I. Fragestellung
Unser 99 Jahre altes Strafgesetzbuch erhielt im Mai 1969 durch das 2. Strafrechtsreformgesetz einen neuen Allgemeinen Teil, der 1973 in Kraft treten wird. Bis dahin soll -— das ist jedenfalls der Wille des Gesetzgebers — auch der gesamte Besondere Teil reformiert werden. Einzelne kriminalpolitisch bedeutende und vordringliche Änderungen sind durch das 1. Strafrechtsreformgesetz bereits am 1. September 1969 und am 1. April 1970 in Kraft getreten. Die in weiten Kreisen geführte Diskussion um die Strafrechtsreform, um das Für und Wider einer Einheitsstrafe und um die Abschaffung bestimmter Tatbestände haben gezeigt, daß das Strafrecht nicht nur eine Sache der Juristen ist, daß es nicht nur diejenigen angeht, die es anwenden und gegen die es angewandt wird. Das Strafrecht bestimmt letztlich die gesamte Lebensordnung eines Volkes, und umgekehrt schlagen sich Lebensordnung und Ansichten eines Volkes in seinen Strafgesetzen nieder.
Die „geschlossene Gesellschaft" des Mittelalters hatte noch eine festgefügte Lebensordnung und einheitliche sittliche Maßstäbe; die Strafgesetze stellten abweichendes Verhalten unter Strafe, der Staat führte in seinem Selbstverständnis „Gottes Schwert" und konnte so Gottes Gebote oder ein als unwandelbar verstandenes Sittengesetz unmittelbar vollstrekken.
Unsere pluralistische Gesellschaft ist dagegen differenziert in Gruppen mit unterschiedlichen Ansichten; bestimmte Wertvorstellungen werden nicht mehr von allen geteilt, Strafbestim-mungen können nicht mehr als Ausführungsbestimmungen zu einem übergeordneten Sittengesetz angesehen werden. Trotzdem gibt es formal ein solches Sittengesetz noch. Es ist als Grundrechtsschranke in Artikel 2 des Grundgesetzes enthalten und steht auch hinter dem Begriff der „guten Sitten" des § 226 a StGB.
Das Strafrecht muß im Interesse der Rechtssicherheit festumschriebene Tatbestände enthalten. Weitgefaßte Generalklauseln würden eine wechselhafte Auslegung und eine unterschiedliche Anwendung der Gesetze ermöglichen. Es wird daher zu untersuchen sein, ob das „Sittengesetz" ein exakt definierter Begriff von allgemeiner Verbindlichkeit ist oder ob der Richter es wegen seiner Unbestimmtheit mit eigenen Wertvorstellungen ausfüllen muß, was eine Rechtsprechung zugunsten bestimmter Gruppen zur Folge haben könnte.
Auch die Frage nach dem Sinn und Zweck des Strafrechts führt zum Sittengesetz. Wird eine Tat bestraft, weil sie sittlich verwerflich oder weil sie sozialschädlich ist? Wenn das Strafrecht nicht mehr die Ausführungsbestimmung zu einem Sittengesetz ist, dann muß neu bestimmt werden, wem gegenüber der Täter „schuldig" wird und ob er überhaupt schuldig werden kann. Weil die Berechtigung eines „Schuld" -Strafrechts also möglicherweise davon abhängt, ob es ein Sittengesetz gibt — und wenn ja, wie es beschaffen ist —, soll untersucht werden, welche Rolle dieses Sittengesetz in der Strafrechtsreform gespielt hat und ob eine längst fällige Neubestimmung der Standorte vorgenommen wurde oder nicht.
II. Das Strafrecht
Abkürzungen: AE = Alternativentwurf BGB = Bürgerliches Gesetzbuch BGH = Bundesgerichtshof BGHSt = Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (Bd. 1 ff.) BVerfG = Bundesverfassungsgericht BVerfGE = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Bd. 1 ff.)
E = Entwurf GG = Grundgesetz JR = Juristische Rundschau JZ = Juristenzeitung KJ = Kritische Justiz LG = Landgericht NJW = Neue Juristische Wochenschrift Rdn.
= Randnote RG = Reichsgericht StGB = Strafgesetzbuch ZStW = Zeitschrift für die
Abkürzungen: AE = Alternativentwurf BGB = Bürgerliches Gesetzbuch BGH = Bundesgerichtshof BGHSt = Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (Bd. 1 ff.) BVerfG = Bundesverfassungsgericht BVerfGE = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Bd. 1 ff.)
E = Entwurf GG = Grundgesetz JR = Juristische Rundschau JZ = Juristenzeitung KJ = Kritische Justiz LG = Landgericht NJW = Neue Juristische Wochenschrift Rdn.
= Randnote RG = Reichsgericht StGB = Strafgesetzbuch ZStW = Zeitschrift für die
1. Philosophische Einflüsse Soziologisch beruhte das Strafgesetz von 1871 auf der Machtstellung des Staates und der ihn tragenden gesellschaftlichen Schichten; weltanschaulich lagen ihm die staatsphilosophischen Ideen Kants und Hegels zugrunde, und noch heute berufen sich die Verteidiger des Vergeltungsgedankens auf die Thesen dieser beiden Philosophen.
