Ausgangspunkt und Grundlage der folgenden Ausführungen ist meine Arbeit über die deutsche Kapitulation 1945
I. Einführung und Aufgabenstellung
Seit dem Abschluß meiner Studie ist die Bibliographie zum totalen deutschen Zusammenbruch 1945 um eine ansehnliche Reihe neuer Veröffentlichungen angewachsen. Unter den berichtenden Quellen seien hier die Memoiren von Dönitz
Walter Baums Untersuchung „Regierung Dönitz und deutsche Kapitulation" ist freilich kein völlig neuer Beitrag zur Erforschung des deutschen Zusammenbruches 1945, sondern ein leicht gekürzter und unter Auswertung neu erschienener Literatur überarbeiteter Wiederabdruck seines Nachworts zur dritten Auflage von Lüdde-Neuraths Buch über die Regierung Dönitz
In diesem Beitrag soll nun unter Berücksichtigung der neueren Arbeiten und kritischer Einwände der Rezensenten
II. Zur Methode der Geschichtsschreibung über das Dritte Reich
Der wohl weitreichendste kritische Einwand gegen meine Studie ist von dem Rezensenten der „Stuttgarter Zeitung", Hans Biegert, formuliert worden. Er wendet sich gegen die historische Methode der Darstellung, wenn er die Frage stellt, „ob diese Art, die schiere Unmenschlichkeit historisch zu . verstehen'und damit zu rechtfertigen, als methodisches Prinzip für Geschichtsschreibung über das Dritte Reich hinreicht"
Diese Frage ist freilich nicht zum erstenmal von Biegert aufgeworfen worden. Sie ist im Grunde so alt wie die Bemühung, das Dritte Reich historisch zu untersuchen, zu beschreiben und einzuordnen; und sie soll hier deshalb auch in der Auseinandersetzung mit bereits vorliegenden Antworten behandelt und auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden. Am eindringlichsten ist sie wohl von Michael Freund in seiner „Deutschen Geschichte" gestellt und a priori mit nein beantwortet worden, weil sich das Dritte Reich letztlich dem historischen Verständnis entziehe, weil es „nicht deutbar und nicht begreifbar" sei
Aus diesem metahistorischen Vorverständnis leitet Freund seine Auffassung her, daß der Historiker es nicht wagen könne, Hitler und das Dritte Reich in den „Werdegang der Deutschen Geschichte" einzuordnen. Denn: „Es ginge aber über die Kraft des deutschen Volkes, dieses Geschehen zur Geschichte zu erheben, und es muß noch immer über die Kraft des deutschen Historikers gehen, dieses Geschehen darzustellen."
Freund ist es letzten Endes nicht gelungen, sein metahistorisches oder besser sein ahisto-risches Vorverständnis Hitlers und des Dritten Reiches in der historiographischen Praxis geltend zu machen. Aber ebensowenig hat er es dann auch vermocht, dieses Vorverständnis anhand seiner historiographischen Praxis zu reflektieren und zu revidieren. Daß Freund schließlich doch nicht umhin konnte, Hitler und das Dritte Reich historisch — und zwar im Entwicklungszusammenhang der deutschen Geschichte — darzustellen, wird darüber hinaus auch im Detail sichtbar. So z. B., wenn er scheinbar belanglose „schmierige Traktätchen" um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert für beachtenswert hält, „weil die Wassertropfen, die aus einer ganz unscheinbaren Quelle kamen, sich zum Strom des Dritten Reiches entwickelten"
Die eigentliche Ursache dieses Widerspruches zwischen meta-bzw. ahistorischem Vorverständnis
Und: seine „Deutsche Geschichte" sei „hervorgewachsen aus dem halben Jahrhundert deutscher Geschichte [sic! ], die ich m i t-e r lebte"
Sucht man Freunds widersprüchliches und inkonsequentes Bild von Hitler und dem Dritten Reich gleichwohl auf ein rationales Erklärungsmodell zurückzufühlen, so werden zwei unterschiedliche Begriffe des Historischen deutlich: 1.der rein zeitliche des ununterbrochen fortlaufenden „historischen Geschehens" und 2.der inhaltlich fixierte „der eigentlichen und wahren Geschichte" als einer „lebenden Entwicklung der Nation und der Menschheit"
Dieses Modell wird auch in Hannah Arendts Untersuchung der „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" transparent, freilich nur in seinem rationalen Grundmuster. Hannah Arendt stellt der totalitären Herrschaft — insbesondere des Dritten Reiches — ebenfalls einen inhaltlich fixierten Geschichtsbegriff gegenüber: den an der Humanitätsidee orientierten normativen Handlungsund Verantwortungszusammenhang der abendländischen Geschichte. Die Gaskammern des Dritten Reiches haben — mit ihren Worten — „die Kontinuität abendländischer Geschichte unterbrochen, weil niemand im Ernst die Verantwortung für sie übernehmen und man niemand im Ernst für sie verantwortlich machen kann"
Hannah Arendt bezeichnet es jedoch im Unterschied zu Freund ausdrücklich als „Aufgabe der historisch-politischen Wissenschaften", jenen Ereignissen nachzugehen und festzustellen, mit welchen Mitteln und in welchem Funktionszusammenhang sie ins Werk gesetzt worden seien. Eine methodologische Alternative zur Hermeneutik der historischen Geisteswissenschaften verbindet sie hiermit freilich nicht. Es sei jedoch wichtig, sich darüber klar zu werden, daß es sich nicht darum handeln könne, „das spezifisch Unerhörte durch beliebige Parallelen mit der Vergangenheit wegzuerklären", sondern im Gegenteil das „wesentlich Neue" in den Blick zu bekommen. „Als Historiker", schreibt sie, „sind wir an Neues gewöhnt und haben gleichsam kein Recht, uns zu entsetzen. Das Entsetzen gilt nicht dem Neuen schlechthin, sondern der Tatsache, daß dies Neue den Kontinuitätszusammenhang unserer Geschichte und die Begriffe und Kategorien unseres politischen Denkens sprengt." Aus seinen Elementen und Ursprüngen sei es nicht zu erklären, weder durch die Explikation eines Kausalzusammenhanges noch durch „das historische Verstehen'einer Entwicklung." Denn: „In beiden Fällen wird das eigentlich neu sich Ereignende, womit die Geschichtswissenschaft es jeweilig zu tun hat, aus der Geschichte entfernt — das heißt, die Geschichtswissenschaften werden ihres eigentlichen Inhalts beraubt."
