälle steigerte sich die Gefahr des Umschlags oder gar des gleitenden Übergangs von realistischen Konflikten in nicht-realistische. Chronische Feindfixierungen waren keine Seltenheit in der Geschichte Europas und der Welt. Wie dieser Typ von internationalen Beziehungen, so lassen sich auch die anderen in Tafel 1 markierten unschwer in Richtung auf intensivere Feindbilder als auf höhere koordinierte realistische Beziehungen aktivieren. Immer erscheinen dann die Kosten solcher Politik im Augenblick klein, vor allem mit den eigenen „Interessen" übereinstimmend. Ihre langfristigen Folgen können jedoch äußerst kostspielig sein, vor allem wenn einmal fixierte Feindbeziehungen sich herausbilden und entsprechende organisatorische Folgen sich zeigen, also Rüstungspotentiale und Apparaturen nachfolgen. Dann ist die Gefahr in der Tat groß, daß wir uns jenen Erscheinungen nähern, die ich im vorliegenden Artikel eingehend zu analysieren versucht habe: der Herausbildung chronischer Neigungen zu Drohwahrnehmungen und Drohstrategien und der Eskalation von einer instrumenteilen zu einer chronischen Drohpolitik.

XII. Vier Empfehlungen für eine Übergangsstrategie

Der Weg von abschreckungsbestimmten zu kooperativen Beziehungen in der internationalen Politik ist mühsam und lang und wird im Falle der Großmächte durch die Existenz von nuklearen und chemisch-bakteriologischen Waffenpotentialen nur noch komplizierter. Sollte er zu „friedlicher Koexistenz" führen, so wäre dies fürs erste, nämlich das pure überleben, schon ein Gewinn. In meinen Überlegungen zur Analyse von Abschreckungspolitik und internationalen Beziehungen sind eine Reihe von allgemeinen Hinweisen für eine mittelfristige Veränderungsstrategie implizit enthalten, vor allem die folgenden vier die ich zum Abschluß kurz umreißen möchte: 1) Der Hinweis auf die Bedeutung der Über-windung einer durch Drohpolitik sich verstärkenden Selbstbezogenheit mit Hilfe einer in der Innenpolitik wirksam werdenden Selbstkritik, die sich in veränderten politischen Strategien, organisatorischen Arrangements — beispielsweise der Sicherheitspolitik — und einer politischen Aufklärungsarbeit niederschlägt, die bewußt auf die Gefahren von Droh-und Abschreckungspolitik aufmerksam macht und damit zu einer Überwindung der im Kalten Krieg hochgezüchteten regressiven Bewußtseinsstrukturen der Öffentlichkeit beiträgt. Mit einer solchen politischen Strategie könnte die Anfälligkeit einer Gesellschaft und eines Staates, kostspielige blinde Strategien zu verfolgen, merklich reduziert werden.

2) Der implizite Hinweis, daß eine solche innenpolitische Selbstkorrektur in der internationalen Politik sich in einer bewußten Unter-reaktion gegenüber feindlich oder wenigstens nicht freundlich gesinnten Staaten niederschlagen müßte. Unilaterale Nicht-Eskalationsstrategien oder Deeskalationsstrategien müßten mit gezielter Anstrengung verfolgt werden, um drohende Konfliktspiralen zu verhindern Ob sich diese vier genannten Richtlinien als bescheidene Ansatzpunkte einer Transiormationsstrategie erweisen können, hängt weitgehend vom Prozeß einer Selbstbewußtwerdung sozialer Träger und der Bereitschaft einer politischen Elite ab, sich um die Herausbildung einer neuen Friedensordnung zu bemühen. Solange die aufgezeigten politischen, militärstrategischen, wirtschaftlichen und sozialpsychologischen Prämissen von Abschreckungspolitik jedoch nicht in Frage gestellt werden, halte ich den Erfolg einer alternativen Friedenspolitik für ziemlich unbestimmt. Man müßte ja wenigstens die intellektuelle Kritik dieser Prämissen einmal anvisieren!

