Von den Bürgern der Bundesrepublik ist unlängst gesagt worden, daß sie seit 1945 an einem „Defizit an weltpolitischer Perspektive" leiden würden. Dies gilt in nicht geringerem Maße auch von den anderen Völkern Westeuropas. Ihre weltpolitische Orientierung wie der Stand der bei ihnen gelehrten Theorie der internationalen Politik befinden sich, um ein Wort von W. Besson leicht zu variieren, gleichermaßen in einem „deplorablen Zustand"
Wer in diesen Staaten in weltpolitischen Kategorien zu denken sich bemüht, der kann das, scheint es, nicht anders, als daß er Anleihen bei nicht in Europa entwickelten Konzeptionen aufnimmt, in denen die Staaten Westeuropas entweder als quantite negligeable einfach übergangen werden oder aber — wie etwa von Raymond Aron, Pierre Hässner oder Lord Gladwyn
Die weltpolitischen Konzeptionen der Nachkriegszeit sind, soweit sie für die westliche Welt in Theorie und Praxis Bedeutung erlangt haben, amerikanischen Ursprungs. Das gilt für die Politik des Containment, die in der Regie-rungszeit Trumans eingeleitet worden und faktisch bis in die Gegenwart hinein für die Außenpolitik der Vereinigten Staaten bestimmend geblieben ist, mit ihrer zu einem bipolaren „Gleichgewicht des Schreckens" (balance of terror) verfestigten internationalen Machtstruktur; das gilt für die ein propagandistisches Schlagwort gebliebene Politik des rollback der Eisenhower-Dulles-Administration; das gilt für die auf George F. Kennan zurückgehenden Pläne eines disengagement wie für die von Zbigniew K. Brzezinski vertretene Politik eines engagement; und das gilt auch für die jüngste in den Vereinigten Staaten entwickelte und diskutierte Konzeption des iegionalism.über den internationalen Regionalismus gibt es heute, neben einer kaum noch zu übersehenden Zahl von Einzelbeiträgen, in den Vereinigten Staaten bereits text-books für den Unterricht an den Hochschulen
I. Der internationale Regionalismus und das Gleichgewicht der Mächte
Als die in allen Versuchen, eine Region zu bestimmen, wiederkehrenden Elemente erweisen sich: geographische Geschlossenheit (geogra-phical proximity), soziale und kulturelle Homogenität (social and cultural homogenety), intraregionale Handelsbeziehungen sowie komplementäre Rohstoffbasen (intraregional trade), strategische Sicherheitsinteressen (strategical security) und politische Interdependenz (political interdependence)
An der Regionalismus-Diskussion in den Vereinigten Staaten sind außer Politologen, Staats-und Völkerrechtlern auch Soziologen und Geographen beteiligt
Dabei gelangte er zu der Unterscheidung zwischen zwei „geostrategischen Regionen", nämlich der amerikanischen „Maritimen" und der sowjetischen „Kontinental Eurasischen Region", und neun, sie entweder unterteilenden oder sie komplementierenden „geopolitischen Regionen"
Allein von den vorhandenen „Kristallisationspunkten der Macht" ausgehend, ist Lord Glad-wyn in seinem 1966 erschienenen Buch „The European Idea" zu der gleichen Zahl von neun, wenn sich auch mit denen von Cohen nicht völlig deckenden supranationalen Regionen gekommen
Unter der Voraussetzung, daß eine jede Region soweit integriert ist, daß sie außenpolitisch als Einheit handlungsfähig ist, würde auf diese Weise — nach der Ansicht von Masters — ein globales Gleichgewichtssystem der Macht (a global power of balance System) entstehen, vergleichbar mit jenem, das im 15. Jahrhundert zwischen den italienischen Stadtstaaten und im 19. Jahrhundert zwischen den europäischen Großmächten bestanden hat.
