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Christliche Demokratie in Lateinamerika | APuZ 18/1970 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 18/1970 Christliche Demokratie in Lateinamerika Die Organisation von Wirtschaftsregionen in Afrika Die unvollendete Entkolonialisierung Westund Zentralafrikas

Christliche Demokratie in Lateinamerika

Peter Molt

/ 37 Minuten zu lesen

I. Ausgangslage

Jörg Ulrich Götz:

Die Organisation von Wirtschaftsregionen in Afrika ............................... S. 19 Patrice Mandeng:

Die unvollendete Entkolonialisierung in West-und Zentralafrika .............. S. 39

Der große Triumph der Christlichen Demokratie Lateinamerikas, die sich seit Mitte der fünfziger Jahre als neue politische Kraft präsentiert, war der überwältigende Wahlsieg des Kandidaten der chilenischen PDC (Partido Demdcrata Cristiano), Eduardo Frei Montaiva, der 1964 mit über 56 °/o der abgegebenen Stimmen für sechs Jahre zum Präsidenten gewählt wurde. Im Dezember 1968 konnte die junge Bewegung einen zweiten Erfolg buchen: Der Kandidat der christlich-demokratischen Partei Venezuelas (Comite Organizaciön Politica Electoral Independiente, COPEI), Rafael Caldera, gewann knapp mit 29, 1 % der Stimmen vor seinen Mitbewerbern die Wahl und vollzog damit den ersten demokratischen Machtwechsel in der Geschichte des Landes.

In einem dritten Land Lateinamerikas, in El Salvador, ist die christlich-demokratische Partei nach den Wahlen vom 18. März 1970 mit 15 von 52 Abgeordneten wieder zur zweitstärksten politischen Kraft des Landes geworden. In den übrigen lateinamerikanischen Ländern, in denen es zur Zeit ein gewähltes Parlament gibt, hat die Christliche Demokratie dagegen nur eine geringe (Guatemala, Ekuador, Dominikanische Republik, Nikaragua und Uruguay) oder keine parlamentarische Vertretung gewinnen können. Vor der Machtübernahme durch Militärregimes spielte sie in Argentinien, Brasilien und Peru eine bedeutsamere Rolle, in den beiden letzteren Ländern wirkten auch ihr zugehörige Minister zeitweilig in den Regierungen mit.

Nun besagen solche Zahlen nur in den Ländern etwas, in denen man wirklich von einigermaßen freien und demokratischen Wahlen sprechen kann. Das sind zur Zeit nur Chile, Venezuela, El Salvador, Guatemala, Uruguay und Costa Rica. Wenn die christlich-demokratischen Parteien der Länder, die zur Zeit keine parlamentarische Vertretung oder Teilhabe an der politischen Macht haben, trotzdem den Anspruch erheben, zu den jeweils führenden politischen Kräften zu gehören, so liegt der Grund dafür darin, daß der Wegfall freier Wahlen es unmöglich macht, die wirkliche Volksmeinung zu kennen. Vor einigen Jahren schien dieser Anspruch mehr Gewicht zu haben, weil die christlich-demokratischen Parteien sich darauf berufen konnten, einen beträchtlichen Teil der jüngeren Intellektuellen anzusprechen und über ihre Verbindung zu ka-tholischen Organisationen, wie Gewerkschaften, Landarbeiterligen, Genossenschaften, Frauenbewegungen und konfessionellen Jugendorganisationen, eine breitere Basis zu haben als vergleichsweise andere Parteien, überdies hatten sie als einzige politische Kraft außer den Marxisten eine geschlossene Doktrin; sie versprachen das Rezept für die Lösung der schwierigen sozialen und politischen Probleme des Kontinents in den Händen zu haben. Diese Argumente sind heute etwas verblaßt.

Die Christliche Demokratie hat ihren Testfall Chile nicht besonders gut bestanden und ihren sozial-reformerischen Elan ziemlich eingebüßt. Junge progressive Christen haben sich darauf zum Teil enttäuscht von ihr abgewandt. Es wird daher heute offen die Frage gestellt, ob die Erfolge in Chile und Venezuela nicht nur Augenblickserfolge waren und ob die Christliche Demokratie Lateinamerikas nicht das Schicksal frührerer politischer Reformbewewegungen Lateinamerikas teilen wird, das heißt, ob sie nur ein neuer und wiederum vergeblicher Versuch ist, mit demokratischen Methoden d e vielen ungelösten Strukturprobleme den Kontinents zu lösen. Ganz ohne Zweifel ist auch die Christliche Demokratie Teil des recht wechselhaften und mit vielen Enttäuschungen verbundenen Prozesses, die traditionellen oligarchischen Strukturen der lateinamerikanischen Republiken durch eine zunehmende Politisierung der Mittel-und Unterschichten evolutionär zu überwinden und auf der Basis breiter demokratischer Unterstützung Reformregierungen zu bilden, ohne die Grundzüge der republikanischen Verfassungen zu ändern. Es ist im Grunde genommen der Versuch, den verfassungspolitischen Prozeß, den die Vereinigten Staaten seit 180 Jahren von der oligarchischen Republik zum demokratischen Volksstaat zurückgelegt haben, in Lateinamerika zu wiederholen, ohne Bruch der Verfassungskontinuität die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft zu erreichen. Getragen wurde diese Entwicklung durch bürgerlich-liberale Bewegungen und durch die seit der Jahrhundertwende entstandenen „ideologischen" Parteien

In Uruguay wandelte sich die traditionelle Colorado-Partei in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts unter ihrem Führer Jose Batlle y Ordez zu einer liberal-fortschrittlichen Partei der Mittelschichten mit starkem Einfluß sozialistischer Ideen. Sie führte nach europäischem Vorbild eine umfassende, allerdings wirtschaftlich nicht tragbare Sozialgesetzgebung ein und bescherte dem Land das 1966 wieder beseitigte Experiment eines kollegialen Regierungsrates mit Beteiligung der Minderheitsfraktionen.

In Argentinien kam es schon 1889 unter dem Einfluß europäischer Ideen und Einwanderer zur Gründung der bürgerlich-liberalen „Union Civica". Diese Partei, die sich bald des Zusatzes „radikal" bediente, entwickelte sich zu einer Partei modernen Typs mit Parteiapparat und Mitgliedschaft. In den ersten wirklich freien und geheimen Präsidentschaftswahlen Argentiniens kam sie unter ihrem Führer Irigoyen 1916 an die Macht und leitete ein Programm sozialer Reformen für die Arbeiter-bevölkerung ein.

Den progressiven liberalen Parteien Uruguays und Argentiniens entsprach in Chile die „Radikale Partei", welche die Präsidenten zwischen 1938 und 1952 stellte.

Die Begrenzung dieser Parteien auf die Mittel-schichten, ihre zunehmende Korrumpierung, auch ihre Unfähigkeit, wirklich entscheidende Reformen durchzusetzen, ließen sie schließlich scheitern. In Uruguay und Argentinien muß man sie heute zum traditionellen Parteisystem zählen, in Chile stellen die „Radikalen" jetzt die offizielle Partei des internationalen demokratischen Sozialismus dar 1a).

Den Platz der bürgerlich-liberalen Parteien als Vorkämpfer der Reform nahmen die seit den dreißiger Jahren an Gewicht gewinnenden ideologischen Parteien ein. Auch sie ähneln dem europäischen Parteientyp und beziehen von Europa wesentliche Teile ihrer Programmatik. Als Programm-und Mitgliederparteien treten sie an die Stelle der Familien-, Sippen-, Klientel-und sozialen Cliquenverbände. Diese Entwicklung beginnt hauptsächlich im städtischen Mittelstand und der akademischen Jugend. Damit beginnt auch eine politische Zusammenarbeit zwischen den Politikern verschiedener Länder, da der Erfolg einer programmatisch ausgerichteten Partei in einem Land zur Gründung ähnlicher Parteien in anderen Ländern anregt und sich ihre Führer untereinander den gleichen Idealen verbunden wissen.

Sozialistische und kommunistische Parteien entstanden in Lateinamerika schon zu Beginn des Jahrhunderts. Sie sind jedoch zumeist ohne Massenanhang geblieben, da ihr Programm zu „europäisch" und zu wenig lateinamerikanisch war, und weil sie zumeist auch mehr Wert darauf legten, interne Kämpfe um die Reinheit der Ideologie zu führen als politisch zu arbeiten. Nur auf dem Weg der Infiltration bestehender Parteien, der Gewerkschaften und anderer sozialer und staatlicher Bereiche haben die Kommunisten Einfluß gewinnen können. Die Sozialisten spielen ebenfalls in den meisten Ländern Lateinamerikas nur eine untergeordnete Rolle. Da, wo sie Einfluß gewinnen konnten, beruht dies zum größten Teil auf ihrer führenden Stellung in der Gewerkschaftsbewegung

Eine weit größere Rolle spielt in Lateinamerika eine Spielart des Sozialismus: die „populistischen" Parteien oder die demokratische Linke Anfangs sehr stark vom Marxismus inspiriert, haben sie nicht so sehr den Klassenkampf gepredigt, sondern eine freiheit-lich-demokratische und humanitäre Revolution propagiert. Zu dieser Gruppe sind die peruanische APRA (Alianza Populär Revolucionaria Americana) unter Victor Haya de la Torre, die in Autenticos und Ortodoxos gespaltene vorfidelistische revolutionäre Partei Kubas, die Accin Democrätica Venezuelas unter Romulo Betancourt, die Liberacion Nacional Costa Ricas unter Jose Figueres, die bolivianische MNR (Movimiento Nacional Revolucionario), die revolutionären Parteien der Dominikanischen Republik und Guatemalas, die Febre-ristas Paraguays und andere mehr zu zählen. Diese Parteien konnten in einigen Länder wie Costa Rica, der Dominikanischen Republik, Honduras, Kuba, Venezuela, Guatemala und Bolivien zeitweilig die Präsidentschaft gewinnen, in anderen Ländern wurden sie zu wichtigen Oppositionsparteien. Inzwischen haben jedoch auch sie unter den Massen viel an Anhang verloren, weil es ihnen zumeist nicht gelang, ihr revolutionäres Programm zu verwirklichen und viele ihrer Funktionäre —-einmal an der Macht — der Korruption anheimfielen.