Hannah Arendt hat den so beschriebenen Kontinuitätsbruch der normativ definierten abendländischen Geschichte allerdings nicht hinreichend mit der historischen Darstellung ihres Themas in Einklang gebracht, denn sie sieht den Bruch nicht nur in der gleichsam sprunghaften Erscheinung des qualitativ Neuen, sondern auch im Zusammenhang einer voraufgegangenen historischen „Entwicklung", in der die Elemente des Neuen freigesetzt wurden, um sich dann in „ihrer totalitären Kristallisationsform" als eben jenes spezifisch Neue zu konstituieren
Er ist aber nicht nur von dem normativen, sondern auch von dem deterministischen Geschichtsbegriff abzugrenzen, der jenem bekannten Erklärungsmodell zugrunde liegt, das Hitler und das Dritte Reich samt allen voraufgegangenen Stationen und Perioden der deutschen Geschichte aus einem unterstellten konstanten Nationalcharakter der Deutschen herleitet und in geradlinig konstruierter Kontinuität als „logische Fortsetzung deutscher Geschichte" -— namentlich des Luther-und Preußentums — abstempelt
Die eigentlich historische Untersuchung und Beurteilung des Dritten Reiches wurde durch Friedrich Meineckes Bekenntnisschrift „Die deutsche Katastrophe" eingeleitet. Meinecke bezeichnete das Dritte Reich expressis verbis als eine geschichtliche, aus deutschen und europäischen „Entwicklungskräften abzuleitende Erscheinung" und sprach von einer „erstaunlichen Umbiegung der bis dahin verlaufenen Hauptentwicklungslinie in Europa"
Es ist hier nicht der Ort, die kaum noch überschaubare Literatur über das Dritte Reich — und sei es auch nur im groben Überblick — zu referieren, geschweige denn anhand dieser Literatur dem Problem historischer Kontinuität und Diskontinuität im Verlauf der „erstaunlichen Umbiegung" im einzelnen nachzugehen
Auch Michael Freund und Hannah Arendt haben zweifellos hierzu beigetragen. Sie haben das Dritte Reich zwar mit Hilfe eines material bestimmten Geschichtsbegriffes aus der deutschen bzw. abendländischen Geschichte herausdefiniert, nicht aber aus jenem Lebens-und Kommunikationszusammenhang, der die Voraussetzung auch ihrer historischen Erkenntnis bildet. Auch sie haben sich also der hermeneutischen Methode bedient und damit das Dritte Reich — nolens volens — wieder in die Geschichte eingefügt. Sucht man das Freund und Arendt gemeinsame Erklärungsmodell histo-riographisch einzuordnen, so wird man es in die Nähe jener „kritischen Art der Historie" rücken müssen, der Friedrich Nietzsche in seiner zweiten „unzeitgemäßen Betrachtung" die Aufgabe bestimmt hatte, „eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können"
Einen anderen Ansatz zur Negation der eingangs gestellten Frage hat Ralf Dahrendorf formuliert. Er weist auf das „Element der Beliebigkeit" hin, das aller historischen Erkenntnis durch die hermeneutische Methode gleichsam eingeboren sei, da sie nicht auf kontrollierbare Theorien, sondern evidente Einsichten ziele. Das Äußerste, was historische Darstellung erreichen könne, sei „das überzeugte Kopfnicken des Lesers
Dahrendorf hat hier mit Recht auf einen wesentlichen methodologischen Unterschied zwischen den — in der Terminologie Diltheys — historischen und systematischen Geisteswissenschaften hingewiesen, er hat ihn aber zugleich auch in seinem speziellen Fall über Gebühr generalisiert und polarisiert. Denn einerseits ist Theorienbildung der Geschichtswissenschaft keineswegs fremd
Gleichwohl sind Dahrendorfs „theoretische Perspektive" und seine Demonstration der Historizität des Sozialen dazu geeignet, das „Element der Beliebigkeit", das er a fortiori in geistesgeschichtlichen Ableitungen sieht
Historische Theorienbildung und mehrdimensionaler Bezug sind also keine echten Ergänzungen oder gar Alternativen, sondern Implikationen der historischen Methode und können deshalb nicht zur Argumentation für eine Verneinung der gestellten Frage herangezogen werden. Wie aber ist es um die „kritische Art der Historie" bestellt? Hatte die nationalsozialistische Historiographie die „monumen-talische" Art der Historie
Wer von vornherein, sei es, weil er nicht anders könne oder nicht anders wolle, mit dem Vokabular leidenschaftlicher Ablehnung und moralischer Entrüstung arbeite, wer fortgesetzt abwertende Anführungszeichen setze und meine, sich in jeder Zeile distanzieren zu müssen, der dürfe auch nicht erwarten, „daß er etwas versteht". Denn: „Haß macht noch immer blind, und den Schaden trägt in diesem Falle, im Falle einer wissenschaftlichen Debatte, nicht der Gehaßte, sondern der Hassende." Eine leidenschaftslose Darstellung Hitlers sei überdies demaskierend genug, um den ständigen Gebrauch von Epitheta des Abscheus zu erübrigen. Jäckel schlägt daher im Interesse der historischen Erkenntnis den „Mittelweg nüchterner Analyse" ein
Kehren wir nun zur Ausgangsfrage zurück, so ist festzustellen, daß sich keiner der diskutierten Ansätze für eine negative Beantwortung als stichhaltig erwiesen hat. Positiv gewendet: Die historische Methode des hermeneutischen Verstehens hat sich für die Erforschung und Darstellung der Geschichte des Dritten Reiches nicht nur als notwendig, sondern durchaus als hinreichend und angemessen erwiesen. „Für die Teilnahme an den Maßnahmen des Dritten Reiches", schreibt Marlis G. Steinert, „gibt es keine Entschuldigung. Will man sie aber begreifen — denn nur das Verständliche kann überwunden werden —, muß man sich in die Lage der Betreffenden versetzen. Aus dieser verstehenden Identifikation eine Apologie des Nationalsozialismus herauslesen zu wollen, hieße das Wesen der Geschichtsschreibung mißzuverstehen."