In seiner „Metaphysik der Sitten" schrieb Kant 1797: „Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen", und an anderer Stelle: „Das Strafge13 setz ist ein kategorischer Imperativ, und wehe dem, welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas auszufinden, was durch den Vorteil, den es verspricht, ihn von der Strafe oder auch nur einem Grade derselben entbinde." Gerechtigkeit, so meinte Kant, könne nur durch das Wiedervergeltungsrecht bestehen bleiben, und er führte zur Erläuterung das seitdem oft zitierte Beispiel an: „Selbst wenn sich die Bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (zum Beispiel das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind."
Gerechtigkeit und Recht geschahen bei Kant um ihrer selbst willen, sie waren frei von realen Zwecken und Zielen. „Kants heller Geist scheint in seiner Straftheorie durch depressive Visionen verdunkelt"
Auch nach Hegel sollte die Strafe Vergeltung sein. Seine in der Schrift „Grundlinien der Philosophie des Rechts"
Das dritte Element der Straftat ist die Schuld. Eine Straftat liegt nur dann vor, wenn dem Täter sein konkretes rechtswidriges Handeln auch vorgeworfen werden kann. Ihm wird also nicht der Erfolg seiner Tat vorgeworfen, sondern entweder der böse Wille, der den Erfolg herbeigeführt hat (Vorsatz), oder seine Unachtsamkeit, die den Erfolg hat eintreten lassen (Fahrlässigkeit).
Der Schuldbegrif gehört, wie vor allem die Ausführungen über die defense sociale noch zeigen werden, zu den umstrittensten Erscheinungen im Strafrecht. Schuld setzt notwendig Willens-und Entscheidungsfreiheit voraus, und eben diese wird von den Vertretern eines reinen Maßnahmerechtes bestritten. An der Bejahung oder Verneinung der Existenz einer Willensfreiheit scheiden sich auch die Erklärungen über Wesen und Funktion des Strafrechts. Unser geltendes Strafrecht sowie die Rechtsprechung und ein überwiegender Teil der Lehre gehen von einer „sittlich autonomen", in ihrer Entscheidung freien Täter-persönlichkeit aus. Dieser Täter soll dann durch die Verbüßung der Strafe sein begangenes Unrecht sühnen. Er soll „selbst durch Aufsichnehmen der Rechtsfolge für seine Tat die verletzte Rechtsordnung wieder versöhnen, er soll möglichst durch einen inneren Akt der Einkehr und Selbstbesinnung die Notwendigkeit der Strafe bejahen. . . . Die Vorstellung, den Täter zum Sühnen zu bringen, ist gar nicht so lebensfremd. . . . Der vom Gewissen angesprochene Mensch wird oft erst dann vom Druck der Tat völlig befreit, wenn er sich innerlich von ihr gelöst hat und äußerlich eine Genugtuung gegeben, nämlich das Strafübel erlitten hat."
Vertreter dieser Ansicht sind erstaunt darüber, daß der Strafvollzug eher das Gegenteil einer „Entsühnung" bewirkt, daß oft nicht das Verbrechen selbst, sondern das Sitzen im Gefängnis den eigentlichen Makel ausmacht. Sie wundern sich, daß bestraft werden in den Augen der Gesellschaft nicht reinigt, sondern beschmutzt. Sie sehen darin eine „Verkehrung und Äußerlichkeit der Betrachtung", die sich nur „aus dem Mißtrauen des Menschen gegen sich selbst, gegenüber der eigenen Möglichkeit innerer Einkehr und Wandlung" erklären lasse, vermutlich als „Frucht mechanistischer und materialistischer Weltauffassung"
Vergeltung und Sühne sind nach herrschender Lehre natürlich nicht die einzigen Funktionen des Strafrechts. Nur teilweise anerkannt ist der Zweck des Strafrechts als Generalprävention
Bei Gewohnheits-oder Berufsverbrechern, denen gegenüber die Abschreckung nicht mehr wirkt, soll das Strafrecht auch Sicherungsfunktionen wahrnehmen. Hierzu gehören neben der Strafe vor allem die Maßregeln zur Sicherung und Besserung (§§ 42 a ff. StGB), besonders § 42 e StGB, der für gefährliche Gewohnheitsverbrecher neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnet. Gegen die Zulässigkeit dieser Vorschrift sind aus verfassungsrechtlicher Sicht erhebliche Bedenken geltend gemacht worden
Eine weitere Funktion des Strafrechts soll die Besserung des Einzelnen, also die Spezialprävention sein. Die Rechtsfolgen des Strafrechts sollen den einzelnen Täter bessern oder zumindest ihn durch das zugefügte Übel vor neuer Tat abschrecken. Doch die Wirkung der Strafe als Mittel der Erziehung wurde schon früh bezweifelt
III. Das Sittengesetz
Rechtsphilosophische Erklärungen Die bedeutendsten Richtungen in der Rechts-philosophie sind die Naturrechtslehre und die historische Rechtsschule. Für die historische Rechtsschule ist — stark vereinfacht — das Recht keine natürliche Gegebenheit, sondern mit der Geschichte gewachsen. Es hat sich aus der geistigen Haltung und der Rechtsüberzeugung eines Volkes, also aus dem Gewohnheitsrecht entwickelt. Die Gesetzgebung hat keine eigene schöpferische Kraft, sondern sie ist nur Niederschlag des schon gewordenen (Gewohnheits-) Rechts. Die Gedanken der historischen Rechtsschule wurden später zur soziologischen Schule weiterentwickelt.