Schließlich muß noch der Peronismus erwähnt werden, der heute in seinem Ursprungsland Argentinien immer noch große Bedeutung hat, in den vierziger Jahren jedoch vorübergehend auch auf andere Länder übergegriffen hatte. Wenngleich er auf einem starken Persönlichkeitskult beruht, hat er entsprechend dem faschistischen Vorbild eine starke Massenbewegung geschaffen, die durch ihre nationalistische, imperialistische und Sozialrevolutionäre Gesinnung zusammengehalten den Sturz ihres Führers überlebte und heute die größte und bestorganisierteste politische Kraft Argentiniens darstellt

Eine Sonderstellung nimmt schließlich die mexikanische Staatspartei PRI (Partido Revolucionario Institutional) ein, die aus der mexikanischen Revolution erwuchs und mit einer wenig klaren nationalen und sozialen Ideologie unangefochten seit Jahrzehnten das Land beherrscht

Die jüngste in der Reihe der demokratischen Reformbewegungen Lateinamerikas ist die Christliche Demokratie.

II. Die Christliche Demokratie als kontinentale Bewegung

Vom 28. bis 30. April 1947 trafen sich in Montevideo zum ersten Male christlich-demokratische Politiker zu einem Kongreß in einer Zeit, als auch in Lateinamerika neue Hoffnungen auf den Beginn einer demokratischen und sozial gerechten zukünftigen Ordnung erwuchsen. Das Treffen war inspiriert von den Nachrichten, die aus Europa kamen: von der Gründung der christlich-demokratischen Parteien in Italien und Frankreich. Die in Montevideo zusammengekommenen Politiker waren von Anfang an von der Idee der lateinamerikanischen Einheit beseelt, ja sie sahen sogar im Nationalismus ihrer Staaten eines der größten politischen Übel. Der Grund hierfür liegt einmal in der Tatsache begründet, daß die Führer der christlich-demokratischen Parteien überwiegend aus der katholischen Studentenbewegung stammen, für die das Erlebnis der Internationalität in den dreißiger Jahren einer der prägendsten Eindrücke gewesen ist, zum zweiten in der Verbundenheit mit dem europäischen christlichen Denken, insbesondere mit dem Neothomismus der neueren katholischen Soziallehre. Als Bewegung der Gebildeten, der Akademiker, war die Christliche Demokratie Lateinamerikas von vornherein dem europäischen Geistesleben zugewandt In der Schlußresolution wurde beschlossen, eine supranationale Bewegung zu gründen mit dem Ziel der Herbeiführung wirklicher politischer, ökonomischer und kultureller Demokratie auf den Fundamenten eines christlichen Humanismus

Die Teilnehmer der Konferenz stammten aus vier Ländern. Aus Brasilien kam eine Gruppe unter Führung von Queiroz Filho, eine der bekanntesten Persönlichkeiten des katholischen Sao Paulo. Dort arbeitete seit Jahren ein Kreis katholischer Intellektueller, deren bedeutendster Kopf Professor Amoroso Lima war, bekannter unter seinem Schriftstellernamen Tristao de Ataide. Dieser Kreis verkörperte einen christlichen Humanismus, der besonders vom französischen Reformkatholizismus geprägt war. Ähnlich setzte sich die Gruppe aus Argentinien zusammen, wo vor allem die philosophischen Lehren des französischen Philosophen Jacques Maritain auf fruchtbaren Boden gefallen waren und wo zudem wegen der engen Verbindung vieler Auswanderer die Nachrichten über die Democracia Cristiana Italiens beispielgebend wirkten

Die Vertreter des gastgebenden Landes Uruguay vertraten mehr eine konservative Richtung des politischen Katholizismus, konnten aber schon eine lange politische Erfahrung aufweisen. Angesichts des freimaurerischlaizistischen Charakters der beiden großen uruguayischen Parteien hatte sich in diesem Lande — inspiriert übrigens durch die deutsche Zentrumspartei — ein Klub zur Verteidigung der Interessen der katholischen Religion gebildet. 1899 kam es zur Gründung einer „Katholischen Union", die viele der überzeugt christlichen Politiker anzog, die bisher in einer der traditionellen Parteien gewirkt hatten. 1912 entstand daraus eine politische Partei, die den Namen „Union Civica" annahm. Die Partei verstand sich als konfessionelle Partei und stand in enger Verbindung mit der katholischen Hierarchie. Von 1916 bis 1942 entsandte sie fast immer zwei Abgeordnete ins Parlament. Seit dieser Zeit war sie mit vier bis fünf Abgeordneten und einem Senator im Kongreß vertreten.

Wieder einen anderen Hintergrund hatten die Vertreter der chilenischen Falange Nacio-nal Ihre Entstehungsgeschichte ist eng verknüpft mit den Entwicklungen im chilenischen Katholizismus und deren Rückwirkungen auf die Konservative Partei. Bereits seit der Jahrhundertwende hatte es innerhalb der Konservativen Partei, der diejenigen Angehörigen der Oberklasse, die sich zu unbedingten Verteidigern der alten Rechte der katholischen Kirche im Staate machten und die darum mit den laizistischen Radikalen und Liberalen verfeindet waren, einige Politiker gegeben, die sich auch mit der sozialen Frage befaßten. Gefördert wurden diese Anfänge einer christlich-sozialen Bewegung durch eine Bewegung innerhalb der Kirche selbst, die sich mehr und mehr des staatlichen Schutzes und der Privilegien beraubt gleichzeitig mit einer zunehmenden Verweltlichung der Gesellschaft konfrontiert sah. So kam es in Chile früher als in anderen Ländern zur Bildung einer Katholischen Aktion und zu reform-katholischen Bestrebungen. Wichtigste Gruppe dieses sich erneuernden und um die soziale Frage besorgten Katholizismus wurde in den dreißiger Jahren die ANEC (Asociaciön Nacional de Estudiantes Catölicos), der viele der späteren Führer der christlichen Demokraten angehörten. In diesen Gruppen war neben dem Einfluß des Vaters der katholischen Sozialbewegung Chiles, Padre Hurtado, ebenfalls der des katholischen Sozial-philosophen Jacques Maritain maßgebend.

Zunächst engagierten sie sich noch in der katholischen Partei, der Konservativen Partei. 1935 wurde wohl schon zu dem Zweck, die traditionalistische Reaktion in der Partei zu brechen, eine konservative Jugendorganisation gegründet. Ihre Führer waren Eduardo Frei und Bernardo Leighton deren Familien der konservativen Oberschicht verbunden waren Sie begannen, die Oberklasse mehr und mehr ihrer sozialen Verantwortungslosigkeit wegen zu kritisieren und wurden deshalb von ihr später als „Abtrünnige" viel mehr bekämpft und gehaßt als selbst sozialistische Führer.

Als die Konservative Partei 1938 mehr die Klasseninteressen als den alten katholisch-laizistischen Gegensatz in die Waagschale warf und beschloß, den Präsidentschaftskandidaten der Liberalen Partei zu unterstützen, kam es zum Bruch. Die Konservative Jugendorganisation trennte sich von der Konservativen Partei, nahm die Bezeichnung „Falange Nacional" an und beschloß, den Kandidaten der Linken, den Radikalen Aguirre Cerda, zu unterstützen. Da dieser nur knapp über seinen liberalen Rivalen siegte, wurde von der Rechten der Falange Nacional die Schuld an der Niederlage und an der Regierungsübernahme durch die Volksfront gegeben. Die Partei, die zunächst sieben Abgeordnete stellte, die aus der Konservativen Partei ausgetreten waren, benötigte einige Jahre, um sich zu organisieren. Ihre Mitgliederzahl wuchs nur langsam. Hinderlich für sie waren schwere Auseinandersetzungen mit Teilen der katholischen Hierarchie, förderlich eine Teilnahme Freis unter Präsident Rios (1941-1945) an der Regierung als Minister für öffentliche Arbeiten.