Daß Überlegungen dieser Art nicht nur das Privileg akademischer Zirkel in den Vereinigten Staaten sind,
Daß Überlegungen dieser Art nicht nur das Privileg akademischer Zirkel in den Vereinigten Staaten sind, dafür stehen Erklärungen von zwei amerikanischen Präsidenten der sechziger Jahre, ohne daß damit behauptet werden kann und soll, daß sie sich die Doktrin des Regionalismus in vollem Umfange zu eigen gemacht hätten. John F. Kennedy hat in seiner Philadelphia-Rede vom 4. Juli 1962 unter Berufung auf die Geschichte der Vereinigten Staaten vom Amerika den Zusammenschluß Westeuropas als eine historische Notwendigkeit begrüßt, welche die Voraussetzung dafür sei, daß Europa als Subjekt der Weltpolitik wieder eine Rolle spielen und als gleichberechtigter Partner der Vereinigten Staaten auftreten kann 18). Dieser Gedanke ist von Lyndon B. Johnson in seiner New Yorker Rede vom 7. Oktober 1966 erneut bekräftigt und in seiner Rede in Baltimore vom 7. April 1965 auch im Hinblick auf den südostasiatischen Raum variiert worden 19).
Für Europa wie für Südostasien ist damit von offizieller amerikanischer Seite regionalen Zusammenschlüssen das Wort geredet und Unterstützung zugesagt worden, durch welche zwischenstaatliche Konflikte in diesen Räumen beigelegt, ihre ökonomisch-technische Entwicklung gemeinschaftlich organisiert und ein durch den Abzug amerikanischer Streitkräfte entstehendes Machtvakuum aufgefüllt werden sollen.
George W. Ball, der beiden Präsidenten als Diplomat in führenden Stellungen gedient hat, dürfte mit seiner Meinung im State Department nicht allein stehen, wenn er im Jahre 1968 die Heraufkunft eines neuen, die Bipolarität ablösenden weltweiten Gleichgewichtssystems ankündigte, das für die nähere Zukunft aus vorerst dreieinhalb Hauptakteuren mit den ihnen zugeordneten Einflußsphären bestehen wird: aus den Vereinigten Staaten von Amerika, aus der westeuropäischen Gemeinschaft, aus der Sowjetunion und, aufgrund seiner beschränkten territorialen Basis und industriellen Kapazität als halbe Weltmacht, aus Japan
In diesen Regionen werden gegenwärtig zusammen etwa 80 % der Güter der Welt produziert
Warum der Regionalismus als außenpolitische Doktrin seine Anwälte und Anhänger gefunden hat, dafür lassen sich insbesondere drei Gründe anführen, die zugleich verständlich machen, weshalb ihre Geburtsstunde gerade in den sechziger Jahren schlug und auch worauf ihre Faszination beruht hat und noch beruht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam es in den Vereinigten Staaten schon bald zu einer Ernüchterung der auf die Vereinten Nationen gesetzten Hoffnungen. Schon wenige Jahre nach 1945 war eine Vielzahl von regionalen Pakten und Organisationen entstanden.
Prof. Ernst Haas hat berechnet, daß im Jahre 1957 von den damals 81 Mitgliedstaaten der Vv ereinten Nationen 58 mindestens einer der neun größeren regionalen Allianzen angehörten
stischen“, prozentual die gößte Zuwachsrate gehabt haben
Eingegangen in die Doktrin des Regionalismus ist zweitens der Beitrag der sogenannten „realistischen Schule", die in den Vereinigten Staaten während der fünfziger Jahre ihre Blütezeit gehabt hat
Dabei blieb nicht aus, daß die Einschätzung des außenpolitischen Gleichgewichts zwischen einer Mehrzahl von Machtzentren, die „balan-ce of power" als System der internationalen Politik, als Mittel der Machtbegrenzung und als Prinzip der Politik, eine Umwertung erfuhr. Sie war von Woodrow Wilson während des Ersten Weltkrieges als das Herzstück der alten internationalen Ordnung aus politischen wie moralischen Gründen verworfen worden, weil sie weder den Krieg zu verhindern vermocht hatte noch mit den Prinzipien der Demokratie, der nationalen Selbstbestimmung und der politischen Moral, wie er sie verstand, zu vereinbaren war