Im übrigen kann es wohl schwerlich Sinn solcher historischen Bemühung um das Dritte Reich sein, „die schiere Unmenschlichkeit historisch zu . verstehen'"
III. Der totale deutsche Zusammenbruch 1945 im Zusammenhang des Zweiten Weltkrieges
Projiziert man nun die Ergebnisse dieser Diskussion auf das spezielle Thema des totalen deutschen Zusammenbruches im Jahre 1945, so wird man der nüchtern analysierenden und verstehenden Historie zweifellos den Vorrang zu geben haben. Mehrdimensionaler Bezug wird nicht nur — nach dem Beispiel Marlis G. Steinerts — bei der Darstellung der handelnden Personen
Darüber hinaus wird es zur Gliederung, Gestaltung und Deutung des amorphen Stoffes einer „theoretischen Perspektive" bedürfen. Sie soll im folgenden — in der historischen Einordnung des totalen deutschen Zusammenbruches in den Zusammenhang des Zweiten Weltkrieges — herausgearbeitet werden. Dabei empfiehlt es sich nicht, von einer alles Geschehen erfassenden universalgeschichtlichen Konzeption des Zweiten Weltkrieges
Jäckel untersucht zunächst die beiden Hauptkomponenten dieser Weltanschauung: das außenpolitische Konzept und den radikalen Antisemitismus. Ziel des außenpolitischen Konzepts war der „Lebensraum im Osten", den Hitler in einem Eroberungskrieg gegen die Sowjetunion gewinnen wollte; Ziel des radikalen Antisemitismus die Entfernung — und das hieß in letzter Konsequenz die physische Ausrottung — der Juden. Das eigentliche Programm der NSDAP, das Hitler am 24. Februar 1920 selbst verkündet hatte, besaß dagegen nur instrumentalen Charakter. Jäckels Analyse dieses Programms macht unmißverständlich deutlich, daß Staat und Partei für Hitler nur Mittel zum Zweck waren, „allerdings — und das ist schlechthin entscheidend — zu einem sehr genau bestimmten Zweck, nämlich zur Verwirklichung der beiden Zielvorstellungen, der bodenpolitischen und der antisemitischen"
Clausewitz'klassische Definition des Krieges als Instrument der Politik hat in Hitlers Weltanschauung ihre Geltung verloren. Hitler stellte ihr die des absoluten Naturgesetzes gegenüber, dem alle Lebensäußerungen — und daher auch die Politik — unterworfen seien. „Krieg", führt er in einem der von Rauschning ausgezeichneten Gespräche aus, „ist das Natürlichste, Alltäglichste. Krieg ist immer, Krieg ist überall. Es gibt keinen Beginn, es gibt keinen Friedensschluß. Krieg ist Leben."
Diese wenigen Zitate, die sich mühelos fortsetzen ließen, mögen hier genügen, um die radikale politische Grundhaltung Hitlers mit ihrem brutalen Zynismus gegenüber jeglicher Bindung an Recht und Moral und ihrem uneingeschränkten Bekenntnis zum „Recht" des Stärkeren hinreichend zu charakterisieren. Hitler wähnte sich dazu berufen, den „Lebenskampf" des deutschen Volkes zur Eroberung neuen „Lebensraumes im Osten" und zugleich — wie es in seiner Diktion heißt — gegen die „jüdische Welthydra"
Hans-Adolf Jacobsen hat in seiner Untersuchung der nationalsozialistischen Außenpolitik von 1933 bis 1938 nachgewiesen, daß Hitlers „Friedenspolitik" dieser Jahre mit scheinbar begrenzter revisionistischer Zielsetzung nur taktisch-kurzfristiger Natur war und lediglich dazu diente, die strategisch-langfristige Zielprojektion abzuschirmen
Sein erklärtes Ziel war — wie Andreas Hillgruber dargelegt hat — die Errichtung eines großräumigen, blockadefesten Kontinentalimperiums oder — wie Hitler selbst es nannte — eines „germanischen Reiches deutscher Nation", das sich bis tief in die europäische Sowjetunion hinein erstrecken, einen kolonialen Ergänzungsraum in Afrika und eine starke Flotte mit Stützpunkten im Atlantik besitzen sollte: ja, es sollte Deutschlands Stellung als Hegemonialmacht auf dem europäischen Kontinent und damit als „Weltmacht" — neben den USA, dem britischen Empire und dem ostasiatischen Großraum Japans — begründen
In „Mein Kampf" hatte Hitler den oft zitierten und durchaus wörtlich gemeinten Satz geschrieben: „Deutschland wird entweder Welt-macht oder überhaupt nicht sein."
Als er diesen Krieg dann angesichts der zusammenbrechenden Fronten im Frühjahr 1945 endgültig verloren geben mußte, tat er es in absolut folgerichtiger Übereinstimmung mit seiner politischen Grundhaltung. Denn er gab mit dem Krieg auch seinen „Einsatz" — jene „Substanz aus Fleisch und Blut", von der er in seinem „Zweiten Buch" gesprochen hatte — verloren und sah den „Tod", das „Nichtsein", die physische Vernichtung des deutschen Volkes als die naturnotwendige Folge des nicht-bestandenen „Lebenskampfes" an. Bereits am 27. November 1941 hatte er in einem Gespräch mit dem dänischen Außenminister Erik Scavenius ausgeführt: „Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opferbereit genug sei, sein eigenes Blut für seine Existenz einzusetzen, so soll es vergehen und von einer anderen, stärkeren Macht vernichtet werden." 80) Und am 4. August 1944 sagte er in seiner Posener Rede vor den Reichs-und Gau-leitern, wenn das deutsche Volk in diesem Kampf unterliegen werde, dann sei es zu schwach gewesen. Dann habe es seine Probe vor der Geschichte nicht bestanden und sei zu nichts anderem als zum Untergang bestimmt
Die Proklamation dieses Kriegszieles brachte unmißverständlich zum Ausdruck, daß das nationalsozialistische Deutschland nicht nur auf dem Schlachtfeld besiegt werden sollte. Zu dem militärischen trat das politische Kriegs-ziel, das die Beseitigung der für den Krieg verantwortlichen nationalsozialistischen Diktatur forderte. Das Kriegsziel der „Atlantic-Charta", „die endgültige Zerstörung der Nazityrannei", wurde auf der Arcadia-Konferenz (22. Dezember 1941 bis 14. Januar 1942), zu der Churchill nach Washington gekommen war, erneut bekräftigt und präzisiert.
