I. Vorbemerkung
Von einem Politikwissenschaftler, der sich einem neuen Hörerkreis vorstellt, darf erwartet werden, daß er sich der Behandlung akuter Probleme nicht entzieht. Und so glaubte ich, recht zu handeln, als ich vor einem halben Jahr als Gegenstand meiner Antritts-vorlesung an dieser Universität das Thema „Der Streit um die Anerkennung der DDR im Licht der politischen Wissenschaft" vorschlug. Damals war ich mir allerdings der Gefahr nicht voll bewußt, daß man in dieser Beziehung des Guten auch zuviel tun kann. Ich unterschätzte die Möglichkeit, daß ein Dozent von der Aktualität der seinem Vorlesungsgegenstand zugrunde liegenden Ereignisse auch überrollt werden kann. Zuerst ist mir dies im Oktober des vergangenen Jahres zugestoßen, als Bundeskanzler Brandt in seiner Regierungserklärung einige Prinzipien für die Behandlung der Beziehungen zwischen BRD und DDR verkündete, die dieses Verhältnis nicht unwesentlich veränderten. Zum zweiten Male ist mir dies geschehen, als im Dezember des vergangenen Jahres Walter Ulbricht seinen Vertragsentwurf für die Regelung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten vorlegte. Und es ist mir schließlich zum dritten Mal passiert, als Bundeskanzler Brandt in seinem Bericht über die Lage der Nation vom 14. Januar 1970 seine Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 nicht unwesentlich modifizierte.
Ich werde im folgenden von dem Stand der Auseinandersetzungen zwischen Brandt und Ulbricht ausgehen, wie sie zur Jahreswende bestanden, jedoch an mehr als einer Stelle auf den Bericht zur Lage der Nation vom 14. Januar 1970 zu sprechen kommen.
Aufgrund des Duells zwischen den leitenden Staatsmännern der BRD und der DDR ist der Streit um die Anerkennung der DDR aus einer am Rande liegenden Erörterung mehr oder weniger konkreter Eventualitäten zu einem Schnittpunkt der europäischen Politik geworden. Sind doch diese Fragen gegenwärtig auf das engste mit dem Problem verknüpft, wie die Erstarrung überwunden werden kann, die seit zwei Jahrzehnten den Beziehungen zwischen den Ostblockstaaten und den Staaten der atlantischen Allianz ihren Stempel aufgedrückt hat.
II. Die unterschiedliche Einstellung zum Fortbestand Deutschlands als Ganzem
Das Verständnis der Auseinandersetzungen über die Anerkennung der DDR wird dadurch erheblich erschwert, daß die Antagonisten von verschiedenen Prämissen ausgehen.
Die Bundesrepublik vertritt die Ansicht, daß las Völkerrechtssubjekt „Deutschland" nicht untergegangen sei. Sie argumentiert, daß, solange kein schlüssiger Beweis dafür erbracht ist, „Deutschland als Ganzes" im Einklang mit den Normen des Völkerrechts zu bestehen aufgehört habe, es im völkerrechtlichen Sinne als fortbestehend angesehen werden müsse. Demgegenüber hat Walter Ulbricht in seiner Marathonrede vom 14. Dezember 1969 dargelegt, daß es angesichts der fortgeschrittenen Auseinanderentwicklung von BRD und DDR eine Illusion sei, ein künstliches gemeinsames Dach „so ungefähr im Sinne des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation" konstruieren zu wollen. Vielmehr sei durch die einschlägige Redewendung Bundeskanzlers Brandt „alles wieder kaputtgemacht worden, was als Ansatz einer Entspannung hätte dienen können".
Das traditionelle Völkerrecht
Angesichts der Tatsache, daß im Jahre 1945 drei der vier Besatzungsmächte (das heißt die Siegermächte einschließlich der Sowjetunion und ausschließlich Frankreichs) im Potsdamer Abkommen vom
Bar jeder effektiven Regierungsgewalt überlebte Deutschland als Völkerrechtssubjekt seinen totalen Zusammenbruch, weil das völkerrechtliche Prinzip respektiert wurde, daß temporäre Ohnmacht allein nicht ausreicht, um einem völkerrechtlich anerkannten Staat die rechtliche Existenz für dauernd abzusprechen. Nach übereinstimmender Ansicht der Besatzungsmächte und des besetzten Landes war die Totalbesetzung Deutschlands keine debellatio, die zur Auflösung Deutschlands führen sollte und geführt hat 4).
Die kritische Frage lautet nicht, ob Deutschland als Subjekt des Völkerrechts den Zweiten Weltkrieg überstanden hat; sie kann eindeutig im bejahenden Sinne beantwortet werden. Die kritische Frage lautet vielmehr, ob „Deutschland als Ganzes" den kalten Krieg überstanden hat. Die Antwort hängt davon ab, ob durch Errichtung der BRD und der DDR eine Zerstückelung Deutschlands eingetreten ist.
So schemenhaft die Gestalt „Deutschland als Ganzes" heute auch auf den ersten Blick erscheinen mag, so kann sie doch nicht weggedacht werden, wenn man an der Kardinalforderung von Willy Brandt festhalten will, daß BRD und DDR für einander nicht Ausland sind. Am Rande sei bemerkt, daß nach Artikel 2 des Generalvertrags vom 26. Mai 1952 5) nach wie vor unter den alliierten Vorbehalt u. a. alle „Deutschland als Ganzes" betreffenden Fragen fallen, dessen Fortbestand stillschweigend vorausgesetzt wird.
Solange (wie dies in China, Korea und Vietnam der Fall ist) die beiden Regierungen eines geteilten Staates den Anspruch darauf erheben, dessen alleinige legitime Regierung darzustellen (wenn nicht gar sich mit ihm identifizieren), gehen sie stillschweigend von der Fort-existenz des Gesamtstaates aus. Dies war ursprünglich auch in Deutschland der Fall, obwohl — im Gegensatz zur Bundesrepublik — die DDR sich niemals zu der Identitätstheorie bekannt und keinen Alleinvertretungsanspruch erhoben hat
Die Bereitschaft der BRD, die DDR zwar nicht völkerrechtlich anzuerkennen, ihr jedoch ausdrücklich den Charakter eines „Staates in Deutschland" zuzuerkennen, stellt den Versuch dar, die DDR nach Deutschland zurückzu-führen. Die Forderung der DDR, de jure von der BRD völkerrechtlich anerkannt zu werden, und ihre Bereitschaft, de jure die BRD völkerrechtlich anzuerkennen, zielen darauf hinaus, beide Staaten aus Deutschland herauszuführen, das heißt, durch eine ausdrückliche Überein-kunft der beiden deutschen Teilstaaten Deutschland als Rechtseinheit aufzulösen.