Was die Beziehung zwischen den mitteleuropäischen Ländern angeht, vor allem jene zwischen der BRD und der DDR, so erscheint mir die Chance zur Selbstkorrektur größer, ganz einfach deshalb, weil sich bei unmittelbarer Nachbarschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen von Kommunikation und Technologie autistische Feindstrukturen über kurz oder lang ad absurdum führen — und ad absurdum geführt werden können, wenn die vier oben genannten Leitlinien einer neuen Politik in eine vielfältige innenpolitische und außenpolitische Praxis, die ich hier nicht im einzelnen erläutern kann, übersetzt würden. Ob dies gelingt und ob überhaupt etwas sich verändern wird, wird von vielen Anstrengungen und vom Stehvermögen progressiver politischer Führungsgruppen auf allen möglichen gesellschaftlichen Ebenen abhängen. und auf mögliche anfängliche Aktions-Reaktionszirkel mäßigend und dämpfend einzuwirken. Die Konzeption der entschiedenen Unter-reaktion (underreaction oder under-response) entspricht einer Eskalationsdoktrin mit umgekehrten Vorzeichen: sie versucht, allen kognitiven und affektiv-emotionalen Fallen, in die internationale Politik und schon gar Drohpolitik leicht gerät, entgegenzuarbeiten. 3) Es gilt die realistischen Komponenten in den Beziehungen zwischen Antagonisten zu erhöhen und die Chancen einer institutionell und organisatorisch abgesicherten Koordination ihres Handelns zu schaffen und allmählich zu vergrößern. Für den konkreten Fall des gegenwärtigen Abschreckungssystems könnte dies zu einer Form der viel zitierten Komplicenschaft zwischen beiden Großmächten führen, wenn nicht auf beiden Seiten gleichzeitig innenpolitische Selbstkorrekturen (Punkt 1) eingeleitet würden und ein weitreichender sozialer Wandel gefördert würde. 4) Es bedarf positiver Rückkoppelungsprozesse zwischen neu aktivierten politischen Strategien der Innen-und der internationalen Politik. Solche positiven Rückkoppelungsprozesse haben in diesem Zusammenhang wachstumsfördernde Funktionen, die die embryonalen Ansätze zu alternativen Strategien zur Erweiterung drängen. Sie werden vor allem in einer kritischen Anfangsphase, in der jederzeit ein Scheitern droht, besonderer Beachtung bedürfen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die vorliegende Studie wurde als Diskussionsbeitrag für den ersten Kongreß der „Arbeitsgemeinschaft für Friedens-und Konfliktforschung" in München am 30. /31. Mai 1970 geschrieben. Ich greife dabei auf Themen zurück, die ich ausführlicher in meinem Buch „Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit" (im folg, zitiert als „Abschreckung und Frieden"), Frankfurt 1969 behandelt habe. Ich versuche, die dort erläuterten Thesen in einer für den Kongreß wesentlich relevanten Weise weiterzuentwickeln. In der vorliegenden Studie beschränke ich mich in den Anmerkungen auf die wichtigsten und — mit Vorzug — jüngsten einschlägigen Publikationen.

  2. Siehe zum Beispiel den instruktiven Sammelband von Dean Pruitt und Richard Snyder (Hrsg.), Theory and Research on the Causes of War, Englewood Cliffs 1969.

  3. Vgl. James Rosenau (Hrsg.), International Poli tics and Foreign Policy, New York 1969.

  4. Der Transaktionsansatz ist vor allem von Karl Deutsch und seinen Mitarbeitern seit den fünfziger Jahren praktiziert worden. Siehe u. a. jetzt Karl Deutsch, Nationalism and its Alternatives, New York 1969, S. 93 ff. und passim.

  5. Zur Analyse siehe u. a. Steven Brams, Trans-action Flows in the International System, in American Political Science Review, Bd. 60, 1966, S. 880 bis 898 (worin der Autor die Muster diplomatischen Austauschs, von Handel und der Mitgliedschaft von Nationen in internationalen Organisationen untersucht). Dort weitere Literaturangaben. Uber die Ausmaße realistischer Austauschprozesse in den internationalen Beziehungen der vergangenen 70 Jahre siehe Simon Kuznets, Modern Economic Growth, New Haven 1966, S. 285— 358, wo der Autor vor allem Wanderung, Handel und Kapitalverkehr behandelt.

  6. Um die Größenordnung eines der wichtigsten Austauschprozesse, des Welthandels, zu illustrieren: Im Jahre 1967 betrug das Weltbruttosozialprodukt (in Ifd. Preisen) cirka 2500 Mrd. Dollar; der Weltexport (in Ifd. Preisen) cirka 178 Mrd. Dollar oder 7, 1 °/o des Welt—BPS; die Militärausgaben der Welt beliefen sich gleichzeitig auf 182 Mrd.

  7. Zur Analyse psychologischer Prozesse siehe vor allem J. K. Zawodny (Hrsg.), Man and International Relations, San Francisco 1966, 2 Bde.; Herbert Kelman (Hrsg.), International Behavior, New York 1965; Jerome Frank, Muß Krieg sein?, Darmstadt 1969; Ross Stagner, Psychological Aspects of International Conflicts, Belmont (Kal.) 1967.

