I. Das Ende der Ära Dubcek
und Dubceks Vorgänger Antonin Novotny Im April 1969 wurde Alexander Dubcek an der Spitze der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei von Gustav Husäk abgelöst. Damit ging die Führung von einem guten, aber weltfremden an einen freundlosen, aber äußerst weltklugen Mann über. Wie Husäk es später ausdrückte, wünschte Dubcek „in jedermanns Augen gut und nett zu sein"
Das Ergebnis dieser Vorgänge war, daß Breshnew den Tschechoslowaken im Dezember 1967 erklärte, Entscheidungen über die Parteiführung seien ihre eigene innere Angelegenheit. Die tschechoslowakischen Führer ihrerseits — besonders Dubcek — gaben sich große Mühe, Breshnew und die anderen sowjetischen Führer zu überzeugen, daß es zu keinen größeren Veränderungen kommen werde. Als das Zentralkomitee im Januar 1968 Dubcek zum Ersten Sekretär der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei wählte, wollte dieser zunächst das Amt nicht annehmen; schließlich fügte er sich dem Beschluß, versicherte aber Moskau, Novotny werde Präsident bleiben.
Dieses Versprechen war eines von vielen, die Dubcek nicht zu halten vermochte; denn Novotny war so unpopulär, daß er im März 1968 vom Präsidentenamt zurücktreten mußte. Sein Nachfolger wurde General Ludvik Svoboda, den man in Moskau kannte und schätzte. Weiter sicherte Dubcek den Russen zu, es werde außerhalb der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei keine nennenswerte politische Aktivität geben. In Wirklichkeit jedoch führten die Aufhebung der Zensur Anfang 1968 und andere Vorgänge bald dazu, daß die Sozialistische Partei und die (christliche) Volkspartei in gewissem Umfang wieder in Erscheinung traten. Und nicht nur ein Wiederaufleben dieser Rumpfparteien, die im Rahmen der Nationalen Front wirkten, war zu verzeichnen. Auch außerhalb dieses Rahmens — und somit für die Rolle der politischen Opposition besser placiert — traten verschiedene neue politische Organisationen auf, zum Beispiel KAN (engagierte parteilose Intellektuelle) und K 231 (ehemalige politische Häftlinge). Zwar schien die Kommunistische Partei entschlossen, ihre führende Position zu behaupten (nach Meinungsumfragen stieg ihre Popularität unter Dubcek sogar steil an), aber wer konnte sagen, was die Zukunft bringen würde?
Angesichts dieser Tendenzen gewannen die Russen allmählich den Eindruck, daß Dubcek und die Kommunistische Partei die Lage nicht mehr in der Hand hätten. Wann das geschah, darüber gehen die Meinungen auseinander. Einige hochgestellte Tschechoslowaken glauben, die sowjetischen Spitzenführer seien schon im März 1968 zu der Auffassung gekommen, daß sie zur Wiederherstellung der Kontrolle in der Tschechoslowakei würden intervenieren müssen; sie hätten aber mehrere Monate dazu gebraucht, sich auf eine Strategie für die Intervention zu einigen.
Nach einer jugoslawischen Version hingegen entschlossen sich die sowjetischen Führer erst während der Konferenz von Ciernä Ende Juli zur bewaffneten Intervention. Ministerpräsident Kossygin, zunächst einer der energischsten und forderndsten Sprecher der sowjetischen Delegation, sei auf einmal ziemlich schweigsam geworden, als er die Vergeblichkeit seiner Bemühungen, die tschechoslowakischen Führer aufzurütteln und zu bekehren, eingesehen habe.
Wenn eine der beiden Interpretationen, die tschechische oder die jugoslawische, richtig ist, dann müssen die nachfolgenden sowjetischen Maßnahmen — von der Konferenz in Bratislava bis zu dem warnenden Brief Breshnews an Dubcek und das tschechoslowakische Präsidium vom 17. August — als eine Art Rechtfertigung der Invasion und als Schritte zur Erleichterung eines Überraschungsangriffs angesehen werden. Da wir jedoch hierfür keine handfesten Beweise besitzen, ist es zumindest möglich, daß einige sowjetische Füh-rer bis zum letzten Augenblick versuchten, den Tschechoslowaken eine Reaktion zu entlocken, die der interventionistischen Stimmung im Kreml entgegengewirkt hätte. Allerdings erscheint es kaum vorstellbar, daß die Tschechoslowaken auf die Warnung vom 17. August so schnell und so überzeugend hätten reagieren können, daß der Kreml dadurch veranlaßt worden wäre, die für die Nacht vom 20. auf den 21. August geplante Aktion abzublasen, überdies — darauf wies Dubcek in seiner Rede vom 25. September 1969 hin, mit der er sich gegen Vorwürfe verteidigte — klang der Brief vom 17. August nicht viel dringlicher als andere besorgte Äußerungen, die im Laufe des Sommers von der sowjetischen Partei und von anderen Bruderparteien gekommen waren. Auch ein Gespräch zwischen Jänos Kädär und Dubcek am gleichen Tag hatte nicht diesen Eindruck vermittelt
Die Politik Alexander Dubceks während des tschechoslowakischen Frühlings war gekennzeichnet durch einen hohen Grad von Naivität. Das trifft beispielsweise für die Annahme zu, man könne Novotny im Amt behalten und es würden keine anderen politischen Gruppen auftreten. Institutionell kam Dubceks Naivität darin zum Ausdruck, daß er das von Novotny übernommene Personal des Parteisekretariats nicht auswechselte. Novotnys Leute setzten, was nur natürlich war, den Neuerungen des neuen Ersten Sekretärs Widerstand entgegen; aber Dubcek erklärte, er wolle niemanden verletzen, und er rechnete damit, daß sich die Menschen freiwillig zu seinen guten Ideen und Programmen bekehren würden.
Dieses schlichte Vertrauen erstreckte sich auch auf die Russen: Dubcek glaubte zuversichtlich, sie würden sich überzeugen lassen, daß ein „Sozialismus mit menschlichem Gesicht" als Verbündeter an ihrer strategischen Westflanke tragbar sei. Bevor er Ende Juli 1968 zur Konferenz von Ciernä fuhr, studierte er nicht einmal das Hintergrundmaterial, das ihm Mitarbeiter zusammengestellt hatten, die sich um den erfolgreichen Ablauf der Konferenz und um ihr Ergebnis Sorgen machten. Als dann in der Nacht vom 20. zum 21. August sowjetische Maschinen auf tschechoslowakischen Flugplätzen landeten und ihnen Soldaten entstiegen, erklärte Dubcek: „Ich hätte nie gedacht, daß sie einrücken würden" — und das trotz der ernsten Warnungen, die er im Laufe des Sommers empfangen hatte. Die gewichtigste war ein Brief von Breshnew gewesen, der am 19. August eingegangen war; Dubcek hatte ihn weder seinen Präsidiumskollegen gezeigt noch beantwortet.
Seine eigene Darstellung dieser Vorgänge lieferte Dubcek auf dem Plenum des Zentral-komitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei am 25. /26. September 1969, als er auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe antwortete. Die „Januar“ -Politik, so erklärte er, sei inspiriert gewesen „von der Idee des Internationalismus, von der Bruderschaft der Tschechen und Slowaken und von dem Bemühen, mit der UdSSR und anderen sozialistischen Parteien und Ländern zusammenzuarbeiten". Auf dieser Grundlage habe er versucht, einen Unterschied zu machen zwischen dem Festhalten an den Klassengrundsätzen der Partei einerseits und jenem Sektierertum andererseits, das dazu geführt habe, daß der Einfluß der Partei auf die Mehrheit ihrer Mitglieder, auf die werktätigen Massen und vor allem auf die jüngere Generation zurückgegangen sei. Dubcek wies in seiner Rede alle Versuche zurück, ihn gleichzusetzen mit „Abenteurern, ja sogar mit Rechten, die oft unsere Arbeit komplizierten und Schwierigkeiten machten"; er und andere Genossen hätten versucht, diese Schwierigkeiten zu überwinden.
Wie es auch um seine persönlichen Schwächen bestellt sein möge — ein weiteres ernstes Problem, so betonte Dubcek, habe darin gelegen, daß „die Parteiführung vom Januar [1968] an nicht einig war". Die Parteiführer hätten vor einer schwierigen Aufgabe gestanden: „Sie mußten unwirksame oder veraltete Praktiken abschaffen und sie durch rich5 tige Methoden der sozialistischen Demokratie ersetzen, welche die schöpferischen Impulse der sozialistischen Kräfte freisetzen, zugleich aber die parasitären und feindlichen Kräfte niederhalten würden, die es in unserer Gesellschaft vor dem Januar, nach dem Januar und auch nach dem August gegeben hat. Ich gestehe offen, daß wir nicht konsequent genug alles unterdrückt haben, was der politischen Hauptströmung zuwiderlief."
Dubcek sagte, er habe das Anwachsen der Kräfte des Abenteurertums gesehen, aber vor einer unmittelbar drohenden Konterrevolution gegen den Sozialismus habe die Partei im Frühjahr oder Sommer 1968 nicht gestanden. Dies sei nicht allein seine Ansicht gewesen, sondern die gemeinsame Lagebeurteilung des gesamten Präsidiums, überdies hätten es die Genossen Indra und Kolder bis zur Nacht vom 20. zum 21. August 1968 verabsäumt, die ihnen aufgetragenen spezifischen Reformen durchzuführen, mit denen die Verpflichtungen der Konferenzen von Ciernä und Bratislava erfüllt werden sollten. Breshnews Brief vom 17. August, eingegangen am 19., wäre in der Sitzung des Parteipräsidiums am 20. erörtert worden, wenn nicht die bewaffnete Intervention dazwischengekommen wäre
Dubcek hatte wahrscheinlich recht: Die Verantwortung für Aktionen, welche die sowjetischen Befürchtungen steigerten statt milderten, darf nicht allein ihm als Sündenbock aufgeladen werden; sie trifft viele andere Mitglieder des Politbüros sowie Angehörige der Intelligenz und große Teile der Öffentlichkeit. Auf jeden Fall hatte auch Husäk recht, wenn er sagte, in den Monaten vor dem 20. /21. August 1968 hätten „Naivität und politische Romantik geherrscht". Am wenigsten erfaßt vom Wunschdenken waren wohl die Menschen der älteren Generation, die mehrmals in ihrem Leben mit angesehen hatten, wie die Hoffnungen des tschechischen und des slowakischen Volkes durch das Handeln oder Nicht-handeln der Großmächte erstickt worden waren. Bei vielen zufälligen Begegnungen in Prager Lokalen in den Wochen vor der Invasion hörten wir sie — entgegen der vorherrschenden Stimmung — klar und deutlich ihre pessimistischen Warnungen äußern. Doch die jüngeren Leute und die Angehörigen mittlerer Jahrgänge, die wir trafen, waren größtenteils der Meinung, daß es für die Sowjets „keinen
Grund“ gebe, in die Tschechoslowakei einzumarschieren. Nach dem Einmarsch gab ein tschechischer Gelehrter zu, über die Möglichkeit einer bewaffneten sowjetischen Intervention hätten er und seine Kollegen falsch, der amerikanische Botschafter Jacob Beam hingegen richtig geurteilt. Doch nahmen auch viele amerikanische Wissenschaftler an, Moskau werde passiv zusehen, obwohl sie erwarteten, daß durch Dubceks Experiment der Liberalismus in Osteuropa einen festen Stützpunkt gewinnen werde.
Dem in Prag herrschenden Selbstvertrauen war es zuzuschreiben, daß keine intensive Kommunikation mit der Sowjetunion aufrechterhalten wurde. Selbst Gelehrte, die sich mit den tschechisch-sowjetischen Beziehungen als Spezialgebiet befaßten, lehnten es ab, nach Moskau zu reisen und ihren sowjetischen Kollegen die Vorgänge in der Tschechoslowakei zu erklären. Sie hätten auf die Ergebnisse von Meinungsbefragungen hinweisen können: Das Vertrauen zur Kommunistischen Partei, zu ihrer Fähigkeit, ein demokratisches und glücklicheres Leben zu schaffen, war vom Januar bis zum Sommer 1968 sprunghaft angestiegen. Die Informationslücke füllte das Ost-Berliner Institut für Zeitgeschichte: Es führte öffentlich und vertraulich eine Verleumdungskampagne gegen die Führung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei unter Dubcek. Diese Äußerungen aus der DDR untermauerten die Berichte von Stepan W. Tscherwonenko, dem sowjetischen Botschafter in Prag. Tscherwonenko stand den Vorgängen des Jahres 1968 sehr feindselig gegenüber.
Eine wichtige Ausnahme in diesem Kommunikationsvakuum war die Reise in die Sowjetunion, die Josef Smrkovsky und andere Parlamentarier im Sommer 1968 unternahmen. Leider waren aber die relativ prosowjetischen Erklärungen, die Smrkovsky und seine Gruppe in der UdSSR abgaben, in so unterwürfigem Ton gehalten, daß sich die gleichen Leute nach ihrer Heimkehr gedrängt fühlten, in starken Worten die Unabhängigkeit ihres Landes zu betonen. Damit verloren sie sowohl zu Hause wie in der UdSSR an Glaubwürdigkeit.
Die Entwicklung vom 21. August 1968 bis zum Frühjahr 1969 ist in ihren großen Zügen wohl-bekannt. Verhaftet und unter Zwang verhört, bewiesen Dubcek, Svoboda und andere tschechoslowakische Führer ein großes Maß an persönlicher Tapferkeit •— in Moskau wie daheim. Den Sowjets gelang es jedoch, zwischen die Führer der tschechoslowakischen Re-B formen und die Völker der Tschechoslowakei einen Keil zu treiben. In ihrem Bestreben, den Gebrauch von Gewalt möglichst zu vermeiden, ließen Dubcek und die anderen es zu, daß auf sowjetisches Verlangen die Institutionen der Freiheit nach und nach zum Schweigen gebracht wurden. Mit der Mahnung, Ordnung zu bewahren und die politischen Realitäten zu respektieren, traten schließlich erst Smrkovsky und dann Dubcek von ihren Führungspositionen zurück und gaben sich mit zweitrangigen Rollen in einer neuentstehenden Machtstruktur zufrieden. Allerdings behauptete Husk auf dem September-Plenum 1969, die beiden hätten häufig zusammen gegen die anderen sechs Mitglieder des Präsidiums des Zentral-komitees der KPC gestimmt.
Der Tropfen, der das Faß zum überlaufen brachte, war offenbar der Ausbruch antisowjetischer Gefühle, zu dem es Ende März 1969 kam, als die tschechoslowakische Mannschaft bei den Eishockey-Weltmeisterschaftskämpfen in Schweden zweimal die sowjetische Mannschaft besiegte. In den Demonstrationen machte sich gewiß eine starke nationalistische Stimmung Luft; aber der Angriff auf das Prager Büro der sowjetischen Fluggesellschaft Aeroflot war nach Ansicht unterrichteter Beobachter das Ergebnis einer Provokation, inszeniert von der sowjetischen und tschechischen Geheimpolizei und von Politikern, die einen Vorwand zum Durchgreifen suchten.
Die Chronologie der Ereignisse — wie sie nach diesen Berichten aussah — war vielsagend: Am Nachmittag vor dem zweiten Eishokkeyspiel wurden in der Nähe des Aeroflot-Büros von einem Lastwagen Ziegelsteine (aber auch Asbestplatten) abgeladen, und gleichzeitig wurden wertvolle Dokumente aus dem Gebäude weggebracht; am Abend schlug die tschechoslowakische Mannschaft zum zweiten Mal die sowjetische, woraufhin eine verhältnismäßig friedliche Demonstration auf dem Wenzelsplatz stattfand; erst in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages, zwischen 2 und 4 Uhr, wurden die Fenster von Aeroflot eingeschlagen. Wie auch immer der Schaden zustande kam, jedenfalls verstärkten die Sowjets jetzt ihren Druck. Um sie zu besänftigen, war ein Preis zu bezahlen: die Absetzung Dubceks, der wieder einmal gezeigt hatte, daß er augenscheinlich nicht Herr der Lage war. Sein Nachfolger mußte annehmbar für den Kreml sein, aber auch — wollte man die Unruhe im Volk nicht noch vergrößern — für progressive und patriotische Kreise der Tschechoslowakei.