Naturrecht hingegen ist das Recht, das sich aus der (ideal vorgestellten) menschlichen Natur ableiten läßt und daher für alle Zeiten gültig und von Raum und Zeit unabhängig sein soll. Nach einer modifizierten Auffassung gehört zur Wirksamkeit des Naturrechts allerdings ein Rechtssetzungsakt auf Grund der jeweiligen Volksüberzeugung, es ist somit wandelbar. Lehren vom Naturrecht existieren seit et-wa 2500 Jahren.
Das Sittengesetz ist im Naturrecht ein fest umschriebener Begriff. Der „Große Herder"
Der „Neue Herder"
Zwischen diesen beiden Definitionen besteht ein interessanter Unterschied: Im „Großen Herder" war das Sittengesetz die Gesamtheit aller Normen, die vom Gewissen „zu erkennen sind", im „Neuen Herder" ist das Sittengesetz die Gesamtheit aller Normen, die „anerkannt werden".
Die Kritik an diesem so definierten Sittengesetz muß beim Naturrecht selbst ansetzen: Alle Naturrechtslehren legen in ihr Bild von der Natur die Wertvorstellungen hinein, die sie dann als „Natur der Sache" oder „Natur des Menschen" wieder herausholen. Im Zirkelschlußverfahren wird das, was man sich wünscht oder für gut hält, für das „Naturgemäße" erklärt und so jeweils schon vorausgesetzte Wertungen und Zielsetzungen als die wahrhaft guten und richtigen hingestellt
Nur teilweise wird hierbei auf das Naturrecht zurückgegriffen und das Sittengesetz als objektiv und absolut hingestellt, weil es außer-und vorrechtliche Normen zur Geltung bringe
Die unterschiedlichen Definitionen lassen sich zu zwei vorläufigen Thesen zusammenfassen: 1. Das Sittengesetz ist absolut, unabhängig und vorgegeben; es gilt unabhängig davon, ob es anerkannt wird oder nicht. 2. Das Sittengesetz sind die jeweils in einem Volk oder einer Gemeinschaft herrschenden Anschauungen; diese sind durchaus wandelbar.
Das BVerfG hat seine Auffassung zum Sittengesetz des Art. 2 GG in einer sehr umstritte-nen Entscheidung dargelegt: Es handelte sich um die Beschwerde eines Kaufmanns, daß die Bestrafung der Homosexualität willkürlich sei, weil daran kein öffentliches Interesse bestehe und es sich um einen unberechtigten Eingriff staatlicher Gewalt in die persönliche Freiheit des einzelnen handle
Das BVerfG
. . . Für die Entscheidung des Gesetzgebers kann es nun von großer Bedeutung sein, ob die in Frage stehende Handlung gegen das Sittengesetz verstößt. Denn es liegt auf der Hand, daß bei einer in dem Grenzbezirk zwischen privatem und sozialem Bereich liegenden Handlung das Bedürfnis nach Bestrafung eher bejaht wird, wenn feststeht, daß die soziale Gemeinschaft die Handlung eindeutig als im Widerspruch zum Sittengesetz stehend betrachtet, das sie allgemein als für sich verbindlich anerkennt. Eine Sanktion der Gemeinschaft wird dann das Rechtsgefühl nicht verletzen, sondern geradezu von ihm gefordert werden. Die Verfassung erkennt das selbst an, indem sie in Art. 2 auch das Sittengesetz als eine rechtliche Schranke des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt. Für die Gesetzgebung . . . bedeutet das . .. , daß ihr das Sittengesetz zum Richtmaß dienen kann; es kann einen sonst unzulässigen oder doch in seiner Zulässigkeit zweifelhaften Eingriff des Gesetzgebers in die menschliche Freiheit legitimieren.
Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz. Auch auf dem Gebiet des geschlechtlichen Lebens fordert die Gesellschaft von ihren Mitgliedern die Einhaltung bestimmter Regeln, Verstöße hiergegen werden als unsittlich empfunden und mißbilligt. Andererseits bestehen Schwierigkeiten, die Geltung eines Sittengesetzes festzustellen. Das persönliche sittliche Gefühl eines Richters kann hierfür nicht maßgebend sein; ebensowenig kann die Auffassung einzelner Volksteile ausreichen. Von größerem Gewicht ist, daß die öffentlichen Religionsgemeinschaften, insbesondere die beiden großen christlichen Konfessionen, aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen. . . Nicht darauf kommt es an, aufgrund welcher geschichtlichen Erfahrung ein sittliches Werturteil sich gebildet hat, sondern nur darauf, ob es allgemein anerkannt wird und als Sittengesetz gilt."
Dieses Urteil steckt voller Widersprüche: Der Beweis, daß die soziale Gemeinschaft eine solche eindeutige Auffassung vertritt, kann nicht erbracht werden. Die Diskussion um die Strafrechtsreform hat eher das Gegenteil nachgewiesen. Redewendungen wie „es liegt auf der Hand" und „Verstöße hiergegen werden als unsittlich empfunden und mißbilligt" sind nichtssagend und unbegründet. Die Erklärung, daß große Teile der Bevölkerung ihre Maßstäbe aus den Lehren der beiden großen christlichen Konfessionen ableiten, ist ebenfalls unbewiesen, außerdem werden damit diese Lehren für allgemeinverbindlich erklärt und zur Norm erhoben. Das steht eindeutig im Widerspruch zu Art. 3 und 4 des GG
Das Bundesverfassungsgericht setzt das Sittengesetz mit den in einer Gemeinschaft herrschenden Anschauungen gleich, wobei es eingesteht, daß es Schwierigkeiten hat, die Geltung eines solchen Sittengesetzes festzustellen; es beruft sich schließlich darauf, daß die beiden christlichen Konfessionen gleichgeschlechtliche „Unzucht" als unsittlich verurteilen. Trotzdem wird das Sittengesetz als „rechtliche Schranke" eines verfassungsmäßig garantierten Rechtes anerkannt, es hat sogar der Gesetzgebung zum Richtmaß zu dienen. „Das Sittengesetz . . . steht nicht nur höher als die verfassungsmäßige Ordnung, die sich sittlich nach ihm zu orientieren hat, es darf nicht einmal rechtswirksam nach seinem Sinn befragt werden. Das Volk muß es anerkennen, weil die Verfassung es schützt, die Verfassung muß es schützen, weil das Volk es als verbindlich anerkennt."