Das war die Vorgeschichte des ersten lateinamerikanischen Kongresses der christlichen Demokraten in Montevideo. Er trug, wie auch die folgenden, wesentlich dazu bei, die Idee der Christlichen Demokratie auf dem ganzen Kontinent zu verbreiten. So entstanden auch in einigen anderen Ländern christlich-demokratische Zirkel. 1949 fand eine zweite konferenz in Montevideo statt, an der bereits Delegationen aus Argentinien, Brasilien, Chile, Uruguay sowie aus Peru und Kolumbien teilnahmen. Auf dieser Zusammenkunft wurde die ODCA (Organisaciön Demcrata Cristiana de America), die Organisation der Christlichen Demokraten Lateinamerikas, gegründet, ferner die Errichtung eines ständigen Sekretariats in Montevideo beschlossen.

Es dauerte allerdings sieben Jahre, bis der nächste Kongreß der christlichen Demokraten in Santiago stattfand. Der Grund hierfür war die unruhige politische Entwicklung in den einzelnen Ländern; gleichzeitig konnte man jedoch feststellen, daß in einer Reihe von Ländern die Christliche Demokratie im politischen -Leben Fuß zu fassen begann. Auf diesem dritten im 1955 Dezember de Kongreß in Santiago Chile waren christlich-demokratische Parteien folgender Länder vertreten: Argentinien (gegr.

1954), Bolivien (gegr. 1954), Peru (gegr. 1956), Uruguay, Brasilien (gegr. 1950), Chile, ferner ein Beobachter aus Kolumbien. Die christlichen Demokraten Venezuelas (die christlich-demokratische Partei Venezuelas, 1946 gegründet, hatte bei den Wahlen 1947 17, 3 °/o der Stimmen erringen können) und Guatemalas sandten Telegramme, die ihr Einverständnis mit der geplanten Zusammenarbeit ausdrückten

Bedeutsam war, daß zum erstenmal auch Vertreter europäischer christlich-demokratischer Parteien an diesem Kongreß teilnahmen, vor allem die Vertreter christlich-demokratischer Parteien Zentraleuropas im Exil, die in diesen Jahren eine hervorragende Rolle in der Betreuung der jungen Bewegung zu spielen begannen. Sie sahen nicht nur in der Förderung der christlich-demokratischen Parteien Lateinamerikas ein neues, fruchtbares und weites Betätigungsfeld, sondern unterstützten diese Bewegung auch als eines der Bollwerke gegen den in Lateinamerika bedrohlich werdenden Kommunismus. So waren die Vertreter der christlich-demokratischen Exilparteien der Tschechoslowakei, Ungarns, Litauens, Polens und Jugoslawiens anwesend, ferner waren die italienische christlich-demokratische Partei und die nationalistische Partei der Basken vertreten.

Im Jahre 1957 fand der vierte Kongreß der ODCA in Sao Paulo, 1959 der fünfte Kongreß in Lima statt, 1961 der sogenannte dritte Weltkongreß in Santiago de Chile, 1964 der sechste Kongreß der ODCA in Caracas und 1966 der fünfte Weltkongreß der christlichen Demokraten in Lima.

Obwohl seit 1955 das Sekretariat der christlich-demokratischen Parteien nach Santiago verlegt worden war und die Institutionen eines Präsidenten und Generalsekretärs eingerichtet wurden, beschränkte sich die Tätigkeit der ODCA im wesentlichen auf die Vorbereitung und Durchführung der Kongresse. Diese hatten insofern eine Bedeutung, weil durch ihre Beratungen eine gewisse Einheitlichkeit der Pro-grammatik des politischen Wollens der lateinamerikanischen christlichen Demokraten erreicht wurde und sich die Führer dieser Parteien dabei besser kennenlernen konnten. Zugleich dienten sie der Publizität und Verbreitung christlich-demokratischer Ideen in Lateinamerika. Die letzten Kongresse endeten jedoch mit einer gewissen Enttäuschung. Die ursprüngliche Funktion derartiger Kongresse ist beim heutigen Entwicklungsstand der Christlichen Demokratie Lateinamerikas erfüllt. Sie drohen daher mehr und mehr in einen Leerlauf auszuarten.

Es kann nicht übersehen werden, daß aus internen, strukturellen Gründen, aber auch durch äußere, politische Umstände die ODCA in eine neue schwierige Phase getreten ist. Für alle internationalen Zusammenschlüsse von Parteien kann wohl festgestellt werden, daß sie um so lebendiger und problemloser sind, solange die Mehrzahl ihrer Mitglieder nur oppositionellen Gruppen angehört. Der Zusammenschluß von Parteien, die sich in der Regierung befinden oder gar die alleinige Regierungsverantwortung tragen, schafft Konflikte zwischen der ideologischen und programmatischen Verbundenheit derartiger Parteien und dem nationalen Interesse, das sie als Träger der Regierung zu vertreten haben. Die gleiche Schwierigkeit, mit der sich die Europäische Union der Christlichen Demokraten auseinanderzusetzen hat, stellt sich heute auch für die Christliche Demokratie Lateinamerikas.

Ein weiteres Problem der ODCA ist das Dominieren der vielen, in den letzten Jahren als Mitglieder zugelassenen kleinen Parteien, die oft in ihrer Führung sehr instabil sind. Die Radikalität und Lautstärke dieser kleinen Gruppen bringen die Gefahr für die größeren und verantwortlicher denkenden Parteien mit sich, der ganzen Bewegung ein unseriöses Ansehen zu geben.

Schließlich ist nicht zu verkennen, daß durch den Erfolg der christlich-demokratischen Partei in einigen Ländern die Furcht vor Wahlsiegen der christlichen Demokraten zugenommen hat. Vorher wurden diese Parteien von den herrschenden Kreisen oft nicht ernst genommen, nun aber sieht man in ihnen eine gefährliche Konkurrenz. Eines der wesentlichsten Argumente gegen die neue Bewegung ist der Appell an den Nationalismus, verbunden mit dem Vorwurf, die Christliche Demokratie verrate die nationalen Interessen und sei im Grunde genommen eine internationalistische Bewegung. In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß in einzelnen Ländern ursprünglich gegen die Kommunisten gerichtete Gesetze, daß Parteien keinen internationalen Zusammenschlüssen angehören dürfen, heute gegen die christlich-demokratische Bewegung als Waffe benutzt werden. Aus diesem Grunde gehört auch eine der wichtigeren Parteien des Kontinents, die Christlich-Demokratische Partei El Salvadors, nicht der ODCA an, weil ein derartiger Anschluß unverzüglich zu ernsten inneren Schwierigkeiten führen müßte.

III. Programmatik der Christlichen Demokratie Lateinamerikas

Wie die politische Entwicklung, so ist auch die Programmatik der christlichen Demokraten Lateinamerikas eng mit der katholisch-sozialen Bewegung dieses Kontinents verbunden. Zwar kann sich ihrer organisatorischen Stärke und ihrem politischen Einfluß nach die katholisch-soziale Bewegung Lateinamerikas nicht mit der Europas messen; aber sie verkörpert viele der Kräfte der Gesellschaft, die aufgeschlossen den Problemen unserer Zeit gegenüberstehen.

Man hat den Eindruck, als präge die katholische Soziallehre das geistige Leben des aus langer Stagnation erwachenden lateinamerikanischen Katholizismus in einem viel entscheidenderen Maße als den europäischen. Die Beschäftigung mit politischen und sozialen Fragen nimmt unter den jungen und aktiven Katholiken Lateinamerikas fast alle Energien in Anspruch; das ausschließlich religiöse und das liturgische Engagement treten dagegen zurück. Das gilt sowohl für die Laien als auch für den jüngeren Klerus.

Nur auf dem Flintergrund der katholisch-sozialen Bewegung und der in ihr diskutierten Probleme läßt sich die Christliche Demokratie Lateinamerikas verstehen. Die meisten ihrer Führer, die den katholischen Studenten-und Jugendorganisationen entstammen, sind ausgewachsen und geprägt von Gruppen, die sich ihrem Elan und ihrer Dynamik nach am ehesten mit der ganz anders orientierten katholischen Jugendbewegung Deutschlands der zwanziger und dreißiger Jahre vergleichen lassen. 1. Die Bedeutung Jacques Maritains Auf die ältere Generation der christlichen Demokraten hat der französische Staatsphilosoph Jacques Maritain einen außergewöhnlichen Einfluß ausgeübt. Die bekanntesten sozial-philosophischen und sozialpolitischen Schriftsteller Lateinamerikas bezeichnen sich als Schüler Maritains und versuchen in ihren Veröffentlichungen eine Interpretation des französischen Neothomisten Dabei verfolgen sie eine allgemein im lateinamerikanischen Katholizismus anzutreffende Tendenz, sich nicht auf sozialphilosophisches Neuland zu begeben, sondern sich mit einer Interpretation der Gedankensysteme europäischer Schriftsteller für die lateinamerikanische Wirklichkeit zu bescheiden

Der Einfluß Maritains ist nicht nur aus den äußeren Umständen zu erklären, daß z. B. viele seiner lateinamerikanischen Schüler in den dreißiger Jahren im Institut Catholique in Paris studierten, daß seine spätere akademische Wirkungsstätte an der Princeton Univer-sity in den Vereinigten Staaten ihm zu einem weiteren lateinamerikanischen Schülerkreis verhalf und daß überhaupt die französische katholische Erneuerungsbewegung unter den jungen fortschrittlichen Katholiken Lateinamerikas aufgrund des französischen Kulturprestiges in diesem Kontinent besondere Aufmerksamkeit erregt. Der tieferliegende, eigentliche Grund scheint mir zu sein, daß das philosophische Gedankensystem Maritains in besonderer Weise Antworten auf die Aufbruchstimmung der fortschrittlichen Katholiken Lateinamerikas bereithielt.