  8. Klaus Faupel hat inzwischen diese Eigentümlichkeit, dem später noch zu diskutierenden Autismus-Theorem nicht unähnlich, durch die paradoxen Begriffe „einsinnige Zweierbeziehungen" und „zweisinnige Zweierbeziehungen" treffend charakterisiert. Siehe Faupel, Internationale Politik und Außenpolitik, in Ernst-Otto Czempiel (Hrsg.), Anm. 4, S. 23— 47, bes. S. 28— 35 und die dort in Fülle genannte, einschlägige Literatur. Wenn ich ihn recht verstehe, charakterisiert er alle Beziehungen, die eine unmittelbare Abfolge von Handlung und Antwort darstellen als „zweisinnig" (was also beispielsweise für Verhandlungen zwischen zwei Staaten gilt), während — wie er zu Recht betont — die meisten Perzeptionen in den Beziehungen zwischen Staaten weder in irgendeiner Weise symmetrisch sein müssen, noch einer Abfolge gleichen, sondern durch die in detaillierter Analyse des jeweiligen einzelnen Akteurs erfaßbaren Determinanten bestimmt werden. Diese Art von Beziehungen nun wird als „einsinnige Zweierbeziehung" bezeichnet.

  9. Als einen typologischen Versuch siehe Karl Deutsch, The Probability of International Law, in Karl Deutsch und Stanley Hoffmann (Hrsg.), The Relevance of International Law, Cambridge 1969, S. 57— 83, bes. S. 70.

  10. Zu diesen Begriffen und zur Theorie internationaler Schichtung siehe Johan Galtung, International Relations and International Conflicts. A Sociological Approach, in Transactions of the Sixth World Congress of Sociology, Bd. 1, Genf 1966, S. 121 bis 161.

  11. Ein früher Vorschlag zur Typologisierung der Grade solcher Außenbeziehungen findet sich in Karl Deutsch, The Propensity to International Transactions, in Louis Kriesberg (Hrsg.), Social Processes in International Relations, New York 1968, S. 246 bis 254 (Tabelle 1). Was den Außenhandel eines Landes wie der BRD angeht, so würden der Einteilung folgende Werte eventuell entsprechen: „hohe"

  12. Zur Literatur siehe die reichlichen Angaben bei Faupel, a. a. O., (Anm. 8), S. 42— 43.

  13. Vgl. zu meiner Tabelle auch Abbildung 1 in Karl Deutsch, Macht und Kommunikation in der internationalen Gesellschaft, in Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln 1969, S. 471- 483, bes. S. 473 Ich habe diese Abbildung für den vorliegenden Artikel nicht übernommen, da in ihr der „Abschreckungstyp" internationaler Beziehungen gar nicht auftaucht.

  14. Um einen Einblick in die Ausmaße der „Leerräume" zu geben, seien hier folgende Daten exemplarisch angeführt: In einer , Weltmatrize'der Exportbeziehungen von 106 Staaten miteinander, was also n (n — 1) = 11 130 Beziehungsmöglichkeiten schafft, waren im Jahre 1964 nur 4 232 besetzt. (Für frühere Jahre sind die Daten 1890: 504; 1913: 954; 1928: 2347; 1935: 2082; 1938: 2635; 1954: 4243; 1964: 4232; selbst bei unvollständiger Berichterstattung oder Erfassung der Daten sowie der Berücksichtigung der wachsenden Zahl von Staaten dürfte die Größenordnung der bestehenden zu den nicht bestehenden Beziehungen nicht wesentlich von den hier gegebenen Daten verschieden sein). Für eine genauere Diskussion siehe Karl Deutsch, Richard Chadwick und Dieter Senghaas, Regionalism, Trade and International Community (im Entstehen). Uber den „rhetorischen" Charakter internationaler Politik siehe jetzt Charles McClelland und Gary Hoggard, Conflict Patterns in the Interactions among Nations, in: Rosenau (Hrsg.), a. a. O., Anm. 3, S. 711— 724. McClellands Daten aus dem Jahre 1966 deuten darauf hin, daß — wenigstens, was die Berichterstattung über internationale Politik angeht —, das Verhältnis rhetorischer Interaktion zu tatsächlicher Interaktion (Konflikt und/oder Kooperation) sich wie 66 : 33 verhält. Obgleich die Größen schwer zu vergleichen sind, gibt diese Verhältniszahl doch einen Einblick in Eigenart der internationalen Politik und der von ihr geförderten Neigung zur Selbstdarstellung.