Dies wäre eine der einschneidensten Zäsuren der gesamten deutschen Verfassungsgeschichte.
III. Relevante und irrelevante Aspekte der Anerkennungsfähigkeit
Der Streit um die Anerkennung der DDR nähert sich seinem Höhepunkt. Walter Ulbricht — terrible simplificateur — hat seine Karten offen auf den Tisch gelegt. DDR und BRD, so sagt er, sind beide souveräne Staaten; sie besitzen demzufolge beide die Anerkennungsfähigkeit und müssen daher beide anerkannt werden. Der Umstand, daß sie verschiedene Wirtschaftsund Sozialsysteme repräsentieren, schließe — so legt er ständig dar — eine wechselseitige Anerkennung nicht aus; sie verhindere vielmehr, daß andere als völkerrechtliche Beziehungen — und insbesondere „Beziehungen besonderer Art", wie sie Willy Brandt vorschlägt — zwischen ihnen bestehen. Daher entspreche es der geltenden Völkerrechtsordnung, daß die DDR und ihre Grenzen von der BRD de jure anerkannt werden, wie denn auch die DDR bereit sei, eine Anerkennung der BRD und ihrer Grenzen auszusprechen. Das Verlangen Ulbrichts, die Anerkennung der DDR ausdrücklich auch auf deren Grenzen zu erstrecken, schafft angesichts der Tatsache, daß die DDR nach wie vor den Standpunkt vertritt, Berlin als Ganzes liege auf dem Territorium der DDR, Probleme besonderer Art.
In der Theorie akzeptieren BRD und DDR — insoweit im wesentlichen übereinstimmend — die Prinzipien, die die Staatenpraxis und die Völkerrechtswissenschaft als unabdingbare Voraussetzungen der Anerkennungsfähigkeit eines Staates entwickelt haben
Unabdingbare Voraussetzungen der Anerkennungsfähigkeit eines Staates sind: 1. die Unabhängigkeit und Stabilität der Staatsgewalt; 2. die Effektivität und Stabilität der Staatsregierung; 3. die ausreichende Rückendeckung der Staatsgewalt durch das Staatsvolk.
Anerkennungsfähig sind lediglich souveräne Staaten, die über einen reibungslos funktionierenden Staatsapparat verfügen, dem bei Ausübung der ihm obliegenden Hoheitsfunktionen kein nennenswerter Widerstand entgegengesetzt wird. Anerkennungsfähig sind nur Staaten, die nach außen unabhängig und nach innen befriedet sind, die keiner fremden Kontrolle unterworfen sind, jedoch ihren eigenen Staatsapparat wirksam zu kontrollieren vermögen. Um den Mindestanforderungen eines anerkennungsfähigen Staates zu genügen, muß ein Staat mit souveräner Effektivität ausgestattet sein. Ob die DÜR diesen Mindestanforderungen genügte, war lange Zeit der Haupt-gegenstand des Streites um die Anerkennung der DDR; die souveräne Effektivität der DDR wird heute von der BRD nicht mehr bestritten.
Auch in der Theorie ist es sehr viel problematischer, was nicht als unabdingbare Voraussetzung der Anerkennungsfähigkeit eines Staates anzusehen ist. Die Staatenpraxis und die Völkerrechtslehre vertreten im allgemeinen die Auffassung (die als herrschende Meinung bezeichnet werden kann), daß als unabdingbare Voraussetzung der Anerkennungsfähigkeit nicht anzusehen sind: 1. die verfassungsrechtliche Legalität der Staatsregierung; 2. eine im Einklang mit den jeweils vorherrschenden Vorstellungen stehende Legitimität der Staatsgewalt; 3. ihre Übereinstimmung mit generell akzeptierten zivilisatorischen und politischen Mindestanforderungen.
Die landläufige Rechtfertigung der Annahme, Effektivität eines Regimes sei der allein maßgebliche und Legitimität eines Regimes ein nicht beachtlicher Faktor für die Anerkennung eines neuen Staates,, stützt sich auf die Erwägung, ein Staat dürfe über die Legitimitätsprinzipien nicht zu Gericht sitzen, von denen sich andere Staaten leiten lassen; andernfalls sei die Universalität der Völkerrechtsgemeinschaft bedroht, der Willkür Tür und Tor geöffnet und könne Anerkennung dazu mißbraucht werden, Einfluß auf die innere Struktur eines Anerkennungsanwärters auszuüben, das heißt aber, in dessen innere Angelegenheiten zu intervenieren
Die These, es käme für die Anerkennungsfähigkeit eines Staates nicht darauf an, ob seine Staatsgewalt dem demokratischen Legitimitätsprinzip entspricht, wird am Ende dieser Darlegungen unter dem Gesichtspunkt behandelt werden, ob und inwieweit sie durch den Streit um die Anerkennung der DDR verifiziert worden ist. Oder konkret gesprochen: Ist es angängig, bei der Entscheidung über die Anerkennungsfähigkeit der DDR das in breiten Kreisen der deutschen Bevölkerung stets wiederholte Argument unberücksichtigt zu lassen, die DDR könne nicht anerkannt werden, weil ihre Regierung nicht auf freien und demokratischen Wahlen beruht?
Obwohl aufgrund der Rede des Bundeskanzlers vom 28. Oktober 1969 und des Berichts über die Lage der Nation vom 14. Januar 1970 in der politischen Realität sich die Haltung der BRD zur Anerkennung der DDR nicht geändert hat und die Regierung Brandt nach wie vor die völkerrechtliche Anerkennung der DDR strikt ablehnt, ist in der theoretischen Begründung dieser Haltung ein grundlegender Wandel eingetreten.
IV. Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 28. Oktober 1969 und sein Bericht zur Lage der Nation vom 14. Januar 1970
Während vor dem 28. Oktober 1969 die BRD den staatlichen Charakter der DDR auch in ihren amtlichen Erklärungen verneinte, das heißt, ihr die Anerkennungsfähigkeit absprach, geht die Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 von der Existenz von „zwei Staaten in Deutschland" aus. Konnte es aufgrund der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 noch zweifelhaft sein, ob die BRD die DDR generell als anerkennungsfähig anspricht, so hat der Bericht vom 14. Januar 1970 insoweit die letzten Bedenken ausgeräumt. Die Ablehnung der Anerkennungsunfähigkeit der DDR durch die BRD ist der Tendenz der Brandtschen Ostpolitik zum Opfer gefallen, aus dem Reich der Illusionen und Fiktionen auszubrechen und den politischen Fakten offen Rechnung zu tragen.