II. Die politische Vergangenheit Husäks
Gustav Husäk, der im April 1969 Dubcek als Erster Sekretär der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei ablöste, war wie sein Vorgänger Slowake. Während Dubcek den Schlosserberuf erlernt hatte, war Husäk ein typischer Intellektueller der Zwischenkriegszeit. Er hatte in Bratislava in der wohl besten Anwaltssozietät der Slowakei gearbeitet. Sein Chef war Vladimir Clementis gewesen, ein Kommunist, der später, 1945 bis zum Tode Jan Masaryks (1948), Stellvertretender Außenminister und dann bis zum 6. September 1951 Außenminister der Tschechoslowakei war. In den kafkaesken Säuberungsprozessen gegen angebliche Titoisten verlor er dann sein Leben.
Husäk, geboren 1913, war fast zehn Jahre älter als die meisten Mitglieder des Dubcek-Regimes. Viele seiner Generationsgenossen, wie Clementis, waren nicht mehr am Leben oder hatten sich enttäuscht von der Politik abge7 wandt. Husäk jedoch hatte härteste Gefängnis-haft überstanden und war sowohl ein überzeugter Kommunist wie ein starker, energischer und ausdrucksfähiger Mann geblieben. 1969 schien der Augenblick gekommen, da ihm die Umstände den Aufstieg zur politischen Spitzenposition ermöglichten.
Wie Dubcek Anfang 1968 war Husäk im April 1969 eine Art Kompromißkandidat für den Posten des Parteichefs — er war für die Konservativen wie für die Progressiven noch am ehesten annehmbar. Wie Dubcek hatte er auch viele Eigenschaften, die ihn für die UdSSR akzeptabel machten, zumindest für den Anfang. Er war seit seiner Jugend Kommunist (seit 1933 Parteimitglied) und hatte alle Zickzackbewegungen der sowjetischen Politik mitgemacht. 1937 wurde er Sekretär der Gesellschaft für kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen mit der UdSSR. 1939 hatte er die Errichtung einer slowakischen Sowjetrepublik propagiert — damals hielt der Kreml die kommunistischen Parteien Osteuropas an, die Errichtung von Satellitenstaaten vorzubereiten, die dann wie Estland, Lettland und Litauen der UdSSR angegliedert werden könnten. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im Jahre 1941 ließ Moskau jedoch dieses Vorhaben fallen
Husäk machte die meisten dieser Veränderungen mit, die zum großen Teil von Moskau diktiert wurden. 1945 war er als leidenschaftlicher Föderalist bekannt, der für die Slowakei mehr Selbständigkeit forderte, als vielen seiner tschechischen Genossen lieb war. 1947, in seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr, inszenierte er den kommunistischen Putsch in der Slowakei, der so etwas wie eine Generalprobe für die Prager Ereignisse des Februar 1948 darstellte
Nach Husäks Darstellung spielten sich die Dinge wie folgt ab: Die erste Anklage traf ihn im März 1950 völlig unerwartet. Der Genosse Siroky kam aus Prag und erklärte auf einer eilig einberufenen Sitzung des Zentralkomitees der slowakischen Kommunistischen Partei, Husäk und der Schriftsteller Novomesky seien „bürgerliche Nationalisten". Dieser Vorwurf erschien Husäk unglaublich; er erwiderte, er habe stets gegen den slowakischen Nationalismus und Chauvinismus, gegen die völkischfaschistische Bewegung und gegen die Reaktion in jeder Form gekämpft.
In weiteren Sitzungen des Präsidiums und des Zentralkomitees der slowakischen Partei wurde die Kritik an Husäk fortgesetzt. Schließlich sagten ihm leitende Genossen, er müsse ein oder zwei Jahre lang auf einem anderen Gebiet arbeiten; danach werde wieder alles in Ordnung sein. So verließ er die Spitzenposition der slowakischen Regierung und wurde Leiter der Landwirtschaftsabteilung des Zentralkomitees. Er blieb Mitglied des Zentral-komitees und Delegierter der Nationalversammlung. Nachdem er aber einmal gebrandmarkt war, hatten die Sicherheitsorgane freie Hand gegen ihn. Ein knappes Jahr später, am Morgen des 6. Februar 1951, wurde Husäk zu einer Konferenz in das Zentralkomitee bestellt. Dort erwarteten ihn drei Männer mit gezogenen Pistolen; sie erklärten ihn für verhaftet, legten ihm Handschellen an und verbanden ihm die Augen. „Auf solche Weise", schrieb Husäk, „mußte ich Abschied von der Parteiarbeit nehmen, der ich zweiundzwanzig Jahre meines Lebens gewidmet hatte."
Im Gefängnis wurde Husäk entkleidet, sein Körper wurde von Kopf bis Fuß gründlich abgesucht, dann mußte er Gefängnislumpen anlegen. Sein „schweres Golgatha", das fast ein Jahrzehnt dauern sollte, hatte begonnen. Dreieinviertel Jahre lang wurde er von den Sicherheitsorganen unter Josef Doubek verhört und gefoltert. Diese Methoden, so sagte Husäk, machten viele ehrliche Parteimitglieder zu physischen oder psychischen Krüppeln, trieben sie an den Rand des Irrsinns oder des Selbstmords. Handschellen und Augenbinden waren in jenen Tagen ein fester Bestandteil der Gefängniskleidung. Die Zellen, ehemalige Kartoffelkeller, waren ungeheizt; es war in ihnen so eiskalt, daß selbst die in warme Pelze gehüllten Wachtposten froren.
Die Vernehmungen jedoch fanden in einem überheizten Raum statt, und die Häftlinge mußten dabei den Mantel anbehalten, so daß sie stark schwitzten, ehe sie in ihre'eisigen Zellen im Keller zurückgebracht wurden. Beim ersten Verhör erreichte Husäk seine Toleranzgrenze, nachdem er 72 Stunden lang ununterbrochen in Kälte und Hitze hatte stehen müssen; er war vollkommen erschöpft, begann zu phantasieren und hatte nur einen Wunsch: seine Augen schließen zu dürfen. Die Vernehmungsbeamten forderten ihn „im Namen der Partei" auf, ein Geständnis zu unterschreiben, daß er „Hochverrat und Sabotage" begangen habe. Nachdem drei Beamte (die in Schichten arbeiteten) ihm drei Tage lang unaufhörlich zugesetzt hatten, unterschrieb er — ohne zu wissen, was er unterschrieb. Danach erlaubte man ihm, sich hinzulegen, aber nur für zwei Stunden; zudem wurde er alle fünfzehn Minuten geweckt, mußte seinen Namen nennen und einige körperliche Übungen machen, dann durfte er wieder fünfzehn Minuten ruhen. Dieser . Behandlung'wurde er acht Tage und Nächte unterworfen, und insgesamt zogen sich die Verhöre über drei Wochen hin. Als er schließlich in seine Zelle im Gefängnis Ruzyne zurückgebracht wurde (die Verhöre fanden in einem Schloß bei Prag statt), war er mit Wunden und Frostbeulen bedeckt. Er erlitt mehrere Herzanfälle.
Im März 1951, nachdem Husäk klar geworden war, was er unterschrieben hatte, widerrief er sein Geständnis. Neue Verhöre, die sich über vier Wochen erstreckten, führten zu einem neuen Geständnis, das er abermals widerrief. Es folgte eine dritte Vernehmungsrunde, die von August bis Oktober dauerte und deren Ergebnis ein Geständnis im November 1951 war; auch dieses widerrief Husäk bald darauf.
Im Laufe der ersten elf Monate Untersuchungshaft kam Husäk zu einer neuen Einsicht. Zuerst hatte er geglaubt, er sei das Opfer eines „tragischen Irrtums". Allmählich jedoch gelangte er zu der Überzeugung, daß die Sicherheitsorgane nicht von der Partei kontrolliert würden, daß sie den Gesetzen der Republik zuwiderhandelten und daß ihr Verhalten nichts mit den Lehren des Marxismus-Leninismus oder mit dem „kommunistischen Humanismus" gemein habe. Eines Tages, dessen war er sicher, würden ihre Verbrechen aufgedeckt werden. Zumindest in der Rückschau macht Husäk für seine Verhaftung den „Personenkult" der letzten Lebensjahre Josef Stalins verantwortlich. Wie er berichtet, schwor er sich jetzt, nie wieder der Wahrheit untreu zu werden, und koste es sein Leben. Er teilte diesen Entschluß den Untersuchungsbeamten mit und zog seine Unterschriften unter allen Aussagen zurück. „Ich wußte jetzt, was meine Pflicht war." Dieses Wissen war ihm — so sagte er — eine Stütze bei all dem Schweren, das ihn noch erwartete. Mit seinem Entschluß konfrontiert, kündigten ihm die Sicherheitsorgane an, sie würden ihn „auf Eis" legen, bis er selbst um ein Verhör bitten werde. Aber Doubek, der für seinen Fall Verantwortliche, „verlor das Duell" und wurde durch einen anderen Beamten namens ejka ersetzt. Der neue Mann war schlauer. Er veranlaßte Husäk, mehrere Seiten mit harmlosen Aussagen zu unterzeichnen. Diese Blätter hängte er dann an ein achtzigseitiges, von ihm selbst fabriziertes Protokoll, das er dem Staatsanwalt als Grundlage für die Anklage übergab. Vom 21. bis 24. April 1954 fand vor dem Senat des Obersten Gerichtshofs der Prozeß gegen Husäk statt. Die Anklage lautete auf Hochverrat und Sabotage; unter anderem wurde ihm vorgeworfen, sich als jugoslawischer Spion betätigt zu haben. Im Prozeß trat die Korrespondentin Vera Hloukov auf und sagte aus, Husäk habe ihr bei intimen Zusammenkünften alles gestanden. Den Organen, die Gebrauch von dieser „falschen Zeugin" machten, fehlte — so Husäk — „ein gewisses Maß an gutem Geschmack".
Husäk wurde zu lebenslänglichem Kerker verurteilt und von 1954 bis zum 10. Mai 1960 in Einzelhaft gehalten; dann wurde er aufgrund einer allgemeinen Amnestie entlassen. Man drohte ihm jedoch an, daß er weitere fünfzehn Jahre absitzen müsse, falls er etwas Unrechtes tue. Husäk arbeitete zunächst als Packer in einer Kleiderfabrik, dann bekam er einen sehr schlecht bezahlten Posten in einem Baubetrieb.
Seit 1962 konnte er sich wieder in Bratislawa aufhalten.
Auf dem XX. und dem XXII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion seien die persönlichen Schwächen Stalins enthüllt worden, bemerkte Husäk in seiner Petition. Er selbst, so räumte er ein, habe gleichfalls negative Seiten: zuviel Selbstvertrauen, ein rasches Temperament, häufig Ungeduld und die Neigung, von den Menschen zuviel zu verlangen. Aber auch „andere" hätten ihre schlechten Eigenschaften: ungehemmten Hochmut, unmäßigen Ehrgeiz, eine Vorliebe für Intrigen und Skrupellosigkeit.
Obwohl Husäk dem Personenkult die Schuld an seiner Verhaftung gab, schloß er sein Gesuch mit einem Treuegelöbnis zur Sowjetunion. „In der internationalen kommunistischen Bewegung", schrieb er, „gilt die Haltung gegenüber der UdSSR und der sowjetischen Partei als Prüfstein des proletarischen Internationalismus. Mein ganzes Leben war immer erfüllt von Liebe und Verehrung für alles, was sowjetisch und russisch war — von den politischen Beziehungen bis zur Kultur, von der Literatur bis zu persönlichen Beziehungen." Nach der Zerstückelung der Tschechoslowakei im Jahre 1938 habe er dem sowjetischen Generalkonsulat in Prag Informationen über die Lage in der Slowakei geliefert; zweimal sei er zur Berichterstattung nach Prag gereist. Später, während des slowakischen Aufstandes von 1944, habe er eng mit „sowjetischen Genossen" zusammengearbeitet. Auch nach der Befreiung habe er enge Kontakte zu sowjetischen Vertretern unterhalten, unter anderen zu dem Nachrichtenoffizier Tschernik. „Allzeit", erklärte Husäk, „habe ich mich wie ein gewissenhafter Kommunist verhalten, hingegeben den Idealen des proletarischen Internationalismus. Ich habe keine Vorbehalte zum Parteiprogramm und zur Generallinie. Sowohl im Gefängnis als auch nach meiner Entlassung habe ich mich wie ein Kommunist aufgeführt." 2. Die Zeit der Rehabilitation Husäk verließ das Gefängnis im wesentlichen mit der gleichen ideologischen Orientierung, mit der er es 1951 betreten hatte. Er blieb ein Mann der „Shdanowschtschina" in ihrer tschechoslowakischen Version: ganz im Banne der alten Kategorien des Klassenkampfes, besorgt um eine straffe Kontrolle der Privatsphäre und gewillt, den Vorrang der Partei gegenüber dem Staat aufrechtzuerhalten.
Nach und nach baute Husäk sein eigenes Leben und seine Karriere wieder auf. Nachdem er in den ersten sechziger Jahren manuelle Arbeit hatte verrichten müssen, wurde er rehabilitiert und wieder in die Partei ausgenommen. Vor den Parlamentswahlen im Mai 1964 wurde er aufgefordert, im Bezirk Bratislava-Strkovec zu kandidieren (und vielleicht auch im Bezirk Komarno, wo er der Nachfolger Karol Bacileks geworden wäre). Es mag sein, daß Novotny selbst einige dieser Initiativen begünstigte. 1964 soll er Husk den Posten des Justizministers angeboten haben, wahrscheinlich, um ihn gegen den slowakischen Liberalismus zu benutzen. Aber Husäk verzichtete auf die Chance, an seinen früheren Verfolgern Rache zu nehmen.
In einer Erklärung, die Rude Prävo am 5. Januar 1970 brachte, stellte Husäk fest, er habe 1964 ei-n Angebot, stellvertretender Minister zu werden, wegen der im politischen Leben der Tschechoslowakei nach wie vor herrschenden „großen Mängel" abgelehnt. Novotny selbst war ein Hindernis für den weiteren Fortschritt geworden. Statt unter Novotnys Herrschaft eine aktive Rolle zu übernehmen, wählte Husäk gewissermaßen ein Dasein im Elfenbeinturm: er arbeitete von 1963 bis 1967 im Historischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften. (Dennoch war seine Arbeit in dieser Zeit seiner politischen Karriere nützlich. Sein Buch „Bericht über den slowakischen nationalen Aufstand" erschien 1964, zum zwanzigsten Jahrestag der geschilderten Ereignisse.)
Wie war Husäks Einstellung zu den Ereignissen von 1967 und Anfang 1968? In seiner Erklärung vom 5. Januar 1970 behauptet er, er habe erkannt, daß „eine neue Konstellation im Zentralkomitee und in der Partei entstehen könnte und daß es möglich sein würde, die Mängel rascher zu beseitigen. . . . Deshalb unterstützte ich die Veränderung, die sich im Januar 1968 vollzog. ..."
Husäk hatte 1964 mehrere Angebote ausgeschlagen — vielleicht, weil er den rechten Augenblick abwarten wollte, der ihm die Chance bot, nach der absoluten Macht zu greifen, und zwar nicht nur in der Slowakei, wo er schon in früheren Jahren der Erste gewesen war, sondern im ganzen Lande. Gleich in seiner ersten Rede erhob er gegen Novotny den Vorwurf, er habe bei der Organisierung der politischen Prozesse mitgewirkt und versuche nun, die Wahrheit über diese Vorgänge selbst vor der Partei zu verschleiern. Diese Rede beschleunigte Novotnys Ausschluß aus dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Persönliche Abneigung gegen Novotny wegen seiner Rolle bei den politischen Prozessen und wegen seiner antislowakischen Tendenzen waren der eigentliche Grund dafür, daß Husäk, der nie so recht zur Dubcek-Gruppe gehörte, sich dem Regime von 1968 anschloß. Teils auf dieser Basis erfolgte im Mai 1968 seine Ernennung zum stellvertretenden Ministerpräsidenten.