  15. Ich werde auch im folgenden nur neuere, wichtige Literatur anführen. Bibliographische Hinweise finden sich in Dieter Senghaas, Abschreckung und Frieden, a. a. O., Anin. 1, S. 295— 316; sowie in Dieter Senghaas (Hrsg.), Die Pathologie des Rüstungswettlaufes. Beiträge der internationalen Friedensforschung, Freiburg 1970. Immer noch wichtig ist John Raser, Deterrence Research, in Journal of Peace Research, Bd. 3, 1966, S. 297— 327; Philip Green, Deadly Logic. The Theory of Nuclear Deterrence, Columbus 1966.

  16. Wie sehr nicht nur manifeste, sondern auch latente Gewalt zum Kern einer Friedensforschung gehört, hat Johan Galtung jüngst überzeugend dargelegt in: Violence, Peace and Peace Research, in Journal of Peace Research, Bd. 6, 1969, S. 167— 191. Siehe auch verschiedene Beiträge in Ekkehart Krippendorff (Hrsg.): Friedensforschung, Köln 1968 und in Dieter. Senghaas (Hrsg.): Friedensforschung und Gesellschaftskritik, München 1970.

  17. über die Ausmaße dieser Vorbereitungen gibt jetzt Auskunft das vom Stockholmer Friedensforschungs-Institut SIPRI herausgegebene Year-

  18. Vgl. u. a. Nigel Calder, Eskalation der neuen Waffen. Friede oder Untergang, München 1969.

  19. Das heißt aus lead-time Erfordernissen.

  20. Von bleibender Bedeutung sind hier die Arbeiten von Charles Osgood, An Alternative to War or Surrender, Urbana 1962 und Erich Fromm, May Man Prevail?, New York 1961.

  21. Im Herbst 1969 hat dann die amerikanische Administration diese Position zum Teil wieder aufgegeben.

  22. Siehe Herman Kahn, Eskalation, Berlin 1966.

  23. So abwegig eine solche Charakterisierung der Abschreckungspolitik im Zeichen der „Entspannung" zu sein scheint, so treffend bleibt sie: man darf nur einen Blick in die Rüstungsliteratur der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Rüstungslobbyisten Amerikas werfen, um die Ausmaße von Kontinuität zu begreifen. Zu tief sind hier die Lehren der fünfziger Jahre aus der Feder prominenter ziviler Strategen verstanden worden! Zur pragmatischen Kritik dieser Lehren siehe Hans Morgenthau, Vier Paradoxien der Nuklearstrategie, in: Dieter Senghaas (Hrsg.), a. a. O., Anm. 15.

  24. Siehe hierzu vor allem George Rathjens, Die Zukunft des strategischen Rüstungswettlaufes. Optionen für die siebziger Jahre, in Dieter Senghaas (Hrsg.), a. a. O., Anm. 15; sowie George Rathjens und G. B. Kistiakowsky, The Limitation of Strategie Arms, in Scientific American, Bd. 222,

  25. Siehe hierzu Milton Rosenberg, Attitüden-veränderung und Außenpolitik in der Ära des Kalten Krieges, in Dieter Senghaas (Hrsg.), a. a. O., Anm. 15, sowie die wichtigen Studien von David Finlay, Ole Holsti und Richard Fagan, Enemies in Politics, Chicago 1967. Siehe jetzt auch die Studie von Michael Parenti, The Anticommunist Impulse, New York 1969.

  26. Wie konterproduktiv eine solche Militarisierung werden kann, das zeigt die wachsende kritische Rüstungsdiskussion in den USA seit Frühjahr 1969. Siehe hierzu meine Einleitung zu dem in Anm. 15 erwähnten Buch „Die Pathologie des Rüstungswettlaufes".

  27. Dies war eine der prominenten strategischen Thesen der frühen sechziger Jahre.

  28. Vgl. u. a. Richard Barnet, Intervention and Revolutions. America's Confrontation with Insurgent Movements around the World, New York 1968 sowie Gabriel Kolko, The Roots of American Foreign Policy, Boston 1969. Siehe jetzt auch Ekkehart Krippendorff, Die amerikanische Strategie, Frankfurt 1970.

  29. Vgl. Jerome Wiesner und Herbert York, Keine Verteidigung möglich, in Krippendorff (Hrsg.), a. a. O., Anm. 16, S. 199— 216 sowie Herbert York, Military Technology and National Security, in Scientific American, Bd. 221, Nr. 2, 1969, S. 17— 29. Yorks Artikel gehört zum Besten, was zu diesem Thema geschrieben worden ist.