Die entscheidenden Sätze in der Regierungserklärung Brandts vom 28. Oktober 1969 lauten wie folgt: „Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung kann nicht in Betracht kommen.“ — „Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein.“
Die vermutlich bewußt mAhrdeutigen Formulierungen bedürfen der Interpretation, die im nachfolgenden in Form von Thesen erfolgen soll: 1. Die Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 geht von der Prämisse der Fortexistenz Deutschlands in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 aus. In den Materialien zum Bericht zur Lage der Nation (Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode, Drucksache VI/233) ist insofern eine Änderung eingetreten, als es im 4. Absatz der Einleitung heißt: „Fast 25 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des dritten Reichs ist festzustellen: Die Deutsche Nation ist auf dem Boden Deutschlands in seinen tatsächlichen Grenzen von 1970 in zwei Staaten gegliedert. Hinzu kommt das besondere Besatzungsgebiet Berlin, dessen Teile unbeschadet der alliierten Verantwortlichkeit in besonderer Weise jeweils einer der beiden staatlichen Ordnungen zugeordnet sind.“ 2. In der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 diente die Hypothese von dem völkerrechtlichen Fortbestand „Deutschlands als Ganzem" als Rechtfertigung für die These, daß BRD und DDR nicht füreinander Ausland sind. In dem Bericht vom 14. Januar 1970 ist nicht mehr die Rede von „Deutschland als Ganzem" als Dach über den beiden Staaten in Deutschland, um so mehr jedoch von der Deutschen Nation als Klammer zwischen diesen Staaten. Brandt hat es ausdrücklich unterlassen, die Annahme zu „vertiefen", die nationale Klammer sei geeignet zu bewirken, daß die beiden Staaten füreinander nicht Ausland sind. Da diese Annahme in den Kategorien des traditionellen Völkerrechts schwerlich zu erklären ist, muß unterstellt werden, daß die BRD an der Hypothese des Fortbestands eines „Deutschland als Ganzem" festhält. 3. Die Bundesrepublik erachtet sich als souveränen Staat, der zu dritten Staaten normale völkerrechtliche Beziehungen unterhält. Als ein „Staat in Deutschland" beansprucht sie jedoch einen Sonderstatus und strebt die Begründung „von Beziehungen besonderer Art" zur DDR an, die nach der Formulierung vom 28. Oktober 1969 nicht völkerrechtlicher Natur sind. In dem Bericht vom 14. Januar 1970 wird zwar an dem Postulat von Beziehungen besonderer Art zwischen den beiden Staaten festgehalten; es wird daneben aber die Existenz und die Geltung der allgemeinen völkerrechtlichen Regeln für die Beziehungen der beiden Staaten untereinander nicht in Abrede gestellt. 4. Die Bundesrepublik versagte in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 der DDR die völkerrechtliche Anerkennung mit der Redewendung, daß sie „nicht in Betracht kommen kann"; sie spricht ihr jedoch nach wie vor ausdrücklich, den Status eines „Staates in Deutschland" zu. 5. Indem die Bundesrepublik seit dem 28. Oktober 1969 die Existenz der DDR als eines „Staates in Deutschland" nicht mehr in Zweifel stellt, gibt sie den Anspruch auf, mit „Deutschland als Ganzem" identisch zu sein. Damit entfällt die theoretische Basis für den Alleinvertretungsanspruch. 6. In der Erklärung vom 28. Oktober 1969 wird zu der Frage des völkerrechtlichen Status der Deutschen Demokratischen Republik außerhalb des Bereichs „Deutschland" keine Stellung genommen. Dies ist zum erstenmal in einer Anweisung Außenministers Scheel vom 3. November 1969 erfolgt, in der klargestellt wird, daß die DDR auch außerhalb Deutschlands den regulären Status eines souveränen Staates besitzt. Heißt es doch in dieser Anweisung wörtlich: „. . . wenn wir dabei trotz aller Vorbehalte der staatlichen Existenz der DDR Rechnung tragen, so schließt der Sondercharakter der innerdeutschen Beziehungen die völkerrechtliche Anerkennung der DDR aus.“
Diese Interpretation wurde durch den Bericht vom 14. Januar 1970 bekräftigt.
Indem die Bundesrepublik den staatlichen Charakter der DDR nicht mehr bestreitet, hat sie stillschweigend alle Einwände gegen die Anerkennung der DDR fallengelassen, die auf deren angeblicher Anerkennungsunfähigkeit beruhten. Die BRD hält die These, die DDR sei ein zentral-europäisches Manschuko, nicht länger aufrecht, das heißt, sie stützt die Ablehnung der Anerkennung der DDR nicht mehr auf das Argument, die DDR sei ein von der Besatzungsmacht künstlich geschaffenes, nichtautochthones Gebilde, dem jegliche Unabhängigkeit fehle und das daher nichts anderes als eine Sowjet-Besatzungszone — eine SBZ — sei. Sie beruft sich auch nicht mehr auf das Argument, die DDR könne nicht anerkannt werden, weil ihr mangels ausreichender Rücken-deckung in der Bevölkerung die notwendige Effektivität bei der Handhabung der Regierungsgewalt fehle.
Alle diese Argumente sind unglaubwürdig geworden, seitdem das Regime der DDR sich nach dem Mauerbau konsolidiert hat.
Handelte es sich für die Bundesrepublik lediglich darum, eine Rechtfertigung für ihr negatives Ziel, das heißt aber die Versagung der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR einleuchtend zu begründen, so könnte sie sich ihre Aufgabe sehr viel einfacher machen als durch den Hinweis auf den Fortbestand des reichlich konstruiert wirkenden Gebildes „Deutschland als Ganzes". Offensichtlich ist die Bundesrepublik, wie namentlich aus dem Bericht über die Lage der Nation vom 14. Januar 1970 hervorgeht, jedoch bemüht, davon loszukommen, sich ständig in Negationen zu bewegen. Sie ist sich der Gefahr bewußt, daß ihre Politik steril erscheinen mag. Durch den Ruf nach der Begründung von Beziehungen „besonderer Art" zu der DDR ist sie bemüht, den Weg für eine positive Regelung des Verhältnisses der beiden Staaten in Deutschland zu ebnen. Für die Bundesrepublik rückt daher die Anerkennungsfrage aus dem Zentrum in die Peripherie ihrer Deutschlandpolitik. Andererseits glaubt die BRD, auf der Nichtanerkennung der DDR bestehen zu müssen, weil sie fürchtet, sich den Weg zu einer anderweitigen Lösung der Deutschlandfrage zu verbauen, die ausreichend in Rechnung stellt, daß, was immer auch mit dem deutschen Staat geschehen mag, dafür Sorge getragen werden muß, daß die deutsche Nation als Einheit fortbesteht. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Brandtschen Deutschlandpolitik, die auch der Analyse ihrer völkerrechtlichen Argumente zugrunde zu le-gen ist — in voller Erkenntnis der Tatsache, daß bei der Behandlung derart vitaler Probleme Recht und Politik nicht säuberlich voneinander zu trennen sind.