Der Bundesgerichtshof gab in (bisher) ständiger Rechtsprechung
Der BGH hat das Sittengesetz eindeutig naturrechtlich interpretiert. Es gilt „aus sich selbst heraus", unabhängig davon, ob es anerkannt wird oder nicht. Diese naturrechtliche Anschauung setzt voraus, daß die Beziehungen der Menschen zueinander durch eine objektive rechtliche Geordnetheit gekennzeichnet sind, durch einen Bereich objektiven Sollens mit dem Anspruch auf absolute Verbindlichkeit. Die vorgegebene Ordnung der Werte soll durch redliche Anspannung von Vernunft und Gewissen mit großer Sicherheit erkannt werden können.
Doch dieses Erkennen kann nicht wissenschaftlicher, sondern nur glaubender Art sein. Unter der Prämisse, daß es eine vorgegebene (göttliche) unabänderliche Sittenordnung gibt, die Vorform und Geltungsgrundlage der menschlichen Gesetze ist, kann man die Existenz eines aus sich selbst heraus geltenden Sittengesetzes bejahen, das sogar in der Lage ist, Gesetzeslücken zu füllen oder der Gesetzgebung als Richtmaß zu dienen. Diese Prämisse aber ist die Glaubensaussage einer Konfession und kann darum nicht für alle verbindlich sein. Denn die im Grundgesetz garantierte Glaubensfreiheit impliziert nicht nur, daß man glauben kann was man will, sondern daß auch der eigene Glaube (und nicht der einer anderen Konfession) die Maxime des eigenen Handelns sein darf.
So ersetzt der BGH in seinen Entscheidungen zum Sittengesetz „Begründungen durch Behauptungen nach eben jenem Zirkelschlußverfahren, das wir als Technik naturrechtlicher Argumentation kennen. Der BGH geht nicht allein von einem falschen Vorverständnis von Recht und Sittenordnung aus, weil er zu Unrecht Sittenordnung mit der katholischen , Hochethik'identifiziert. Er hat auch nicht eine einzige Überlegung der überragenden Bedeutung und Einschätzung der Sexualität in der heutigen Gesellschaft gewidmet."
Der dreizehnte Abschnitt des StGB faßt unter der Überschrift „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit" Straftaten zusammen, die durch ihre Beziehung zum Geschlechtlichen gekennzeichnet sind. Der Begriff „Sittlichkeitsdelikte" ist dabei eine ungenaue, nur hilfsweise gebrauchte Bezeichnung, die Tatbestände mit sehr unterschiedlicher Schutzrichtung auf einen Nenner bringen soll
unter Strafe gestellt, während z. B. bei den §§ 174, 176 Abs. 3 und 182 durch Mißbrauch von Abhängigkeitsverhältnissen begangene Delikte unter Strafe gestellt werden.
Gemeinsames Merkmal aller dieser Delikte ist die „Unzucht" oder die „unzüchtige Handlung".
Unzucht ist jenes Verhalten, das seinem äußeren Erscheinungsbild nach eine Beziehung zum Geschlechtlichen aufweist, „objektiv das Scham-und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Hinsicht gröblich verletzt und subjektiv von einer sexuellen Tendenz getragen ist"
Maßgebend für die objektive Verletzung des Scham-und Sittlichkeitsgefühls soll dabei nicht das Gefühl des Einzelnen oder einzelner Volkskreise, sondern die gesunde Anschauung, d. h. die Auffassung des sittlich empfindenden Menschen schlechthin sein
Sicherlich läßt sich zu vielen Problemen eine in weiten Kreisen des Volkes übereinstimmende Meinung feststellen, aber gerade in diesen Fällen scheinen manche Gerichte der Auffassung zu sein, daß das Volk die falsche Meinung vertritt, daß es, um ein Zitat aus dem folgenden Urteil vorwegzunehmen, „nicht darauf ankommt, was die Öffentlichkeit tatsächlich denkt, sondern was sie nach richtigem moralischem Empfinden denken sollte . .