  30. Zum Begriff der Lernpathologie siehe Karl W. Deutsch, Politische Kybernetik, Freiburg 1969, passim.

  31. Uber die langfristigen Folgen von Rüstungskosten siehe jetzt Bruce Russett, Who Pays for Defense?, Political Review, in American Science Bd. 63, 1969, S. 412— 426, sowie dessen demnächst erscheinendes Buch „The Offense of Defense".

  32. Joseph Schumpeter, Zur Soziologie der Imperialismen, in Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953, S. 72 — 146.

  33. Siehe hierzu Marc Pilisuk und Thomas Hayden, Rüstungskomplex, gesellschaftlicher Pluralismus Frieden, sowie John Gurley, und Rüstungsgesellschaft und Friedenswirtschaft, in Dieter Senghaas (Hrsg.), a. a. O., Anm. 15; sowie Jack Raymond, Growing Threat of Our Military—Industrial Complex, in Harvard Business Review, Bd. 46, Nr. 3, Mai—Juni 1968, S. 53— 68; Walter Adams, The Military—Industrial Complex and the New Industrial State, in: American Economic Review, Bd. 58, Nr. 2, Mai 1968, S. 652— 665; Murray Weidenbaum, Arms and the American Economy. A Domestic Convergence Hypothesis, in American Economic Review, Bd. 58, 1968, S. 428— 437 und Adam Yarmolinski, The Problem of Momentum, in Chayes und Wiesner (Hrsg.), a. a. O., Anm. 24, S. 144— 149.

  34. Siehe Richard Barnet, The Economy of Death, New York 1969; Ralph Lapp, Kultur auf Waffen gebaut, Köln 1969; John K. Galbraith, How to

  35. Meine eigene erste Diskussion findet sich in „Abschreckung und Frieden", a. a. O., Anm. 1, S. 187 ff.

  36. E. Bleuler, Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung, Berlin 1927, (Folg. Zitate S. 1— 7).

  37. Theodore Newcomb, Autistic Hostility and Social Reality, in: Human Relations, Bd. 1, 1947, S. 69— 86 (demnächst in Martin Irie (Hrsg.) Texte aus der experimentellen Sozialpsychologie, Neuwied 1970).

  38. Erich Lindemann, Individual Hostility and Group Integration, in Zawodny (Hrsg.), a. a. O., Anm. 7, Bd. 1, S. 62— 75, Zitat S. 64.

  39. Sie ist „Abschreckung und Frieden", a. a. O., Anm. 1 entnommen und wenig ergänzt.

  40. Vgl. die grundlegende Studie von Johan Galtung, East—West Interaction Patterns, in Louis Kriesberg (Hrsg.), a. a O., Anm. 11, S. 272— 307, in der Galtung nachweist, daß die „topdogs" hohe Beziehungen in der einen oder andern Hinsicht haben: seien sie nun positiv (wie im Handel) oder negativ (wie in der wechselseitigen Abschreckung).

  41. Anatol 'poport und Albert Chammah, Prisoner's Dilemma, Ann Arbor 1965.

  42. David Singer, Rückkoppelungsprozesse in internationalen Konflikten, in Politische Vierteljahres-schrift, Bd. 20, 1969, S. 2— 20; zur Konzeption siehe auch Karl Deutsch, a. a. O., Anm. 30; Raymond Bauer (Hrsg.), Social Indicators, Cambridge 1966, passim, sowie Mogoroh Maruyama, The Second Cybernetics: Deviation—Amplifying Mutual Causal Systems, in Walter Buckley (Hrsg.), Modern Systems Research for the Behavioral Scientist, Chicago 1968; vgl. auch J. H. Milsum (Hrsg.), Positive Feedback, New York 1968.

  43. Zur detaillierten Darstellung solcher Prozesse siehe jetzt Morton Deutsch. Conflicts: Productive and Destructive, in Journal of Social Issues, Bd. 25, 1969, S. 7— 42; Dean Pruitt, Definition of the Situation as a Determinant of International Action, in Herbert Kelman (Hrsg.), a. a. O., Anm. 7, S. 393— 432.

  44. Klaus Jürgen Gantzel, Rüstungswettläufe und politische Entscheidungsbedingungen, in Ernst-Otto Czempiel (Hrsg.), a. a. O., Anm. 8, S. 110— 137. Dieser Artikel enthält eine ausgezeichnete Zusammenstellung und Weiterführung der bisherigen Diskussion.

  45. An Untersuchungen in dieser Richtung arbeitet Wiliam Caspary, Formal Theories of Reaction Processes in International Relations, American Political Science Association: 1969 Konferenz (unv. Ms.).