V. Die Rede Ulbrichts vom 14. Dezember 1969 und sein Vertragsentwurf vom 21. Dezember 1969
Die DDR, die kategorisch die Fortexistenz eines Völkerrechtssubjekts „Deutschland", „Deutschland als Ganzes", „Deutsche Nation" oder wie immer man dieses Gebilde nennen mag, verneint, glaubt, sich auf die Feststellung beschränken zu können, daß bei Anwendung der traditionellen, auf Gewohnheitsrecht und Staatenpraxis beruhenden zwischenstaatlichen Normen des Anerkennungsrechts der von ihr eingenommene Standpunkt einwandfrei gerechtfertigt und ihr Interesse völlig gesichert sei.
Es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß die völkerrechtliche These vom Fortbestand Deutschlands als Ganzem mehr ist als ein aus Romantik und Ressentiment geborenes Gedankenspiel. Sie hat einen höchst realistischen Kern. Solange Deutschland als Ganzes de jure als fortbestehend angesehen wird, ist für die BRD die DDR, soweit es sich um den gewerblichen Warenverkehr handelt, Zollinland, wie denn auch das gleiche umgekehrt gilt
Damit taucht aber die Frage auf, ob hier nicht einer der Schlüssel für Ulbrichts Anerkennungspolitik zu suchen ist. Denn, je lauter und kompromißloser er nach der Anerkennung ruft, desto gewisser kann er sein, daß sich an dem Status quo nichts ändert, und desto überzeugender wirkt das Alibi, dessen er zur Aufrechterhaltung freundschaftlicher Beziehungen zu seinen osteuropäischen Verbündeten bedarf.
Es ficht Ulbricht offensichtlich wenig an, daß die stereotype Berufung auf ausschließlich traditionell legitimierte Normen des Völker-rechts,wie sie am deutlichsten wohl in der Rede vom 14. Dezember 1969 zutage trat, schwerlich mit der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie in Einklang zu bringen ist. Letztere besagt, daß, soweit das Völkerrecht nicht auf internationalen Verträgen beruht, die auch von den „fortschrittlichen" Staaten gebilligt sind, es notwendigerweise nichts anderes darstellen kann als den ideologischen überbau über die feudalistisch-kapitalistisch-imperialistische Vergangenheit und Gegenwart. Und sollte nicht der Versuch, durch eine freie Vereinbarung zwischen BRD und DDR zu einer Lösung aller anstehenden Probleme zu gelangen, marxistisch-leninistischem Völkerrechtsdenken gemäßer sein als die sture Berufung auf das positive Völkergewohnheitsrecht, dessen ausbeuterischen Charakter zu betonen während langer Jahrzehnte ein Hauptdogma sowjetischer Rechtstheorie und Rechtspraxis gewesen ist?
Die einleuchtendste Erklärung für die innige Zuneigung der DDR zu dem positiven Völker-recht dürfte sein, daß diese Liebe so jungen Datums ist. An ihrem pragmatischen Charakter kann nicht der leiseste Zweifel aufkommen.
Selbst wenn man von diesen ideologischen Erwägungen absieht, kann nicht in Abrede gestellt werden, daß die unkritische Anwendung des traditionellen Völkerrechts auf das Deutschlandproblem von höchst zweifelhaftem Wert ist. Die Lage, die im Jahre 1945 in Deutschland entstand, war schlechthin beispiellos. Man kann einer beispiellosen Situation jedoch nicht allein dadurch Herr werden, daß man sie mit Hilfe von Methoden zu meistern versucht, die auf Tradition, Übungen und Gewohnheitsrecht basieren. Hieraus ergibt sich, daß auch heute noch die Anwendung des traditionellen Völkerrechts auf die mit der Lösung der Deutschlandfrage verbundenen Konflikte und Kontroversen zwischenstaatlicher Natur höchst problematisch ist — jedenfalls sehr viel problematischer, als dies in den Erklärungen und Reden eines terrible simplificateur in Erscheinung tritt.
Der Streit um die Anerkennung der DDR ist zur Stunde durch das Nebeneinander der unverändert sterilen Haltung Walter Ulbrichts und der zunehmend flexiblen Haltung Willy Brandts gekennzeichnet. Es ist daher unmögich, eine Aussage darüber zu machen, ob die Fronten sich während des vergangenen halben Jahres aufgelockert oder versteift haben.
Die Politik der BRD beruht auf der Erwartung, daß die DDR auf die Dauer den grundlegenden Wandel nicht übersehen kann, der mit dem Regierungswechsel in Bonn eingetreten ist.
Die Politik der Stärke gehört ebenso der Vergangenheit an wie die Ideologie des kalten Krieges. Im Bereich der Deutschlandpolitik ist unter die Ära Adenauer der Schlußstrich gezogen. Willy Brandt hat in seinem Bericht vom 14. Januar 1970 gesagt, daß „die Stunde der Wahrheit" gekommen sei. Wie läßt es sich „in der Stunde der Wahrheit" miteinander vereinbaren, der DDR den Charakter eines Staates zuzuerkennen und ihr die Anerkennung als Staat abzuerkennen? Diese Frage kann befriedigend nur beantwortet werden, wenn mit kurzen Worten auf das Wesen und die Bedeutung der völkerrechtlichen Anerkennung unter den gegenwärtig obwaltenden Verhältnissen eingegangen wird.
VI. Zur Theorie der völkerrechtlichen Anerkennung
Der amerikanische Völkerrechtler Philip Marshall Brown hat in einem im Jahre 1950 veröffentlichten Artikel über die Rechtsfolgen der Anerkennung die folgenden einleitenden Bemerkungen gemacht: „Kein Zweig des Völkerrechts ist so übel mißverstanden und so überflüssigerweise verwirrt worden, wie dies bei dem Recht der Anerkennung neuer Staaten und neuer Regierungen der Fall ist. Von den Diplomaten ist Anerkennung dazu verwandt worden, alles zu bedeuten, was ihnen gerade in den Kram paßt. Es kann einfach nicht in Abrede gestellt werden, daß Anerkennung auf das schändlichste als eine Waffe zwecks Ausübung diplomatischen Drucks und als ein Mittel der Intervention mißbraucht worden ist. In nur allzu vielen Fällen hat sich für die Gerichte Anerkennung als ein unlösbares Rätsel und haben sich ihre Entscheidungen als widerspruchsvoll und als konfus erwiesen. Für die Politologen stellt Anerkennung eine Art Spielzeug dar; ihnen macht es besondere Freude, abstrakte Probleme rein theoretischer Art aufzurollen."
Die höchst unbefriedigende wissenschaftliche Erfassung des Anerkennungsphänomens ist um so beklagenswerter, als Anerkennung im Zentrum allen völkerrechtlichen Denkens über den Staat steht.