Sie wurde, wenn auch mit einer Reihe präzisierter Vorbehalte, von Hans J. Morgenthau u. a. wieder aufgewertet. Morgenthau erblickte im internationalen Gleichgewichtssystem, in welchem Macht „zwischen mehreren Nationen von annähernder Gleichheit" verteilt ist, die besondere Manifestation eines allgemeinen Prinzips, dem alle Gemeinschaften, die sich aus autonomen Einheiten zusammensetzen, die Autonomie ihrer Mitglieder verdanken. Unter Bedingungen, die durch die Existenz von souveränen Staaten gekennzeichnet sind, sichert dieses Prinzip, wenn und solange es beachtet wird, sowohl die Unabhängigkeit der Staaten wie die Stabilität des von ihnen organisierten Staatensystems. Jedoch sind Unabhängigkeit wie Stabilität durch den fortlaufenden Wandel der internationalen Situation ständig bedroht, weshalb, um Unabhängigkeit wie Stabilität zu erhalten, das Gleichgewicht immer wieder neu geschaffen werden muß
Als Katalysator, durch den diese wie andere Erwägungen politisch relevant wurden und in eine Doktrin eingegangen sind, hat sich die außenpolitische Situation der Vereinigten Staaten erwiesen, die in den sechziger Jahren — unabhängig, aber doch verstärkt durch : das Engagement in Südvietnam — zunehmender Kritik ausgesetzt gewesen und von einem Teil der Kritiker mit der Formel des overcommitment umschrieben worden ist. Daraus er-wuchs die Forderung, die außenpolitischen Verpflichtungen der Vereinigten Staaten in Übereinstimmung mit ihren vorhandenen Hilfsmitteln zu bringen.
Dafür hatte Walter Lippmann bereits 1943 die Parole ausgegeben: „The nation must maintain its objectives and its power in equilibrium, its purposes within means and its means equal to its purposes, its commitments related to its resources and its resources adequate to its commitments."
II. Das Gleichgewicht der Mächte und die kontinentalen Großräume
Ein kritisches überdenken der Rolle, welche das Gleichgewicht der Mächte in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gespielt hat, fördert die Einsicht zutage, daß es stets von denen am meisten gerühmt worden ist, deren staatliche Interessen von ihm am wenigsten beeinträchtigt worden sind. Diesen Sachverhalt hat Nicholas J. Spykman im Jahre 1942 auf die klassische Formel gebracht: „The truth of the matter is that states are interested only in a balance which is in their favor."
Es ist ein offenes Geheimnis, daß die britische „power of balance" -Politik gegenüber Kontinentaleuropa dem Interesse Großbritanniens entsprach, das aufgrund seiner insularen Lage und als Flankenmacht zum Schiedsrichter in europäischen Angelegenheiten, zum „balancer" des europäischen Gleichgewichtssystems avanciert und das in dieser Position seiner Herrschaft über die Meere, seiner „supremacy"
in außereuropäischen Angelegenheiten sicher war. Von Robert S. Castlereagh
Die Uhr der britischen Gleichgewichtspolitik war 1945 endgültig abgelaufen. Ihr Mechanismus, der funktioniert hatte, solange die Mächte Europas untereinander auszubalancieren waren, solange Europa machtpolitisch „balkanisiert" war, ist jedoch schon früher defekt gewesen. Der Zeitpunkt und auch der Grund ist von Benjamin Disraeli, seinerzeit Führer der Opposition im britischen Unterhaus, exakt bestimmt worden. In einer Rede vor dem britischen Unterhaus hat er am 9. Februar 1871, drei Wochen nach der Geburt des kleindeutschen Reiches, erklärt: „Nicht ein einziger der Grundsätze in der Handhabung unserer auswärtigen Angelegenheiten, welche noch vor einem halben Jahr von allen Politikern als selbstverständliche Richtlinien anerkannt wurden, gilt heute noch. Es gibt keine überkommene Auffassung der Diplomatie, welche nicht fortgeschwemmt worden wäre. Wir stehen vor einer neuen Welt, neue Einflüsse sind am Werk; . .. das Gleichgewicht der Macht ist völlig zerstört."
Mit dem Beginn dessen, was Theodor Schieder die „latente" deutsche Hegemonie über Europa genannt hat
Der Historiker Jacques Bainville hat diese Befürchtungen in die Worte gefaßt: „Es gab nach der deutschen Einigung in der Tat keine Spur mehr des alten Systems eines — wie auch immer — gegen die Übergriffe des Stärkeren organisierten Europas. Das System des Gleichgewichts, das die europäische Welt durch Frankreich gefunden hatte und das wesentlich auf der Ohnmacht Deutschlands beruhte, war zerbrochen. ... 1870 kennzeichnet die Herauf-kunft der internationalen Anarchie."