Charakteristisch für den lateinamerikanischen Katholizismus ist, daß er sich nicht nur immer noch weitgehend im Zustand einer geistigen Erstarrung und in einer engen soziologisch-politischen Bindung an eine kleine konservativ-reaktionäre Oberschicht befindet, sondern daß sich die lateinamerikanischen Katholiken einer formalistischen Scheindemokratie, einem sozialen Elend und einem „monopollüsternen, degenerierten Kapitalismus" (Alexander Rüstow) gegenübersehen. Dabei fallen für die lateinamerikanischen Katholiken die besonderen Umstände, die im europäischen Katholizismus zu einer Ablehnung oder Indifferenz gegenüber der Demokratie geführt hatten, fort, während andererseits das christlich-missionarische Motiv zur Rückgewinnung einer weithin entchristlichten Unterschicht — angesichts des Ausmaßes des sozialen Elends und der fehlender Präsenz der Kirche in der Unterschicht — ein noch vielfach verstärktes Gewicht erhält.

Aus diesem Grunde wird die Forderung Maritains, sich für die „aktuelle soziale Verwirklichung der Wahrheit des Evangeliums" einzusetzen, zum Grundmotiv der Christlichen Demokratie Lateinamerikas. Dabei wird diese Forderung allgemein so verstanden, daß nur eine völlig neue Gesellschaftsordnung der Situation gerecht werde.

Die katholisch-soziale Bewegung in Lateinamerika sieht sich grundlegend anderen Verhältnissen gegenüber, als sie zu Beginn dieser Bewegung in Europa um die Jahrhundertwende herrschten. Lösungen im Sinne sozialen Paternalismus, wie sie manchen in Europa damals als Heilmittel schienen, schieden als Vorbild angesichts der überwiegenden Unverantwortlichkeit der führenden Schichten Lateinamerikas gegenüber den sozialen Fragen von vornherein aus. Karitative Bemühungen können wegen der riesigen Zahl der zu Betreuenden keinen grundlegenden Wandel bringen. Aber auch die Sozialpolitik nach dem Muster der europäischen Wohlfahrtsgesetzgebung hat ihr Prestige verspielt, weil sie durch ihre Planlosigkeit oft wesentlich zum Ruin der Wirtschaft und der öffentlichen Finanzen beigetragen hat und nur einer kleinen Schicht von Arbeitern zugute kommt.

Die Konzeption einer neuen Gesellschaftsordnung, wie sie von Maritain entworfen wurde, scheint aber nicht nur eine Lösung der sozialen Fragen Lateinamerikas zu ermöglichen, sondern entspricht auch dem Unbehagen der katholischen Intelligenz gegenüber dem Eindringen einer rational-kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung und technologisch-mechanischen Produktionsformen im lateinamerikanischen Kulturbereich. Eduardo Frei stellt als besonders wichtig heraus, daß die ordnungspolitischen Vorstellungen Maritains von der Art seien, daß in ihnen Qualität über Quantität, Arbeit über das Geld, das Menschliche über die Technik, die Erfahrung über das bloße Wissen und die Zusammenarbeit zwischen Menschen über das individuelle Macht-und Gewinnstreben gestellt werde Neben dem sozialmissionarischen ist das kulturkritische Motiv eine von Europa und den Vereinigten Staaten oft übersehene, aber dennoch äußerst virulente Antriebskraft für die katholische Sozialbewegung und die Christliche Demokratie Lateinamerikas. Es konstituiert für sie jenen spezifisch lateinamerikanischen Charakter, der anderen politischen Bewegungen, wie vor allem dem Sozialismus, fehlt und sie allzu sehr als europäische Importgüter erscheinen läßt, woraus sich auch ihre auf längere Sicht mangelnde Attraktion erklärt.

Wenn daher in diesem Sinne die christlich-demokratischen Parteien als Parteien „mari-tainistischer Konzeption" bezeichnet werden, dann bedeutet das, daß man sich zwar geistig verbunden fühlt mit der europäischen Tradition christlicher Sozialphilosophie, daß man aber von der Pionierrolle, in Lateinamerika das Konzept der neuen Gesellschaft unverfälscht und beispielgebend für die übrige Welt zu formen, überzeugt ist Die Christliche Demokratie ist bisher die einzige bedeutende Bewegung in der politischen Geschichte des Kontinents, die wirklich in einer tief eingeprägten kulturellen und philosophischen Substruktur gründet 2. Das programmatische Selbstverständnis der christlichen Demokraten Die innerhalb der europäischen christlich-demokratischen Parteien, wenigstens soweit sie ihre Wurzeln im politischen Katholizismus des Jahrhunderts haben, noch längst nicht ausdiskutierte Frage nach der Legitimität einer „christlichen Partei" findet bei der lateinamerikanischen Christlichen Demokratie keine Parallele, weil es sich bei diesen Parteien nie darum handeln konnte, kultur-und ordnungspolitische Vorstellungen des Katholizismus und der Kirche zu vertreten. Da vielmehr diese Parteien oft in heftigen offenen oder verdeckten Auseinandersetzungen mit der katholischen Hierarchie stehen und als bewußte Opposition gegen einen bis dahin allgemein akzeptierten traditionellen Katholizismus auftreten, verstehen sie sich immer und ausschließlich als politische Bewegung, die ihre Legitimität allein aus dem Faktum ihrer Existenz als politische Partei in einer demokratischen Staatsordnung beziehen. Der historisch zeitbedingte Charakter der Bewegung wird immer wieder unterstrichen. In der Christlichen Demokratie wird eine spezifische historische Antwort auf bestimmte aktuelle Zustände und Verhältnisse gesehen 19).

Der Bezug zum Christentum in dieser Bewegung ergäbe sich daraus, daß die Antwort aufgrund der ethischen Grundlegung des Verhaltens des Christen erfolge. In dem Augenblick, in dem die Ordnung der Welt überwiegend nach Prinzipien gestaltet werde, die mit der christlichen Ethik im Widerspruch ständen, sei der Christ, der es ernst nähme mit seiner Verantwortung, aufgerufen, seinerseits einen Ordnungsentwurf vorzulegen und für seine Durchsetzung zu kämpfen. Der gesellschaftliche Zustand Lateinamerikas stelle heute eine derartige Herausforderung dar, auf die praktizierende Christen in der Bewegung der Christlichen Demokratie eine Antwort zu finden suchen

Für die Programmatik der Christlichen Demokratie gäbe es drei Quellen. Und zwar erstens die Grundprinzipien der christlichen Philosophie, die zwar für den Christen absolute Forderungen, aber zu allgemein und auch metapolitischer Natur sind und darum noch kein politisches Programm als solches beinhalten Zweitens die katholische Soziallehre, von der man wissen müsse, daß sie in ihren offiziellen Dokumenten, soweit sie nicht die Grundsätze der christlichen Philosophie den Christen ins Gedächtnis zurückrufe, moralische Ermahnungen zum sozialen Handeln enthalte, die dem Politiker, Soziologen und Wirtschaftler bei seinen konkreten Entscheidungen helfen sollten, und zum anderen aber auch praktische Vorschläge, die in ihrer Konkretheit nie allgemein verbindlich sein könnten. Schließlich bekenne sich die Christliche Demokratie drittens zu Programmpunkten wie der demokratischen Staatsordnung, der pluralistischen Gesellschaft, dem Konzept integraler Sozial-und Wirtschaftsentwicklungspolitik und der internationalen Integration, die nicht als spezifisch christlich angesprochen werden könnten, wenngleich sie natürlich nicht beziehungslos zu den philosophischen Grundprinzipien und der katholischen Soziallehre stünden. Die Summe des programmatischen Denkens der Christlichen Demokratie bezeichnet Jaime Castillo als eine Frucht historischen Handelns von Menschen, die eine Synthese zwischen philosophischen Grundprinzipien und den Realitäten des Alltags zu finden suchen