Der verstorbene englische Völkerrechtsgelehrte und Richter am Internationalen Gerichtshof Hersch Lauterpacht hat in einem im Jahre 1944 veröffentlichten Artikel über die Anerkennung von Staaten diesen Sachverhalt in den folgenden Sätzen zusammengefaßt: „Das Problem der Anerkennung berührt das Leben der Staaten in ihren vitalsten Aspekten. In der Gestalt der Anerkennung seiner Staatlichkeit tritt es einem jeden Staat in dem Augenblick entgegen, in dem er zum erstenmal in der internationalen Arena auftritt; in der Gestalt der Anerkennung seiner Regierung konfrontiert das Problem einen Staat in seinen nationalen Krisen, die durch einen revolutionären Bruch in der rechtlichen Kontinuität seiner verfassungsmäßigen Existenz hervorgerufen sind; und schließlich spielt das Problem in Gestalt der Anerkennung einer bürgerkriegführenden Partei in Zeiten passionierter Erregung eine maßgebliche Rolle, wenn eine Nation auf den Schlacht-feldern des Bürgerkriegs eine Lösung für die in ihrem Inneren mit Leidenschaft ausgefochtenen Zusammenstöße sucht, gleichwie ob sie ideologisch oder interessenmäßig bedingt sind."
Die zunächst paradox erscheinende Haltung eines souveränen Staates, einem anderen Staat zwar die Anerkennungsfähigkeit nicht abzusprechen, ihm aber dennoch die Anerkennung zu versagen, steht in keiner Weise im Widerspruch zur Staatenpraxis und zu der Völkerrechtslehre. Sie ist vielmehr die Folgeerscheinung dessen, was man den dualistischen Charakter der Anerkennung nennen kann; stellt doch die Anerkennung gleicherweise eine Kategorie des Völkerrechts und der Politik dar.
Der belgische Völkerrechtslehrer Charles de Visscher — weitgehend mit Alfred Verdross übereinstimmend
Während das Völkerrecht festlegt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit einem Staat die Anerkennungsfähigkeit zugesprochen werden kann, entscheiden politische Erwägungen darüber, ob er die Anerkennungseignung besitzt, das heißt aber, ob es im Interesse des über die Anerkennung entscheidenden Staates liegt, eine Anerkennung auszusprechen. In ein und demselben Akt werden daher zwei Entscheidungen gefällt, die mittels grundlegend verschiedener Methoden zustande kommen. In dem mangelnden Verständnis dieses Sachverhalts liegt die Wurzel zahlloser Mißverständnisse über das Anerkennungsphänomen.
Es widerspricht dem Völkerrecht, einem Anerkennungsanwärter die Anerkennung zu gewähren, wenn er die Anerkennungsfähigkeit nicht besitzt; dies wäre eine unzulässige Einmischung in die internen Angelegenheiten eines souveränen Staates. Es steht jedoch im Einklang mit dem Völkerrecht, einem Anerkennungsanwärter die Anerkennung zu versagen, obwohl er anerkennungsfähig ist. Hierzu genügt es im allgemeinen, daß aus politischen Erwägungen dem über die Anerkennung entscheidenden Staat die Bejahung der Anerkennungseignung nicht opportun erscheint. Nach herrschender Meinung gibt es weder ein Recht auf noch eine Pflicht zur Anerkennung.
Die „Stunde der Wahrheit" hat zu der Erkenntnis geführt, daß, weil die DDR ein Staat ist, ihre Anerkennung völkerrechtlich nicht verboten ist. Die Stunde der theoretischen Besinnung hat zu der Erkenntnis geführt, daß, obwohl die DDR ein Staat ist, ihre Anerkennung völkerrechtlich nicht geboten ist. Da im Fall der DDR das Völkerrecht weder ein Anerkennungsgebot noch ein Anerkennungsverbot enthält, bietet — abweichend von der von Ulbricht vertretenen Ansicht — das Völkerrecht keine Handhabe für die Entscheidung, ob die DDR anerkannt werden soll oder nicht. Für diese Entscheidung ist vielmehr ausschließlich und allein der Politiker zuständig, der sich beim Fällen dieser Entscheidung einzig und allein von politischen Erwägungen leiten lassen soll.
Zur politischen Entscheidung steht die Frage:
Ob durch Anerkennung der DDR nachgeholt werden soll, was sich einzugestehen man allzu lange unterlassen hat, nämlich daß durch Errichtung der DDR und der BRD Deutschland seit langem zerstückelt und auch als Völkerrechtssubjekt untergegangen ist; oder ob durch Nichtanerkennung der DDR der Irrtum vermieden werden soll, durch Sanktionierung der politischen Spaltung Deutschlands auch dessen nationale Einheit aufs Spiel zu setzen.
VII. Anerkennung als ein Problem der praktischen Politik
Trifft aber die Annahme zu, daß es im freien Ermessen eines jeden Staates steht, ob er einen anerkennungsfähigen Staat anzuerkennen bereit ist, dann stellt es auch — zumindest im Prinzip — kein völkerrechtliches Unrecht dar, wenn er eine solche Anerkennung weniger aus sachlichen als aus rein politischen Erwägungen unterläßt.
Seit dem Ersten Weltkrieg — und namentlich seit Errichtung der Sowjetunion — häuften sich die Fälle, in denen Staaten aus rein politischen Motiven die Anerkennung versagt wurde. Damit entstand die Gefahr, daß im zwischenstaatlichen Verkehr sich gefährliche Lük-ken bilden könnten — besonders, wenn es sich nicht um mittelamerikanische Zwergstaaten, sondern um Weltmächte wie Rußland handelte. Dies galt vornehmlich so lange, als noch die Ansicht vorherrschte, ein nicht-anerkannter Staat sei für den Staat, der ihm die Anerkennung versagte, rechtlich und faktisch nicht existent.
Der wirtschaftliche Schaden, der aus einer lang anhaltenden Nicht-Anerkennung eines Groß-staates erwuchs, war für den die Anerkennung verweigernden Staat häufig nicht minder groß als für den nicht-anerkannten Staat. Hatte sich gegenüber Zwerg-und Kleinstaaten Lateinamerikas Nicht-Anerkennung als ein vorzüglich wirksames Mittel der Dollardiplomatie erwiesen, so erwies sie sich Weltmächten gegenüber mehr und mehr als ein Bumerang.
In Reaktion auf die zuweilen grotesken Folgen einer mit Ressentiment beladenen Nicht-Anerkennungspolitik setzte sich zunehmend die Ansicht durch, daß auch nicht-anerkannte Staaten, daß heißt De-facto-Regime
Angesichts dieser Lage fragt es sich, welche Bedeutung außerhalb des Bereichs des diplomati-sehen Zeremoniells und des internationalen Prestiges der völkerrechtlichen Anerkennung heute noch zukommt. Sollte sich zu guter Letzt herausstellen, daß die Kontroverse über die Anerkennung der DDR in Wirklichkeit ein Streit um des Kaisers Bart ist — ein Schein-problem, das noch am besten dazu geeignet ist, als Camouflage für die Austragung ernsthafter Konflikte zu dienen?