Die zentrale Bedeutung, welche Deutschland als Raum von Staaten wie als Nationalstaat für das europäische Gleichgewicht, für seine Erhaltung, seine Störung und seine schließliche Außerkraftsetzung gehabt hat, legt die Frage nahe, welche Rolle das Gleichgewichts-denken im politischen Leben Deutschlands gespielt hat. Es war, dies ein historisch einmaliger Fall, unmittelbar in die Charta des 1815 gegründeten Deutschen Bundes eingegangen, in deren von den acht europäischen Großmächten der damaligen Zeit mitunterzeichneten Präambel steht, daß die 39 Mitgliedstaaten den Bund ins Leben gerufen hatten: „von den Vortheilen überzeugt, welche aus ihrer festen und dauerhaften Verbindung für die Sicherheit und die Unabhängigkeit Deutschlands, und die Ruhe und das Gleichgewicht Europas hervorgehen ... "
Leopold von Ranke seinerseits glaubte gar aus den geschichtlichen Ereignissen, die er erforscht und die er erlebt hatte, die folgende Regel herauslesen zu können, die ebenfalls eine unüberhörbare Warnung an alle potentiellen Hegemonialmächte enthielt: „In großen Gefahren kann man wohl getrost dem Genius vertrauen, der Europa noch immer vor der Herrschaft jeder einseitigen und gewaltsamen Richtung beschützt, jedem Druck von der einen Seite noch immer Widerstand von der anderen entgegengesetzt und bei einer Verbindung der Gesamtheit, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt enger und enger geworden, die allgemeine Freiheit und Sonderung glücklich gerettet hat."
Als Gentz und Ranke das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schrieben, lag es ihnen fern, in Deutschland den Störenfried des europäischen Gleichgewichtssystems zu sehen, der, wie Gentz empfohlen hatte, als „gemeinschaftlicher Feind des gesamten Gemeinwesens behandelt" werden solle
So erklärlich das Interesse an der Erhaltung des 1815 geschaffenen Gleichgewichtssystems derjenigen Deutschen war, die in ihm eine Garantie für die Unabhängigkeit und Sicherheit der ihm angehörenden, es ausbalancierenden deutschen und europäischen Staaten erblickten, so verständlich ist, daß es von denjenigen Deutschen mit Verachtung gestraft worden ist, deren Streben dahin ging, den auf dem Wiener Kongreß organisierten Status quo durch die Schaffung eines vereinigten deutschen Staates aus den Angeln zu heben. Das war unter den obwaltenden Umständen nicht gut möglich, ohne daß davon auch das europäische Gleichgewichtssystem betroffen wurde. Schon 1848 hatte Friedrich Christoph Dahlmann erklärt: „Auf dieser Verrückung des Gleichgewichts von Europa wollen wir bestehen, bis der letzte Tropfen Blutes uns entströmt ist"
Der Historiker Otto Hintze hat diese Sicht mit den schlichten Worten umschrieben: „Das europäische Staatensystem ist heute ein überwundener Standpunkt."
„Zunächst müßte das Prinzip des europäischen Gleichgewichtes, das seit dem Wiener Kongreß ein gewissermaßen sakrosanktes, aber ganz unberechtigtes Dasein führt, entschieden durchbrochen werden."
Die treibende Kraft war die Dynamik der technisch-industriellen Entwicklung, welche größere Märkte und Organisationen erforderlich machte. Schon 1898 hatte Karl Jentsch auf zwei politische Folgen dieser alte Ordnungen zerbrechenden und neue hervorbringenden Evolution hingewiesen: „Die europäischen Mächte fallen in den Rang von Kleinstaaten zurück, die keine Politik mehr treiben, sondern bestenfalls Lärm machen können, wenn sie für sich allein dastehen. Die Zukunft gehört den Weltmächten. Das deutsche Volk ist vor die
Entscheidung gestellt, ob es politisch abdanken oder ob es eine Weltmacht werden will. Diese Alternative ist mit einer zweiten gekoppelt: in Europa ist nur für eine Weltmacht Platz."