Die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Christliche Demokratie Lateinamerikas als eine politische Bewegung begreift, die sich an den Grundprinzipien christlicher Philosophie und dem sozialen Denken der Kirche orientiert, macht sie frei zur politischen Aktion und bewahrt sie vor der Gefahr des Klerikalismus. Gleichzeitig macht diese Position die Christliche Demokratie auch für Kreise offen, die nicht katholisch sind. Obwohl andere Religionsgemeinschaften kaum eine Bedeutung in Lateinamerika haben, findet man in den Selbstdarstellungen der Christlichen Demokratie immer wieder den Hinweis, daß man keine konfessionell katholische Partei sein wolle, sondern sich einig fühle mit dem sozialen Denken vieler Protestanten Im Rahmen dieses Selbstverständnisses gibt es über die spezifischen Fragen, welche Konsequenzen aus den einzelnen Prämissen abzuleiten seien, erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Wie soll die neue Gesellschaftsordnung aussehen? 3. Die christliche Linke Die Autonomie des programmatischen Standorts und die daraus resultierende Distanz zur katholischen Soziallehre verstehen progressive Kreise als eine Herausforderung zum radikalen Ordnungsentwurf der „kommunitären" Gesellschaftsordnung, in dem alles Eigentum, soweit es als persönliches oder Familieneigentum nicht erforderlich sei, abgelehnt wird, vor allem jedoch jegliches Kapitaleigentum in Kollektiveigentum umgewandelt werden soll Der Wettbewerb solle als Antriebskraft der wirtschaftlichen Entwicklung durch den „kollektiven" Willen des Volkes ersetzt und die Gesellschaft auf „soziale Kameradschaft" gegründet werden. Es ist nicht von ungefähr, daß das Kriterium der Freiheitlichkeit der Gesellschaftsordnung bei den Anhängern des „Kommunitarismus“ zugunsten der Diskussion um den Charakter des Eigentums und der Eigentumsreform zurücktritt. Vor allem gerade auch unter den Studenten und jungen Arbeitern hat diese Diskussion eine Bedeutung angenommen, die alle anderen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fragen in den Hintergrund treten läßt und offenbar die Illusion hervorgerufen hat, daß mit dieser Reform alle sonstigen Probleme gelöst werden könnten. Neben der Bedeutung, die der Eigentumsfrage generell in den Dokumenten der katholischen Soziallehre zukommt, trägt dazu wohl vor allem die geradezu skandalöse Verteilung des Eigentums in Lateinamerika bei. Es liegt nahe, darin die Hauptursache der Rückständigkeit und Verelendung der breiten Volksschichten zu sehen. Im Kapitalismus — und damit auch in der kapitalistischen Form des Privateigentums an Produktionsmitteln — wird zudem ein ausländisches Import-produkt gesehen, das die nationale Unabhängigkeit und kulturelle Autonomie bedroht und sogar verhindert. In Verbindung mit der wirtschaftlichen und politischen Übermacht der Vereinigten Staaten und dem ständig wachsenden Unabhängigkeitsstreben erhält so die Eigentumsdiskussion eine nationalistische Färbung. Das Konzept der „kommunitären Gesellschaftsordnung" beginnt in Lateinamerika die gleiche Funktion anzunehmen wie der „afrikanische Sozialismus", nämlich die einer Ideologie, die gegenüber den kolonialen und neokolonialen Mächten einschließlich des Ostblocks eine deutliche Abgrenzung ermöglicht und so den Weg zur kulturellen Eigenständigkeit und nationalen Unabhängigkeit öffnet.

Das System des „Kommunitarismus" wird von Julio Silva und Jacques Chonchol als eine Gesellschaftsordnung beschrieben, in der Land und Produktionsmittel den Arbeitern gehören und damit die Überwindung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit erreicht werde. Privateigentum soll nur in der Form des Eigentums zum unmittelbaren persönlichen und familiären Unterhalt bestehen bleiben. Den Unterschied zum Sozialismus sehen die Verfechter des Kommunitarismus darin, daß der Staat im kommunitären System nur subsidiär tätig werde und die Selbstverantwortlichkeit und Selbstbestimmung der Arbeiter unantastbar seien.

Mit der kommunitären Eigentumsordnung soll die zentrale Planung der wirtschaftlichen Entwicklung, wenngleich auch auf der Basis dell mokratischer Entscheidungen, eingeführt werden. Neben dem kommunitären Eigentum soll es Staatseigentum an all denjenigen Produktionsmitteln geben, die für das Funktionieren der Gesellschaft erforderlich seien, die keine wirtschaftliche Rentabilität brächten, die politische Macht beinhalteten, wie z. B. Banken, Versicherungen, öffentliche Dienste und Rohstoffgewinnung, oder die aus sonstigen Gründen einen größeren Einfluß des Staates nahelegen würden. Der ideologische Aspekt der radikalen Linken verbindet sich mit der taktischen Forderung, vorzugsweise mit den revolutionären marxistischen und anarchistischen Linksgruppen zusammenzugehen und keinen Kompromiß mit der bestehenden Sozialordnung einzugehen. Seit 1968 hat sich in manchen Ländern die „Izquierda Cristiana" von der Christlichen Demokratie abgespaltet und geht ihren eigenen Weg. Am bedeutendsten ist die chilenische Gruppe unter dem ehemaligen Leiter der Agrarreform, Jacques Chonchol, der mit dem von ihm geführten Movi-miento de Acciön Populär Unida (MAPU) den sozialistischen Präsidentschaftskandidaten unterstützt. 4. Die gemäßigte Richtung In den großen Parteien Chiles, Venezuelas und El Salvadors hat sich bisher die gemäßigte Richtung durchgesetzt. Sie strebt danach, grundlegende Übel zu beseitigen und tritt für die Rechte der intermediären Gruppen wie Familie, Gemeinde, Betrieb, Region, für wirksame staatliche Planung, für Monopol-und Oligopolkontrolle, für eine breite Eigentums-streuung und bessere Verteilung des Sozialproduktes ein. Enrique Perez Olivares meint dazu in seiner „Einführung in die Christliche Demokratie", daß man zwar danach streben solle, eine vollkommene Ordnung der Gesellschaft zu erreichen, sich aber davor hüten müsse, zu glauben, man erreiche je dieses Ziel. Die Strukturen und Bedingungen einer Gesellschaft änderten sich ständig, so daß man gehalten sei, ihr gegenüber immer eine kritische Haltung einzunehmen. Man müsse sich davor hüten, utopisch zu denken. Christliche Demokraten seien als Christen verpflichtet, nur realisierbare Aktionen und Reformen — wenngleich vielleicht auf sehr lange Sicht — vorzuschlagen.

Die „gemäßigte" Richtung der christlichen Demokraten sieht den Kern der gesellschaftspolitischen Aufgaben pragmatisch in der Evolution der bestehenden Strukturen zu menschenwürdigeren und sozial gerechteren Zuständen. Angesichts der Probleme des städtischen und ländlichen Proletariats scheint es ihnen zunächst notwendig, der Ansicht entgegenzutreten, daß diese Menschen nicht zu selbstverantwortlichem Leben und entsprechenden Entscheidungen fähig seien. Der Mensch sei geradezu dadurch charakterisiert, daß er die Fähigkeit habe zu entscheiden, zu geben, zu nehmen und seinen Verstand zu gebrauchen. Darum müsse ihm erlaubt werden, in Freiheit in der Gemeinschaft zu leben; ihm stünde das Recht auf die Entfaltung seiner Persönlichkeit zu.

Das zu verfolgende bonum commune sei nichts anderes als die Gesamtheit der konkreten Bedingungen, die es jedem Menschen erlauben würden, in der Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen sich optimal zu entfalten. Darum gebe es zwischen einem so verstandenen bonum commune und dem Individualwohl keinen Widerspruch, wenngleich darauf hingewiesen werden müsse, daß dadurch auch die Anschauung, das Gemeinwohl sei nur die Summe der Einzelwohle, ebenso als falsch gebrandmarkt werde wie die totalitäre Auffassung von dem dem einzelnen übergeordneten Kollektivwohl.

Die Aufgabe christlich-demokratischer Politik wird hier also konkreter als die kurz-, mittel-und langfristige Aufgabe verstanden, eine für alle Schichten des Volkes sozial gerechte, menschenwürdige, aber vor allem auch freiheitliche Gesellschaftsordnung herbeizuführen. Der Gesichtspunkt der Freiheitlichkeit, in einem umfassenden Sinne verstanden, spielt im theoretischen Denken dieser Gruppe eine zentrale Rolle, nicht zuletzt auch als Gegenposition gegen alle faschistischen, etatistischen, paternalistischen, sozialistischen und kommunistischen Vorstellungen.

Der derzeitige Präsident von Chile, Eduardo Frei, wies schon als Senator und Führer seiner Partei vor Jahren immer wieder darauf hin, daß er die Ersetzung des Kapitalismus durch den Staatskapitalismus für den falschen Weg halte da er gerade dem Arbeiter zu den bestehenden nur neue Unfreiheiten bringe. Der einzig richtige Weg sei die Brechung der Macht der großen Monopole und Besitzprivilegien, die Schaffung breitgestreuten Eigentums und die Stärkung kooperativer Elemente in der Wirtschaftsordnung. Neuerdings wurde dieses Festhalten an einer freiheitlichen und sozialen Wirtschaftsordnung auf der Grundlage des privaten Eigentums von ihm im Gesetz zur Agrarreform bekräftigt.

Eine zusammenfassende Formel fand der Führer der peruanischen christlichen Demokraten, Hector Cornejo Chavez, in einem Referat auf der 5. Weltkonferenz der christlichen Demokraten in Lima „Der Entwicklungsprozeß muß das private Eigentumsrecht an den Produktionsmitteln respektieren, allerdings innerhalb folgender Grenzen: a) Bestimmte Güter oder Bodenschätze mit einer besonderen Bedeutung für das Gemeinwohl, deren Ausbeutung durch Private (für die Gesamtentwicklung) vorentscheidende Bedeutung hat und daher für die Demokratie gefährlich sein kann, muß der Staat direkt in seine Verfügungsgewalt nehmen. b) Der Zugang zum Eigentum an den Produktionsmitteln muß allen Mitgliedern der Gesellschaft offenstehen. c) Das Privateigentum ist nicht nur individuell, sondern auch korporativ auszuüben, was sich besonders für das landwirtschaftliche Eigentum in den Ländern empfiehlt, deren genossenschaftliche Tradition Formen der gemeinsamen Bewirtschaftung und Ausbeutung gangbar machen."