Als der tschechoslowakische Frühling in den Sommer überging, zeigten Husäks Äußerungen jedoch deutlich ernste Vorbehalte gegen die spontane Demokratie. Nach der von den Sowjets angeführten Invasion gehörte er nicht zu den ersten tschechoslowakischen Führern, die festgenommen und in die Sowjetunion verschleppt wurden. Er war jedoch bei der zweiten Welle, die am 23. August mit Präsident Svoboda nach Moskau reiste und dort das Geheimprotokoll vom 27. August aushandelte. Während dieser Moskauer Gespräche soll er der einzige führende tschechoslowakische Politiker gewesen sein, der seine Landsleute (zumindest die in der Slowakei) telefonisch über den Stand der Dinge unterrichtete. Er gehörte auch der viel kleineren Gruppe tschechoslowakischer Vertreter an, die das Moskauer Abkommen vom 4. Oktober über die „zeitweilige Stationierung verbündeter Truppen in der Tschechoslowakei" abschloß
Husäk war keiner der Liberalen, die von den Sowjets verabscheut wurden, und keiner der präsumtiven Quislinge, die den Bürgern der Tschechoslowakei verhaßt waren. Daher begann Moskau, ihn — neben mehreren anderen — als potentiellen Nachfolger Dubceks aufzubauen. Tatsächlich schlug Husäk die erste Bresche in die August-Einheit der tschechoslowakischen Kommunisten. Nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion drängte er auf Annahme des Moskauer Abkommens und verurteilte als erster den 14. Parteitag der KPC, der unmittelbar nach der Invasion im Untergrund getagt hatte, als illegal — mit der Begründung, die Slowakei sei ungenügend vertreten gewesen
Im September 1969 stellte Husk fest, man tadle ihn, weil er Ende August 1968 auf dem slowakischen Parteitag für Dubcek eingetreten sei und gesagt habe: „Wenn Dubcek fällt, gehe auch ich." Husk gab zu, diese Äußerung getan zu haben, „aber nur in Kenntnis der Tatsachen, von denen ich damals wußte". Sobald er entdeckt habe, daß keine ehrliche Politik gegenüber der Partei und den Verbündeten betrieben werde, habe er sich „natürlich verpflichtet gefühlt, eine andere Haltung einzunehmen"
Der Posten des Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei der Slowakei erwies sich für Husäk wie für Dubcek als Sprungbrett zur Spitzenposition in der Gesamtpartei. Gute Chancen, im April 1969 Nachfolger Dubceks zu werden, hatte auch Oldrich Cernik. Er sprach sich jedoch selbst die Qualifikation ab, indem er erklärte, keiner von denen, die nach der Invasion in die Sowjetunion verschleppt worden waren — und er gehörte zu dieser Gruppe -—, komme als Parteiführer in Betracht
III. Husäks Programm
Wie würde die tschechoslowakische Innen-und Außenpolitik unter der Führung Gustav Husäks aussehen? Ein Grundzug seiner Politik wurde am Morgen nach seiner Wahl zum Ersten Sekretär sichtbar: Husäk entließ das gesamte Sekretariat Dubceks und setzte seine eigenen Leute ein, die er zum größten Teil aus Bratislava mitgebracht hatte. Dubcek hingegen hatte, wie erwähnt, den Mitarbeiterstab Novotnys übernommen. Dieser Stilunterschied läßt auf unterschiedliche Effizienz in der Arbeitsweise der beiden Männer schließen. Husäk, ein Mann mit juristischer Schulung und beträchtlicher Verwaltungserfahrung, gedachte ein straffes Regiment zu führen. Als Leiter revolutionärer Bewegungen in den Jahren 1944 und 1947, aber auch als Kenner stalinistischer Prozesse und Gefängnis hatte er wenig Illusionen über das Wesen der praktischen Politik. * Während sich Dubcek auf seinen persönlichen Charme und seine unverkennbare Aufrichtigkeit verließ, liegt Husäks Stärke nicht in seiner Popularität, sondern in seiner Fähigkeit, zu überzeugen. Manche halten ihn für den besten öffentlichen Redner der heutigen Tschechoslowakei — sehr zum Unterschied von Dubcek, der ein schwacher, gehemmter, wenn auch liebenswerter Sprecher ist. Husäk ist Individua-list und hat keine vertrauten Freunde; seine engsten Mitarbeiter sind sich nicht sicher, wie er über wichtige Fragen denkt. So konnten viele slowakische Liberale glauben, er stehe in ihrem Lager — mußten aber bald erfahren, daß er mehr zum „Realismus" als zum Liberalismus neigt. Es ist unwahrscheinlich, daß der kühle, berechnende Husäk, noch dazu nach seinen Gefängnisjahren, dem slowakischen Hang zu impulsivem Handeln anheimfällt.
Angesichts der Neigung Husäks, zwischen den vor ihm liegenden Gefahren und Möglichkeiten einen behutsam-selbständigen Kurs zu steuern, ist es äußerst gewagt, Spekulationen darüber anzustellen, welche politische Richtung er einzuschlagen versuchen wird. Noch erhöht wird das Wagnis dadurch, daß in der innen-und außenpolitischen Situation der Tschechoslowakei so viele Variablen zusammenwirken.
Immerhin lassen sich einige Rückschlüsse auf die von ihm angestrebte Politik nicht nur aus seinem Verhalten in der Vergangenheit ziehen, sondern auch aus der großen Rede über „Die Hauptaufgaben der Partei in der gegenwärtigen politischen Lage", die er am 29. Mai 1969 vor dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei hielt
Husäks Stellung zu diesen fünf Problemen zeigt, wie schwierig es ist, eine Politik zu betreiben, die weder die konservativen noch die progressiven Kräfte abstößt. Offenbar ist er sehr darum besorgt, die Extreme sowohl der Novotny-wie der Dubcek-Ära zu vermeiden; aber, wie es scheint, ist ihm weniger an der Bewahrung der Errungenschaften von 1968 gelegen als am Abbau dessen, was seiner Meinung nach daran zügellos und überspitzt war. Außerdem findet man in der ganzen Rede immer wieder eine dogmatische Betonung der Notwendigkeit, die Opposition gegen das Regime vom „Klassen’Standpunkt aus zu bekämpfen.
Zu Beginn seiner Rede suchte Husäk eine historische Perspektive zu entwickeln. „Die im Januar [1968] vorgenommene Änderung in der Politik unserer Partei", erklärte er, „war entwicklungsmäßig notwendig und unvermeidlich, um die Fehler und Verzerrungen der vorangehenden Periode zu beseitigen." Er charakterisierte diese Fehler als subjektive Abweichungen von den leninistischen Prinzipien. Es war nützlich, so fuhr er fort, den Spielraum für die sozialistische Demokratie auszuweiten, aber „der Demokratisierungsprozeß wurde nicht reguliert ... oder straff geleitet". Die Kommunistische Partei selbst wurde ideologisch und im Handeln uneins und ließ „eine zufällige Bewegung der Gesellschaft" zu, die von antisozialistischen und opportunistischen Kräften ausgebeutet wurde, besonders nach der Abschaffung der Zensur im Februar 1968.
Von westlichen Einflüssen unterstützt, suchten diese Kräfte, die Macht der Arbeiterklasse zu stürzen, auch wenn sie Lippenbekenntnisse zum Sozialismus ablegten. Diese Personen hatten „entscheidenden Einfluß auf die Massen-kommunikationsmittel, und indem sie marktschreierisch von Freiheit, Demokratie und Humanität redeten, verwirrten sie eine beträchtliche Anzahl ehrlicher Kommunisten und rechtschaffender Bürger." . . . Diese Situation erweckte natürlich Besorgnis bei den Verbündeten der Tschechoslowakei. Sie verloren das Zutrauen, daß die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei die Lage meistern könne, und dies führte zu „den bekannten Ereignissen im August 1968", deren Einschätzung erst später möglich sein würde. Zwar wurde im Moskauer Protokoll von Ende August eine Lösung gefunden, doch es folgten weitere Krisen und Erschütterungen, dazu „hohe Wellen von Nationalismus und Antisowjetismus". Universitäten und die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung gerieten unter den Einfluß fanatischer Studenten und Rechtskräfte, deren Aktionen Ende März 1969 an mehreren Orten „offen konterrevolutionären Charakter" angenommen hatten. In dieser Lage beschloß das Zentralkomitee am 17. April, einen Ausweg zu suchen — die Absetzung Dubceks. Husk behauptete, in den ersten sechs Wochen seiner Amtsführung sei eine „klar erkennbare Verlagerung im Verhältnis der Kräfte und Interessen unserer Gesellschaft" eingetreten. Er zog daraus den Schuß: „Ohne Massenkommunikationsmittel besitzen die abenteuerlichen und antisozialistischen Kräfte keine allzu große Massenbasis." Er warnte jedoch vor Selbstzufriedenheit und erklärte, die führende Rolle der Partei werde in Presse, Rundfunk und Fernsehen konsequent verwirklicht werden.
Husk stellte fest, daß die Bürgerrechte in keinem ausgewogenen Verhältnis zu dem Bedürfnis nach Ordnung stünden. Er versprach Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit: Man werde den Pflichten wie den Rechten gleichermaßen Geltung verschaffen. Zum bürokratischen Subjektivismus der Novotny-Ära werde die Partei nicht zurückkehren. Husäk äußerte jedoch Vorbehalte hinsichtlich des im April 1968 beschlossenen Aktionsprogramms. Innerhalb der Partei würden Diskussionen erlaubt sein, aber Beschlüssen höherer Organe dürfe sich niemand widersetzen. Parteimitglieder, denen diese Beschlüsse nicht gefielen, könnten austreten. Da man in einer schweren und außergewöhnlichen Zeit lebe, werde es zuweilen „nicht möglich sein, Kader-und organisatorische Maßnahmen zu vermeiden". Diese Betonung der alten Grundsätze der kommunistischen Bewegung bedeute jedoch kein Abrük-ken von der innerparteilichen Demokratie.
Die Beschlüsse des Zentralkomitees, fuhr Husäk fort, müßten von den unteren Parteiorganen durchgeführt werden und ebenso von den Kommunisten in gesellschaftlichen Organisationen, in Staats-und Wirtschaftsorganen und besonders in der Nationalen Front, dem umfassenden Bündnis, innerhalb dessen sich alle politischen Parteien betätigen müßten. Husäk richtete an die anderen Parteien — die Sozialistische Partei, die Volkspartei sowie die kleinen slowakischen Parteien, Erneuerungsund Freiheitspartei — die Aufforderung, sich von diskreditierten Personen zu reinigen: von Exponenten der alten bürgerlichen Parteien, kompromittierten Funktionären und Intellektuellen sowie anderen reaktionären und antisowjetischen Elementen. Die Kommunistische Partei, so fuhr er fort, sehe in der Nationalen Front keine „Koalition gegensätzlicher politischer Kräfte im bürgerlichen Sinne", keine „pluralistische Partnerschaft", in der es ein freies Spiel der politischen Kräfte geben könne. Vielmehr sei die Nationale Front „der politische Ausdruck des Klassenbündnisses der Arbeiter, der Bauern, der Intelligenz und der anderen werktätigen Schichten . ..". Versuche, eine Oppositionsgruppe innerhalb oder außerhalb der Nationalen Front zu bilden, würden daher nicht geduldet werden. Die Partei werde sich nicht in Wissenschaft, Kunst und Kultur einmischen, aber die Arbeit auf diesen Gebieten dürfe nicht als Deckmantel für politische Wühltätigkeit gegen die kommunistischen Ziele dienen. Der Einfluß rechter Elemente auf die Revolutionäre Gewerkschaftsbewegung und die Jugendbewegung müsse beseitigt, derjenige der Partei gestärkt werden.
Zur Wirtschaft bemerkte Husäk, krisenhafte Erscheinungen gebe es in dieser oder jener Form seit fast zehn Jahren, und die Lösungsversuche — sowohl vor wie nach dem Januar 1968 — seien nicht immer durchdacht gewesen, oft auf halbem Wege steckengeblieben und mehrfach entweder überstürzt oder verzögert worden. Der Hauptfehler des Nach-Januar-Re-gimes bestehe darin, daß es sich politischem Druck gebeugt und „die Leitung der Volkswirtschaft nicht in der Hand behalten" habe. Der Ernst der Wirtschaftslage zeige sich an folgendem: Im ersten Quartal 1969 sei die Industrieproduktion nur um 3, 8 Prozent und die Arbeitsproduktivität um 2, 6 Prozent gestiegen-, die Erzeugung von Konsumgütern stagniere, und die von Baumaterialien liege unter dem Stand von 1968; das gleiche gelte für die Textil-, Bekleidungs-, Schuh-und Nahrungsmittel-industrie. Die Exporte in sozialistische Länder seien um -10 Prozent, die in kapitalistische Länder um 5 Prozent gesunken. Hingegen seien die Einkommen um 15 Prozent und die Einzelhandelsumsätze um 16 Prozent gestiegen. Die Entwicklung wies also stark inflationäre Züge auf — ein Ausdruck, den Husäk allerdings vermied.
Husks Schilderung der Wirtschaftslage im Mai 1969 stand im Einklang mit Augenzeugenberichten, wonach es Ende April 1969 in den Prager Läden wenig Fleisch', Obst und Kleidung zu kaufen gab. Einige Beobachter wiesen darauf hin, daß das Land erst die drängenden Probleme der Produktion und Verteilung von Konsumgütern lösen müsse, ehe es zu den von Dr. Ota Sik eingeleiteten Wirtschaftsreformen zurückkehren könne; andernfalls, so warnten sie, würden die konservativen Kräfte die 1968 in Gang gekommenen liberalen Reformen abwürgen.
Wie aktuell solche Warnungen waren, zeigten die sechs wirtschaftspolitischen Hauptaufgaben, die Husäk in seiner Rede vom 29. Mai formulierte: 1. die führende Rolle der Partei in der Armee widmen werde; zugleich betonte er Volkswirtschaft vom Zentrum bis hinunter zu aber, daß sie auch in der Wirtschaft eine größere Produktionseinheiten in vollem Umfang Rolle spielen müsse, daß es nicht nur die wiederherzustellen . . . staatsbürgerliche, sondern auch die wirtschaftliche Disziplin zu entwickeln gelte. Ferner 2. die staatliche und wirtschaftliche Leitung winurde eine Verbesserung der Arbeit der ökonomischen Fragen in allen Einheiten zu Staatsanwaltschaft zugesagt.
verstärken . . .