Diese Auffassung ist um die Jahrhundertwende übrigens nicht nur von Deutschen vertreten worden, sie wurde auch z. B. von dem schwedischen Staatsrechtler Rudolf Kjellen geteilt. Er schrieb im Jahre 1913, daß das, was bisher nur ein voreiliger Gedanke gewesen wäre, die Einigung Europas, nunmehr den „Charakter einer Notwendigkeit im Interesse der Selbsterhaltung" angenommen habe. „Nur durch den Zusammenschluß können die heutigen europäischen Staaten ihre Widerstandskraft gegenüber schneller wachsenden Gegnern bewahren, die ihre Gebiete mit zweistelligen Millionen-zahlen zählen und sie gleichzeitig mit eigenen Vorräten ernähren können; ihre Schatten sehen wir bereits über unserem Erdteil in der amerikanischen, der russischen und der gelben Gefahr. So ist Europa unter einen Druck geraten, der möglicherweise einmal stark genug sein wird, die mächtigen Tatsachen und Traditionen, welche es noch in rein souveräne Teilchen zersplittern, zu überwinden. In einem solchen Zusammenschluß erscheint Deutschland als der geographisch und kulturell natürliche Führer."
Vor genau fünfundfünfzig Jahren, 1915, glaubte Friedrich Naumann, daß die Zentren der kommenden Weltmächte — außer auf der Linie Berlin—Prag—Wien — in London, New York und Moskau liegen würden. Unsicher war er lediglich, ob es auch noch in anderen Regionen zur Ausbildung von Weltmächten kommen werde. „Ob ein ostasiatischer Weltmittelpunkt in Japan oder in China sich bilden wird, liegt noch im unklaren. Ob Indien oder Afrika überhaupt jemals Mittelpunkte erster Größe hervorbringen, ist mindestens sehr fraglich. Dasselbe gilt von Süd-amerika."
In diesem Lichte gesehen, war der Erste Weltkrieg ein Kampf zwischen den Mächten, die in Verfolgung ihrer Interessen das europäische Gleichgewichtssystem erhalten wollten und es dann doch nicht am Leben erhalten haben, und denen, die es in Verfolgung ihrer Interessen in ein Weltgleichgewichtssystem überführen wollten und dabei keinen Erfolg gehabt haben
Noch ein zweites Mal ist das politische Denken in Deutschland in weltpolitische Bahnen gelenkt worden. Die nationalsozialistische Zeit verdient deswegen hier Beachtung, weil es in ihr, abseits vom Strom der offiziellen Verlautbarungen, auch Überlegungen gegeben hat, die an ein früheres Gleichgewichtsdenken anknüpften und die bis in die Gegenwart hinein aktuell geblieben sind. Reinhard Höhn, Professor an der Berliner Universität, sah im Jahre 1941 Kräfte am Werk, welche nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt politische Gemeinschaften einer neuen Größenordnung ins Leben rufen würden: „So wie das Aufkommen von souveränen Staaten einst die Reiche zerstörte, so saugen die Großräume (heute) die Staaten auf."
An dieser Interpretation der Monroe-Doktrin haben zwei Aspekte eine unverminderte Aktualität bewahrt: die innere Struktur des Großraumes und seine Außenbeziehungen. Mit der Konzeption des Großraumes, der von einer Führungsmacht, von ihm „Reich" genannt, konstituiert und garantiert wird, was praktisch der Anerkennung oder doch Hinnahme eines regional begrenzten „Interventionsrechtes" und „Interventionsverbotes" gleichkam, hat Carl Schmitt einen Prototyp international relevanter Organisationsformen namhaft gemacht, für den die Geschichte der Nachkriegszeit ihre Beispiele hat. Und als Folge der sich konstituierenden Großräume hielt er es für wahrscheinlich, daß in Zukunft vier verschiedene Formen internationaler Beziehungen zu unterscheiden sein werden: „Erstens solche zwischen den Großräumen im ganzen, weil diese Großräume selbstverständlich nicht hermetisch abgeschlossene Blöcke sein sollen, sondern auch zwischen ihnen ökonomischer und sonstiger Austausch und in diesem Sinne ein . Welthandel'stattfindet; zweitens zwischen-reichliche Beziehungen zwischen den führenden Reichen dieser Großräume; drittens zwischen-völkische Beziehungen innerhalb eines Großraumes und endlich — unter dem Vorbehalt der Nichteinmischung raumfremder Mächte — zwischen-völkische Beziehungen zwischen Völkern verschiedener Großräume."