Ein Beispiel dafür ist der Fall Dr. Dohrn. Dohrn hatte von 1946 bis 1961 etwa 1300 Frauen durch Tubenligatur sterilisiert. 149 dieser Sterilisationen bildeten den Gegenstand der Anklage, von diesen waren 100 Ligaturen nach Fehlgeburten und Entbindungen erfolgt
Der Tatbestand der freiwilligen Sterilisation findet sich nicht im Gesetz, jedoch kann (was streitig ist) nach § 226 a StGB bestraft werden. Dieser lautet: „Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung des Verletzten vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die „guten Sitten verstößt". Ein Verstoß gegen die „guten Sitten" liegt nach ständiger Rechtsprechung dann vor, wenn eine Handlung „dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zuwiderläuft"
Dr. Dohrn hatte für sich die „ärztlich-ethische" Indikation eingeführt
Das Landgericht Hannover führte in seinem Urteil dazu aus
Die Ausführungen des Landgerichtes zwingen zu der Schlußfolgerung, daß das StGB die Ausführungsbestimmung zu einem übergeordneten Sittengesetz ist. Durch dieses Sittengesetz wird vorgeschrieben, was die Bevölkerung denken und wie sie handeln soll, und durch das Strafrecht werden von der Norm abweichende Handlungen geahndet.
Dieser Ansicht schienen auch die Verfasser des (amtlichen) „Entwurf 1962" (E 62) zu sein, der bis zu seiner Neufassung kurz vor der Strafrechtsreform 1969 heftig umstritten war.
IV. Sitte und Schuld im Entwurf 1962
Dem E 62 ist vor allem zum Vorwurf gemacht worden, daß er kein Gesetz für die Zukunft sei, sondern eine Zementierung der augenblicklichen Strafrechtsdogmatik vornehme. Seine Verfasser haben nicht eine einschneidende Beschränkung der Strafbarkeit auf die eigentliche Kriminalität vorgenommen, sondern „ihren Scharfsinn vornehmlich darauf verwandt, zusätzliche Regelungen auszusinnen, um auch noch die letzten Lücken der Strafbarkeit zu schließen"
Zum Tatbestand der „Verlobten-Unzucht" und der damit zusammenhängenden Kuppelei (vgl. oben) erörterte der Entwurf in den Begründungen zu den Straftaten gegen die Sittlichkeit zwei Gesichtspunkte: Er wog die gebotene Zurückhaltung des Gesetzgebers bei derartigen Delikten gegen die „unbestreitbare Erkenntnis" ab, daß „die Reinheit und Gesundheit des Geschlechtslebens eine außerordentliche wichtige Voraussetzung für den Bestand des Volkes und die Bewahrung der natürlichen Lebensordnung ist". Der Entwurf entschied sich darum für die „strenge Regelung" und legte die Bereitschaft nahe, „gewisse Unzuträglichkeiten in Kauf zu nehmen, die wegen der nur bedingten Eignung des Strafrechts zur Bekämpfung von Gefahren für die allgemeine Sittlichkeit unvermeidbar sind". „Dabei muß er noch mehr als auf irgendeinem anderen Gebiet die sittlichen Grundanschauungen des Volkes berücksichtigen und sich darüber klar sein, daß jeder Fehlgriff geeignet ist . . . , das sittliche Empfinden des Volkes zu trüben und zu verwirren."
Welche neueren Forschungen gemeint sind, wurde nicht deutlich gemacht. Der E 62 sah den Sinn der Strafe darin, die Schuld des Täters auszugleichen (Sühne, Vergeltung), die Rechtsordnung zu bewahren und künftige Straftaten zu verhüten (Generalprävention). Weiterhin sollte die Strafe auf den Täter einwirken, um ihn wieder für die Gemeinschaft zu gewinnen „und ihn gegen neue Versuchungen innerlich widerstandsfähiger zu machen" (Spezialprävention). Für den Fall schließlich, daß die Strafe der Gefährlichkeit des Täters nicht wirksam genug begegnen könne, waren die Maßregeln der Besserung und Sicherung vorgesehen. Mit dem Bekenntnis zum Vergeltungsstrafrecht und zu einer nach sittlichen Maßstäben feststellbaren Schuld hatte der Entwurf den Boden weltanschaulicher Neutralität verlassen und sich „auf das Feld der Auseinandersetzung um Menschenbild, Willensfreiheit und die Relativität und Manipulierbarkeit des Sittengesetzes"
Von den Vertretern der , dfense sociale'ist diese Auffassung eine „im Schafspelz der Wissenschaft betriebene schlechte Metaphysik" genannt worden
V. Bedeutungswandel des „Sittengesetzes"
Die Vorwürfe gegen den E 62 und die katholische Moraltheologie haben auf katholischer Seite eine neue Begriffsbestimmung des Sittengesetzes gebracht. Der katholische Theologe Böckle hat diese Veränderung wie folgt präzisiert
So hätten durchaus auch wirtschaftliche und andere Gründe zum Postulat der Monogamie geführt; oder die Verurteilung homosexuellen Verhaltens habe überwiegend in der religiösen Auseinandersetzung Israels mit seinen Nachbarvölkern und deren Kultur ihren Ursprung: „Man kann also die praktischen Anweisungen der Bibel nicht einfach unkritisch übernehmen und daraus für alle Zeiten gültige Forderungen ableiten. Die Bibel ist kein Moralhandbuch: sie bietet weder ein geschlossenes System noch eine kasuistische Behandlung aller sittlichen Fragen."
Die Frage muß neu gestellt werden, ob das Sittengesetz „Geltungsgrundlage des menschlichen positiven Gesetzes" (so der Große Her-der) sein kann, und welche primäre Funktion dann das Strafrecht hat. Soll es in bestimmten Fällen allein aus seiner „sittenbildenden Kraft" heraus strafen, ohne Rücksicht darauf, ob die Tat auch gemeinschaftsschädlich war? Der E 62 bekannte sich zu dieser Ansicht und wollte deshalb z. B. auch die Strafandrohung für Ehebruch auf ein Jahr (bisher sechs Monate) her-aufsetzen mit der Begründung, daß „die wesentliche Bedeutung der Vorschrift" darin liege, daß von ihr eine „sittenerhaltende und sitten-bildende Wirkung ausgeht".