Der Erste Sekretär wandte sich dann der Frage 3. die Rolle des Staatsplans in der Wirtschadfet s Föderalismus zu — einem Thema, das bei zu verstärken . . .
seiner Einkerkerung in den fünfziger Jahren 4. die Regulierung auf den Gebieten deeirne Rolle gespielt habe. Die föderative Ordnung Preise und Investitionen und ebenso . . .sei richtig, sagte er, aber die Koordinierung Außenhandel... zu intensivieren . . . zwischen Bundes-und Landesorganen sei schwierig. Die Partei müsse zur zentralen Len-Unterbindunkgung sehr energische Schritte zur beitragen, denn sie sei geeint und „verantwortlich negativen Entwicklung und zur Stabilisierung für die Tätigkeit der Kommunisten der Wirtschaft zu unternehmen . . . in allen Sektoren, auf Bundes-wie auf Landes-Wirtschaftsreeb-ene".den bisherigen Verlauf der
form, ihre einzelnen Stadien und Stufen, kritisch analysierte Husäk die internationale einzuschätzen, um den weiteren Fortgang Situation der Tschechoslowakei. Er erinnerte festzulegen". an die Lehren von 1938 und 1939, um darauf hinzuweisen, daß kleine Staaten auf Diese Maßnahmen, erklärte Husäk, bedeuteten Bundesgenossen angewiesen seien. Er erinnerte Rückkehr zu den „alten bürokratisch-administrativen auch daran, daß sich 1969 der slowakische Leitungsmethoden in der Aufstand zum 25. Mal jährte: Damals, so Wirtschaft"; doch forderte er eine gründliche sagte er, hätten am Dukla-Paß tschechoslowakische der in den letzten Jahren ergriffenen und sowjetische Truppen gemeinsam Maßnahmen. Einige Beobachter hatten für die Befreiung des Landes gekämpft. Das mit großen Hoffnungen einem Gesetz entgegengesehen, mit der UdSSR sei die Bürgschaft für das es tschechoslowakischen Firmen nationale Unabhängigkeit und die sozialistische erlauben sollte, direkt mit Firmen im Ausland Entwicklung der Tschechoslowakei. zu verhandeln. Husäk teilte jedoch mit, „Gewisse Leute", fuhr er fort, „tun so, als wüßten Verabschiedung dieses Gesetzes werde sie nicht, wie geteilt die Welt ist, daß es verschoben, und für die Herbsttagung des ein Lager der imperialistischen Staaten und Zentralkomitees werde der Entwurf eines umfassenden Lager der sozialistischen Länder gibt und Konsolidierungsprogramms vorbereitet. wir unseren festen Platz im sozialistischen Die Wirtschaftspläne des Landes, so erklärte haben ..." Husäk sprach nicht von Westdeutschland, Husäk, „rechnen mit einer Verstärkung nannte aber ausdrücklich „Radio der sozialistischen Integration, und zwar besonders Europa" als eine der feindlichen Stellen mit jenen sozialistischen Ländern, die im Ausland, die mit schlauen Mitteln versuchten, Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe zusammengeschlossen „einen Keil zwischen die sozialistischen sind, gemäß den Richtlinien, die auf der letzten Tagung von Vertretern zu treiben, die Grundlagen der sozialistischen der RGW-Länder beschlossen wurden". Gesellschaftsordnung zu untergraben" (das war die gleiche Sprache wie in der Im letzten Teil seiner Rede schlug Husäk ein Bratislavaer Erklärung vom 3. August 1968). Thema an, das Politikern in vielen Ländern Husäk gelobte, für eine „vollständige Wiederherstellung ist: Ruhe und Ordnung. „Ein wichtiger des gegenseitigen Vertrauens" Bestandteil der Politik unseres Landes ist. die zwischen der Tschechoslowakei und den anderen der Rolle des sozialistischen Staates, Bruderparteien und -staaten auf allen Gebieten des gesamten Systems der staatlichen — dem politischen, dem wirtschaftlichen, der Nationalkomitees, des Sicherheitskorps dem militärischen und dem kulturellen — und der Armee." Die zersetzenden arbeiten. Die 1968 entstandenen Probleme Einflüsse, die diese Organe geschwächt und werde man durch gegenseitiges Übereinkommen „Unverantwortlichkeit und Gesetzlosigkeit" lösen und nicht durch ihre „Internationalisierung" hätten, würden abgestellt werden. Husäk (was offenbar die Kommunistische versprach, daß die Partei besondere Aufmerksamkeit Italiens und andere kommunistische dem Sicherheitskorps und der Parteien anstrebten). Die Hauptaufgabe, schloß Husäk, sei die Konsolidierung der Verhältnisse im Lande; das könne nicht von Außenstehenden besorgt werden, sondern erfordere, daß die Tschechoslowaken hohe Maßstäbe an ihre Arbeit anlegten und feste Disziplin übten.
Wenn auch Husäk mehrfach bestritt, daß diese Grundsätze eine Rückkehr zum Regierungsstil Novotnys bedeuteten, so erschienen sie doch weit mehr konservativ als liberal, weit mehr dogmatisch als pragmatisch. Die Betonung der führenden Rolle der Partei auf allen Gebieten und die Unduldsamkeit gegenüber einer freien Erörterung von Alternativmethoden war schwerlich im Sinne derer, die sich von Husäk eine Evolution zum Sozialismus mit menschlichem Gesicht erhofften. Tschechoslowakische Optimisten meinten, Husäk unterscheide sich von Dubcek nur in den Mitteln, nicht in den Zielen
IV. Die Strategie der neuen Führung
Dennoch mag es sein, daß Husäk Gefahren eher vom konservativen als vom liberalen Flügel drohen. Mitte Juni 1969 wurde beispielsweise aus Prag berichtet, viele „Harte" seien mit Husäk unzufrieden, weil er in seiner Rede auf der kommunistischen Weltkonferenz in Moskau nicht ausdrücklich die sowjetische Invasion gerechtfertigt hatte. Im gleichen Bericht hieß es, viele gemäßigte und progressive Funktionäre, auf deren Mitarbeit Husäk gehofft hatte, würden durch extrem Konservative ersetzt. Bei seiner Rückkehr aus Moskau, so prophezeite ein Gewährsmann, werde Husäk daher „eine ganze Anzahl von Veränderungen in der Parteibürokratie vorfinden, die ihm nicht gefallen werden"
Vor und nach dem 21. August 1969, dem Jahrestag des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Mächte, gab es Anzeichen dafür, daß entweder der Kreml oder gewisse tschechoslowakische Politiker bestrebt waren, Husäk zu stürzen.
Für ihn kam es offenbar in erster Linie darauf an, sich so unbestritten als Herr der Lage zu erweisen, daß es keinen Vorwand für seine Absetzung gab. Die Situation war natürlich in hohem Grade explosiv. In den Wochen vor dem Jahrestag gingen Gerüchte um, nach einem Zwischenfall mit Betrunkenen sei es zu einer Schießerei zwischen sowjetischen und tschechoslowakischen S
Für ihn kam es offenbar in erster Linie darauf an, sich so unbestritten als Herr der Lage zu erweisen, daß es keinen Vorwand für seine Absetzung gab. Die Situation war natürlich in hohem Grade explosiv. In den Wochen vor dem Jahrestag gingen Gerüchte um, nach einem Zwischenfall mit Betrunkenen sei es zu einer Schießerei zwischen sowjetischen und tschechoslowakischen Soldaten gekommen, und es habe zahlreiche Tote gegeben 18). In der Industrie vermutete man Sabotage, da sich die Zahl der gemeldeten Unfälle in den tschechischen Betrieben gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt hatte 19). Dennoch meinten manche Tschechen, sie sollten wieder einmal provoziert werden, als am 19. August schwerbewaffnete Soldaten am Gebäude des Prager Rundfunksenders Aufstellung nahmen. Da die Menschenmenge in den Straßen zu dieser Zeit friedlich war 20), glaubten einige, reaktionäre Kräfte wollten einen Zwischenfall hervorrufen, über den Husäk stolpern sollte. Andererseits sangen die mehr als 50 000 Menschen, die am 21. August den Wenzelsplatz hinauf-und hinabzogen, in geringschätzigem Tone „Huu-saak", was in scharfem Kontrast zu ihrem lebhaften „Hoch Dubcek!" stand. Die Jugendlichen, die im späteren Verlauf des Tages in der Prager Innenstadt mit der Polizei ins Handgemenge gerieten, beschimpften sie nicht nur als „Ges-tapo", sondern auch als „Gus-tapo" 21).
Es überraschte nicht, daß Rude Prävo sofort erklärte, die Demonstrationen in Prag und anderen Orten seien das Werk „krimineller, konterrevolutionärer und faschistischer Elemente" — eine These, in die das sowjetische Parteiorgan Prawda einstimmte. Darüber hinaus schien aber die Prawda ihr Vertrauen in Husäks Fähigkeit, mit den Demonstrationen fertig zu werden, bekunden zu wollen, denn sie schrieb: „Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei stellt gemeinsam mit dem klas-senbewußten Kern der Arbeiterklasse und aller Werktätigen mit fester Hand die Ordnung her." Mit solchen Zeichen sowjetischer Rücken-deckung war Husäk in einer stärkeren Position, den Angriffen der Konservativen aus den eigenen Reihen zu begegnen. Andererseits konnte die Politik, der er seinen Namen lieh, die Masse der tschechoslowakischen Bürger nur abstoßen
In den Tagen und Wochen nach den Demonstrationen zum Jahrestag des 21. August wurden etwa 2000 tschechoslowakische Bürger und etwa 200 Ausländer verhaftet
„Der Kreis hat sich geschlossen", könnte man sagen. Erst amnestiert, dann rehabilitiert, ließ Husäk nun selbst eine großangelegte Säuberung durchführen. Nach mehreren Schätzungen waren ungefähr 60 Prozent der Demonstranten in den Straßen Prags im August 1969 Jugendliche aus der Arbeiterklasse; 10 Prozent waren Studenten, und 30 Prozent kamen aus verschiedenen anderen sozialen Schichten. Unter den verhafteten Ausländern fand man anscheinend nur Neugierige und Sympathisanten, aber keine Aufhetzer.
Die Behandlung der Verhafteten war, verglichen mit der, die Husäk in den frühen fünfziger Jahren erfuhr, recht maßvoll; sie war aber weit brutaler als das ziemlich sanfte Vorgehen gegen die Demonstranten, das man am Nachmittag des 21. August in den Straßen Prags beobachten konnte.
Die Hexenjagd, die Ende August 1969 begann, macht selten Gebrauch von schärfster Gewalt, aber sie richtet sich gegen die ganze breitgefächerte Anhängerschaft des Dubcek-Svoboda-Regimes, die unter den neuen Verhältnissen zur latenten oder offenen Opposition gegen das Husäk-Regime wird. Die potentielle Zielgruppe der Säuberung ist mithin noch umfangreicher als die „bürgerlichen" Klassen, die in den ersten Jahren der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei attackiert wurden, denn diese waren zahlenmäßig viel schwächer als die Jugendlichen, Arbeiter, Intellektuellen und sonstigen, die sich derBewe-gung für einen „Sozialismus mit menschlichem Gesicht" angeschlossen hatten.
Es war nicht verwunderlich, daß Husäk in seiner großen Rede auf der Plenartagung des Zentralkomitees der KPC am
Husäk gab eine allgemeine Einschätzung der vier Monate, die seit seinem letzten Bericht an das Zentralkomitee vergangen waren. Er erklärte: „Unkontrollierte Entwicklung und Anarchie werden nach und nach von einer planmäßigen Leitung des Parteilebens und des gesamten Getriebes der Gesellschaft abgelöst." Husäks Rede, die eine Vielzahl von Themen berührte, diente als Grundlage für eine Resolution, die das Zentralkomitee am 26. September 1969 beschloß. Die acht Punkte der Resolution waren nahezu wörtlich aus der Rede übernommen:
Erstens stellte das Zentralkomitee eine gewisse „Beruhigung" in der inneren und internationalen Politik der Tschechoslowakei fest und fand einige Hoffnung in der Tatsache, daß „die Partei — zumindest ihr gesunder Kern — ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnt . . .".
Zweitens billigte das Zentralkomitee den Rechenschaftsbericht und die Arbeit seines Präsidiums (unter der Führung Husäks) seit Mai 1969.
Drittens annullierte das Zentralkomitee seinen eigenen Beschluß vom Juli 1968, mit dem es eine Teilnahme an der Konferenz von fünf kommunistischen Parteien in Warschau abge-lehnt hatte; dieser Beschluß, so hieß es jetzt, sei ein „schwerer politischer Fehler" gewesen.
Viertens annullierte das Zentralkomitee die Entschließung seines Präsidiums vom 21. August 1968, die den „Eintritt verbündeter Truppen" als eine die nationale Souveränität verletzende „Okkupation" dargestellt hatte. Das Zentralkomitee verteidigte zwar nicht direkt den „Eintritt", erklärte aber, er sei „motiviert" durch Sorge um den Sozialismus in der Tschechoslowakei und könne nicht als „Aggression" betrachtet werden.
Fünftens annullierte das Zentralkomitee den Außerordentlichen 14. Parteitag der KPC, der unmittelbar nach der Invasion vom 21. August im verborgenen getagt hatte, und erklärte sein Mandat für null und nichtig. Die angeblichen Anstifter dieser Veranstaltung, das soge-nannte „zweite Zentrum" im Prager Stadtkomitee, sollten disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen werden.
Sechstens beauftragte das Zentralkomitee sein Präsidium, die notwendigen personellen Veränderungen in allen dem Zentralkomitee personalpolitisch unterstehenden Organen vorzunehmen.
Siebentens rief das Zentralkomitee dazu auf, „zur Feier des 25. Jahrestages der Befreiung der Republik durch die Sowjetunion" größere Initiative bei der Arbeit zu entwickeln.
Achtens billigte das Zentralkomitee die Rechnungslegung der Kommunistischen Partei für 1968 und ihren Haushaltsplan für 1969
Nicht in dieser Liste drakonischer Beschlüsse, wohl aber in Husäks Referat gab es auch Andeutungen einer weicheren Linie. So bemerkte Husäk: „Die Mehrheit unseres Volkes begrüßte die Veränderungen im Januar 1968." Ziel dieser Veränderungen sei es gewesen, aus früheren Jahren alles Gute zu übernehmen und alles Schlechte zu verwerfen, um vollen Gebrauch vom sozialistischen System zu machen und „reife" wirtschaftliche und politische Probleme zu lösen. Das Aktionsprogramm vom April 1968 weise schon opportunistische Einflüsse auf. Doch erklärte Husäk: „Das Grundkonzept der Nach-Januar-Politik bleibt auch heute der Ausgangspunkt für die Formulierung des Parteiprogramms; allerdings muß es theoretisch erweitert, in vieler Hinsicht leicht korrigiert, konkreter gestaltet und nach und nach verwirklicht werden."
Für den Augenblick jedoch konnte man aus Husäks Rede und den Beschlüssen des Zentral-komitees nur den Eindruck gewinnen, daß Unterdrückung und „Reinigung" die Stunde regierten. Alexander Dubcek wurde aus dem Parteipräsidium (aber jedoch noch nicht aus dem Zentralkomitee) ausgeschlossen und als kommunistischer Abgeordneter der Bundes-versammlung abberufen. Er mußte aber nicht widerrufen und kam auch nicht wegen Hoch-verrats vor Gericht, wie manche angenommen hatten
Veränderungen gab es auch im Staatsapparat. Die gesamte Bundesregierung reichte am 27. September Präsident Svoboda ihren Rücktritt ein. Oldrich Cerm'k blieb jedoch Ministerpräsident; Josef Kempny und Petr Colotka wurden stellvertretende Ministerpräsidenten. Die Namen von dreiundzwanzig Mitgliedern der neuen Regierung wurden sofort bekanntgegeben; die Staatssekretäre im Außen-, Planungsund Finanzministerium sollten später ernannt werden
Der Name Josef Kempny tauchte auch auf, als das Präsidium des tschechischen Nationalrats eine neue Regierung für die tschechischen Landesteile Böhmen und Mähren ernannte: Kempny wurde Ministerpräsident
Während fast des ganzen ersten Jahres nach der Invasion vom August 1968 wurde keine Persönlichkeit des politischen oder literarischen Lebens in der Tschechoslowakei wegen ihrer Überzeugungen oder ihrer Tätigkeit verhaftet — wenn es auch die sowjetischen und anderen Polizeiagenten vielleicht nicht gern sahen. Zwar traten viele Funktionäre zurück, und viele Mitarbeiter von Presse und Fernsehen verloren ihre Stellungen, aber nicht wenige von ihnen erhielten andere, nach Einkommen und Prestige gleichwertige Positionen. Wer in der Tschechoslowakei keinen Platz fand, wurde auf diplomatische, journalistische oder andere Posten ins Ausland geschickt. Ein Journalist, dessen Zeitung in Prag ihr Erscheinen einstellen mußte, konnte zum Beispiel einen Auslandsposten bei der tschechoslowakischen Nachrichtenagentur bekommen. Aber wenn die Partei beschließt, unzuverlässige Elemente auszuschalten, wird die Tatsache’, daß das gesamte produktive Leben in „öffentlichem Eigentum" ist, zum Alptraum.