In den Großräumen erblickte Werner Daitz, der diesen Gedanken mitten im Zweiten Weltkrieg öffentlich entwickelt hat, die Fundamente der neuen, sich abzeichnenden Weltordnung. Er sagte voraus, daß sich noch während des Krieges und unmittelbar nach seinem Ende insgesamt sechs Großräume konstituieren würden: 1.der Großraum der ostasiatischen Völker-familie 2.der Großraum der indisch-malaysischen Völkerfamilie 3.der Großraum der europäischen Völker-familie 4.der Großraum der afrikanischen Völker schwarzer Rasse 5.der Großraum der anglo-amerikanischen Völker Nordamerikas und 6.der Großraum der latein-amerikanischen Völker Südamerikas.
Nicht ganz klar war er sich, ob es auch zur Bildung eines siebenten Großraumes der arabischen Völker kommen werde. Aber bedacht hat er doch schon die Möglichkeit, daß es in einer ferneren Zukunft auch zu einer engen Kooperation zwischen den einander zugeordneten, auf der nördlichen und der südlichen Erdhälfte gelegenen Großräumen kommen könne. „Diese sechs Großräume, die heute schon harte, politische Realitäten sind, stehen insofern in einem interessanten natürlichen Verhältnis zueinander und bilden dadurch gewissermaßen drei Paare, als der südlich gelegene der tropische Komplementär zum nördlichen ist."
III. Kontinentalismus
Auch gegen, die Doktrin des Regionalismus, die — das sei noch einmal besonders hervorgehoben — gegenwärtig nicht die Maxime der offiziellen amerikanischen Außenpolitik ist
Gleichwohl ist nicht zu übersehen, daß dabei Interessen im Spiel sind und daß es um Änderungen zum Vorteil der USA geht: um den Ausgleich zwischen den von den Vereinigten Staaten eingegangenen weltweiten Verpflichtungen und ihren vorhandenen begrenzten Möglichkeiten, um die Umverteilung von Lasten, die Befreiung von Ballast. Interessen und Vorteile dieser Art sind, wenn überhaupt, allenfalls mit jenen zu vergleichen, die Kaiser Franz II. im Jahre 1806 dazu bestimmten, die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation niederzulegen
Die Doktrin des Regionalismus eröffnet, und das mag einen Teil der von ihr in den USA ausgehenden Faszination erklären, einen Weg, auf den sich die Anhänger ihrer beiden traditionellen außenpolitischen Schulen einigen können, da diese Konzeption zwischen Isolationismus und Universalismus vermittelt.
Durch internationale Regionalisierung sollen, wie ihre Befürworter erklären, die politischen Voraussetzungen geschaffen werden, die eine einheitliche Weltorganisation überhaupt erst funktions-und aktionsfähig machen würden. In diesem Sinne ist eine auf Regionen beruhende Weltordnung „the halfway house bet-ween the nation-state and a world not ready to become one"
Die hier nicht zu entfaltenden Vorbehalte und Einwände gegen die Doktrin des Regionalismus konzentrieren sich auf drei Punkte, die als Fragen formuliert seien:
Die Schaffung von regionalen Einheiten kontinentalen Zuschnitts würde zwar zu einer Reduzierung möglicher Konfliktfälle, aber doch auch zu einer Vergrößerung vorhandener Konfliktpotentiale führen. Inwieweit wird auf diese Weise die internationale Stabilität nicht gefestigt, sondern im Gegenteil gefährdet?