Oder soll ein Tatbestand grundsätzlich nur bestraft werden, wenn er sich auch als sozial-schädlich erwiesen hat? Die Mehrzahl der Meinungen befürwortet heute diese These. Böckle betont mehrmals, daß ein bloß sittenwidriges Verhalten zur Bestrafung nicht genüge: „Dinge, die zwar sittlich verwerflich sind, die aber das Gemeinwohl nicht berühren, gehen den irdischen Gesetzgeber nichts an."
Diese Trennung von Strafrecht und Sittlichkeit wirft jedoch mehrere Fragen auf:
Wie ist zu entscheiden in Grenzfällen, in denen eine (sittlich verwerfliche) Handlung sowohl privat als auch sozialbezogen ist? Im (oben zitierten) Urteil des BVerfG zur Homosexualität wurde ein „intensiver Sozialbezug der Handlung" bejaht. Die heterosexuelle Struktur der Gesellschaft kann natürlich durchaus als ein Rechtsgut angesehen werden, das geschützt werden muß. Ist aber andererseits die Homosexualität wirklich sozialschädlich? Das konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Kann aber eine Berufung darauf, daß weite Kreise des Volkes die Homosexualität mißbilligen, zu einer Verurteilung führen? Der Gesetzgeber hat diese Frage verneint und die Strafbarkeit für Homosexualität unter Erwachsenen aufgehoben 48a).
Nun wird dem Strafrecht aber auch eine sitten-erhaltende Kraft zuerkannt. Kann daher nicht durch die Streichung des § 172 (Ehebruch) das Zurückweichen des Gesetzgebers als eine moralische Wertentscheidung aufgefaßt werden? Dem wäre entgegenzuhalten, daß die „ethosstützende" Kraft des Strafrechts (sofern es eine hat) nicht seine „eigentliche und primäre Aufgabe" ist
Nun hat der Gesetzgeber zwar einige offensichtlich nicht mehr tragbare Tatbestände aus dem StGB gestrichen und damit einen Schritt in Richtung auf eine Liberalisierung getan
Der Bundesgerichtshof hat seine Ansicht darüber. was „Unzucht" ist, zumindest in Bezug auf die Pornographie (also die geschriebene Unzucht) modifiziert. In seiner Entscheidung vom 22. 7. 1969
Die Anschauungen darüber, wo die Toleranzgrenze gegenüber geschlechtsbezogenen Darstellungen zu ziehen sei, seien jedoch zeitbedingt und darum dem Wandel unterworfen (S. 1819). Die Rechtsprechung könne nicht an einer tiefgreifenden und nachhaltigen Änderung der allgemeinen Anschauungen vorbeigehen. Die Sexualität werde zunehmend als Grundproblem des menschlichen Lebens offen betrachtet und sachlich erörtert. Das Strafgesetz habe nicht die Aufgabe, auf geschlechtlichem Gebiet einen moralischen Standard des erwachsenen Bürgers durchzusetzen, sondern es habe die Sozialordnung der Gemeinschaft vor Störungen und groben Belästigungen zu schützen.
Besonders die letzte Aussage beinhaltet eine deutliche Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung zu diesem Thema. Wenn das Strafrecht nicht mehr der Aufrechterhaltung einer Sittenordnung zu dienen hat, wenn das ledig-liehvon der sittlichen Norm abweichende Verhalten nicht mehr bestraft werden soll, dann ergeben sich daraus auch Folgerungen für die Interpretation der „guten Sitten" und des „Sittengesetzes".
Nach wie vor gibt es einen strafbaren Verstoß gegen die „guten Sitten". So ist nach § 226 a StGB eine Körperverletzung dann rechtswidrig, wenn sie trotz Einwilligung des Verletzten gegen die „guten Sitten" verstößt. Aus diesem Grunde wurde (wie ausgeführt) die Sterilisation in bestimmten Fällen als rechtswidrig angesehen. Das Landgericht Hannoverhatte bei der Verurteilung von Dr. Dohrn die „guten Sitten" auf das „Sittengesetz" und dieses als „aus sich selbst heraus" geltend auf sich selbst zurückgeführt. Eine solche tautologische Definition ist nicht mehr tragbar.