Vor einer solchen Annahme muß nachdrücklichst gewarnt werden. Schon allein das Prestigeproblem sollte nicht unterschätzt werden. Mögen Konflikte, die aus dem Verstoß gegen einen Ehrenkodex entstehen, typische Erscheinungsformen einer aristokratischen Gesellschaft sein, so können emotionale Reaktionen auf fortgesetzte Diskriminierungen (oder das, was als Diskriminierung empfunden wird) sich als nicht minder gefährlich erweisen, namentlich, wenn sie auf einem zutiefst verlagerten Minderwertigkeitskomplex beruhen.
Nicht minder wichtig ist es, die Reaktion in Rechnung zu stellen, die in Ost und West die endgültige und formale Besiegelung der deutschen Teilung, die in einer De-jure-Anerkennung impliziert ist, nach sich ziehen würde. Ulbricht gibt sich mit einer De-facto-Anerkennung nicht zufrieden. De-facto-und De-jure-Anerkennung unterscheiden sich dadurch voneinander, daß die erstere provisorischen Charakter trägt, während die letztere unwiderruflich, das heißt aber endgültig ist. Heißt es doch in der Brüsseler Resolution des Instituts für Völkerrecht vom April 1936 — der international zwar keine bindende, jedoch eine richtungweisende Bedeutung beigemessen wird —: „Recognition de jure is irrevocable; it ceases to have effect only in case of the deiinite disappearance of the essential elements whose conjunction was established at the time of recognition."
Vor allem dürfen die Nebenwirkungen nicht außer acht gelassen werden, die die Anerkennung hervorzurufen geeignet ist. Es muß genügen, das Wort „Berlin" zu nennen. Auf eine d ^taillierte Behandlung dieses äußerst komplizierten Fragenkomplexes muß hier verzichtet werden.
VIII. Anerkennungsfähigkeit, Anerkennungseignung, Anerkennungswürdigkeit
Der oben erwähnte Völkerrechtssatz, es stehe einem jeden Staat frei, nach Belieben die Anerkennungseignung eines anerkennungsfähigen Staates zu verneinen, bedarf der Einschränkung. Stellt eine derartige Verneinung einen Ermessensmißbrauch, einen Willkürakt dar, so ist sie völkerrechtswidrig.
Es fragt sich jedoch, ob es nicht Grundsätze der Völkerrechtsordnung gibt, die es rechtfertigen, einem anerkennungsfähigen Staat selbst dann die Anerkennungseignung abzusprechen, wenn prima facie die Nichtanerkennung als Ermessensmißbrauch erscheint, etwa weil über einen Zeitraum von Jahren und Jahrzehnten die Anerkennung verweigert worden ist. Konkret gesprochen: Wenn die Ansicht vertreten wird, die Nichtanerkennung der DDR durch einen dritten Staat ließe sich nicht aufrechterhalten, weil sie ein Jahrzehnt und länger praktiziert werde, gibt es dann Prinzipien, die es ermög-17 liehen, der Ansicht entgegenzutreten, die überlange Verweigerung der völkerrechtlichen Anerkennung sei unhaltbar und deshalb völkerrechtswidrig 18a)?
Es gibt im geltenden Völkerrecht nicht nur eine Anerkennungs-, sondern auch eine Nicht-Anerkennungsdoktrin
Hierzu schreibt Dahm in seinem Völkerrechtslehrbuch: „Ansätze zu einem neuen, diesmal nicht verfassungsrechtlichen, sondern völkerrechtlichen Legitimismus enthält die sogenannte Stimson Doctrin."
In seinem Beitrag zum Wörterbuch des Völker-rechts geht Wilfried Schaumann noch einen Schritt weiter und vertritt die Ansicht, daß im Bereich des völkerrechtlichen Anerkennungsrechts ein neues Prinzip dahin gehe, daß Tatbestände, „die in Verletzung völkerrechtlicher (im Gegensatz zu staatsrechtlichen) Vorschriften zustande gekommen sind, nicht anerkannt werden"
Das Gewaltanwendungsverbot, das auch in den Satzungen der UN seinen Niederschlag gefunden hat, ist das markanteste, jedoch keineswegs einzige Beispiel eines völkerrechtlichen Legitimismus im Sinne von Dahm und Schaumann. Es fragt sich, ob die völkerrechtliche Legitimismustheorie auch auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker anwendbar ist, wobei mit Nachdruck betont werden soll, daß das völkerrechtliche Legitimismusprinzip sich auf das zwischenstaatliche, das staatsrechtliche Legitimismusprinzip sich auf das innerstaatliche Verhalten eines souveränen Gemeinwesen bezieht und beide sich nicht notwendigerweise decken.
Um etwaige Mißverständnisse auszuschließen, sei ausdrücklich hervorgehoben, daß das geltende Völkerrecht keinen Anhaltspunkt für die Annahme bietet, ein Staat sei nicht anerkennungsfähig, weil seine Errichtung und sein Fortbestand gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker verstoße — so wünschenswert eine solche Regel auch sein mag. Das geltende Völkerrecht schließt jedoch die These nicht aus, daß eine Entscheidung, durch die anerkennungsunwürdigen Staat die Anerkennungseignung abgesprochen wird, nicht als Ermessensmißbrauch qualifiziert werden kann. Ein Staat, der einen Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht toleriert, handelt nicht willkürlich.
Aus dem vorstehenden lassen sich die folgenden Grundsätze ableiten:
Einem seine Anerkennung begehrenden politischen Herrschaftsverband muß die Anerkennung versagt werden, wenn er nach Maßgabe des Völkerrechts nicht als anerkennungsfähig angesprochen werden kann, weil er die Merkmale eines souveränen, unter einer effektiven Regierung tunlichst reibungslos funktionierenden Staates nicht erfüllt; kann die Anerkennung versagt werden, wenn er nach dem freien Ermessen des über die Anerkennung entscheidenden Staates aufgrund politischer Zweckmäßigkeitserwägungen nicht als anerkennungsgeeignet angesehen wird, es sei denn, diese Entscheidung beruht auf Willkür; soll die Anerkennung versagt werden, wenn er trotz Bejahung seiner Anerkennungsfähigkeit und Anerkennungseignung nicht als anerkennungswürdig angesehen werden kann, weil er mit dem Makel völkerrechtswidriger Illegitimität behaftet ist.