Wenn ein amerikanischer Intellektueller in der McCarthy-Ara von einer ängstlichen Universitätsverwaltung entlassen wurde, fand er wahrscheinlich ein anderes College, das nicht so furchtsam war, oder er bekam irgendeine andere Anstellung, wo er seine speziellen Fähigkeiten anwenden konnte. Abgesehen von der Bundesbürokratie gab es nur wenige Fälle, wo praktisch alle in Frage kommenden Arbeitsplätze von der Zentralregierung oder sonst einer Stelle kontrolliert wurden
Der frühere Hauptdirektor des tschechoslowakischen Fernsehens, Jiri Pelikan, war Kulturattache an der tschechoslowakischen Botschaft in Rom geworden. Am 16. September wurde er aufgefordert, nach Hause zu kommen und sich einem Parteiverfahren wegen seiner angeblichen Betätigung in Rechtsgruppen zu stellen. Er lehnte ab und wurde am 2. Oktober aus der Partei ausgeschlossen
Aber Husäk mißt den personellen Veränderungen noch weit mehr Bedeutung bei, als diese sensationellen Fälle erkennen lassen. Die Parteikomitees der Universitäten, die Leitung des Studentenverbandes, die führenden Organe des Journalismus — diese und andere Zentren artikulierter politischer Aktivität sind in den Wochen nach dem Jahrestag des 21. August und nach dem Plenum des Zentralkomitees vom 25. /26. September gesäubert und um-strukturiert worden
Ein Beispiel für die neue Politik bietet das Vorgehen des tschechischen Erziehungsministers Dr. Jaromir Hrbek. Im Vergleich mit ihm nimmt sich der Chef der Schulbehörde des Staates Kalifornien, Max Rafferty, wie ein Vorkämpfer der akademischen Freiheit aus. Rafferty verlangte von den Lehrern des Staates die Unterzeichnung eines Loyalitätseides und war bestrebt, die Schulbücher in einem patriotischen und religiösen Ton zu halten;
aber sein tschechischer Kollege arbeitete einen Fragebogen aus, den alle Angestellten des Erziehungsministeriums innerhalb einer Woche ausfüllen sollten. Der Begleitbrief zu dem Fragebogen, datiert vom 15. September 1969, begann mit der These: „Heute kann niemand im Ministerium arbeiten, der nicht das notwendige Verhalten an den Tag legt; niemand, der nicht politisch fest ist, der kein Rückgrat hat, der nicht ehrlich ist, der Charaktermängel aufweist. “ Fünfzehn Fragen betrafen die „Selbsteinschätzung" der Angestellten, fünfzehn die Arbeit des Ministeriums. Die Angestellten wurden nicht nur gefragt, ob sie die Arbeitsstunden einhielten, sondern auch, ob sie in den Jahren 1968 und 1969 immer „eine konsequent parteiliche Haltung" eingenommen oder „dem Druck rechter und antisozialistischer Kräfte" nachgegeben hätten. Sie sollten die Frage beantworten: „Welche ihrer persönlichen Eigenschaften betrachten Sie selbst als Mängel und möchten Sie loswerden?" Und schließlich: „Ist Ihnen klar, daß Sie auch vom Kollektiv Ihrer Kollegen beurteilt werden und daß jeder Unklarheit in den Angaben nachgegangen wird?“ In dem Teil, der das Ministerium betraf, wurde nicht nur gefragt, wie Einsparungen erzielt werden könnten, sondern auch: „Welche leitenden Funktionäre haben sich durch ihr antisowjetisches und parteifeindliches Verhalten und Handeln so diskreditiert, daß sie keine verantwortlichen Posten mehr bekleiden können?" Ein ähnlicher Fragebogen wurde an alle Rektoren und Dekane der Hochschulen mit der Aufforderung versandt, über Professoren, Studentenführer und andere Untergebene zu berichten. Falls immer noch Zweifel darüber bestanden, wo die Sympathien des Erziehungsministers lagen, so beseitigte er sie einige Tage später in einem Vortrag, in dem er der Sowjetarmee für ihre Intervention dankte und ihr Vorgehen für notwendig erklärte
Am vordringlichsten war es, den Gefahren zu begegnen, die aus der Partei selbst drohten:
Während liberale Elemente von Parteifunktio-nen und anderen einflußreichen Posten entfernt wurden, mußte Husäk gleichzeitig seine eigene Position rechts von der Mitte gegen die Ultrakonservativen stärken. Zweitens mußte Husäk in gewissem Umfang die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit gewinnen, die durch die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes entfremdet und demoralisiert war. Drittens durfte er politisch unzuverlässige Leute nicht in Stellungen lassen, wo sie intellektuellen und ideologischen Einfluß ausüben konnten, mußte aber gleichzeitig für ein leidliches Funktionieren der Massenmedien, der Universitäten und anderer Organe sorgen, in denen bisher die für eine Vermenschlichung des tschechoslowakischen Sozialismus eintretende Intelligenz dominiert hatte. Viertens galt es, die krisenhaften Zustände in der Wirtschaft zu überwinden und mit ideologisch zulässigen Methoden die Grundlagen für ein Wachstum auf längere Sicht zu schaffen. In der Außenpolitik schließlich war ein Vorgehen geboten, das die Sowjetregierung beschwichtigte, mit wirtschaftlichem Wachstum vereinbar war und Einflüsse aus dem Westen in Schranken hielt.
V. Der Kampf gegen den liberalen Flügel
Der „rechte Flügel der Partei muß als organisiertes Ganzes zerschlagen werden", erklärte Husäk am 5. Januar 1970
Der Unterschied zwischen Husäk und den Ultras zeigte sich an der Wahl der Taktik für die Behandlung der liberalen Überbleibsel aus der Dubcek-Ara. Die Parteipresse nannte drei Alternativen:
1. Politische Methoden (ideologische Kampagnen mit Drohungen, Uberzeugungsversuchen und Parteiausschlüssen);
2. administrative Methoden (polizeiliche und gerichtliche Maßnahmen, Verhaftungen und Prozesse);
3. revolutionäre Justiz, d. h. Terror, Massen-verhaftungen und Sondergerichte (diese Möglichkeit wurde nicht offen vorgeschlagen, aber immerhin angedeutet).
Husäk hat sich im großen und ganzen bemüht, mit „politischen" Methoden auszukommen, wenn auch einige seiner Maßnahmen, wie das Verbot bestimmter Zeitschriften, mehr administrativer Art waren
Husk selbst nannte die Dinge in seinem Schlußwort auf dem Plenum des Zentralkomitees im September 1969 klar beim Namen. „Wir sind keine Schlächter", sagte er, „unsere Partei ist kein Schlachthaus. Wir haben es mit lebendigen Menschen zu tun." Um mit fühlenden Menschen zu arbeiten, sei „wirkliches Feingefühl" vonnöten. Manche Kommunisten, erklärte er, möchten die Parteipolitik „mit dem Schwert" durchführen. „Aber Erziehung ist nicht eine Sache des Dreinhauens, nicht eine Sache der Rache, nicht eine Sache der Vergeltung; sie ist nicht eine Sache der persönlichen Abrechnung." In der Politik „kann man Falsches nicht mit Falschem heimzahlen". Es gebe nur eine Methode: „die politische Arbeit verbessern". Er, Husäk, habe diese Dinge schon im Mai 1969 erwähnt, aber er sei genötigt, sich zu wiederholen, weil „derartige Gefahren bestehen". Er verurteilte die Praxis, willkürlich gegen bestimmte Personen auf Grund ihres Verhaltens im August vorzugehen. Die breiten Volksschichten, erklärte er, würden die Partei nicht danach beurteilen, „ob wir Smrkovsky und andere aus dem Zentralkomitee ausschließen oder nicht, sondern danach, wie diese breiten Schichten leben, wie die Produktion vorangeht, wie die Versorgung gesichert wird und so weiter"
Wie schwierig die Lage Husäks im Spiel der Kräfte ist, geht besonders eindringlich aus einer Schilderung des Hauptdirektors des tschechoslowakischen Rundfunks am 2. Januar 1970 hervor: Es gebe nur eine Front, gegen die ein Kampf geführt werden müsse, erklärte er, nämlich die „rechtsopportunistische Front". Diese Front sei zwar geschlagen, beeinflusse aber weiterhin die öffentliche Meinung. „Die Parolen des vergangenen Jahres — sich eingraben und überleben und weitermachen, auch wenn man geknebelt ist — sind durch neue ersetzt worden. . Denkt an die Hymne, ihr Kleingläubigen’, so rufen sie dem Bürger zu. , Bleibt solidarisch, haltet weiterhin Kontakt, bereitet euch vor auf den Augenblick der Niederlage der Verräter und Kollaborateure, der kommen wird. Vielleicht wird es sechs Jahre dauern, aber er wird kommen, und sie alle werden uns Rechenschaft ablegen müssen, und alles wird anders werden'— so versprechen sie."
Solchen Kräften müsse man entgegentreten, aber die „Reinigung der Partei" dürfe nicht als „eine Art allgemeines Rachenehmen" angesehen werden. Diejenigen, die „schnellere Fortschritte" verlangten und sich mit den seit April 1969 angenommenen Parteibeschlüssen „nicht einverstanden" erklärten, „schwächen objektiv den Kampf gegen die rechten Kräfte ..." Anders als die Rechten (Liberalen) seien sie jedoch lediglich mit der Taktik der Partei nicht einverstanden
Das Ministerium gab auch bekannt, daß die Verschwörer einer „revolutionären sozialistischen Partei" angehörten, einer Untergrund-gruppe von Studenten und jungen Arbeitern, die Universitäten und Gewerkschaften infiltriert hätten. Die jugendlichen Verschwörer hätten eine „antibürokratische Revolution" und die Errichtung einer „vollkommen freien Gesellschaft" angestrebt. Armee und Polizei sollten abgeschafft, Sicherheitsaufgaben bewaffneten Einheiten in den Fabriken übertragen werden. Diese Gruppe sei verantwortlich für viele der Streiks, Sabotageakte und ungewöhnlich zahlreiche Brände in den Jahren 1968 und 1969. Die Mitglieder des Komplotts hätten sich nicht auf die Verbreitung illegaler Literatur beschränkt, sondern auch Vorbereitungen für den „bewaffneten Kampf gegen das bestehende Regime" getroffen. Unterstützt worden seien sie von trotzkistischen Organisationen im Westen, von chinesisch-albanischer Seite und auch vom FBI und der CIA in den Vereinigten Staaten.
Als der Verdacht geäußert wurde, das ganze Komplott sei eine Ente, verwies ein Prager Publizist triumphierend auf eine französische trotzkistische Zeitschrift, die Sorge um das Schicksal der verhafteten jungen Verschwörer äußerte und auch einige ihrer „aufwieglerischen" Dokumente und Flugblätter abdruckte
Was hatte es wirklich für eine Bewandtnis mit dieser angeblichen Verschwörung? War sie eine jener sektiererischen Splittergruppen, wie sie sich in den meisten Ländern von den kommunistischen Parteien abgespalten haben? War sie eine Erfindung Husäks zum Gebrauch gegen die Ultrakonservativen vor dem Partei-plenum im Januar?
Inoffizielle Berichte aus der Tschechoslowakei deuten darauf hin, daß tatsächlich eine „revolutionär-sozialistische" Untergrundbewegung existierte. Ihre Mitgliederzahl war gering; in Prag gehörten ihr wahrscheinlich nicht mehr als dreißig oder vierzig Personen an. Entstanden war die Gruppe in erster Linie als Reaktion auf die sowjetische Besetzung. Auf der Suche nach Wegen zum Kampf gegen die Okkupation hatte sie Mao Tse-tungs Idee der inneren Reinigung aufgegriffen (nicht zu verwechseln mit einer Parteisäuberung herkömmlichen Stils). Partei und Regierung zogen es zunächst vor, die „revolutionären Sozialisten" zu ignorieren, um ihnen nicht zu einem positiven Image zu verhelfen. Als jedoch die Gruppe ein Manifest herausgab, entschied das Regime, daß es auf diese Herausforderung antworten müsse.
Ausführlich äußerte sich im März 1970 Ludovit Pezlar, Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Slowakei, über den Charakter der „linken" Opposition gegen die zentristische Parteilinie. Er wies darauf hin, daß es Meinungsverschiedenheiten nicht so sehr über die Ziele, als über die Taktik und das Tempo der Normalisierung gebe. Dabei sei die Partei bestrebt, das Problem des Kampfes gegen die Rechten mit politischen Mitteln zu lösen.
Unter der gegenwärtigen politischen Führung „überwinden wir die ernste politische Krise hauptsächlich mit ideologisch-erzieherischen Methoden — durch Analyse ihrer Ursachen, durch intensive Erziehungsarbeit und durch Mobilisierung der Bevölkerung auf der vom Zentralkomitee der Partei festgelegten Ausgangsposition . . Die Wahl der Taktik hänge natürlich auch vom Charakter der Opposition ab. Im Augenblick erscheine die politisch-ideologische Arbeit am aussichtsreichsten, bemerkte Pezlar. Er fügte jedoch hinzu, die Verfasser der „Zweitausend Worte" hätten „psychologischen Terror" angewandt und den Gebrauch von „physischem Terror" gegen wahre Sozialisten ins Auge gefaßt
VI. Die Säuberung der Partei
Die Taktik der Parteisäuberung unter Husäk war in der Hauptsache „politisch". Von April 1969 bis zum Plenum im Januar 1970 verlor das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei annähernd die Hälfte seiner Mitgliedschaft: siebzig bis achtzig Mitglieder traten entweder zurück oder wurden ausgeschlossen. Wie ungeklärt die Verhältnisse waren, zeigte die Tatsache, daß bis Januar nur dreizehn dieser vakanten Stellen neu besetzt wurden — sieben davon nicht durch das Nachrücken von Kandidaten, sondern durch Kooptation, was eine Verlet-* zung des Parteistatuts darstellte
Die Partei veränderte sich nicht nur durch die „Säuberungsmaßnahmen'', sondern auch durch zahlreiche freiwillige Austritte. Wie Oldrich Svestka im März 1970 erklärte, „traten [1969] verhältnismäßig viele Arbeiter aus der Partei aus". Svestka äußerte seine Besorgnis nicht nur über die Arbeiter, sondern auch über die Genossenschaftsbauern, die den „sozialistischen Ideen" nicht mehr so „entschlossen" hingegeben seien wie früher
Nach einer Mitteilung des neuen „harten" Vorsitzenden der Prager Parteiorganisation nahmen im August 1969 in Prag nur 16 Prozent der Mitglieder an Parteiversammlungen teil
Die Massen und die Eliten hatten ihre eigenen Gründe, der Partei zu mißtrauen.