In der gemeinsamen militärischen Planung ihrer Kriegsaktionen einigten sich die USA und Großbritannien auf die sogenannte „Deutsch-land-zuerst-Politik" und beschlossen, auch nach dem Kriegseintritt Japans, Deutschland zuerst niederzukämpfen, da es aufgrund seiner Produktionskraft und wissenschaftlichen Befähigung über ein so großes Potential verfüge, daß es nach mehreren Jahren relativer Ruhe in Europa um so schwerer, vielleicht auch gar nicht mehr zu besiegen sein werde
Ein weiteres Ergebnis der Arcadia-Konferenz war die Erklärung der Nationen Vereinten vom 1. Januar 1942. Ihr lag ein Entwurf des State Department zugrunde, der nach Verhandlungen mit Churchill und dem sowjetischen Botschafter Litwinow nur geringfügig geändert wurde. Dieser von den drei Großmächten gebilligte Text wurde am 1. und 2. Januar 1942 in Washington von 26 Staaten unterzeichnet und proklamiert. Jede Signatarmacht bekannte sich in dieser Erklärung erneut zu den Grundsätzen der „Atlantic-Charta" und verpflichtete sich, 1. „alle ihre militärischen und wirtschaftlichen Kräfte gegen jene Mitglieder des Dreierpaktes und seine Anhänger einzusetzen, mit denen sie sich im Kriege befindet", und 2. „mit den hier unterzeichneten Regierungen zusammenzuarbeiten und keinen separaten Waffenstillstand oder Frieden mit den Feinden zu schließen"
Roosevelt präzisierte und verschärfte die Kriegszielforderung der Atlantik-und Arcadia-Konferenz, als er am 24. Januar 1943 in Casablanca mit Zustimmung Churchills die „Unconditional Surrender" -Forderung — die Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, Italiens und Japans — proklamierte. „Ich denke", führte er aus, „wir haben es alle schon vorher in unseren Herzen und Köpfen gehabt, aber ich nehme nicht an, daß es schon jemals vom Premierminister und mir zu Papier gebracht worden ist, und das ist die Entscheidung, daß der Weltfriede nur durch die totale Eliminierung der deutschen und japanischen Kriegsmacht kommen kann. . . Die Eliminierung der deutschen, japanischen und italienischen Kriegsmacht bedeutet die bedingungslose Kapitulation Deutschlands, Italiens und Japans. Das bedeutet eine vernünftige Sicherung des künftigen Weltfriedens. Es bedeutet nicht die Vernichtung der Bevölkerung Deutschlands, Italiens oder Japans, aber es bedeutet die Vernichtung der Weltanschauungen in jenen Ländern, die auf Eroberung und Unterjochung anderer Völker gegründet sind."
Die bedingungslose Kapitulation erschien Roosevelt und Churchill als das angemessene Mittel, die nationalsozialistische Staatsgewalt völlig zu beseitigen. Sie lehnten es prinzipiell ab, mit dem inkriminierten Kriegsgegner zu verhandeln und sich in irgendeiner Form an ihm zugesicherte oder von ihm gestellte Bedingungen zu binden. Sie wollten sich uneingeschränkte Handlungsfreiheit sichern und die künftige Friedensordnung selbständig auf einer tabula rasa gestalten. Die einzige Bedingung, die sie dem Gegner konzedierten, war die bedingungslose Kapitulation
Die Forderung einer staatlich-politischen Kapitulation stellt völkerrechtlich ein Novum dar, denn nach herkömmlichem Völkerrecht gelten Kapitulationen — im Unterschied zu Waffenstillstandsverträgen — als ausschließlich militärische Ubergabeabmachungen, die zwischen den bewaffneten Streitkräften kriegführender Parteien getroffen werden
Stalin ließ sich beim Abschluß der Allianz mit Hitler ganz offensichtlich von der außenpolitischen Theorie des Marxismus-Leninismus leiten, indem er von einer langwierigen kriegerischen Selbstzerfleischung des kapitalistischen Lagers ausging, die die Sowjetunion — mit den Worten Karl-Heinz Ruffmanns — „gewissermaßen Gewehr bei Fuß mitmachen wollte, um in den entscheidenden Phasen der Auseinandersetzung weitere Gewinne einzustecken und bei der Schlußabrechnung in jedem Falle auf der Seite des Siegers sein zu können"
Was Stalin von Hitler wie von den Westmächten unterschied, war seine „vom streng rationalen machtpolitischen Kalkül bestimmte Haltung"
IV. Die historisch-politische Bedeutung des totalen deutschen Zusammenbruchs 1945
Die langfristigen Kriegszielprojektionen des nationalsozialistischen Deutschlands, der Westmächte und der Sowjetunion, aber auch das taktisch-kurzfristige Einschwenken Stalins auf die Casablanca-Politik der Westmächte bezeichnen die „theoretische Perspektive" für die Darstellung des Geschehens und die Beurteilung der Handlungen und des Handlungsspielraumes der am totalen deutschen Zusammenbruch beteiligten Mächte, Gruppen und Personen. Sie geben erst den adäquaten Maßstab für die historisch-politische Bedeutung der seit der Moskauer Außenministerkonferenz im Herbst 1943 „gemeinsamen" Strategie der Alliierten gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland und den Reaktionen Hitlers, seiner „Paladine" Göring, Himmler, Ribbentrop, Goebbels und Bormann sowie seines Nachfolgers, Großadmiral Karl Dönitz. 1. Die alliierte „Unconditional Surrender“ -Politik Im Januar 1944 war in London die auf der Moskauer Außenministerkonferenz des Jahres 1943 ins Leben gerufene „European Advisory Commission" (Europäische Beratungskommission), kurz EAC genannt, zusammengetreten, der zunächst je ein Vertreter der drei Groß-mächte USA, UdSSR und Großbritannien — seit November 1944 auch ein Vertreter der Provisorischen Regierung Frankreichs — angehörte. Sie beschäftigte sich vornehmlich mit der Ausarbeitung einer gemeinsamen Deutschlandplanung der Alliierten.