Oder knapp zusammengefaßt:
Einem Anerkennung begehrenden Staat muß die Anerkennung versagt werden wegen mangelnder Anerkennungsfähigkeit; kann die Anerkennung versagt werden wegen mangelnder Anerkennungseignung; soll die Anerkennung versagt werden wegen mangelnder Anerkennungswürdigkeit.
IX. Selbstbestimmungsrecht der Völker und Anerkennungspolitik
Bundeskanzler Brandt hat in seinem Bericht an die Nation vom 14. Januar 1970 die Selbstbestimmung als einen „unverlierbaren Orientierungspunkt" bezeichnet und ihr eine fundamental wichtige Bedeutung für die Lösung der Deutschlandfrage zugesprochen. Der Oppositionsführer Kiesinger, der insoweit mit dem Bundeskanzler voll und ganz übereinstimmte, hat an die Bundestagsresolution vom 26. September 1968 erinnert, in der es wörtlich heißt: „Der deutsche Bundestag wird zu keiner Zeit und unter keinen Umständen davon abgehen, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker zentraler Grundsatz der internationalen Politik sein muß und durch keine militärische Macht gebeugt werden darf."
Kanzler und Oppositionsführer konnten sich für die ihren Ausführungen stillschweigend zugrunde liegenden These, das Selbstbestimmungsrecht stelle eine Erscheinungsform des völkerrechtlichen Legitimismusprinzips dar, nicht nur auf die Artikel 1 und 53 der Charta der Vereinten Nationen, sondern auch auf die am'16. Dezember 1966 von der Generalver-Sammlung der UN einstimmig angenommenen Konventionen über wirtschaftliche, soziale, kulturelle sowie über bürgerliche und politische Rechte berufen. An der Spitze dieser völkerrechtlichen Grundrechtskataloge findet sich der lapidare Satz: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung."
Man sollte sich jedoch keiner Täuschung darüber hingeben, daß es einen einheitlichen Selbstbestimmungsbegriff nicht gibt und daß das Selbstbestimmungsprinzip in Deutschland etwas anderes bedeutet als in den meisten Ländern der westlichen Welt. In Deutschland ist es während mehr als einem Jahrhundert nicht nur dazu verwandt worden, das Postulat nach einem einheitlichen Reich der Deutschen zu verwirklichen; es ist auch dazu benutzt, oder besser wohl ausgenutzt, worden, rassische und völkische Minderheiten als Stoßtrupp für die Desintegration multinationaler Staaten zu verwenden mit dem Ziel, imperialistische Pläne zu verwirklichen. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist durch den Nationalsozialismus und dessen Vorgänger heillos diskreditiert worden.
Demgegenüber muß betont werden, daß es außerhalb Deutschlands vornehmlich dazu gedient hat und heute noch dazu dient, den Angehörigen einer durch ein gemeinsames politisches Bewußtsein geformten Staatsnation die Möglichkeit zu eröffnen, ihr Schicksal autonom in einem einheitlichen staatlichen Verband zu gestalten. Diese Version des Selbstbestimmungsrechts, die auf die Declaration of independence zurückgeht und die mit den ethnisch-rassischen Verirrungen der Vergangenheit nichts zu tun hat und besser wohl als Selbstbestimmungsrecht der Nationen bezeichnet werden sollte, hat durch den Emanzipationskampf der Dritten Welt eine neue Würde erhalten.
An diese Version des Selbstbestimmungsrechts, in deren Zeichen mehr als eine Milliarde Menschen ihre staatliche Neuformung gefunden hat, sollte angeknüpft werden, wenn heute von Selbstbestimmungsrecht der Völker die Rede ist
Die von Ulbricht geforderte De-jure-Anerkennung der DDR würde gegen deren Willen die Teilung einer einheitlichen Staatsnation in zwei Staaten der gleichen Nation sanktionieren — eine Lösung, die vielleicht unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt werden kann, hierdurch werde das Gleichgewicht Europas besser ausbalanciert und das Mißtrauen gegen ein überstarkes Deutschland gedämpft. Man sollte sich keinen Täuschungen darüber hingeben, daß diese Erwägungen in Ost-und Westeuropa einen breiten Widerhall gefunden haben und heute noch finden. Mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker lassen sie sich nicht in Einklang bringen.
Praktisch bedeutsam dürfte die hier vorgetragene These, es sei möglich, einen Staat wegen Verstoßes gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker für anerkennungsunwürdig zu erklären, insofern sein, als sie der Bundesregierung eine neue Begründung für ihre Aufforderung an dritte Staaten eröffnet, der DDR die Anerkennung zu versagen.
Die „Stunde der Wahrheit" kann auch vor der Hallstein-Doktrin nicht haltmachen. Sie basierte auf der Annahme, daß, weil „die soge-nannte DDR" kein Staat sei, es auf deutschem Territorium nur einen Staat gebe: die BRD, die mit „Deutschland als Ganzem" identisch sei. Hieraus wurde gefolgert, daß die völkerrechtliche Anerkennung der DDR eine Verletzung der Souveränität der BRD und daher ein völ -kerrechtliches Delikt darstelle. Die BRD sei daher berechtigt, gegen dritte Staaten, die die DDR anerkennen, völkerrechtliche Repressalien, wie z. B.den Abbruch diplomatischer Beziehungen, zu verhängen.
Seitdem die BRD den staatlichen Charakter der DDR nicht mehr bestreitet ist es nicht angängig, dritte Staaten eines völkerrechtlichen Delikts zu bezichtigen, weil sie einen Staat anerkannt haben, dessen Existenz die BRD nicht in Abrede stellt. Die Hallstein-Doktrin ist der am 28. Oktober 1969 und am 14. Januar 1970 in Erscheinung getretenen Neuorientierung der deutschen Ostpolitik zum Opfer gefallen.
Wenn aber die BRD jeden Versuch, die Nichtanerkennung der DDR seitens dritter Staaten durch völkerrechtliche Repressalien zu verhindern, aufgegeben hat, schließt dies keineswegs aus, daß sie nicht befugt sei, sie hierzu zu überreden, Es ist ihr nicht verwehrt, unter Bezugnahme auf das Legitimismusprinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker die DDR als anerkennungsunwürdig zu bezeichnen und darauf hinzuweisen, daß, gleichgültig wie lange sie anhält, die Nichtanerkennung der DDR schon allein aus diesem Grund nicht als völkerrechtlicher Willkürakt qualifiziert werden kann.
X. Effektivität und Legitimität als Faktoren zwischenstaatlicher Anerkennungspolitik
Die Annahme, einem Staat (bzw. einer Regierung) müsse die Anerkennung versagt werden, wenn er seinem Ursprung und seinem Gesamt-charakter nach nicht den Mindestanforderungen entspricht, die der zur Anerkennung aufgerufene Staat für eine legitime Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt als unerläßlich ansieht, widerspricht der herrschenden Meinung der Völkerrechtslehre. Nach ihr ist nicht die Normativität, sondern die Faktizität der Regierungsgewalt das allein maßgebliche Kennzeichen, wobei bemerkt werden darf, daß unter Normativität bisher ausschließlich vom staatlichen Legitimitätsprinzip unter Nichtbeachtung des völkerrechtlichen Legitimismusprinzips ausgegangen wird.