Eine genaue Auslegung des Begriffs „gute Sitten" ist unbedingt nötig für die Funktion dieser Bestimmung als anwendbares Strafgesetz. Nach der herrschenden Meinung stammt der Begriff der „guten Sitten" aus dem BGB; er wird in ständiger Rechtsprechung als das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" interpretiert
Schon in einer Plenumssitzung von 1896 machte ein Abgeordneter der SPD Einwände gegen den Begriff der „guten Sitten". Er sprach für die Arbeiterklasse und wehrte sich gegen die Einführung dieses Begriffes, weil die soge-nannten guten Sitten eben diejenigen der oberen Bevölkerungsschichten seien. Er bestätigt damit, daß es damals so etwas wie faßbare und in den maßgeblichen Gesellschaftsschichten erkennbar gepflogene „gute Sitten" gab (wenn sie auch oft nur zum Preise der Heuchelei aufrechterhalten wurden). Seine Ausführungen zeigen aber auch, daß die Brauchbarkeit des Begriffs schon damals umstritten war. Ein anderer Abgeordneter (Gröber) definierte damals die Sitte als „Gewohnheit und Anschauung der Allgemeinheit, nicht bloß nach subjektivem Ermessen, und zwar die allgemein in den beteiligten Kreisen als gut gebilligte Gewohn-heit"
Nun gilt es als erwiesen, daß die Gesellschaft von heute nicht mehr über ungeschriebene, sichere Ordnungsvorstellungen oder einen festen Bestand an sogenannten guten Sitten verfügt. Eine Norm, die die guten Sitten als Beurteilungsmaßstab heranzieht, ist also nur insoweit anwendbar, als es einen festen Bestand an guten Sitten im Sinne der Gröber'schen Formel gibt. Sollte ein solcher Bestand nicht mehr feststellbar sein, muß die entstandene Lücke durch andere Maßstäbe gefüllt werden. Allerdings sind die Begriffe „gerecht" und „billig" hierzu nur bedingt geeignet, da sie zu unbestimmt und dehnbar sind. Auf Moralvorstellungen einzelner Gruppen in der Gesellschaft darf ebenfalls nicht zurückgegriffen werden. „Es kann innerhalb eines bestimmten Lebens-bereiches zu einer abrupt eintretenden und sehr schnell verlaufenden neuen Entwicklung kommen mit der Folge, daß mit den solange geübten Sitten gebrochen werden muß. Liegen hierfür gewichtige Anzeichen und Gründe vor, so ist eine Berufung auf die bisher geübten Sitten nicht mehr möglich".
Eine konsequente Trennung von Strafrecht und Sittengesetz fordert auch ein überdenken des Schuldbegrifss. Schuld kann nicht mehr allein „sittliches Unwerturteil" (E 62) sein. Von den Verfassern des Alternativentwurfs (AE) wurde daher der Versuch einer Neubestimmung des Begriffs „Schuld" gemacht. Freilich scheint dieser Versuch wenig geglückt.
VI. Der Schuldbegriff im Alternativentwurf
Als Antwort auf den E 62 legten 1966 vierzehn deutsche und schweizerische Strafrechtslehrer einen „Alternativentwurf eines Strafgesetz-buches, Allgemeiner Teil" vor
Kaufmann stellt weiter die Frage, ob denn ein staatlicher Richter zu einem Schuldvorwurf überhaupt legitimiert sei: „Ist nicht vielmehr das Urteil über die Schuld eines Menschen seinem eigenen Gewissen anheimgestellt? Ganz sicher ist es so. .. Aber das Strafrecht, das auf die Grundgebote der elementaren Sittlichkeit, auf die einfachsten, allgemeinsten . . . Anforderungen des Gemeinschaftslebens beschränkt ist — beschränkt sein müßte, lebt nicht nur im Gewissen des einzelnen, sondern auch in der Öffentlichkeit des kollektiven Bewußtseins."
Sicherlich, auf Raub, Mord oder Diebstahl läßt sich dieser Grundsatz anzuwenden, wenngleich auch die Beschwörung eines „kollektiven Bewußtseins" von dem „im Volke lebendigen Schuldbegriff" des E
Die Frage: „Gibt es überhaupt Schuld?" ist für Kaufmann gleichbedeutend mit der Frage, ob der Mensch zur freien Selbstbestimmung befähigt ist. Mit der freien Selbstbestimmung sei nicht die Freiheit des Indeterminismus gemeint: „Der Akt sittlicher Freiheit besteht nicht in einem Nein zur kausalen Determination, vielmehr in deren Überdetermination, d. h. im Hinzufügen einer eigenen Determinante besonderer Art. . . " 62) Es könne nicht das Problem sein, ob der Mensch generell zu freier Entscheidung und damit zum Schuldig-werden fähig sei; das Problem sei vielmehr, ob er sich im konkreten Fall frei und verantwortlich entschieden habe. „Wir sind hier . . . auf unsere Erfahrung angewiesen. Ob sich ein Mensch in einer bestimmten Situation frei entschieden hat, können wir nur durch einen Vergleich ermitteln, indem wir sein Verhalten mit dem erfahrungsgemäßen Verhalten solcher Menschen konfrontieren, die sich in der gleichen, d. h.: ganz ähnlichen inneren und äußeren Situation befanden."
Zum Verhältnis von Strafe und Schuld bestimmt § 2 Abs. 2 des AE: „Die Strafe darf das Maß der Tatschuld nicht überschreiten." Mit dieser Bindung der Strafe an ein Höchstmaß wollte man darauf hinweisen, daß schuldhaftes Verhalten unabdingbare Voraussetzung jeder Strafe sein solle, und daß keine „Lebensführungsschuld"
Zum Verhältnis von Strafe und Maßregel hatte der AE das Prinzip der „Subsidiarität der staatlichen Strafe"
Zusammenfassend charakterisiert Baumann die Grundhaltung des AE so
Dem Alternativentwurf ist vorzuwerfen, daß er noch zu sehr im traditionellen Strafrechts-denken verhaftet ist. Die Vorstellung, daß Schuld eine meßbare Größe sei, nach der man die Strafe bestimmen könne, ist sicher nicht zukunftsweisend. Kaufmanns Feststellung, daß die analogische Methode bei der Schuldfindung niemals Sicherheit verbürge, daß man sich aber in der Welt immer mit der Ungesichertheit und Vorläufigkeit des Erkennens bescheiden müsse
Wesentlich hängt daran die Sicherheit des Rechtsgüterschutzes und das Leid des Verurteilten.; , Engt sich der Sachverstand auf das dezisionistische Wagnis ein, verschiebt sich zwangsläufig die Verantwortung auf das Opfer . . ."