  46. Wodurch automatisch die Relevanz bürokratischer und organisatorischer Prozesse bei der Analyse von Rüstungswettläufen und internationalen Krisen wächst. Siehe hierzu jetzt die vorzüglichen modellanalytischen Studien von Graham Allison, Conceptual Models and the Cuban Missile Crisis, in American Political Science Review, Bd. 53, 1969, S. 689- 718. Andeutungen auch in Uwe Nerlich, Abschreckung, in: Staatslexikon, Ergänzungsband, Freiburg 1969, S. 14- 23.

  47. Historisches Material, aus dem ähnliche Abfolgen ersichtlich werden, findet sich u. a. in Eckart Kehr, Der Primat der Innenpolitik, Berlin 1965 (vor allem in seinen Abhandlungen über die wilhelminische Rüstungspolitik); Robert Butow, Tojo and the Coming of the War, Stanford 1961; Masao Maruyama, Thought and Behavior in Modern Japanese Politics, London 19622, bes. Teil 1- 5; und zur augenblicklichen Situation in Amerika General David Shoup, Der neue amerikanische Militarismus, in Dieter Senghaas (Hrsg.), a. a. O., Anm. 15; zur allgemeinen Diskussion siehe J. David Singer, The Outcome of Arms Races, unv. Ms., und ders., Modern International War, unv. Ms.

  48. Kissinger im Vorwort zu Urs Schwarz, American Strategy, New York 1966, S. XII.

  49. Das hat sich exemplarisch gezeigt in der amerikanischen ABM-Diskussion seit 1968, in der China und die Sowjetunion abwechselnd, je nach Zweckdienlichkeit, die Rolle des Gegners übernahm.

  50. Eine gute Zusammenfassung solcher „Kooperation" findet sich in Eberhard Menzel, Die Bemühungen um die Abrüstung seit 1945: Mißerfolge und Teilerfolge, in Georg Picht und Heinz Eduard Tödt (Hrsg.), Studien zur Friedensforschung, Bd. 1, Stuttgart 1969, S. 73— 97. Caspary hat im übrigen festgestellt, daß Krisen und eklatante Ereignisse in der internationalen Politik eine „Halbwertzeit" von ca.sechs Monaten haben, d. h. nach sechs Monaten ist die Aufmerksamkeit für eine vergangene Krise um 50 °/o geschwunden. Zitiert in Newcomb, a. a. O., Anm. 17, S. 20.

  51. Kenneth Boulding, Beyond Economics, Ann Arbor 1968, S. 288— 302.

  52. Morton Kaplan, Macropolitics, Chicago 1969, S. 129 ff., und John Burton, Systems, States, Diplomacy and Rules, Cambridge (Engi.) 1968, passim, und ders., Conflict and Communication, London 1969, passim.

  53. Eine brillante Studie über das Versagen kollektiver Realitätsprüfung in dieser Hinsicht bringt Eugene Genovese, The Political Economy of Slavery, New York 1961; ders., The World the Slaveholders Made, New York 1969.

  54. Vgl. Amitai Etzioni, The Active Society, New York 1968, und Frieder Naschold, Organisation und Demokratie, Stuttgart 1969.

  55. Mit Hilfe eines Projekts ließen sich diese Daten durchaus ermitteln. Es müßte ja keineswegs auf die etwa 15 000 gegenwärtig denkmöglichen Beziehungen zwischen allen Staaten der Erde bezogen sein.

  56. Das heißt, ohne leichtfertig von Individuen auf aggregative kollektive Gebilde zu schließen.

  57. Vgl. Theodor W. Adorno, Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda, in Geza Roheim (Hrsg.), Psychoanalysis in Social Sciences, Bd. 2, 1951, S. 279- 300.

  58. Vgl. hierzu auch Klaus Horn, Politische Psychologie, in: Gisela Kress und Dieter Senghaas (Hrsg.), Politikwissenschaft, Frankfurt 1969, S. 215- 268 und die dort zitierte Literatur.

  59. Vgl. u. a. Franz Alexander, On the Psychodynamics of Regressive Phenomena in Panic States, in: Roheim (Hrsg.), a. a. O., Anm. 57, Bd. 3, 1952, S. 104-HO und Edith Weigert, Conditions of Organized and Regressive Responses to Danger, in Roheim (Hrsg.), a. a. O., Bd. 4, 1955, S. 121- 126.

  60. Ansätze zu solchen Überlegungen sind zu finden in Morris Ginsburg, The Causes of War, in Sociological Review, Bd. 31, 1939, S. 121— 143, bes. S. 135.