Die Partei selbst war sowohl horizontal wie vertikal gespalten. An der Spitze der Pyramide stand Husäk, etwas isoliert; er war seit vielen Jahren „Einzelgänger" und hatte als solcher überlebt. Die meisten anderen Parteiführer, von den Dubcek-Liberalen bis zu den Konservativen, hatten ihre Karriere in der Ara Novotny gemacht. Husäk entstammte einer anderen Generation; er war gleichsam wiederauferstanden und in die aktive Parteipolitik zurückgekehrt. Seine Verdammungsurteile über die Novotny-Zeit ließen sich leicht auf Personen beziehen, die auch jetzt noch eine politische Rolle spielten. Lubomir Strouga! zum Beispiel war vier Jahre lang Innenminister unter Novotny gewesen. Husäk hatte seine Hausmacht im slowakischen Parteiapparat; Strougal war sogar noch direkter mit dem Apparat für die tschechischen Landsteile verbunden. Während Husäk bei Äußerungen über die Anwesenheit der Sowjettruppen in der Tschechoslowakei eine mittlere Linie einhielt, verteidigte Strougal sie in den stärksten Tönen, was einigen Leuten in Moskau vermutlich sehr gefiel
Die personellen Veränderungen, die auf dem Januar-Plenum des Zentralkomitees der KP vorgenommen wurden, machten Husäks Position noch heikler. Auf der einen Seite verlor sein Hauptrivale Strougal die direkte Kontrolle über den tschechischen Parteiapparat und erhielt dafür den ehrenvolleren, aber mit weniger Macht ausgestatteten Posten des Ministerpräsidenten der Bundesregierung. Ein Pluspunkt war auch, daß Dubcek zwar aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen wurde, aber seinen Botschafterposten in Ankara antreten durfte, mit dem er Ende 1969 betraut worden war
Negativ war von Husäks Standpunkt aus folgendes zu beurteilen: Strougal würde auch als Ministerpräsident in enger Verbindung mit dem Parteiapparat bleiben, den er in Böhmen und Mähren teilweise nach seinen Vorstellungen umgestaltet hatte. Der neue Leiter des tschechischen Parteibüros, Josef Kempny, nahm einen raschen Aufstieg, und es bestand die Möglichkeit, daß er opportunistisch den Mantel nach dem Wind hängte. Auch auf anderen Posten wurden Gemäßigte von Orthodoxen abgelöst. Zum Beispiel verschob sich im elfköpfigen Parteipräsidium die Gewichtsverteilung nach der konservativen Seite hin, da Cernik, Karel Polacek und Stefan Sadovsky ihre Sitze zugunsten von Jozef Lenart, Antonin Kapek und Josef Korcak räumen mußten. Sadovsky wurde als Erster Parteisekretär der Slowakei durch Lenart ersetzt (der in seinen ersten Äußerungen allerdings der Linie Husäks folgte). Polacek, bisher Vorsitzender des Zentralrats der Revolutionären Gewerkschaftsbewegung, mußte auch dieses Amt niederlegen. Das Januar-Plenum beschloß außerdem, durch einen bereits im September 1969 geplanten „Umtausch der Parteimitgliedskarten" unzuverlässige Parteimitglieder auf allen Ebenen auszusondern
Der Umtausch der Mitgliedskarten sollte — als Voraussetzung für Wahlen und andere politische Aktivitäten — in der ersten Hälfte des Jahres 1970 abgeschlossen werden, aber es gab bald Anzeichen dafür, daß diese Säuberungsaktion in den Reihen der Partei auf Schwierigkeiten stieß und daß sogar versucht wurde, sie zu sabotieren. Bei der Durchführung des Mitgliedskartenumtauschs gab es sozusagen rechte und linke Abweichungen.
Eine Analyse der rechten Tendenz erschien in Rude Prävo: „Neben guten Erfahrungen treten auch schwache Stellen zutage. In einigen Grundorganisationen zum Beispiel sind die Analysen der Parteiarbeit in den Jahren 1968— 69 noch nicht vorgenommen und direkte Organisatoren, Anhänger und Verfechter des Rechtsopportunismus noch nicht entlarvt worden. ... Es geht hier nicht um all jene Arbeiter, die offen selbstkritisch auftreten. Einige Mitglieder der Intelligenz haben jedoch eine übermäßige Weitschweifigkeit an den Tag gelegt; sie haben versucht, die Befragung auf Randprobleme abzulenken und Mitglieder der Gruppe niederzureden. Anhänger rechter Auffassungen wählen verschiedene Taktiken, um durchzukommen und ihre Parteikarten zu behalten. Sie leugnen nicht nur die Konsequenzen ihrer Tätigkeit, sondern verdrehen auch die Tatsachen; es gibt sogar Fälle, wo sie versucht haben, Mitglieder des Befragungsausschusses sozusagen zu verhören."
Am 1. April 1970 erklärte Alois Indra vor einer Parteiversammlung in einer Prager Fabrik, die Partei müsse die jetzt gebotene Gelegenheit, ihre Reihen zu säubern, nach besten Kräften ausnutzen. Seit 1948 hätten schon zweimal Überprüfungen stattgefunden. Wenn die jetzigen Befragungen auf die gleiche Weise vorgenommen würden wie die früheren, dann, so meinte Indra, „wäre es das beste, die ganze Sache bleiben zu lassen, denn dann hätte sie keinen Zweck".
Weiter sagte er: „Wir werden keine Hexen-jagd organisieren. Aber was für eine Kommunistische Partei wären wir, wenn wir die stürmischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit einfach mit einer Handbewegung abtäten und wenn wir jetzt eine Mitgliedskarte an jeden aushändigten, der danach greift und der in ihr — entschuldigt den Ausdruck — einfach eine Arbeitserlaubnis sieht, nicht den Nachweis einer Zugehörigkeit zur mächtigen Armee der revolutionären Vorhut der Arbeiterklasse?"
Ende März/Anfang April ging der Mitgliedskartenumtausch vom ersten zum zweiten Stadium über — von der Ebene der Regional-und Bezirkskomitees zu derjenigen der Grund-organisationen. Unterredungen mit ausgewählten Parteiaktivisten und Mitarbeitern des Parteiapparats hatten stattgefunden, und jezt warteten „etwa anderthalb Millionen Kommunisten in der ganzen Republik" auf die Gespräche, die direkt mit ihnen geführt werden sollten. Viele Rechte traten aus freien Stücken aus
Die Parteipresse warnte jedoch auch vor dem anderen Extrem: Die Komitees sollten ihre Aufgabe nicht darin sehen, „Köpfe abzuschlagen". Man solle nicht Arbeitern vertrauen, nur weil sie Arbeiter seien, und nicht Intellektuelle angreifen, nur weil sie Intellektuelle seien
Allgemein zeigten die ersten Erfahrungen, daß die Parteizellen den Brief vom Januar, der Richtlinien für den Umtausch der Mitgliedskarten gab, nicht sorgfältig genug gelesen hatten. „Manche Parteikomitees haben auch versucht, ihre eigenen Kriterien für die Beurteilung auszuarbeiten."
Wegen der Anfangsschwierigkeiten wurde entschieden, daß ein Vertreter höherer Parteiorgane in den Überprüfungskomitees zugegen sein solle
Mit diesem Stand der Dinge unzufrieden, gab Husäk im Januar und noch einmal im März 1970 zu verstehen, daß er zwar im Zentrum die Dinge im wesentlichen in den Griff bekommen habe, daß aber in abgelegenen Gebieten und in bestimmten Parteizellen der Widerstand noch anhalte. Das bewog ihn, sich gegen eine „Fiktion" zu wenden, die man, wie er sagte, von 1960 bis 1969 genährt habe: Die Vorstellung von einem über den Klassen stehenden Staat des ganzen Volkes, der einfach Etappen überspringen könne. Diese Auffassung, meinte er, habe die Achtung vor der Staatsmacht untergraben
Husäks Rezept für Parteikrankheiten aller Art hieß Rückkehr zu den Leninschen Prinzipien des demokratischen Zentralismus. Diskussion und Disziplin gehörten hiernach zusammen. Die „Medizin", mit deren Hilfe Exzesse wie in der Ara Novotny vermieden werden könnten, sei „die ständige selbstkritische Analyse unserer Arbeit, von den untersten Organisationen und den einzelnen Mitgliedern bis hinauf zu den höchsten Organen". Die Selbstkri-tik in den Reihen der Partei müsse gefördert werden, auch auf die Gefahr hin, daß dabei falsche Auffassungen zum Ausdruck kämen.
Husk fuhr jedoch fort: „Die innerparteiliche Demokratie hat zwei Seiten: auf der einen Seite die Diskussion, die wahrhaft freie demokratische Stellungnahme, auf der anderen die disziplinierte Ausführung und Verwirklichung eines Beschlusses, wenn er einmal gefaßt worden ist. Innerparteiliche Demokratisierung und innerparteiliche Disziplin sind nicht voneinander zu trennen. Blinden, mechanischen Gehorsam oder die Einschränkung der Aktivität der Mitglieder und Parteiorganisationen, die so kennzeichnend für die Vor-Januar-Periode waren, lehnen wir ab; aber ebenso lehnen wir ab eine schrankenlose Demokratie oder richtiger Anarchie, bei der sich keine Organisation beispielsweise an die Beschlüsse des Zentralkomitees gebunden fühlt — eine Anarchie, die die Partei organisatorisch auseinanderreißen würde, wie sie in unserem Lande auch tatsächlich auseinandergerissen worden ist."
Das von Husäk vorgeschlagene Allheilmittel war also eine Rückkehr zu den leninistischen Grundsätzen des innerparteilichen Lebens
VII. Die Einwirkungen der Partei auf die Bevölkerung
1. Die Forderung nach Mitarbeit Wie weit die Massen dem Regime entfremdet waren, zeigte sich unter anderem an dem Rückgang in der Mitgliederzahl der Kommunistischen Partei Ende 1969/Anfang 1970, nachdem sie im Gefolge des Januar 1968 steil emporgeschnellt war. Besonders ausgeprägt war dieser Trend bei der jüngeren Generation. Im ersten Halbjahr 1968 betrug der Anteil der 18— 25jährigen an den neuaufgenommenen Parteimitgliedern 43, 2 Prozent, im ersten Halbjahr 1969 nur 33, 4 Prozent. Dagegen betrug im ersten Halbjahr 1968 der Anteil der über 40jährigen an den Neuaufgenommenen 9, 6 Prozent, im ersten Halbjahr 1969 jedoch 19, 5 Prozent. Einige dieser Veränderungen waren zweifellos auf Ausschlüsse zurückzuführen; aber ein Artikel, der Ende 1969 in Zivot Strany erschien, deutete darauf hin, daß eine beunruhigende Zahl ihre Ursache wohl eher in Austritten hatten: Nicht nur Intellektuelle zogen sich zurück, sondern in Bratislava waren 55 Prozent der Arbeiter aus der Partei ausgeschieden — ob durch Ausschluß oder Austritt, wurde nicht im einzelnen angeführt
Wie schwer es dem neuen Regime fiel, die jungen Menschen für sich zu gewinnen — besonders in den tschechischen Landesteilen —, erläuterte im März 1970 der Vorsitzende des Bundesrates der tschechoslowakischen Kinder-und Jugendorganisationen. Als Hauptschwierigkeiten führte er an: es gebe „keine engen Kontakte mit den Menschen in den Fabriken und den Dörfern"; es werde nicht klargemacht, daß auf dem Weg zu den gemeinsamen sozialistischen Zielen nicht Uniformität, sondern Vielfalt erwünscht sei; es fehle an Kadern mit „natürlicher Autorität" und Geduld; es gelinge nicht, junge Leute davon zu überzeugen, daß man sie „mit Aufgaben und Funktionen betrauen kann, auch wenn sie noch keine ausreichende Erfahrung besitzen"
Um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen und dadurch dem Husäk-Regime einige Legitimität zu verschaffen, mußte man die Öffentlichkeit dazu bewegen, vom Schwejkis-mus abzugehen und eine gewisse Aktivität zu entfalten. Husäk übernahm eine Parole von Kädär: „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns." Partei und Regierung gaben sich väterlich und verzeihend. All denen, die geirrt hatten, sollte Toleranz und Verständnis entgegengebracht werden. Mit Arbeitern, die aus der Partei ausgetreten waren, sollte zwei-oder dreimal gesprochen werden, um genau festzustellen, ob sie wirklich der Parteiarbeit fernzubleiben wünschten. Ein zweites Thema, das immer wieder angeschlagen wurde, war die Sinnlosigkeit des Widerstands gegen die neue Ordnung. Das Losungswort hieß „Realismus": Da die neue Ordnung nicht gestürzt werden könne, da sie zum Teil von der Geopolitik diktiert sei (die exponierte Lage des Landes zwischen Deutschland und Rußland) und da ein Kampf gegen das Unvermeidliche nur Not und Elend für den einzelnen mit sich brächte, gebiete der gesunde Menschenverstand allen Tschechoslowaken guten Willens, Partei und Regierung in ihren Bemühungen um die Schaffung eines besseren Lebens zu unterstützen.
Ein drittes Leitmotiv war der Zusammenhang zwischen einem höheren Lebensstandard einerseits und Frieden und Ordnung andererseits. „Arbeit macht frei — Arbeit macht ruhig — Arbeit macht satt." Wenn die einzelnen mit vereinten Kräften der Sache des Kollektivs dienten, dann sei das auch zum persönlichen Besten eines jeden
Dem Volk wurden positive Beispiele vorgewiesen: Ein Priester, der einst in der Christlichen Volkspartei führend gewesen war, erklärte sich jetzt zur Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei bereit. Aber auch negative Beispiele wurden angeführt: Ein Priester, dessen Vater Mitglied der Hlinka-Garde gewesen war und der sich später, in der Dubcek-Ära, selbst eine Machtposition geschaffen hatte, stellte sich jetzt gegen die Nach-Dub-cek-Ordnung
Barrieren wurden aufgerichtet: Dem Vorbild der DDR folgend, unterband das Husk-Regime die freie Ausreise aus dem Lande. Selbst Geschäftsreisen ins Ausland wurden von jetzt an nur nach gründlicher Überprüfung und Erwägung genehmigt
Man bediente sich der Furcht: Die Weigerung der Bundesrepublik, das Münchener Abkommen als ungültig von Anfang an zu bezeichnen, wurde als Beweis für latenten Revanchismus hingestellt. Ebenso bewertete man Kundgebungen der NPD und anderer westdeutscher Gruppen, die sich gegen die Verhandlungen zwischen Brandt und Stoph wandten
Schließlich beschloß die Partei, die Massenorganisationen neu zu beleben. Die Partei will ihnen nicht diktieren, wie zur Zeit Novotnys; sie will sie aber auch nicht ignorieren, wie in den Tagen Dubceks. Vielmehr will sie das Handeln dieser Organisationen — wie z. B.der Revolutionären Gewerkschaftsbewegung — „koordinieren". 2. Die Beherrschung der öffentlichen Meinung In den Medien der Massenkommunikation war — nach Auffassung der Parteiführung — ein gordischer Knoten entstanden, der nicht aufzulösen war, sondern durchgehauen werden mußte: das Problem der antisozialistischen und antisowjetischen Intellektuellen, welche die Presse, den Rundfunk und das Fernsehen beherrschten, als ob sie — und nicht die Partei — für die Formung der öffentlichen Meinung verantwortlich wären. Die meisten Führer dieser intellektuellen „Clique" hätten bereits das Land verlassen und ihren Aufenthalt im Westen genommen
Das war die Parteilinie im Winter 1969/70. Trotz intensiver Säuberungen, die im September 1969 begannen, scheinen jedoch die Massenmedien noch immer — vom Standpunkt des Regimes — subversiven Einflüssen unterworfen zu sein. Die Schwierigkeit liegt offenbar darin, daß die Intelligenz zum größten Teil den Prinzipien des Januar angehangen hat. Zwar sind viele freiwillig oder unfreiwillig aus ihren Stellungen ausgeschieden, aber manche „überwintern", und einige bedienen sich anderer Methoden.
Rude Prävo schrieb: „Die föderative Neuordnung der zentralen Organe des Nachrichtenwesens (1969) bot den rechten Kräften in der Zentralverwaltung des Nachrichtenwesens eine willkommene Gelegenheit, ihre Machtposition zu stärken, und zwar nicht nur in den Parteifunktionen des Ressorts. Wieder einmal wurde die Solidarität der . August-Männer'demonstriert. Sie schlugen sich gegenseitig vor für leitende Funktionen im Apparat des Bundeskomitees für Post-und Fernmeldewesen und auch im Ministerium für Post-und Fernmeldewesen der Tschechischen Sozialistischen Repubik. Sie haben ihre Stellung gehalten, obwohl die gesamte politische Entwicklung in Partei und Gesellschaft nach den Plenartagungen vom April, Mai und September des verflossenen Jahres gezeigt hat, daß sie eine unlautere Taktik verfolgt haben und daß ihre , Nach-Januar'-Politik bankrott ist. Sie ignorieren die Kritik, die von gesunden Kräften in der Parteiorganisation an ihnen geübt wird, und ebenso ignorieren sie die Bemühungen der neuen Parteiführung, die Partei ideologisch zu einigen und die Verhältnisse in der Gesellschaft zu konsolidieren. Sie handeln, als stünde ihre parteifeindliche Tätigkeit während der ganzen Nach-Januar-Periode in vollem Einklang mit der marxistisch-leninistischen Linie der neuen Parteiführung."