Der umfangreichen Diskussion über die Eigentumsfrage entspricht nicht die Auseinandersetzung über die Wirtschaftsordnung. Viele glauben offenbar, die Entscheidung über die Wirtschaftsordnung sei bereits mit der Entscheidung über die Eigentumsordnung gefallen. Hinzu kommt, daß Fragen der Wirtschaftsordnung vorwiegend als technisch funktionelle Probleme gesehen werden, zu denen sich von einem Denken in philosophischen Prinzipien aus wenig sagen läßt.

Dem Denkschema des Metapolitischen entspricht bei den christlichen Demokraten Lateinamerikas eine Betrachtung des Wirtschaftlichen als subpolitisches Problem. Die spezifischen Ordnungsfragen der Wirtschaft werden nicht erkannt. Dazu trägt allerdings auch in Lateinamerika der vorherrschende Einfluß von Wirtschaftswissenschaftlern wie Myrdal, Tinbergen, Keynes, Prebisch, der Marxisten und der rein mathematischen Schule bei So bleibt als spezifisch christlich-demokatische Aussage im wesentlichen nur die prinzipiell begründete Kritik am Liberalismus und Kollektivismus übrig. Vor allem am Liberalismus wird ausgiebig Kritik geübt.

Dabei zeigt sich, daß man sich nicht nur an den Auswüchsen und unsozialen Begleiterscheinungen des extremen Wirtschaftsliberalismus stößt, sondern daß auch hier die kulturelle Abwehrstellung gegen die als Verwirklichung des Materialismus gesehene Industriegesellschaft Nordamerika mitspricht. Vor allem Jaime Castillo aber auch andere weisen darauf hin, daß der Produktionsfortschritt nicht das letzte Ziel einer Gesellschaft sein dürfe. Darum könne auch nicht die Lösung der sozialen Frage durch den Produktionsfortschritt gefunden werden, sondern nur das allgemeine soziale Wohl für die Politik Maßstab sein.

In letzter Konsequenz wird durch eine derartige Anschauung der wirtschaftliche Fortschritt und damit jegliche Wirtschaftspolitik, die sich nur an ihm orientiert, als sekundär deklariert. Wirtschaftspolitik dürfte ausschließlich nach ihren Wirkungen auf den sozialen Zustand der Nation beurteilt werden. Natürlich sollte die Wirtschaft eine höchstmögliche Produktivität erreichen, sofern darunter nur nicht die sozialen und kulturellen Werte leiden. Die Art und Weise, wie das erreicht werden kann, wird den Experten überlassen, wobei sich eine deutliche Tendenz gegen freie marktwirtschaftliche Strukturen den christlichen Demokraten schon deshalb nahe-legt, weil sie befürchten, daß damit die Wirtschaft gegenüber dem vom Staat zu verfolgenden Sozialwohl autonom werden könnte. In der Diskussion, ob und wieviel Planung und Interventionismus es geben solle, interessieren zunächst darum nicht die Folgen für die wirtschaftliche Produktion, sondern die Frage, ob es das Sozialwohl erlaubt, der Wirtschaft überhaupt Autonomie zu geben.

Soweit der Staat in die Wirtschaft ordnend und planend eingreifen müsse, solle das im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaftsordnung geschehen. Die Konzeption des „Pluralismus" als entscheidendes Ordnungselement einer Gesellschaft ist vielleicht der wich-tigste Beitrag der christlichen Demokraten zum zeitgenössischen Denken Lateinamerikas. Viel mehr als in der Eigentumsdiskussion, die, wie gezeigt wurde, mehr Reaktion als eigenständiger Entwurf ist, scheint das pluralistische Konzept geeignet zu sein, den christlichen Demokraten den Weg in eine sehr konkrete und konstruktive eigenständige Ordnungspolitik zu öffnen. Dabei geht ihre Begriffsbestimmung des Pluralismus wiederum vorwiegend auf Maritain zurück

Wegen dem fast vollständigen Fehlen einer inneren Gliederung der Gesellschaft und der marginalen Existenz des größten Teiles der Bevölkerung dient das pluralistische Gesellschaftskonzept in Lateinamerika allerdings weit weniger als in Europa zur Verteidigung bestehender Sozialkörperschaften gegenüber dem wachsenden staatlichen Machtanspruch als vielmehr der aktiven Förderung intermediärer Gebilde. Familie, Gemeinde, Region, Gewerkschaft, Bauernverbände und Betriebs-gemeinschaften sollen danach in ihren Funktionen gefestigt und zu einer entsprechenden Mitberatung und Mitbestimmung an der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungspolitik des Staates herangezogen werden In diesem Sinne haben die Präsidenten Frei und Caldera als einen ihrer wichtigsten Programm-, punkte die Promociön Populär bezeichnet, die Bildung, Erziehungsarbeit und Strukturierung sozialer Gebilde in Nachbarschaften, Sozial-zentren usw. fördern soll.

Das Konzept einer pluralistischen Gesellschaftsordnung ist am ehesten geeignet, die eigentlichen Entwicklungskräfte des Kontinents im Rahmen der modernen sozialen Entwicklungstheorie zu wecken und zu nutzen Damit scheint es möglich zu sein, die oben dargestellten Schwächen des wirtschaftspolitischen Programms von einem anderen Ansatz aus erfolreich zu kompensieren. Wenn es nämlich stimmt, daß der Entwicklungsprozeß nicht so sehr nur wirtschaftlicher Natur, sondern vernehmlich ein sozialstruktureller Vorgang ist und darum zunächst vom Sozialen her die Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung geschaffen werden müssen, dann bietet der Ansatz der Promociön Populär viele Chan-cen. Gleichzeitig wird durch die soziale Ent-wicklungsund Erziehungsarbeit unter der marginalen Bevölkerung und durch die mit ihr gewonnenen konkreten Erfahrungen vielleicht am wirksamsten der utopischen Tendenz mancher Sozialtheoretiker begegnet.

Die pluralistische Ordnung schließt auch eine freiheitliche Staatskonzeption ein. Der Staat und die Nation seien nicht letzte Zwecke man dürfe ihnen nicht ein spezielles Gemeinwohl zuordnen. Der Staat sei nur der oberste Teil der politischen Gesellschaft, der Teil, der darauf spezialisiert sei, die Interessen des Ge-samts der politischen Gesellschaft zu erfüllen. Er sei eine Verbindung verschiedener Institutionen, ein von Experten regierter Organismus zur Ordnung des öffentlichen Wohles. Diese Staatsauffassung wird als „spezielle instrumentale Staatstheorie" bezeichnet, das heißt, der Staat ist danach nur ein Instrument, das dem Menschen zu dienen hat. Rafael Caldera spricht von einer „institutioneilen Konzeption", die auf der Verteidigung der Institutionen des Rechtsstaates, der Familie, der Kirche, Gemeinde, intermediären sozialen Gebilde, der Universitäten usw. beruhe. Der Pluralismus bedeutet so den Respekt des Staates vor der Institution und den Zielen der intermediären Organisation und die Schaffung von Wirkungsmöglichkeiten für diese Organisation. Der Staat erhält so lediglich subsidiäre „Funktion", er hat mit diesen Institutionen zusammen das Gemeinwohl zu verwirklichen und den Bedürfnissen der sie formenden Menschen zu dienen. Allein daraus erhält er die Legitimität seines Handelns und seine Strukturen. Die Verwandtschaft mit der europäischen pluralistischen Theorie ist evident. Im Gegensatz zu manchen Lehrmeinungen katholischer Sozialtheoretiker in Europa ist die lateinamerikanische Lehre jedoch frei von Anklängen an ständische Ideologien, da es hierfür keine Tradition gibt. Man versucht vielmehr, sich an den Notwendigkeiten einer Entwicklungsgesellschaft zu orientieren.

Ist das Konzept der pluralistischen Gesellschaftsordnung ein Bollwerk von innen gegen die Versuchungen des Kollektivismus, so ist das Konzept der solidarischen internationalen Gesellschaft, ebenfalls wieder in Anlehnung an Maritain, ein wichtiges Element gegen die Gefahr des Nationalismus. Man bekennt sich zu einer solidarischen internationalen Gesellschaft. Das schließt die Zustimmung zu supra-nationalen Lösungen ein und ermöglicht es so der lateinamerikanischen Christlichen Demokratie, zum Vorkämpfer einer lateinameri-kanischen Integration zu werden Dabei wird diese nicht im Sinne eines kontinentalen Supernationalismus verstanden, sondern sie soll nur die Ausgangsposition für ein umfassendes System sozialer Gerechtigkeit zwischen allen Völkern der Erde darstellen.

IV. Christliche Demokratie in der Bewährung

Der Triumph bei den Präsidentschaftswahlen in Chile 1964 und Venezuela 1968 bedeutet für die Christlichen Demokraten Lateinamerikas gleichzeitig auch die entscheidende Bewährungsprobe. Werden sie die großen Pläne, die sie hatten, in die Tat umsetzen können, wird sich ihre Doktrin, das geschlossene Konzept einer sozial gerechten, demokratischen Entwicklungsgesellschaft, realisieren lassen? Werden sie dem Schicksal früherer Reformbewegungen entgehen und sich durch die Macht nicht korrumpieren lassen? Werden sie den in der Opposition bewiesenen Zusammenhalt auch noch unter den Belastungen der Regierung aufrechterhalten?