Mit seltener Klarheit ist die hier behandelte Problematik in einer am 21. März 1951 von der englischen Regierung im Unterhaus abgegebene Erklärung herausgestellt worden
Die Anerkennung einer Regierung, so heißt es in der Erklärung vom 21. März 1951, hänge nicht davon ab, ob der Charakter des Regimes die Billigung der königlichen Regierung finde. „The recognition of a government de jure or de facto should not depend on whether the character of the regime is such as to command His Majesty’s Government’s approval."
Maßgeblich für eine Bejahung der Anerkennungsfähigkeit sei vielmehr allein, ob die in Frage kommende Regierung bzw.der seine Anerkennung fordernde Staat effektive Kontrolle über den überwiegend großen Teil seines Territoriums in der Gegenwart ausübt und aller Wahrscheinlichkeit nach in der Zukunft ausüben wird: „The conditions under international law for the recognition of a new regime as the de facto government are that the new regime has in fact effective control over most of the States Territory and that this control seems likely to continue."
So apodiktisch auch in den Lehrbüchern des Völkerrechts behauptet wird, mangelnde staatsrechtliche Legitimität sei kein Grund zur Verneinung der Anerkennungsfähigkeit, so offenkundig ist es doch, daß in der politischen Realität bei der Entscheidung von Anerkennungsfragen das staatsrechtliche Legitimitätsprinzip stets und von neuem maßgeblich in Erscheinung tritt. Im Rechtsbewußtsein des deutschen Volkes — und das gleiche dürfte für andere westliche Demokratien gelten — spielt bei der Erörterung von Anerkennungsfragen der Faktor Effektivität der Staatsregierung bestenfalls eine untergeordnete und der Faktor Legitimität der Staatsgewalt eine überragend große Rolle. Hätte man in den vergangenen Jahren in der BRD durch Meinungsumfrage festzustellen versucht, warum die öffentliche Meinung der Bundesrepublik die Versagung der Anerkennung der DDR gebilligt hat, so hätte man die fast einmütige Antwort erhalten, die Ulbricht-Regierung stehe im Widerspruch zu den Anforderungen einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie. Diese Diskrepanz zwischen Recht und Rechtsbewußtsein bedarf der historischen und poli-tologischen Erklärung, die jedoch einer künftigen Studie vorbehalten bleiben muß.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs tauchte die Frage auf, ob die Amerikaner, die sich nach wiederholten Schwankungen seit der Roosevelt-Periode wieder zum Effektivitätsprinzip bekannt hatten, an ihm festzuhalten bereit waren, als es darum ging zu entscheiden, welche De-facto-Regierung in Nord-und Süd-Korea, in Ost-und Westdeutschland, vor allem aber in Festland-China und in Formosa sie anzuerkennen bereit war.
Es ist ein historisches Faktum von erheblicher Bedeutung, daß die USA nach dem Zweiten Weltkrieg nicht starr am Effektivitätsprinzip festgehalten, sondern in Anerkennungsfragen dem Prinzip der demokratischen Legitimität eine erhebliche Bedeutung beigemessen haben. Dies erfolgte das erste Mal in einer von den USA inspirierten Resolution der UN vom 12. Dezember 1948, die sich auf Korea bezog.
In mehr als einer Beziehung haben die Vorgänge in Korea als Präzedenzfälle für die Behandlung der unterschiedlichsten politischen und administrativen Probleme in den geteilten Ländern Asiens und Europas gedient. Die Korea-Resolution der Vereinten Nationen, deren entscheidende Sätze in die amerikanische Anerkennungserklärung der südkoreanischen Regierung vom 1. Januar 1949 übernommen worden sind, beruft sich für deren Anerkennungsfähigkeit sowohl auf das Effektivitätsais auch auf das Legitimitätsprinzip; sie bezeichnet unter ausdrücklicher und ausschließlicher Bezugnahme auf die demokratische Basis der südkoreanischen Regierung diese als die einzig rechtmäßige („lawful") Regierung in Korea. Implicite wurde hierdurch der nord-koreanischen Regierung wegen ihres undemokratischen Charakters die Anerkennungsfähigkeit abgesprochen.
Die einschlägigen Sätze dieser Resolution lauten wie folgt: . . erklärt die Generalversammlung, daß eine rechtmäßige Regierung (die Regierung der Republik Korea) gebildet worden ist, die eine effektive Kontrolle und Regierungsgewalt in den Teilen von Korea ausübt, in denen die Interim-Kommission in der Lage war, ihre beobachtende undberatende Tätigkeit auszuüben, und in denen die übergroße Mehrheit des koreanischen Volkes lebt; sie erklärt fernerhin, daß diese Regierung sich auf Wahlen stützt, die den freien Willen der Wählerschaft dieser Teile Koreas rechtswirksam zum Ausdruck bringen, daß diese Wahlen von der Interim-Kommission beobachtet worden sind, und daß dies die einzige dergestalte Regierung in Korea ist."
Noch deutlicher trat diese Tendenz in den Erklärungen zutage, die die Regierungen der USA, Frankreichs und Großbritanniens anläßlich der Neun-Mächtekonferenz in London im Oktober 1954 abgegeben haben und die besagt, daß diese Mächte „die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als die einzige deutsche Regierung betrachten, die frei und rechtmäßig gebildet wurde und daher berechtigt ist, für Deutschland als Vertreter des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen"
Diese Erklärung wurde am
Von besonderem Interesse dürften die Gründe sein, die der amerikanische Unterstaatssekretär G. Douglas Dillon in einem Zirkular vom 11. September 1959 für die Nichtanerkennung der DDR durch die USA aufgezählt hat, und von denen Punkt 6 hier zitiert werden soll: „Das ostdeutsche Regime repräsentiert nicht die Bevölkerung Ostdeutschlands, die über- wiegend antikommunistisch, ist. Es ist niemals durch Wahlen oder durch andere demokratische Methoden legitimiert worden. Es ist dem Land durch die UdSSR aulgezwungen worden, und es kann sich nur dank der Anwesenheit russischer Truppen halten.“
Allen völkerrechtlichen Maximen zum Trotz haben die Westmächte das normative Element aus ihrer deutschen Anerkennungspolitik nicht eliminiert. Sie haben hierdurch dargetan, daß das normative Element — ähnlich wie dies bei der Natur der Fall ist — selbst, wenn es mit einer Heugabel herausgeworfen wird, doch stets wiederkehrt — tarnen usque recurrit.