Das Regime hat viele Instrumente zur Verfügung, um mit dieser Situation fertig zu werden. Seit September 1969 sind die Schlüsselpositionen der betreffenden Ministerien und Behörden mit verläßlichen Konservativen besetzt worden. Diese Leute werden ihre Untergebenen unter straffer Kontrolle halten. Die Indoktrination ist verstärkt worden. Ferner weiß das Regime, daß Intellektuelle zur Grüppchenbildung neigen; es wendet deshalb eine Spaltungstaktik an und sucht eine gewisse Verständigung wenigstens mit einigen Gruppen
Ein besonderes, aber damit verwandtes Problem stellen die Universitäten dar. Die meisten Rektoren sind zwischen dem September 1969 und dem Frühjahr 1970 ausgewechselt worden. Manche Fakultäten wurden geschlossen. Viele Professoren und sonstige Wissenschaftler wurden entlassen. Zeitschriften wurden eingestellt, Studenten relegiert, Disziplinarausschüsse eingerichtet. Das Erziehungsministerium erhielt größere Weisungsbefugnisse gegenüber den Hochschulen.
Eine Änderung des Universitätsgesetzes im Januar 1970 hatte den erklärten Zweck, „. . .den Einfluß des Erziehungsministeriums auf die Leitung der Universitäten zu verstärken und eine gesetzliche Grundlage zu schaffen für die endgültige Bereinigung der gegenwärtigen Situation in den Universitäten und für die Liquidierung aller negativen Folgen des Jahres 1968. Von allen administrativen Befugnissen, die dem Minister zustehen — z. B.dem Recht, Lehrstühle aufzuheben oder zu errichten, Anstellungsverträge mit Hochschulfakultäten aufzulösen oder zu schließen —, wird nur in extremen Fällen Gebrauch gemacht werden. Der Prozeß der personellen Veränderungen wird im Januar abgeschlossen sein. — Es wird auch notwendig sein, die Zusammensetzung der wissenschaftlichen Räte bestimmter Fakultäten zu verändern und neue Funktionäre zu wählen. Ferner fordert das Ministerium die Einsetzung von Disziplinarausschüssen, die sich mit Vertretern extremistischer politischer Auffassungen unter den Studenten befassen werden."
Nach den Worten des slowakischen Kulturministers war „die erste Etappe der Konsolidierung in der kulturellen Sphäre" Ende März 1970 abgeschlossen. Dieses Stadium, meinte er, sollte „eher als Befriedung bezeichnet werden". „Die wirkliche Konsolidierung", fuhr er fort, „vor deren Beginn wir jetzt stehen, ist ein Prozeß, der auf einem allmählichen Wandel im Denken der Vertreter der kulturellen Front basiert"
Die Grundsätze, von denen sich das Regime in seinem Verhalten gegenüber der Intelligenz leiten läßt, hat ein Kommentator als eine Mischung von Geduld und Prinzipien-festigkeit gekennzeichnet: „Das jüngste Plenum des Zentralkomitees der KPC (Januar 1970) und darauffolgende öffentliche Reden mehrerer führender Vertreter von Partei und Staat, zum Beispiel des tschechischen Kulturministers Miloslav Bruzek, haben bestätigt, welche Großzügigkeit und unendliche Geduld die Partei und andere Organe gegenüber der Intelligenz im allgemeinen und den Künstlern im besonderen an den Tag legen. Die Partei hält es für richtig, den komplizierten geistigen Prozessen, die sich in der Intelligenz vollziehen, viel Zeit zu lassen, damit die Intellektuellen auf der Grundlage der Kenntnis aller Fakten ihre Haltung überprüfen und ihre eigenen Schlußfolgerungen ziehen können. — Das bedeutet natürlich nicht, daß die neue Führung* beabsichtigt, zersetzende Machenschaften von irgendeiner Seite zu dulden, wie es die früheren Führer getan haben. Sie wird nicht zulassen, daß künstlerische, wissenschaftliche oder fachliche Fragen politisch ausgeschlachtet werden; denn neben Geduld hat das Verhältnis der Partei zur Intelligenz noch eine andere Komponente: Prinzipienfestigkeit. Diese Prinzipienfestigkeit macht natürlich Kompromisse unmöglich, aber sie schafft eine zuverlässigere Grundlage für die Lösung aller dringenden und wichtigen Probleme. — Die Partei lehnt den sogenannten Elitebegriff und die Theorie von den auserwählten Sekten der Intelligenz ab; ihre Erfinder und selbsternannten Protagonisten befinden sich jetzt übrigens größtenteils im Westen."
Den kläglichen Zustand der Wirtschaft kennzeichnete ein tschechischer Rundfunk-Kommentator Anfang 1970: „Das Land ist eingeschneit und von einer Grippe-Epidemie heimgesucht .. . Viele Leute glauben wirklich, wir stünden vor dem Bankrott, und sie verfallen in Hoffnungslosigkeit. Fleisch ist rationiert.
Es sind nicht genügend Waren auf dem Markt.
Die Dienstleistungsbetriebe funktionieren schlecht, und es gibt Probleme mit Auslandsreisen. Versuchen Sie zum Beispiel, Ihre Wasserleitung oder gar das Dach über Ihrem Kopf reparieren zu lassen. Versuchen Sie, Zement zu bekommen, über so grundlegende Dinge wie zum Beispiel Wohnungen redet man lieber gar nicht. So ist es nicht überraschend, daß jeder, der den Menschen wenigstens ein Fünkchen Hoffnung bringt, sofort starke Unterstützung erhalten muß."
In offiziellen Äußerungen wurden unter anderem folgende Schwierigkeiten erwähnt:
Verkehrswesen: lange Verzögerungen bei der Fertigstellung von Untergrundbahn-Linien und -Stationen (drei-oder viermal so lange Bauzeiten wie in der UdSSR).
Gasversorgung: Die Verknappung in Prag nötigte die Regierung, im Januar eine drastische Einschränkung des Gasverbrauchs für Heizung und Warmwassererzeugung anzuordnen.
Bau von Industrieanlagen: Kein kontinuierlicher Arbeitsablauf; Materialmangel; zu wenig fertiggestellte Anlagen.
Elektroenergie: Ernste Versorgungslücken in den nächsten fünf Jahren.
Eisenbahntransport: Unzureichendes rollendes Material; Frostschäden; organisatorische Probleme.
Personalmangel: Nicht nur bei der Polizei, sondern auf vielen wichtigen Gebieten.
Inflation: Steigende Preise und niedrige Löhne
; Zu diesen schwierigen äußeren Lebensbedingungen kam hinzu, zum Teil durch diese bedingt, aber auch als Folge der politischen Veränderungen, ein Anwachsen der Kriminalität. Sie stieg schon 1968 scharf an und wuchs 1969 um weitere 20 Prozent, wie offiziell verlautbart wurde
Wie waren alle diese Probleme, vornehmlich die wirtschaftlichen, zu lösen? Husäk entwickelte seine Vorstellungen in der Rede vom 5. Januar 1970. Er gab zu, daß „unpopuläre Maßnahmen" ergriffen würden. Zu ihrer Rechtfertigung sagte er, der Feind habe das Haus in Brand gesteckt; man müsse das Feuer löschen, ehe es das ganze Haus in Asche lege. Konkret haben Partei und Regierung für 1970 einen Plan formuliert und mit der Ausarbeitung eines Plans für die nächsten fünf Jahre begonnen. 1969 gab es für die wirtschaftliche Tätigkeit nur Richtlinien, die nicht bindend waren. Das Ergebnis: Inflation und Spekulation. Der Minister für Wirtschaftsplanung erklärte warnend, wenn die Betriebe den Plan für 1970 nicht annähmen, würde er ihnen auf administrativem Wege vorgeschrieben werden. Die Regierung werde zur Durchführung des Plans nicht nur Anleitung geben, sondern auch regelmäßige Kontrollen vornehmen. Nötigenfalls werde sie Korrekturen machen und „vielleicht gewisse staatliche Wirtschaftsmaßnahmen zwangsweise durchsetzen"
Acht neue Gesetze wurden erlassen und bestehende Gesetze abgeändert, um es den Staats-organen zu ermöglichen, „wirksamer gegen antisoziale Elemente vorzugehen, welche die friedliche Entwicklung und den wirtschaftlichen Aufbau gefährden"
Einige tschechoslowakische Politiker gaben zu verstehen, daß die Regierung sich bemühen werde, ihre wirtschaftlichen Anstrengungen zunehmend mit denen der DDR und der UdSSR zu integrieren
Beim Umtausch der Parteimitgliedskarten sollte nicht nur die politische Zuverlässigkeit untersucht werden, sondern auch die wirtschaftliche Tätigkeit der Funktionäre in den verschiedenen Betrieben. Es sollte festgestellt werden, ob sie in den Jahren 1968 und 1969 in unverantwortlicher Welse von den bestehenden Richtlinien abgewichen waren
Schließlich bemühte sich das Regime auch, die vorhandenen Arbeitskräfte intensiver auszunutzen. So plante es, im Laufe des Jahres 1970 neben der üblichen Fünftagewoche vier zusätzliche Arbeitstage einzuführen
VIII. Die Konsolidierung der außenpolitischen Beziehungen
Wenn kein deus ex machina eingreift, etwa in Gestalt einer massiven Kapitalhilfe aus dem Ausland, dann ist zu vermuten, daß es mit der in einem Teufelskreis gefangenen Wirtschaft der Tschechoslowakei weiter bergab geht. Um seiner Schwierigkeiten Herr zu werden, greift das Regime auf eben jene zentralistischen Methoden zurück, die in der Ara Novotny zu einer langen Periode negativen Wachstums beigetragen haben. Daß es erneut zu einer solchen Entwicklung kommt, ist um so wahrscheinlicher, als die Menschen die Freiheit gekostet und auf ein besseres Leben gehofft haben — nur um Kostprobe und Hoffnung alsbald wieder zu verlieren.
Mit einem engherzigen, furchtsamen Herangehen an die inneren Probleme ist um so eher zu rechnen, als das Regime tief besorgt nicht nur die Politik seiner vermeintlichen Gegner im Westen, sondern auch die seiner vorgeblichen Verbündeten im Osten beobachtet. Fünf sowjetische Divisionen sind in der Tschechoslowakei stationiert und schließen die größeren Städte ein (in ziemlicher Eintfernung von den Grenzen, die angeblich gegen den deutschen Revanchismus geschützt werden müssen). Machtkämpfe im Kreml können die Stellung der tschechoslowakischen Ultras auf Kosten Husäks und seiner engsten Gefährten stärken. Zugleich fürchten die tschechoslowakischen Führer die ideologischen und kulturellen Rückwirkungen von Kontakten zum Westen. Sie hätten zwar Grund, Gespräche über die europäische Sicherheit und andere Schritte zur Entspannung zu begrüßen; andererseits könnten aber solche Vorgänge die Tür für Einflüsse jener Art öffnen, wie sie seinerzeit die spontane Entwicklung des tschechoslowakischen Frühlings weiter vorangetrieben haben. Und auch wenn die internationale Lage gespannt bliebe, könnte doch ein anderes Mitgliedland des Warschauer Paktes — Rumänien, Ungarn oder gar die DDR — eine innere Konvulsion erleben, die es schwerer machen würde, die Tschechoslowakei mit fester Hand zu regieren.
Der Überwindung dieser Schwierigkeiten soll unter anderem der neue Vertrag mit der Sowjetunion über Freundschaft und gegenseitigen Beistand dienen. Er tritt an die Stelle des 1943 geschlossenen Vertrages. Der neue Vertrag wurde im März 1970 vom sowjetischen Außenminister Gromyko paraphiert und ist am 6. Mai, dem fünfundzwanzigsten Jahrestag der Befreiung der Tschechoslowakei durch die Rote Armee, unterzeichnet worden.
Warum wurde der Vertrag neu gefaßt? Rude Prävo gab am 24. März 1970 folgende Erklärung: „Der Vertrag von 1943 wurde von unseren damaligen Vertretern zur Zeit der Gewaltherrschaft der faschistischen Okkupanten in unserem Lande geschlossen, als wir unser Heil ganz klär in der Sowjetunion und ihrer Armee sahen, im Sieg ihrer Waffen und in der Möglichkeit, uns auch künftig auf diese sozialistische Macht als die stärkste Gewißheit der damaligen Welt zu verlassen . . . Man braucht nicht zu verhehlen, daß diese klare Einstellung in den Nachkriegsjahren und besonders durch die Ereignisse von 1968 verwischt wurde. Wenn wir jedoch selbst in einer so komplizierten Situation wie der heutigen mit den Augen eines sozialistischen Landes, das wir sind und bleiben wollen, auf die uns umgebende Welt blicken, eine Welt voll von Spannungen und Drohungen neuer Konflikte, die leicht zu einem dritten Weltkrieg führen könnten, — dann müssen wir ganz logisch Schutz für unseren Sozialismus an der Seite der anderen sozialistischen Länder suchen, weil nichts anderes als Einigkeit mit ihnen uns diesen Schutz in ausreichendem Maße geben kann ..."
Der neue Vertrag werde hauptsächlich deshalb unterzeichnet, fuhr die Parteizeitung fort, weil der Vertrag von 1943 Spuren der damaligen spezifischen Situation trage und eng verbunden mit dem Kampf gegen den deutschen Faschismus gewesen sei. Schon seit einiger Zeit sei erwogen worden, den alten Vertrag in Einklang mit der neuen Situation zu bringen
Das Präsidium des tschechischen Nationalrats billigte die Grundsätze des neuen Vertrages am 2. April. Es bekräftigte die darin enthaltenen Thesen über den sozialistischen und internationalistischen Charakter der tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen und über die historisch erwiesene Bedeutung dieser Beziehungen für die Entwicklung der tschechoslowakischen sozialistischen Gesellschaft.
Tschechische und slowakische Kommentare hoben im März 1970 die Vorteile des neuen Vertrags für die Tschechoslowakei hervor. Einer dieser Kommentare, an sich unverfänglich, enthielt möglicherweise eine Dosis Ironie; denn er betonte, daß der neue Vertrag ebenso wie sein Vorgänger Sicherheit „gegen alle Formen der Einmischung" biete. Mit Nachdruck wurde auch auf den wirtschaftlichen Nutzen des Vertrags hingewiesen: „Mit der Sowjetunion wickeln wir ein Drittel unseres gesamten Außenhandels ab. Für uns ist es besonders vorteilhaft, daß wir aus der Sowjetunion Getreide erhalten, da wir die erforderliche Menge nicht selbst erzeugen können; ebenso Rohstoffe, Rohöl, Eisenerz und Nichteisenmetalle, an denen wir keine eigenen Vorkommen besitzen. Andererseits ist es von Vorteil, daß durch das Bündnis mit der Sowjetunion für unsere industriellen Produkte ein bevorzugter Zugang zu dem ausgedehnten sowjetischen Markt sichergestellt ist, zu dem alle entwickelten Länder hinstreben. Aber Warenaustausch, auch großen Umfangs, genügt heute nicht mehr. Im Interesse schnellerer Entwicklung müssen die sozialistischen Länder zu Arbeitsteilung, Spezialisierung und Integration übergehen — natürlich nicht von der Art wie im Westen, wo die stärksten Monopole, zumeist amerikanische Monopole, oft schwächere westliche Firmen aufkaufen und unter ihre Botmäßigkeit bringen. — Die sozialistischen Länder werden zweifellos eine wirksame und gerechte Form der Integration finden, ähnlich der gerechten Form unseres bisherigen Außenhandels, der die Interessen des schwächeren Partners respektiert. Diese engere Zusammenarbeit wird sicherlich einen der Gegenstände des neuen tschechoslowakisch-sowjetischen Vertrages bilden. Dieser Vertrag wird umfassendere Bedeutung besitzen; er wird die Beziehungen und die Zusammenarbeit in der gesamten sozialistischen Ge33 meinschaft stärken, die der Hauptfaktor für Frieden und Fortschritt in der Welt ist."