  61. So sagte Verteidigungsminister Clifford einmal, kurz nach dem Ausscheiden aus dem Pentagon, die Amerikaner hätten hinsichtlich Vietnam ursprünglich einen Verdacht gehabt (suspicion), der sich zur Überzeugung (conviction) gesteigert habe, um schließlich in einer Besessenheit (Obsession) zu enden, in: NBC-Interview, Kanal 4, Detroit, 19. 6. 1969. Hierzu auch jetzt Joseph Goulden, Truth is the First Casualty — The Guls of Tonkin Affair: Illusion and Reality, Chicago 1969.

  62. Siehe zum Beispiel paradigmatisch Fritz Stern, Bethmann Hollweg und der Krieg. Die Grenzen der Verantwortung, Tübingen 1968, und einige einschlägige statistische Angaben in Dieter Senghaas, Politische und militärische Dimensionen der gegenwärtigen Friedensproblematik, in Senghaas (Hrsg.), a. a. O., Anm. 16, S. 20, sowie Karl Deutsch und Dieter Senghaas, The Fragile Sanity of Nation— States, unv. Ms. (erscheint 1971 in deutscher Sprache).

  63. Siehe hierzu die Überlegungen von Durbin und Bowlby in Leon Bramson und George Goethals (Hrsg.): War, New York 19682, S. 100/101, wo Gewalt als eine Flucht aus beängstigender Komplexität interpretiert wird. Siehe auch Karl Deutsch, The Analysis of International Relations, Englewood Cliffs 1968, passim.

  64. Die Rolle der Selbsttäuschung der Amerikaner in Vietnam hat Robert Jay Lifton an Ort und Stelle analysiert: Deception of War and Peace, in: History and Human Survival, New York 1970, S. 210— 254.

  65. Zur Konzeption siehe Karl Deutsch und Dieter Senhaas, A Framework for a Theory of War and Peace, in Albert Lepawsky u. a. (Hrsg.), Essays in Honor of Quincy Wright, New York 1970 (erscheint in Kürze).

  66. Vgl. die Literatur in Anm. 7.

  67. James Rosenau hat in dieser Hinsicht die Struktur und die Komponenten außenpolitischer Willensbildungsprozesse in ihrer Mischung von Informationsarmut und — im Konfliktfall — psychologischer Intensität treffend charakterisiert. Vgl.seinen Beitrag in dem von ihm edierten Band: Domestic Sources of Foreiqn Policy, New York 1967, S. 11— 50.

  68. Zur Differenzierung siehe Lewis Coser, Theorie sozialer Konflikte, Neuwied 1965.

  69. Vgl. jetzt Newcomb, a. a. O., Anm. 17.

  70. Charles Hermann, Crises in Foreign Policy, Indianopolis 1969, in der eine Simulationsanalyse mit Darstellungen realer Krisen verglichen wird. Ralph White, Nobody Wanted War, New York 1968; vor allem die in Anm. 43 zitierte Literatur. Als allgemeine Darstellung siehe Ross Stagner, Psychological Aspects of International Conflict, Belmont (Kal.) 1967.

  71. Robert Abelson u. a. (Hrsg.), Theories of Cognitive Consistency, Chicago 1969.

  72. Else Frenkel-Brunswick, Social Tensions and the Inhibition of Thought, in Social Problems, Bd. 2, 1954, S. 75— 81.

  73. Vgl. vor allem Pruitt, a. a. O., Anm. 43.

  74. Eine der erhebendsten Studien ist in dieser Hinsicht James Thompson, How Could Vietnam Happen. An Autopsy, in The Atlantic, Bd. 221, Nr. 4, April 1968, S. 47— 53, in der der Autor — selbst Teil der Regierungsmaschinerie in Washington — das Hochschaukeln persönlichen Prestiges, übersteigerte und durch öffentliche Propaganda verstärkte Selbstbindungen u. a. als die Ursache der Verblendung „einer Gruppe von fähigen, engagierten Männern" interpretiert, die „regulär und zu wiederholtem Maße" sich geirrt hatten, und deren Status davon abhängt, daß sie im Endeffekt Recht behalten.

  75. Daniel Levinson, Authoritarian Personality and Foreign Policy, in Bramson und Goethals (Hrsg.), a. a. O., Anm. 63, S. 133— 146.

  76. Siehe jetzt vor allem William Eckhardt, Ideology and Personality in Social Attitudes, in Peace Research Reviws, Bd. 3. 1969, Heft 2, sowie Newcomb, a. a. O., Anm. 17 Teil 2. Zum folgenden siehe Eckhardt.