Sowohl die Christlich-Demokratische Partei Chiles wie auch die venezulanische Partido Social Cristiano COPEI arbeiteten für die Wahl-kampagne umfangreiche Regierungsprogramme aus, die darlegten, welche Reformen sie im Falle ihres Wahlsieges durchführen wollten. In Chile brachte Präsident Frei auch sofort nach der Machtübernahme eine Reihe wichtiger Reformprojekte ein. Dabei stieß er aber auf den vereinten Widerstand der Rechten und Linken. Trotz des überwältigenden Wahlsieges ihres Präsidentschaftskandidaten Eduardo Frei gelang es auf Grund des chilenischen Verfassungssystems der PDC zu keiner Zeit, die Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses zu erringen 1961 1965 1969 Gesamt Gesamt PDC PDC PDC Senat 45 4 45 13 50 23*) Kammer 147 23 147 82 150 55 *) inzwischen durch Übertritte auf 20 reduziert Im Gegensatz zu anderen südamerikanischen Verfassungen sind die Möglichkeiten des chilenischen Präsidenten, sich über den Kongreß hinwegzusetzen, sehr gering. Das Handicap der christlichen Demokraten lag darin, daß sie sich einer streng verfassungsmäßigen Regierung verpflichtet sahen und keine kompromittierenden Absprachen mit den oppositionellen Parteien der Rechten und der Linken bzw. einzelnen Senatoren und Abgeordneten dieser Gruppierungen eingehen wollten. Linke und rechte Parteien waren sich aber in der Opposition gegen die neue Kraft einig: die Rechte, weil sie um ihre Privilegien fürchtete und gleichzeitig hoffte, bei einem Prestigeverlust der christlichen Demokraten bei den nächsten Präsidentschaftswahlen wieder die Mehrheit zu erlangen; die Linke, weil ein erfolgreicher Reformkurs der Regierung Frei ihre langfristigen Chancen erst recht eliminieren mußte. So kam es zu einer gemeinsamen Abwehrfront der linken und rechten Opposition.

Zahlreiche Gesetzes-und Reformvorlagen der Regierung blieben bereits in den ersten Monaten der neuen Regierung auf der Strecke. Hinzu kamen sehr bald innere Auseinandersetzungen unter den christlichen Demokraten, vor allem auch Spannungen zwischen den Fraktionen in Senat und Kammer sowie der Regierung. Die Partei war nach 1960 außerordentlich schnell gewachsen und hatte sich strukturell und programmatisch nie ganz gefestigt. Mit der Regierungsübernahme gingen viele der fähigen und altbewährten Politiker in die Regierung, während die Partei in den Händen der zweiten Linie verblieb. Nach fünf Jahren christlich-demokratischer Herrschaft in Chile bleibt folgendes Fazit: — Die Erneuerung der chilenischen politischen und gesellschaftlichen Ordnung, die grundlegende Strukturreform, welche die PDC versprach, ist nicht gelungen.

— Die wirtschaftliche Situation des Landes ist nach wie vor äußerst schlecht, sowohl was die Zahlungsbilanz, Währungsstabilität, Produktivitätszuwachs als auch das Mas15 seneinkommen betrifft. Dabei ist allerdings zu bemerken, daß die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes für eine ständig wachsende Bevölkerung nicht gut sind und daß Chile wiederholt während der derzeitigen Regierung von schweren Naturkatastrophen wie Erdbeben und Überschwemmungen heimgesucht wurde. — Das Prestige der demokratischen Staatsordnung, die Entwicklungshindernisse zu überwinden, ist weiter gesunken. Die antidemokratischen Tendenzen haben nicht nur auf der politischen Linken und in den marxistischen Gewerkschaften zugenommen, sondern auch innerhalb des bisher als verfassungstreu geltenden Militärs. — Die christlichen Demokraten haben sich gespalten; die sogenannte christliche Linke hat die Partei unter Führung des stellvertretenden Leiters der Agrarreform, Jacques Chonchol, verlassen. Damit ist allerdings die Flügelbildung innerhalb der Partei nicht gänzlich beseitigt worden; nach wie vor gibt es innerhalb der Partei Meinungsverschiedenheiten über den zukünftig einzuschlagenden Weg.

Trotz dieser negativen Bewertung muß festgehalten werden, daß die derzeitige Regierung eine Reihe von Änderungen und Reformen in Angriff genommen hat, die für das Land einen außerordentlichen Fortschritt bedeuten und langfristig seine innere Struktur grundlegend verändern werden. Dazu gehören: — Die Erfolge im Bereich des Erziehungswesens, vor allem der ländlichen Primärschulen. Hier ist es gelungen, die Zahl der die Schule besuchenden Kinder beträchtlich zu erhöhen und einen langfristigen Beitrag zur Volksbildung und Einbeziehung der marginalen Schichten in die Gesellschaft zu leisten. — Der Beginn einer effektiven Agrarreform, vor allem in den Regionen mit traditionellem Großgrundbesitz. Bis zum Ende der Regierungsperiode werden etwa 50 °/o des verteilbaren Landes in den Besitz von Genossenschaften oder Einzelbauern überführt worden sein. — Die Erschließung des Landes durch Verkehrsmittel und Kommunikationsmedien wurde wesentlich vorangetrieben. — Der vollständige bzw. mehrheitliche Erwerb der größten Kupferminen Chiles durch den chilenischen Staat. Diese innen-und außenpolitisch wichtige Maßnahme berücksichtigte das Eigentumsrecht und vermied einen Zusammenstoß mit den USA. Eines der hauptsächlichsten Hindernisse für ein freundschaftliches Zusammenwirken mit den USA und eines der innenpolitisch gefährlichsten Probleme wurde damit eliminiert. — Außenpolitisch ist es gelungen, mit Peru, Bolivien, Ecuador und Kolumbien den Andenpakt zu schließen, der die unabdingbare großräumigere Wirtschaftsintegration besser vorantreiben wird als die lateinamerikanische Freihandelszone. — In der Sozialgesetzgebung, insbesondere im sozialen Wohnungsbau, in der Ausweitung der Krankenversicherung auf die Angestellten, in der Ausdehung des Rechtes zur gewerkschaftlichen Organisation auf die Landarbeiter und in der Besteuerung der Unternehmergewinne u. a. mehr wurden wichtige Fortschritte erzielt. — Das Gesetz über die Errichtung von Nachbarschaftsräten bringt zusammen mit der Förderung von Mütterzentren, Sozialzentren und Sportstätten eine bessere Integration der Unterschichten in die chilenische Gesellschaft und dynamisiert diese Schichten für den Entwicklungsprozeß.

Es bleibt offen, ob diese Errungenschaften ausreichen, um den Weg des chilenischen Volkes zu einer demokratischen, sozial ausgeglichenen und wirtschaftlich dynamischen Gesellschaftsform zu sichern. Es ist auch fraglich, ob der chilenische Wähler diese Erfolge der christlichen Demokraten bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im September 1970 honoriert und dem christlich-demokratischen Kandidaten Radomiro Tomic das Vertrauen schenkt. Was auf jeden Fall bleibt, sind entscheidende gesellschaftspolitische Impulse, die auch eine anders orientierte neue Regierung nicht mehr rückgängig zu machen vermag.

Trotz der großen Verluste bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und Senat im März 1969 kann die Prognose gewagt werden, daß sich die Christlich-Demokratische Partei Chiles mit mindestens 30 °/o der Stimmen als stärkste politische Kraft des Landes behaupten wird und daß keine zukünftige demokratische Regierung Chiles an dieser Kraft vorbeigehen kann. Der maßgebliche politische Einfluß wird bleiben, weil die PDC in der derzeitigen chile-nischen Konstellation eine Schlüsselstellung einnimmt. Die christlichen Demokraten haben den Ruf erworben, eine sozial orientierte Partei zu sein; allerdings eine Partei, die es ihrerseits auch nicht vermochte, die Strukturen und Bedingungen des Landes von Grund auf in kürzester Zeit zu wandeln.

In Venezuela sind die politischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Durchsetzung christlich-demokratischer Reformpläne vom numerischen Kräfteverhältnis her weit ungünstiger als in Chile Der Präsident wurde hier nur mit 0, 9 °/o Vorsprung und insgesamt mit 29, 1 °/o der Stimmen gewählt; im Senat und Abgeordnetenhaus verfügt die Partei über weniger als ein Drittel der Sitze. Auch hier kam es zunächst zu einer gemeinsamen Opposition von links und rechts. Doch liegt in dieser Situation auch ein Vorteil. Die Erwartungen auf einen grundlegenden Wandel sind in Venezuela viel geringer und die Regierung kann auf mehr Verständnis für ihre Schwierigkeiten hoffen. Zudem ist in Venezuela die extreme Linke wesentlich schwächer und auch viele der sehr zersplitterten kleineren Parteien zeigen eine geringe Konsistenz. So mag es hier eher dazu kommen, daß sich doch eine beschränkte politische Zusammenarbeit mit den anderen Parteien, vor allem mit der zuvor regierenden sozialliberalen Accin Democrätica, ergibt und schrittweise die entsprechenden Gesetze verabschiedet werden können.