Der Vertrag macht das überwiegen dergeineinsamen sozialistischen Interessen über die der nationalen Souveränität deutlich. Das Abkommen beinhaltet auch einen unbegrenzten räumlichen Geltungsbereich, so daß die Tschechoslowakei zu einer militärischen Unterstützung der Sowjetunion verpflichtet ist, gleichgültig, ob diese in Europa oder Asien angegriffen wird. Da Rumänien den bilateralen Vertrag mit der UdSSR seit Jahren nicht erneuert hat, dürfte der tschechoslowakische Vertrag mit der Sowjetunion über Freundschaft und gegenseitigen Beistand für Bukarest ein nur schwer zu überwindender Präzedenzfall sein.
Der Prag-Besuch des sowjetischen Außenministers im März 1970 bekräftigte, wie ETEKA meldete, „zwei Dinge, die von außerordentlicher Bedeutung für die Tschechoslowakei sind: die dringende Notwendigkeit, eine europäische Sicherheitskonferenz einzuberufen, und — hinsichtlich der Bundesrepublik Deutschland — die Notwendigkeit der Annulierung des Münchener Abkommens von Anfang an als unabdingbare Voraussetzung für eine weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik und der Deutschen Bundesrepublik."
Es mag sein, daß das offizielle Prag gegenüber der Bundesrepublik noch anspruchsvoller war als der Kreml, vielleicht weil die konservativen tschechoslowakischen Interessen durch eine Entspannung mit offenem Ausgang mehr gefährdet waren als die sowjetischen. Statt eine Annäherung zwischen Bonn und OstBerlin zu begrüßen, schienen manche tschechischen Kreise eine solche Entwicklung vielmehr zu fürchten. So bürdete ein tschechischer Autor der Bonner Regierung eine schwere Verantwortung auf: „Wenn Brandt sagt, seine Regierung habe ein lebenswichtiges Interesse an der Gewährleistung der europäischen Sicherheit und an der Verbesserung der Beziehungen zu den soziali-stischen Ländern, so ist für uns, die Nachbarn beider deutscher Staaten, die Haltung Bonns gegenüber der DDR eine Art Kriterium für die Aufrichtigkeit dieser Bemühungen um eine allgemeine . geistige Begegnung mit dem Osten'."
Ein anderer Autor schrieb vor dem Erfurter Treffen, angesichts der Bonner Position der Nichtanerkennung „wäre es nicht am Platze, große Hoffnungen zu hegen"
Nach eigener Bekundung empfindet die Prager Regierung Genugtuung darüber, daß führende westliche Politiker nicht mehr hoffen, die Tschechoslowakei aus dem Warschauer Pakt herauslösen zu können. Mit Nachdruck verweist sie auf die Teilnahme tschechoslowakischer Streitkräfte an militärischen Übungen mit anderen Warschauer-Pakt-Armeen auf dem Territorium der Tschechoslowakei und anderer Verbündeter. Zugleich versichert sie, diese Übungen würden nur minimale und schnell vorübergehende Störungen in der tschechoslowakischen Wirtschaft verursachen
Im politischen Bereich weist das Husäk-Re-gime mit Stolz darauf hin, daß die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei „wieder" imstande ist, als „revolutionäre" Partei auf internationalen kommunistischen Tagungen wie der in Moskau im Juni 1969 aufzutreten. Andererseits sind die tschechischen und slowakischen Führer gekränkt, wenn westliche Kommunisten ihnen vorwerfen, sie führten „Krieg gegen das pluralistische Modell" und kehrten zum Zentralismus im Stile Novotnys zurück
Im Winter 1969/70 wurde eine großangelegte Aufklärungskampagne durchgeführt mit dem Ziel, die tschechoslowakischen Völker davon zu überzeugen, daß die sowjetische Intervention im Jahre 1968 notwendig gewesen sei und daß dem Land aus der engen Verbindung mit der UdSSR dauernde Vorteile erwüchsen. Am Beginn dieser Kampagne stand im September 1969 die Schließung des Instituts für die Geschichte der europäischen sozialistischen Länder; an seine Stelle trat das reaktivierte Tschechoslowakisch-Sowjetische Institut der Akademie der Wissenschaften. Dem geschlossenen Institut wurde die Verbreitung von Antisowjetismus und Antikommunismus vorgeworfen. Als Grundlage für diese Anklage dienten wohl die Arbeiten seiner jüngeren Historiker
Der Ernst der Lage wurde 1969 durch Berichte unterstrichen, wonach die Sowjetunion vorgeschlagen hatte, die wissenschaftliche Forschung in Osteuropa und der UdSSR in ähnlicher Weise zu integrieren, wie das bei der Wirtschaft im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) der Fall ist. Es hieß zum Beispiel, das Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen in der UdSSR arbeite Richtlinien für die sozialwissenschaftliche Forschung in den RGW-Ländern aus.
Diese Richtlinien könnten so weit gehen, daß sie auch eine Liste der zu studierenden und zu erforschenden Problemkreise enthalten, wobei dann die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit bestünde, daß die Resultate der Forschung von irgendeinem Komitee in Moskau geprüft würden. Logisch zu Ende gedacht, wäre diese sowjetische Initiative für die Wissenschaftler eine Parallele zur Breshnew-Doktrin: Den einzelnen Gelehrten in wissenschaftlichen Institutionen Osteuropas würde nur eine „begrenzte Souveränität" zuerkannt; sie müßten sich den umfassenderen und angeblich wichtigeren Interessen der „sozialistischen Gemeinschaft" unterordnen.
In eben diesem Sinne erklärte ein tschechoslowakischer Funktionär im Frühjahr 1970 einem sowjetischen Publikum, seine Partei werde sich in der Sowjetunion Anleitung für die Aufstellung von Lehrplänen holen
Führende Politiker der Tschechoslowakei haben in den ersten Monaten des Jahres 1970 zahlreiche offizielle Reisen in Staaten des Warschauer Paktes und andere Länder unternommen. Zum Teil dienten diese Besuche zweifellos dem Zweck, daheim und im Ausland den Eindruck . zu schaffen, daß in der Tschechoslowakei ein stabiles Regime entstanden sei. So besuchte Präsident Svoboda die Mongolische Volksrepublik und Japan. Ministerpräsident Strougal und andere Politiker fuhren in die UdSSR. Mehreren osteuropäischen Ländern wurden Freundschaftsbesuche abgestattet, oft im Zusammenhang mit dem fünfundzwanzigsten Jahrestag ihrer Befreiung.
Wie solche Besuche für innenpolitische Zwecke ausgenutzt werden können, zeigte Husäk bei seiner Rückkehr aus Ungarn. Auf einer Pressekonferenz erklärte er: „Die Eindrücke unserer Delegation sind sehr gut und sehr positiv. Am 25. Jahrestag der Befreiung sahen wir, zumindest kurz, die großen Ergebnisse der Arbeit des ungarischen Volkes, einer politisch sehr gefestigten und ökonomisch wohlhabenden Gesellschaft, und auch das Vertrauen des ungarischen Volkes zu seiner gegenwärtigen Führung. Einen großen Eindruck auf alle aus-ländischen Delegationen einschließlich der unsrigen machte — so kann man es nennen — der hohe Grad an Solidarität der sozialistischen Länder; das wurde auch in den Reden und von den Menschen betont."
Die Lehre für die tschechoslowakischen Bürger war klar: Wenn sie sich um ihre Führer scharten, dann würde auch ihre Gesellschaft gefestigt, wohlhabend und bei den anderen sozialistischen Regimes angesehen sein.
IX. Der politische Handlungsspielraum der Regierung Husäk
Wie lange wird Husäk am Ruder bleiben? Wird er nur eine Übergangsfigur sein und abtreten müssen, nachdem unter seinem Vorsitz die letzten Reste des tschechoslowakischen Liberalismus hinausgesäubert’ worden sind? Er steht einer großen Schar von Feinden gegenüber; aber er hat auch viel politische Klugheit und eiserne Entschlossenheit zum Durchhalten bewiesen, und diese Eigenschaften werden ihm gegen die Ultrakonservativen ebenso wie gegen die übriggebliebenen liberalen Kräfte helfen. Hätte es Husäk nur mit der Opposition im eigenen Lande zu tun, dann besäße er recht gute Chancen, seine eigenen politischen Vorstellungen durchzusetzen. Die Imponderabilien der internationalen Politik und die ungeklärten Machtverhältnisse im Kreml stellen jedoch eine Reihe von Unbekannten in der Gleichung dar, die Husäks Schicksal sehr viel ungewisser erscheinen lassen.
Wie weit würde Husäk gehen, um an der Macht zu bleiben? Man darf vermuten — Skeptiker sind allerdings anderer Meinung —, daß er auf Grund seiner eigenen Gefängnis-Erfahrungen, verbunden mit seinem Hang für das Pragmatische, administrative Eingriffe und Justizterror ablehnt. Von solchen Erwägungen ausgehend, nehmen manche Tschechen und Slowaken an, ihr Leben werde sich zunächst für einige Jahre verschlechtern, dann aber besser werden. Diejenigen, die auf eine baldige oder mittelfristige Verbesserung hoffen, mögen freilich in der Minderheit sein. Die Beschränkung der Meinungsfreiheit, zum Beispiel durch die Zensur
Das Husäk-Regime mag noch hoffen, eine relativ selbständige Außenpolitik betreiben zu können. Doch bestehen hier große Unklarheiten, die durch ein Gespräch zwischen einem tschechoslowakischen Minister und dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko illustriert werden. Auf die Frage, wie weit Prag in seinen Beziehungen zum Westen gehen könne, antwortete Gromyko Anfang 1969: „Das ist eure Sache. Wir waren stets bereit, euch das tun zu lassen, was ihr wünscht." Ein führender tschechoslowakischer Politiker kommentierte: „Die Tragödie der Situation liegt darin, daß Gromyko glaubt, was er sagt."
Einige Tschechoslowaken, die etwas von Außenpolitik verstehen, sind der Meinung, daß die künftige Politik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland vorsichtiger und zugleich effektiver sein muß als in der Vergangenheit. Selbst 1968 kamen die Tschechoslowaken nur wenig in ihren Ermittlungen voran, welche Art von Hilfe sie von der Bundesrepublik erbitten und erhalten könnten. Die Hauptverantwortung hierfür liegt nach Ansicht unserer Gewährsleute auf der tschechoslowakischen Seite, weil Prag nicht festgestellt hat, welche konkreten Wünsche es vernünftigerweise an die Bonner Regierung herantragen könnte.
Dieses Versäumnis war zum Teil darauf zurückzuführen, daß die Tschechoslowakei angesichts ihrer Verhältnisse zur UdSSR unsicher war, wie weit sie gehen dürfe. Dem Mangel an Klarheit hinsichtlich der Wünsche an Westdeutschland hätte abgeholfen werden können, wenn den tschechoslowakischen Betrieben mehr Autonomie eingeräumt worden wäre; sie hätten dann die Möglichkeit gehabt, sich selbst mit westdeutschen Partnern über ihren Bedarf zu verständigen. Dazu wäre jedoch die Schaffung einer neuen gesetzlichen Grundlage für ein relativ selbständiges Außenhandelsgebaren der tschechoslowakischen Betriebe notwendig gewesen, und dieses Projekt hat Husäk auf Eis gelegt. Die derzeitige Tendenz geht vielmehr auf verstärkte zentrale Kontrolle.
Ein deutscher Kommentator hat zustimmend eine tschechoslowakische Ansicht zitiert, wonach Husäk mit zwei Konstanten arbeiten muß: Erstens mit der Weigerung der Arbeiter, der Intelligenz und der Jugend, sich fatalistisch mit der gegenwärtigen Situation abzufinden; zweitens mit der Absicht der UdSSR, die zur Aufrechterhaltung der Kontrolle notwendigen Streitkräfte in der Tschechoslowakei zu belassen
Daß es sich hier um zwei permanent wirkende Faktoren handelt, mit denen das Regime fertig werden muß, scheint schwer zu leugnen zu sein. Immerhin könnten sich die Verhältnisse so ändern, daß jeder der beiden Faktoren entfallen oder sein Gewicht vermindert werden kann. Wenn Husäk und seine konservative Führungschicht ihre Herrschaft über die Partei und die meisten anderen Organisationen festigen, ist dann das Verschwinden einer organisierten Opposition nicht nur eine Frage der Zeit?
Schon vor den Demonstrationen des August 1969 und den anschließenden Zwangsmaßnahmen waren die meisten Tschechen (besonders die über dreißig) der Ansicht, außer schweigendem Protest sei nichts zu machen. Anderer-seits haben sowjetische Vertreter im Vertrauen die Frage gestellt: „Wie können wir uns aus der tschechoslowakischen Affäre ziehen?" Viele von ihnen begreifen, daß eine Gefahr für die sowjetische „Sicherheit" nicht von einem Vordringen Westdeutschlands nach Osteuropa drohte, sondern vom Einfluß des tschechoslowakischen Liberalismus in der UdSSR. Wenn es Husäk gelingt, die liberalen Tendenzen in der Tschechoslowakei zu zügeln, dann dürfte diese Gefahr dem Kreml weniger bedrohlich erscheinen. Eine Reduzierung der sowjetischen Truppen in der Tschechoslowakei oder gar ihr Abzug wäre dann vielleicht denkbar.
Neue Bemühungen um eine Ost-West-Entspannung liegen wohl im Interesse beider Seiten, der Progressiven wie der Konservativen. Diese Konvergenz der Interessen kommt darin zum Ausdruck, daß die Progressiven in Osteuropa und die sowjetische Führung offenbar gleichermaßen eine gesamteuropäische Sicherheitskonferenz bejahen. Wie Helmut Schmidt berichtet, erklärten ihm sowjetische Politiker in Moskau, sie hätten noch nicht ganz zu Ende gedacht, wie sie sich ein System der kollektiven Sicherheit vorstellten, aber sie arbeiteten daran
Die sowjetischen und osteuropäischen Vorschläge für eine Konferenz über ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem entspringen vielleicht wirklich dem Wunsch nach Veränderung des gegenwärtigen Systems, vielleicht auch nicht. Wenn ein solcher Wunsch vorliegt, dann gebieten es die Interessen des Westens, zumindest zu erkunden, ob eine beiderseits annehmbare Verständigung zu erzielen ist. Die Zeit sollte längst vorbei sein, da westliche Regierungen zögerten, mit Moskau und seinen Verbündeten zu verhandeln, weil die Gespräche die Einheit des Westens untergraben könnten. Mögen in solchen Verhandlungen Gefahren für die westliche Solidarität liegen, so sind die Gefahren für die Einheit des Sowjet-blocks doch viel größer — zumal wenn der Westen vernünftige Vorschläge unterbreitet.
Vielerlei Faktoren können die Verhandlungen zum Stocken bringen, zum Beispiel Meinungsverschiedenheiten innerhalb von Koalitionen, Vorherrschaft der Emotionen über die Logik, Übergewicht der kurzfristigen über die langfristige Planung. Auf lange Sicht jedoch scheint klar, daß positive politische und wirtschaftliche Entwicklungen in den westlichen wie in den östlichen Ländern nur dann möglich sind, wenn festere Grundlagen für friedliche Beziehungen zwischen den Mitgliedern der beiden entgegengesetzten Bündnissysteme geschaffen werden.