Am 25. Juli 1944 verabschiedete die EAC den Urkundenentwurf über die „Bedingungslose Kapitulation Deutschlands". Dieses Dokument war aus einem Entwurf des State Department hervorgegangen, den Cordell Hull seinen Kollegen Eden und Molotow auf der Moskauer Außenministerkonferenz vorgelegt hatte
Nach der Konferenz von Jalta erfuhr das EAC-Dokument noch eine letzte umfassende Veränderung. Gegen Ende März 1945 setzte sich in der britischen Regierung die Auffassung durch, daß nach der völligen Niederringung Deutschlands wahrscheinlich keine militärische und zivile deutsche Autorität mehr bestehen werde, um die Kapitulationsurkunde zu unterzeichnen. Daher müßten die Sieger auf ein anderes Verfahren zurückgreifen und die vollständige deutsche Niederlage sowie die Übernahme der höchsten Regierungsgewalt in Deutschland einseitig proklamieren. Die Kapitulationsurkunde wurde daraufhin von der EAC in eine Deklaration umgearbeitet
Die Alliierten waren nur bereit, die bedingungslose militärische und staatlich-politische Kapitulation Deutschlands zu akzeptieren, wenn sie an allen Fronten und vor allen drei — bzw. vier — Großmächten gleichzeitig erfolgen würde. Teilkapitulationen einzelner Wehrmachtverbände oder Frontabschnitte durften nur dann entgegengenommen werden, wenn sie sich auf die rein militärischen Belange einer bedingungslosen lokalen Waffen-streckung beschränkten und wenn sie ohne jegliches Präjudiz in bezug auf das später in Kraft tretende allgemeine Kapitulationsinstrument abgeschlossen würden
Die militärische Kapitulation Deutschlands erfolgte am 8. Mai 1945. Sie wurde in Reims und Karlshorst, den Hauptquartieren der Alliierten Expeditionsstreitkräfte (General Eisenhower) und der Roten Armee (Marschall Schukow), vom Oberkommando der deutschen Wehrmacht unterzeichnet. Den deutschen Vertretern war jedoch weder in Reims noch in Karlshorst die von der EAC ausgearbeitete Urkunde über die „Bedingungslose Kapitulation Deutschlands" vorgelegt worden, denn zu diesem Zeitpunkt war die Frage, ob die ursprüngliche, von allen vier in der EAC vertretenen Mächten akzeptierte oder die nur den drei Großmächten bekannte, in Jalta revidierte Fassung der EAC-Urkunde von den Deutschen unterzeichnet werden sollte, noch nicht definitiv geklärt. Eisenhower hatte daher nach den Richtlinien für lokale Teilkapitulationen eine völlig neue Übergabeurkunde ausarbeiten und den Vertretern des OKW zur Unterzeichnung vorlegen lassen
„Diese Kapitulationserklärung stellt kein Präjudiz für an ihre Stelle tretende allgemeine Kapitulationsbestimmungen dar, die durch die Vereinten Nationen oder in deren Namen festgesetzt werden und Deutschland und die Deutsche Wehrmacht als Ganzes betreffen werden."
Die bedingungslose staatlich-politische Kapitulation Deutschlands trat am 5. Juni 1945 in Kraft. Da sich die deutsche Reichsregierung und das Oberkommando der Wehrmacht zu diesem Zeitpunkt bereits in alliierter Kriegsgefangenschaft befanden, wurde die bedingungslose staatlich-politische Totalkapitulation Deutschlands von den vier Siegermächten in der Form der EAC-Deklaration als „Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands durch die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und durch die Provisorische Regierung der Französischen Republik"
Die Präambel der Deklaration beginnt mit den Sätzen: „Die deutschen Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft sind vollständig geschlagen und haben bedingungslos kapituliert, und Deutschland, das für den Krieg verantwortlich ist, ist nicht mehr fähig, sich dem Willen der siegreichen Mächte zu widersetzen. Dadurch ist die bedingungslose Kapitulation Deutschlands erfolgt, und Deutschland unterwirft sich allen Forderungen, die ihm jetzt oder später auferlegt werden." Die vier Siegermächte übernehmen „die oberste Regierungsgewalt in Deutschland, einschließlich aller Befugnisse der deutschen Regierung, des Oberkommandos der Wehrmacht und der Regierungen, Verwaltungen oder Behörden der Länder, Städte und Gemeinden. Die Übernahme zu den vorstehend genannten Zwecken der besagten Regierungsgewalt und Befugnisse bewirkt nicht die Annektierung Deutschlands."
In der politischen und völkerrechtlichen Diskussion der deutschen Kapitulation 1945 ist vor allem Artikel 4 der militärischen Kapitulationsurkunde stark umstritten. Die Alliierten betrachten diesen Artikel nicht als notwendige Rechtsbasis für die Deklaration vom 5. Juni 1945, sondern lediglich als Mittel, sich in ihrer Eigenschaft als Siegermächte den Erlaß „allgemeiner Kapitulationsbestimmungen" vorzubehalten. Sie erklärten die militärische und staatlich-politische Totalkapitulation Deutschlands daher auch nicht auf der Grundlage des Artikels 4 — er wird in der Deklaration überhaupt nicht erwähnt —, sondern kraft ihres Siegerrechtes: die deutsche Wehrmacht sei nicht mehr fähig, sich dem Willen der siegreichen Mächte zu widersetzen: „Dadurch ist die bedingungslose Kapitulation Deutschlands erfolgt."
Hitler hatte gemäß seiner Devise Weltmacht oder Untergang'die Forderung der Alliierten nach bedingungsloser Kapitulation kategorisch abgelehnt. Bereits am Tage des Überfalls auf Polen, am 1. September 1939, hatte er im Reichstag erklärt: „Ein Wort habe ich nie kennengelernt, es heißt Kapitulation!"
Hitler hat sich daher auch der „Unconditional Surrender" -Forderung verzweifelt zu widersetzen versucht und den Krieg durch die restlose Ausschöpfung des ihm zur Verfügung stehenden Potentials bis zum Äußersten, das heißt bis zum gewollten Untergang, fortgesetzt. Und daher sind auch während seiner Regierungszeit keine offiziellen, zentral von der Reichsregierung geführten Kapitulationssondierungen eingeleitet worden.