Zweitens: Durch die Entwicklung der modernen Waffentechnik auf einen Stand, der im Falle eines mit nuklearen Waffensystemen ausgetragenen Konfliktes die Existenz der Menschheit bedroht, ist ein neues Element in die internationale Politik getreten, das in Rechnung zu stellen ist. Inwieweit wird, wenn sich die Zahl nicht nur der Atomwaffen besitzenden Mächte, sondern auch der für einen Atomwaffenkrieg potentiell oder tatsächlich gerüsteten Kontinentalmächte vergrößern würde, die Verhinderung der Proliferation von Atomwaffen unmöglich bzw. unwirksam gemacht und die Gefahr eines Atomwaffenkrieges erhöht?
Drittens: Die Regionalisierung hat auch eine innenpolitische und moralische Kehrseite. Unmittelbar von ihr betroffen wird die innere Ordnung und das Leben der Bürger einer jeden einzelnen regionalen Einheit. Inwieweit wird auf diese Weise das Selbstbestimmungsrecht der Völker negiert, werden demokratische Regierungsformen gefährdet und individuelle Freiheiten abgeschrieben?
Die hier aufgeworfenen, gewiß nicht einfachen, sondern überaus komplexen Probleme werden in den Vereinigten Staaten in großer Breite und mit Leidenschaft diskutiert
Grundsätzliche und, wie ich fürchte, auch mit den stärksten Argumenten nicht zu überwindende Ablehnung ist von zwei Seiten zu erwarten: Von denen, die den Status quo des internationalen Staatensystems, die Kombination einer Vielzahl von Miniatur-, von einigen ehemaligen Groß-und von zwei Superstaaten verteidigen, und denen, die diesen Status sogleich und unmittelbar in eine Weltorganisation überführen wollen. Das sind durch vielfältige Interessen und ehrenwerte Wünsche gedeckte Positionen, von denen allerdings zweifelhaft ist, ob sie nicht historisch unzeitgemäß sind und dazu verurteilt, von den Ereignissen widerlegt zu werden.
Ein Argument jedenfalls scheint mir nur aufgrund eines bewußten oder unbewußten Mißverständnisses die Debatte in falsche Bahnen lenken zu können: daß die Konzeption des Regionalismus zwar theoretisch interessant, daß aber die Wirklichkeit halt anders ist; daß diese Konzeption, um es mit einem viel mißbrauchten Wort zu sagen, utopisch ist. Den Anwälten des Regionalismus, die ich hier vorgestellt habe, geht es nicht darum, an die Stelle der Wirklichkeit eine Idee zu setzen, sondern sie wollen die praktische Bewältigung und theoretische Analyse dieser Wirklichkeit durch eine Konzeption erleichtern. Durch eine Konzeption, von der Roger D. Masters gesagt hat, daß durch sie die langfristigen Ziele der amerikanischen Politik für die „nächsten Dekaden", für die nächsten „ 50 bis 100 Jahre“ anvisiert werden sollen
Versucht man die in den Vereinigten Staaten in jüngster Zeit entwickelte Doktrin des Regionalismus auf einen politischen Begriff sui generis zu bringen, der naturgemäß ein neuer, ein erst noch mit Inhalten zu füllender Begriff sein kann, dann bietet sich dafür der des „Kon-tinentalismus" an. Denn im Grunde geht es dabei um die bereits vorhandenen oder potentiell noch möglichen politischen Gemeinschaften von einer Größenordnung, die zwischen der von Nationalstaaten und der einer Weltorganisation steht. Diese Gemeinschaften können weder von der Nation im kulturellen Sinne noch von der Menschheit insgesamt und auch nicht vom Begriff der Rasse her bestimmt werden. Ein in der Tat formales, aber vielleicht gerade deshalb brauchbares Kriterium ist ihre territoriale Basis. Sie verfügen, wenn sie auch nicht in jedem Fall mit den geographischen Kontinenten identisch sind, über ein Territorium von kontinentalen Ausmaßen. Dies ist ihr principium individuationis.
Darauf auch laufen die versuchten Definitionen moderner Weltmachtstellung hinaus, wie etwa diejenige von George W. Ball, der sie in „einer Art mathematischer Kurzschrift" so formuliert hat: „Hilfsmittel und Bevölkerung eines Kontinents plus einem hohen Grad an innerer Stabilität und innerem Zusammenhalt plus einer starken Führung, die den Willen hat, die gemeinsamen Ziele der Gesellschaft zu definieren und nach dieser Erkenntnis zu handeln."