  77. Darin liegt auch der Mangel von Robert Jervis sonst sehr lesenswertem Artikel „Hypotheses on Misperception", in World Politics, Bd. 20, 1968, S. 454— 479.

  78. Siehe zum Gesamtkomplex: Harold Wilensky, Organizational Intelligence, New York 1967, die wohl wichtigste Studie in diesem Bereich, sowie den frühen Artikel von Benno Wassermann, „The Failure of Intelligence Prediction, in Political Studies, Bd. 8, 1960, S. 156— 169, sowie das schon erwähnte Buch von Goulden über den Tonkin-Zwischenfall, a. a. O., Anm. 61.

  79. Roberta Wohlstetter, Cuba and Pearl Harbor. Hindsight and Foresight, in Foreign Affairs, Juli 1965, S. 691— 707.

  80. Deshalb scheint mir Faupel in diesem Punkt unrecht zu haben. Er vertritt die These (Anm. 8), daß bei diesem tatsächlichen Konflikt sich die „Zweisinnigkeit" der Beziehungen erhöht. Nach allem, was ich hier ausführte, scheint mir dies genau nicht zuzutreffen. Es liegt in der Eigenart von Eskalation, daß sich die „Einsinnigkeit" der Zweierbeziehungen erhöht. Kommunikation wird — unter den Prämissen von Eskalation, von Feindschaft und von Krisen — Selbstgespräch.

  81. Vgl. Thomas Eliot, A Criminological Approach to the Social Control of International Aggressions, in American Journal of Sociology, Bd. 58, 1952— 53, S. 513— 518.

  82. Vgl. James Payne, The American Threat. The Fear of War as an Instrument of Foreign Policy, Chicago 1970, ein Buch, in dem die Absurditäten von Abschreckungspolitik exemplarisch versammelt sind.

  83. Karl Deutsch, a. a. O., Anm. 63, S. 126— 129; Senghaas, Abschreckung und Frieden, a. a. O., Anm. 1, S. 284— 286; vgl. auch die Arbeiten in Pruitt und Snyder (Hrsg.), a. a. O., Anm. 2; vor allem auch Bruce Russett, Pearl Harbor: Deterrence Theory or Decision Theory, in Journal of Peace Research, Bd. 4, 1967, S. 89— 106 sowie Chihiro Hosoya, Micalculations in Deterrent Policy.

  84. Karl Deutsch, a. a. O., Anm. 11, passim.

  85. Siehe hierzu Eva Senghaas-Knobloch, Frieden durch Integration und Assoziation, Stuttgart 1969.

  86. Vgl. Johan Galtung, über die Zukunft des internationalen Systems, in: Futurum, Bd. 1, S. 73 bis 116.

  87. Vgl. Kenneth Boulding, Beitrag zu einer Friedenstheorie, in Krippendorff (Hrsg.), a. a. O., Anm. 16, S. 68— 86.

  88. Vgl. Coser, a. a. O., Anm. 68.

  89. Uber internationale „Auflockerungsstrategien" und „rationale Verhaltensstrategien" siehe Roger Fisher, International Conflict for Beginners, New York 1969.

  90. Karl Deutsch, a. a. O., Anm. 11 und Dean Pruitt, Stability and Sudden Change in Interpersonal and International Affairs, in Journal of Conflict Resolution, Bd. 13, 1969, S. 18— 38. Pruitt hat die Theorie der „underretaliation" explizit entwickelt.

  91. Ich betone die Vielfalt der gesellschaftlichen Ebenen, weil sonst die Gefahr technokratischer Politik besteht, über diese Probleme siehe jetzt vor allem Claus Offe, Die politische Theorie der Technokratie, in Claus Koch und Dieter Senghaas (Hrsg.): Texte zur Technokratiediskussion, Frankfurt 1970.

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Dieter Senghaas, Dr. phil., Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Frankfurt/Main. Geb. am 27. 8. 1940 in Geislingen/Steige. Studierte Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und Philosophie in Tübingen und Frankfurt. Mehrere Studien-und Forschungsaufenthalte in den USA, u. a. am Amherst College, der University of Michigan und in den vergangenen zwei Jahren an der Harvard University, Cambridge (Mass.). Veröffentlichungen u. a.: Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit, Frankfurt am Main 1969; Mitherausgeber von: Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, Frankfurt am Main 1969. Zur Buchmesse 1970 erscheinen folgende, vom Autor herausgegebene Sammelwerke: Friedensforschung und Gesellschaftskritik, München; Die Pathologie des Rüstungswettlaufes. Beiträge der internationalen Friedens-forschung, Freiburg; Texte zur Technokratie-diskussion (Frankfurt).