Nicht zuletzt aus diesem Grunde wollen die Vertreter eines Maßnahmerechtes ganz auf den Schuldvorwurf verzichten.
VII. Statt Schuld und Strafe: „Defense sociale"
Die Lehre von der defense sociale (Sozial-verteidigung) kann hier nicht in allen Einzelheiten dargestellt werden, dazu wären umfangreiche Ausführungen nötig
Die defense sociale kritisiert auch die Zweispurigkeit des geltenden Strafrechts: „Vergeltungsstrafe und Zweckmaßnahme sind zwei grundverschiedene Antworten auf das Verbrechen. Es ist methodologisch, wissenschaststheoretisch und pragmatisch unmöglich, diese zwei sich ihrem Wesen und Inhalt nach ausschließenden Begriffe miteinander zu vermischen. Hier kann es kein Sowohl-Als-auch sondern nur ein , Entweder-Oder'geben."
Einer der profiliertesten deutschen Vertreter der defense sociale war der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Er setzte sich in seinen Schriften entschieden für eine Entfernung des Schuldbegriffs aus dem Strafrecht ein: „Schuld setzt Freiheit des Willens voraus, diese ist aber wissenschaftlich nicht erweislich. . ."
VIII. Zusammenfassung und Ausblick
Schuldgefühle werden auch anerzogen; insbesondere in der traditionellen religiösen Erziehung kann eine wichtige Ursache des menschlichen Schuldkompexes liegen: „Mit dem Schuldkompex hält man zunächst Kinder unter Druck, indem ihre Energien psychodynamisch gebunden bleiben und nicht frei werden können für eigene Disponibilität. Die Gewissens-instanz beschränkt unsere Souveränität. Wem zunutze? Die Antwort kann nur lauten, dem äußeren Regiment, der Übermacht von elterlicher, kirchlicher und staatlich institutionalisierter Autorität zum Nutzen."
Eine Hauptforderung der defense sociale ist deshalb, daß staatliche Maßnahmen gegen Gesetzesübertretungen kriminologisch (d. h. nicht nur juristisch, sondern auch psychologisch, soziologisch, medizinisch) zu fundieren sind. Das dem Schutz der Gesellschaft dienende Recht soll in erster Linie die Aufgabe haben, den Täter gemeinschaftsfähig zu machen. Erst „bei nachweislich mangelnder Resozialisierungsfähigkeit des Täters liegt der Zweck des Rechts in der Sicherung der Gesellschaft"
Der am 7. Mai 1969 verabschiedete neue Allgemeine Teil des StGB ist eine Kompromißlösung zwischen dem E 62 und dem Alternatientwurf. Gegen eine solche Lösung haben sich die Verfasser des AE von Anfang an gewehrt und diese Ansicht auch immer wieder im Sonderausschuß vorgetragen. Zur Fassung des Sonderausschusses führten sie aus: „Beide Entwürfe (E 62 und AE) . . . gehen von einer eigenen kriminalpolitischen Grundeinstellung aus, die vom AE als auf Resozialisierung und Sicherung gerichtet deutlich bekundet wird, dem E 62 als auf Tatschuldvergeltung gerichtet unausgesprochen zugrunde liegt. Es ist nicht möglich, den AE wie einen Steinbruch zu benutzen und aus ihm die eine oder andere Lösung herauszubrechen und sie dem E 62 einzufügen, ohne die Grundauffassung des AE mitzuübernehmen. . . Widersprüche und Ungereimtheiten lassen sich nur vermeiden, wenn das neue Strafgesetz seine kriminalpolitische Grundhaltung ausdrücklich und klar bekannt gibt, wie es der AE in § 2 Abs. 1 ausspricht. Der amtliche Entwurf, auch in der Fassung des Sonderausschusses, spricht eine Grundeinstellung nicht aus."
Die Fassung des Sonderausschusses (Drucksache V/32) wurde in wesentlichen Teilen noch einmal überarbeitet und in der Fassung vom 27. März 1969 nahezu unverändert verabschiedet. Man muß sie als brauchbare Lösung bezeichnen, weil sie in der jetztigen Situation den einzig möglichen Kompromiß darstellt. Einige wesentliche Fortschritte gegenüber dem geltenden Strafrecht, vor allem durch das ausgebaute Maßregelsystem, sollen nicht bestritten werden.
Die in diesem Beitrag gegen das geltende Strafrecht erhobenen Vorwürfe bleiben trotzdem bestehen. Gewiß: Als Ausführungsbestimmungen zu einem „Sittengesetz" kann man das neue Strafrecht nicht mehr ansehen. Aber es ist nach wie vor „Schuldstrafrecht" und damit „irrational mächtig aufgeladen"
Zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen, die ebenfalls erst noch geschaffen werden müssen, gehört nicht zuletzt auch die Bereitschaft, auf „Rache" zu verzichten, den Täter nicht so zu bestrafen, daß ihm dadurch eine Wiedereingliederung (= Resozialisierung) in die Gesellschaft unmöglich wird.