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Statt dessen kam es nur zu inoffiziellen und persönlichen Initiativen einzelner führender Männer des nationalsozialistischen Regimes
Allen vier Initiativen ist gemeinsam, daß sie an Stelle der geforderten gleichzeitigen Gesamtkapitulation vor allen drei Großmächten eine separate Verständigung erstrebten: Ribbentrop einen Separatfrieden mit den Westmächten oder der Sowjetunion, Göring und Himmler eine Teilkapitulation vor den Westmächten und Goebbels einen separaten Waffenstillstand und anschließende Kapitulationsverhandlungen mit der Sowjetunion. Da die Alliierten lediglich bereit waren, eine rein militärische Teilkapitulation entgegenzunehmen, Ribbentrop, Göring, Himmler und Goebbels aber als führende Nationalsozialisten und Regierungsmitglieder handelten, bestand für keine ihrer Bemühungen um eine separate Verständigung eine reale Chance auf Erfolg. Ribbentrops, Himmlers und Goebbels’ Angebote wurden daher auch entschieden zurückgewiesen; Görings Bemühungen blieb eine Ablehnung erspart, da sie nicht über das Stadium der Planung hinausgelangten und Hitler den Reichsmarschall — wie wenige Tage später auch Himmler — für diesen „Verrat am Nationalsozialismus" aus allen Staats-und Parteiämtern verstieß, 3. Dönitz und die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht Führer-Nachfolger „durch Funkspruch"
Konteradmiral Godt hat in seinen Aufzeichnungen aus dem Jahre 1945 festgehalten, wie Dönitz auf den Funkspruch aus dem Bunker der Reichskanzlei reagierte, der ihn am Abend des 30. April 1945 zum Nachfolger Hitlers bestimmte: „Schluß machen, Heldenkampf ist genug gekämpft, Volkssubstanz erhalten, keine unnötigen Blutopfer mehr." Godt fährt dann kommentierend fort: „Mein Eindruck an diesem Abend war der einer völligen Wandlung Dönitz's, nachdem er von dem unmittelbaren Einfluß Hitlers freigekommen war, ...denn wenige Tage vorher hätte ich noch für möglich gehalten, daß er die Fortsetzung des absoluten Kampfes ohne Rücksicht auf die Folgen befohlen hätte."
Am 1. Mai 1945 war der endgültige Zusammenbruch also nur noch eine Frage von Tagen. Um weitere sinnlose Opfer an Gut und Blut zu vermeiden, entschloß Dönitz sich daher sofort nach der Übernahme der Staatsführung zur Kapitulation der deutschen Wehrmacht
Dönitz sah im Frühjahr 1945 seine Hauptaufgabe als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine in der Evakuierung der deutschen Ostbevölkerung auf dem Seewege. Am 1. Mai befanden sich in Kurland, auf Heia und im Weichseldelta noch annähernd eine halbe Million Flüchtlinge und Soldaten, die auf ihren Abtransport über die Ostsee warteten. Mit seiner Ernennung zum Oberbefehlshaber des Nordraumes am 20. April 1945 hatte Dönitz auch die Betreuung der auf dem Landwege aus Ostdeutschland eintreffenden Flüchtlingstrecks übernommen. Um noch möglichst viele Soldaten und Flüchtlinge dem Einfluß der Roten Armee zu entziehen, war Dönitz am 1. Mai entschlossen, die Durchführung dieser Flüchtlingstrecks und der Ostseetransporte der Kriegsmarine weiterhin mit allen verfügbaren Mitteln zu unterstützen.
Am 1. Mai standen außer den in Kurland und Westpreußen abgeschnittenen, rund 440 000 Mann umfassenden Armeen noch die Heeresgruppe Weichsel, die 9. und 12. Armee und die Heeresgruppen Mitte, Süd und Südost mit insgesamt 2 900 000 Soldaten an der Ostfront. Für die Rückführung der Ostarmeen und der auf der Flucht befindlichen ostdeutschen Bevöl-kerung hinter die anglo-amerikanischen Linien berechnete Dönitz eine Mindestfrist von acht bis zehn Tagen. Während dieser Zeitspanne mußte also der Kampf an der Ostfront noch fortgeführt werden. Eine eventuelle Fortsetzung des Kampfes gegen die Westmächte plante Dönitz lediglich zur Sicherung der Elbe-Stellung zwischen Hamburg und Lauenburg, da er das letzte noch in deutscher Hand befindliche „Tor" nach Schleswig-Holstein für den Flüchtlingsstrom aus dem Osten offen-halten wollte.
Die alliierte Forderung einer gleichzeitigen bedingungslosen Gesamtkapitulation an allen Fronten war mit den Absichten des Großadmirals nicht vereinbar. Dönitz’ Bereitschaft zur Einstellung der Kampfhandlungen an der Westfront und zur gleichzeitigen Fortsetzung des Krieges gegen die Sowjetunion ließ nur ein schrittweises Kapitulationsverfahren zu. Daher entschloß Dönitz sich noch am 1. Mai gegen die Generale des OKW, die die Waffen-streckung den einzelnen Truppenteilen. überlassen wollten, zur Durchführung einer zentral von der Reichsregierung gesteuerten, durch den Abschluß von Teilkapitulationen stufenweise zu vollziehenden Gesamtkapitulation der deutschen Wehrmacht.
Am 2. Mai trat die bedingungslose Teilkapitulation der Italienarmee in Kraft, die der Ober-befehlshaber Südwest eigenmächtig und völlig unabhängig von Dönitz'Konzept mit Feldmarschall Alexander vereinbart hatte. An diesem Tag begann auch Dönitz mit der Einleitung der ersten Teilaktion seines Kapitulationsverfahrens. Amerikanische und englische Verbände waren von ihren Stellungen an der Elbe aus in schnellem Vormarsch an die Ostsee vorgestoßen und hatten damit einen doppelten Riegel vor das „Tor" nach Schleswig-Holstein gelegt. Jeder weitere Widerstand gegen die Westmächte war sinnlos geworden, und Dönitz begann sofort mit der Vorbereitung einer Teilkapitulation im nordwestdeuti sehen Raum. Dönitz befürchtete, daß eine offizielle Übergabe der gesamten Westfront am Widerspruch der Sowjets scheitern würde. Er wollte sich daher zunächst nur an Feldmarschall Montgomery und nicht an den politisch stärker gebundenen General Eisenhower wenden.