Die Verfassung des Landes gibt außerdem dem Präsidenten die Möglichkeit, weite Bereiche mit Hilfe von Dekreten zu regeln. Insbesondere könnte das etwa für die wichtige Verwaltungsreform Bedeutung haben. Und schließlich sind die akuten ökonomischen Probleme des Landes dank der Einkünfte aus der Erdölförderung bei weitem nicht so gravierend wie in anderen lateinamerikanischen Ländern, wenngleich nicht verkannt werden darf, daß sich langfristig die Lage des Landes sehr verschlechtern wird, wenn es nicht gelingt, Änderungen in der Wirtschaftsstruktur herbeizuführen. Die neue Regierung ist auf jeden Fall bisher sehr behutsam vorgegangen und hat eine Reihe von krisenhaften Entwicklungen innerhalb der Armee und der Universität sowie einen Generalstreik der Lehrer mit bemerkenswertem Geschick gemeistert. Es ist noch zu früh, ein abschließendes Urteil über die ersten Monate der Regierung abzugeben, aber es hat den Anschein, daß es der COPEI noch besser gelingen wird als der Christlich-Demokratischen Partei Chiles, sich als maßgebliche Partei der demokratischen Mitte im politischen Leben Venezuelas dauerhaft zu verankern.

Chile und Venezuela sind die Prüfsteine für die Christliche Demokratie Lateinamerikas. Ihre Erfolge und Mißerfolge wirken unmittelbar auf die Parteien der anderen Länder. Es ist hier nicht der Ort, die allgemeine politische Lage des lateinamerikanischen Subkontinents im einzelnen zu analysieren. Die Krise der Demokratie hat sich in diesem Kontinent verschärft. Die Hoffnung, daß demokratische Reformparteien in der Lage wären, die ungegeheuren Probleme des Kontinents in irgendeiner Weise zu lösen, ist erschüttert worden. Marxistische und anarcho-sozialistische Bewegungen gewinnen unter der Jugend und der Arbeiterschaft Anhang, während andererseits nasseristische Militärkreise in vielen Ländern entstanden sind und in einigen bereits die Macht übernommen haben. In dieser Situation kann ohne Übertreibung gesagt werden, daß sich mit dem Erfolg oder Mißerfolg der Christlichen Demokratie auch das Schicksal der Demokratie in Lateinamerika entscheiden wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu John J. Johnson, Political Chanqe in Latin America. Emergence of the Middle Sectors, Stanford (USA) 1958.

  2. Dazu Boris Goldenberg, Gewerkschaften in Lateinamerika, Hannover 1964.

  3. Robert F. Lamberg, Der Lateinamerikanische Populismus. Ein aktueller politischer Überblick. Studien und Berichte aus dem Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Manuskript, Bad Godesberg 1966.

  4. Carlos S. Fayt, La Naturaleza del Peronismo, Buenos Aires 1967.

  5. P. Gonzales Casanova, La Democracia en Mexico, Mexico 1965.

  6. Zur laufenden Dokumentation der Christlichen Demokratie Lateinamerikas vgl. Christlich-Demokratisches Panorama. Monatsschrift der EUCD, Rom, Via del Plebiscito 107.

  7. Allgemeine Übersichten der Christlichen Demokratie in Lateinamerika geben: Edward J. Williams, Latin American Christian Democratic Parties, Knoxville (USA) 1967; Congresos Internacionales Democrata-Cristianos, Santiago de Chile 1957; Angelo Bernassola (Hrsg.), Democrazia Cristiana. Realt Internazionale, Roma (Italien) 1968; Christliche Demokratie in Lateinamerika, Herder-Korrespondenz (20) 1966, Heft 2, S. 86 ff.; Werner Allemeyer, Christliche Demokratie in Europa und Lateinamerika, Bonn 1964.

  8. Ricardo G. Parera, Democracia Cristiana en el Argentina. Los Hechos y las ideas, Buenos Aires 1967.

  9. Zur Geschichte der christlichen Demokratie in Chile vgl. Ricardo Boizard, La Democracia Cristiana, Santiago 1963; Georges Grayson, El Partido Demöcrata Cristiana de Chile, Buenos Aires 1968; Cole Blasier, Chile in Transition, Washington D. C. (USA) 1966; Peter Molt, Sozialrevolution und Demokratie in Chile, in: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Jahrbuch 1966, Köln 1966; Norbert Lechner, Der Demokratisierungsprozeß in Chile. Versuch einer Interpretation der politischen Entwicklung. Diss. Freiburg/Breisgau, Manuskript 1969.

  10. Zeitweilig Innenminister der Regierung Frei.

  11. Frei durch seine Frau Maria Tagte.

  12. Unter dem Wirken von Manuel Garreton war die Ideologie meist von der belgischen Rexistenbewegung und der spanischen Falange beeinflußt. Vor allem durch das Wirken von Bernardo Leighton wandelte sich die Organisation zu einer betont demokratischen und sozial-christlichen Bewegung. Vgl. Federico G. Gil, El Sistema Politico de Chile, Santiago 1969, S. 287 f.

  13. Neben den bereits erwähnten Parteien wurden christlich-demokratische Parteien in Kolumbien (PSDC 1959), Costa Rica (1962), Ecuador (1964), El Salvador (1961), Nicaragua (1957), Panama (1960), Dominikanische Republik (1961) und Paraguay (1960) gegründet. In Uruguay kam es 1962 zur Um-gründung der Union Cvica in die Christlich-Demokratische Partei.

  14. Alejandro Magnet in Congresos Internacionales Democrata-Cristianos, S. 14: „In den Büchern von Jasques Maritains hat eine ganze Generation die Philosophie eines neuen Christentums und integralen Humanismus getrunken."

  15. Die wichtigsten Beiträge dazu sind: Jaime Castillo, Las fuentes de la Democracia Cristiana, Santiago de Chile 1963; Carlos Naudon und Ismael Bustos, El pensamiento social de Maritain, Santiago de Chile 1966; Eduardo Frei und Ismael Bustos, Maritain entre nosotros, Santiago de Chile 1966.

  16. Eduardo Frei, Pensamiento y accion, Santiago de Chile 1958, S. 56.

  17. So Enzo Devoto C., Asi naciö la Democracia Cristiana. Ediciones Rebeides No. 3, Santiago de 'ule 1935.

  18. Williams, S. 270.

  19. Jaime Castillo, S. 9; Enrique Perez Olivares, Introducciön a la democracia Cristiana, Caracas 1964, Manuskript; Radomiro Tomic, Franco Mon-toro u. a., Con los Pobres de America, Lima 1962, S. 15.

  20. Jaime Castillo, S. 9; Tomic, Montoro u. a., a. a. O., an zahlreichen Stellen.

  21. Enrique Perez Olivares, S. 1 ff., S 30.

  22. Jaime Castillo, S. 11.

  23. Ebenda, S. 10.

  24. Julio Silva und Jacques Chonchol, El desarollo de la nueva sociedad en America Latina, Santiago de Chile 1965.

  25. Enrique Perez Olivares, S. 14.

  26. Eduardo Frei, S. 42.

  27. Hector Cornejo Chavez, Desarollo y justicia social — 5. Conferencia Mundial Demöcrata Cristiana, Publicacion 2, März 1966, S. 17.

  28. Walter Frielingsdorf, Lateinamerika im Aufbruch. Soziale und wirtschaftliche Leitbilder, Hamburg 1962.

  29. Jaime Castillo, S. 44 ff.

  30. Jacques Maritain, Humanisme Integral, Paris 1936, S. 175 ff.

  31. Eduardo Frei, S. 41.

  32. Es stimmt in weiten Teilen mit der sozialen Entwicklungstheorie, wie sie neuerdings von Richard F. Behrendt, Soziale Strategie für Entwicklungsländer, Frankfurt a. M. 1965, vorgelegt wurde, überein.

  33. Carlos Naudon und Ismael Bustos, S. 88 ff.; Eduardo Frei, S. 40 ff.

  34. Rafael Caldera, Revoluciön y juventud, Caracas 1965, S. 13.

  35. Rafael Caldera, El bloque latinoamericano, Santiago de Chile 1961; Eduardo Frei, S. 214 ff.

  36. Wahlergebnisse bei Peter Molt a. a. O.; für 1969 vgl. „El Mercurio", Santiago de Chile, 4. März 1969.

  37. Wahlergebnisse bei Manfred Rabeneick, Machtwechsel in Venezuela, in: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Jahrbuch, Köln 1969, S. 219 f.

Weitere Inhalte

Peter Molt, Dr. phil., geb. 11. September 1929, Studium der Politischen Wissenschaft, Soziologie und Geschichte. 1960 bis 1966 Leiter der Politischen Akademie Eichholz der Konrad-Adenauer-Stiftung. 1966 bis 1969 Geschäftsführer des Deutschen Entwicklungsdienstes, seither Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg und z. Z. Gutachtertätigkeit für das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Veröffentlichungen u. a: Lateinamerika in der internationalen Politik, in: Lateinamerika — Eine Analyse seiner gegenwärtigen Politik, Bonn 1965; Lateinamerika — Eine politische Länderkunde (zusammen mit G. A. Maurer), Berlin 19702; Personelle Entwicklungshilfe, Mannheim 1969.