Obwohl Montgomery aufgrund der interalliierten Vereinbarungen verpflichtet gewesen wäre, von der von Dönitz entsandten OKW-Delegation die bedingungslose gleichzeitige Gesamtkapitulation aller deutschen Streitkräfte zu fordern, nahm er das Angebot einer rein militärischen Übergabe an und vereinbarte mit dem Oberkommando der deutschen Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Streitkräfte in Nordwestdeutschland, den Niederlanden und Dänemark. Die Waffenruhe im Nordraum trat am 5. Mai, 8 Uhr, in Kraft. — Die geschlossene Übergabe der gegen die Sowjets kämpfenden Armeen lehnte Montgomery zwar ab, aber er erklärte sich bereit, einzelne deutsche Soldaten der Ostfront, die sich ihm ergeben wollten, zu britischen Kriegsgefangenen zu machen. Auf diese Weise konnten die Heeresgruppe Weichsel, die 9. und die 12. Armee fast vollständig einer sowjetischen Kriegsgefangenschaft entgehen.
Eine weitere rein militärische Teilkapitulation wurde zwischen der Heeresgruppe G und der 6. amerikanischen Heeresgruppe vereinbart. Sie trat am 6. Mai, 12 Uhr, in Kraft.
Völlig anders als Montgomery reagierte Eisenhower, als das OKW ihm am 5. Mai die bedingungslose Teilkapitulation der restlichen noch gegen die Westmächte kämpfenden deutschen Streitkräfte anbot. Er forderte ultimativ die Unterzeichnung der gleichzeitigen bedingungslosen Gesamtkapitulation der deutschen Wehrmacht an allen Fronten und vor allen drei Großmächten. Da Eisenhower damit drohte, er werde für den Fall der Nichtunterzeichnung den Bombenkrieg wiederaufnehmen und die anglo-amerikanischen Linien für alle aus dem Osten kommenden Deutschen hermetisch abschließen, gab es für Dönitz keine andere Möglichkeit als die für seine Pläne noch verB frühte Unterzeichnung der bedingungslosen Gesamtkapitulation der deutschen Wehrmacht.
Als am 8. Mai, 23 Uhr MEZ, die Waffenruhe auf dem europäischen Schauplatz des Zweiten Weltkrieges eintrat, hatte Dönitz seinen Plan nur zum Teil verwirklichen können. Es war ihm immerhin gelungen, mit Hilfe seines Kapitulationsverfahrens von den insgesamt 3 340 000 Soldaten der Ostfront 1 850 000 (= 55 0/0) hinter die anglo-amerikanischen Linien zu bringen. . Die übrigen 1 490 000 Soldaten mußten den Weg in die sowjetische und jugoslawische Kriegsgefangenschaft antreten
Sie wird nicht ganz so hoch wie die der Soldaten geschätzt. Dönitz hatte demnach in der ersten Maiwoche 1945 ungefähr 21/2 bis 3 Millionen Soldaten und Flüchtlinge dem sowjetischen Einfluß entziehen können.
Dönitz’ antisowjetische Orientierung war zu einem guten Teil von der nationalsozialistischen Kriegspropaganda inspiriert. Hitler habe, so heißt es in seiner Rundfunkansprache an das deutsche Volk vom 1. Mai 1945, frühzeitig „die furchtbare Gefahr des Bolschewismus erkannt und diesem Ringen sein Dasein geweiht." Und weiter: „Sein Einsatz im Kampf gegen die bolschewistische Sturmflut" habe nicht nur Deutschland, sondern „darüber hinaus Europa und der gesamten Kulturwelt" gegolten
Als das Hauptverdienst des Großadmirals ist sicherlich das von ihm gewählte Verfahren der zentral von der Reichsregierung gesteuerten stufenweisen Gesamtkapitulation anzusehen. Die zentrale Steuerung der Kriegsbeendigung ermöglichte es aber nicht nur, noch 21/2 bis 3 Millionen Flüchtlinge und Soldaten in den Einflußbereich der Westmächte zu bringen, sondern auch, eine geordnete Übergabe der deutschen Streitkräfte an die Siegermächte und eine kampflose Räumung der noch nicht in den Kriegsschauplatz miteinbezogenen besetzten Gebiete Westhollands, Dänemarks und Norwegens zu arrangieren. — Da die Alliierten grundsätzlich nicht von ihrer „Unconditional Surrender" -Forderung abließen, hatte Dönitz zwar keinerlei Einfluß auf das „Daß" der bedingungslosen Kapitulation, aber er nutzte die geringe, ihm als deutschem Staatsoberhaupt noch verbliebene Handlungsfreiheit, um das „Wie" und „Wann" in der für seine Pläne günstigsten Weise mitzubestim-men. 4. Die Regierung Dönitz: Epilog des Dritten Reiches Mit der völligen Besetzung Deutschlands durch die Siegermächte verlor Dönitz jegliche reale politische Wirkungsmöglichkeit. Obwohl er zunächst seinen Rücktritt erwogen hatte, blieb er dennoch im Amt, da er den Anspruch des deutschen Staatsoberhauptes auf die Souveränität und Einheit des Reiches nicht freiwillig preisgeben wollte. Nach der Kapitulation wandte sich die Regierung Dönitz stärker ihren zivilen Aufgabenbereichen zu. Dönitz hatte bereits vor der Kapitulation sämtliche führenden Nationalsozialisten — unter ihnen Himmler, Ribbentrop und Rosenberg — aus dem Reichskabinett entlassen und den Reichs-finanzminister, Graf Schwerin von Krosigk, mit der Bildung einer „Geschäftsführenden Reichsregierung" beauftragt, der nur noch qualifizierte „Fachminister" angehören sollten.
In diesem Rumpfkabinett waren nur noch Schwerin von Krosigk (Leitender Minister, Äußeres und Finanzen), Speer (Wirtschaft), Backe (Ernährung), Seldte (Arbeit) und Dorpmüller (Verkehr) im Besitz ihres Portefeuilles. Die „Geschäftsführende Reichsregierung" bemühte sich dann, durch praktische Vorschläge die alliierten Siegermächte für einen zentral gesteuerten Wiederaufbau des deutschen Wirtschafts-und Ernährungs-, Verkehrs-und Finanzwesens zu gewinnen. Aber die Alliierten waren unter keinen Umständen bereit, ihre eigenen Deutschlandpläne einer Zusammenarbeit mit den ehemaligen Ministern Hitlers zu opfern. Churchill war zwar daran interessiert, die Regierung Dönitz als „Verwaltung Dönitz unter alliierter Kontrolle" beizubehalten, aber die sowjetische und die amerikanische Regierung drängten auf Einhaltung der in Jalta getroffenen Vereinbarungen und forderten ihre Liquidierung. So wurden Dönitz, die „Geschäftsführende Reichsregierung" und das OKW am 23. Mai 1945 von den Alliierten abgesetzt und verhaftet.
Welche Stellung nimmt die nur dreiwöchige Regierung Dönitz in der jüngsten deutschen Geschichte ein? Sie hebt sich zwar durch ihre konstruktiven Maßnahmen deutlich von der Untergangspsychose Hitlers ab, aber gehört sie damit bereits zur Geschichte Nachkriegs-deutschlands? Das sogenannte „Dönitz-Tagebuch", in dem der Adjutant des Großadmirals, Walter Lüdde-Neurath, die wichtigsten Ereignisse der Regierung Dönitz festgehalten hat
Abschließend sollen hier noch kurz einige spezielle Probleme der historisch-politischen Erforschung der Regierung Dönitz deutlich gemacht werden, die Anlaß zu kontroverser Darstellung und Beurteilung gegeben haben. Dönitz schreibt in seinen Memoiren, daß er erst in den Maitagen 1945 von den „KZ-Greueln" des Dritten Reiches erfahren habe
Soweit die zugänglichen Akten und die vorliegende Literatur hier Aufschluß geben, hat Dönitz offenbar erstmals aus der Weltpresse von den KZ-Verbrechen erfahren, als Generaladmiral v. Friedeburg mit englischen und amerikanischen Zeitungen aus Montgomerys Hauptquartier zurückkehrte, die Bildberichte aus Bergen-Belsen und Buchenwald enthielten. Wenige Tage darauf wurde er dann in Flensburg mit der KZ-Wirklichkeit konfrontiert, als ein Schiffstransport mit KZ-Insassen aus dem Osten eintraf. Ein Gesuch der Regierung Dönitz an General Eisenhower, die Konstituierung des Reichsgerichts für eine Untersuchung der Mißstände in den Konzentrationslagern und die Aburteilung der Schuldigen zu ermöglichen, blieb ohne Antwort
Aber konnten Dönitz die KZ-Verbrechen denn tatsächlich bis zum Mai 1945 völlig verborgen bleiben, wo beispielsweise der Wehrmachtsarzt Gottfried Benn 1943 in seinem Essay „Zum Thema Geschichte" von Lastwagen schreiben konnte, „auf die jüdische Kinder, vor aller Augen aus den Häusern geholt, geworfen werden, um für immer zu verschwinden"?
— seine unkritisch-willfährige Linientreue und „sein beinahe unbegrenztes Vertrauen"
gegenüber Hitler und dem Nationalsozialismus
Marlis G. Steinert hat in diesem Zusammenhang treffend von einer „Reaktion der Selbsterhaltung" im totalitären Staat gesprochen
Ein zweites Forschungsproblem kann nach kontroverser Diskussion als hinreichend gelöst betrachtet werden. Es betrifft die Frage, ob Dönitz bei Antritt der Führer-Nachfolge bereits entschlossen war, den Krieg zu beenden. Walter Baum hat in seiner Abhandlung über den Zusammenbruch der obersten deutschen militärischen Führung (1960) entgegen den Memoiren von Lüdde-Neurath und Dönitz die Auffassung vertreten, daß man in der nächsten Umgebung des Großadmirals unmittelbar nach seiner Ernennung zum Staatsoberhaupt noch darüber im Zweifel gewesen sei, „ob er den Kampf nicht rücksichtslos fortsetzen werde, zumal kleine taktische Erfolge einzelner Truppenteile von einigen Mitarbeitern in der Ski. (Seekriegsleitung) als Zeichen ungebrochener Schlagkraft der deutschen Wehrmacht gedeutet wurden"
In engem Zusammenhang hiermit ist ein drittes Problem zu sehen, das — um Brian Gardner zu wiederholen — „diplomatische Manöver zwischen Ost und West" betrifft. Dönitz'politische Grundhaltung vor und nach der Kapitulation war zwar prononciert antisowjetisch orientiert, er hielt aber — im Unterschied zu Hitler, Goebbels u. a. — einen Bruch der alliierten Kriegskoalition und einen damit verbundenen Fronten-und Bündniswechsel zugunsten Deutschlands für illusorisch
V. Eine Zäsur von weltgeschichtlicher Bedeutung
Der totale deutsche Zusammenbruch 1945 markiert aber nicht nur in der deutschen, sondern auch in der Weltgeschichte eine tiefe Zäsur. In der deutschen Geschichte bezeichnet er das Ende des Deutschen Reiches, in der Weltgeschichte — mit den Worten Winston Churchills — „Triumph und Tragödie" der „Vereinten Nationen"
Die Berliner Deklarationen der vier alliierten Siegermächte vom 5. Juni 1945
Wie die Deklarationen vom 5. Juni 1945 vertrat auch das Potsdamer Abkommen der „Großen Drei" vom 2. August 1945 den Grundsatz der staatlichen Einheit Deutschlands. Es bezog die von Stalin, Truman und Attlee vereinbarten politischen Grundsätze auf ganz Deutschland und bestimmte, daß „die Behandlung der deutschen Bevölkerung in ganz Deutschland gleich sein" müsse. In den wirtschaftlichen Grundsätzen des Potsdamer Abkommens heißt es, daß Deutschland während der Besatzungszeit „als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten" sei
Im Augenblick des militärischen Triumphes über das Dritte Reich wurde bereits sichtbar, daß die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg nicht im Interesse der von den Westmächten erstrebten Weltfriedensordnung, sondern letztlich um der eigenen Expansion willen geführt hatte. In diesem Moment wurde zugleich deutlich, daß kaum mehr als der gemeinsame Kriegsgegner die Allianz der „Vereinten Nationen" zusammengehalten hatte