Die Stellung Brünings im Herbst 1931
Am 27. März 1930 war Reichskanzler Hermann Müller mit seinem Kabinett zurückgetreten. Die seit dem Tod Stresemanns und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise dahinsiechende Große Koalition hatte aufgehört zu bestehen. Nach mancherlei Auseinandersetzungen auf dem Felde der Wirtschafts-, Finanz-und Sozialpolitik war es schließlich über die Frage der Arbeitslosenversicherung zum Bruch gekommen, der für die meisten politischen Beobachter eine längere Regierungskrise, wenn nicht gar die Parlamentsauflösung zur Folge haben mußte.
Um so überraschender kam, kaum 24 Stunden nach der Demission Müllers, über Wolffs-Telegrafen-Büro die Meldung, der Reichspräsident habe den Vorsitzenden der Reichstags-fraktion des Zentrums, Dr. Heinrich Brüning, mit der Regierungsneubildung beauftragt. Der 44jährige Zentrumspolitiker stellte in kürzester Frist sein Kabinett
Heinrich Brüning hatte erstaunlich schnell eine glänzende politische Karriere gemacht. Am 26. November 1885 im westfälischen Münster geboren, war er nach Studium und Kriegsteilnahme über eine kurze Tätigkeit bei dem katholischen Sozialpolitiker Dr. Carl Sonnenschein in Berlin zum persönlichen Referenten des preußischen Wohlfahrtsministers Adam Stegerwald aufgestiegen. 1924 zog er, inzwischen Geschäftsführer des christlichen Deutschen Gewerkschaftsbundes, über die Liste des schlesischen Wahlkreises Breslau in den Reichstag ein. Hier machte er sich schon bald als Wirtschaftsund Finanzexperte seiner Partei einen Namen. Im Dezember 1929 wählte ihn die Zentrumsfraktion zu ihrem Vorsitzen-den. Diese Position ließ Brüning beinahe automatisch in den Kreis der potentiellen Anwärter auf das Kanzleramt rücken, zumal nach dem Zerwürfnis zwischen den Flügelparteien der Großen Koalition, SPD und DVP, praktisch nur ein Politiker der Mitte Aussicht auf das Zustandebringen einer Mehrheit im Reichstag hatte.
Das Kabinett Brüning nahm die ersten parlamentarischen Hürden bravourös. Der erwartete Mißtrauensantrag der SPD wurde von der Volksvertretung abgelehnt, ein Gesetz zum Schutz der Landwirtschaft sowie neue Dek-kungsvorlagen erhielten ausreichende Mehrheiten. Erst bei der Beratung des noch immer nicht verabschiedeten Reichsetats 1930 kam es zum Eklat: Das Parlament lehnte am 16. Juli die eingebrachten Deckungsvorschläge ab und setzte am 18. Juli auch die Notverordnung
Die Septemberwahlen 1930 endeten für den Kanzler und die demokratischen Parteien mit einem von vielen befürchteten Debakel: DDP, DVP und SPD mußten große Verluste hinnehmen, während die Kommunisten 77, die Nationalsozialisten sogar 107 Mandate (1928: 12) erringen konnten. Lediglich das Zentrum und die Bayerische Volkspartei hatten sich leicht verbessern können. Eine Mehrheitsbildung im Reichstag war erheblich schwieriger geworden als vor den Wahlen. Der Kanzler und die Parteien der im März zerbrochenen Großen Koalition zogen aus dem Wahlergebnis die einzig mögliche und richtige Konsequenz: sie entschlossen sich zu einer relativ losen Zusammenarbeit. Es bildete sich das System eines „parlamentarisch tolerierten Präsidialkabinetts
Schlüsselfigur im neuen System war ohne Zweifel der Reichspräsident. Da die Vollmachten nach Art. 48 der Reichsverfassung (RV) nur ihm zukamen, war der jeweilige Kanzler bei allen Notverordnungen auf die Zustimmung des Staatsoberhauptes angewiesen. Der Kanzler mußte folglich alles tun, um sich das Wohlwollen des Präsidenten zu sichern und Einflußnahmen von anderer Seite zu verhindern.
Bis in den Herbst 1931 hinein war das Verhältnis Präsident—Kanzler gut. Paul von Hindenburg, seit 1925 an der Spitze der Republik, hatte seinem Kanzler noch keine Unterschrift verweigert, auch dann nicht, als die katastrophale Wirtschaftslage einschneidende und dazu höchst unpopuläre Maßnahmen notwendig machte. Die im großen und ganzen reibungslose Zusammenarbeit beruhte auf gegenseitigem Respekt, einer weitgehenden Überein-stimmung in den nationalen Schicksalsfragen und nicht zuletzt der Erkenntnis, daß der eine den anderen bei der Lösung der anstehenden Probleme brauchte. Wenn es dennoch zu Meinungsverschiedenheiten kam, hatte Brüning in Reichswehrminister Groener und dem Chef des Ministeramtes der Reichswehr, General von Schleicher, einflußreiche Fürsprecher beim „alten Herrn", die zu diesem Zeitpunkt noch* beide auf Brüning setzten und das Ihre taten, um den Präsidenten dem Kanzler willfährig zu machen. Solange das „Bündnis der großen Vier" Hindenburg—Brüning—Groener—Schleicher intakt blieb und das Parlament zur Tolerierung der Brüningschen Politik bereit war, schien die Position des Kanzlers unerschüttert.
In der Öffentlichkeit stießen die drakonischen Sparmaßnahmen der Regierung begreiflicherweise auf wenig Gegenliebe. Der deflationistische Kurs der Wirtschaftspolitik, mit dem sich Brüning in Übereinstimmung mit den führenden bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftlern seiner Zeit wußte, und den er gegen die Warnungen der Gewerkschaften durchzusetzen suchte, verlangte von allen Bevölkerungsschichten ungeheure Opfer. Die Zahl der Arbeitslosen, die im Juli bei 3, 9 Millionen gelegen hatte, näherte sich einem neuen Höchststand, der im Winter 1931 mit rund 6 Millionen erreicht wurde. Durch Steuererhöhungen, Sondersteuern und Gehaltskürzungen wurden vor allem der Mittelstand und die Arbeitnehmerschaft hart getroffen. Mit Geduld suchten die Parteien, die den Brüning-Kurs stützten, ihre Mitglieder und Wähler zu beschwichtigen und die Notwendigkeit der Schritte des „Hungerkanzlers" einsichtig zu machen.
Brüning selbst schien das Echo auf seine Sparpolitik wenig zu kümmern. Er hoffte unbeirrt, die . Durststrecke'durchzustehen und bis zum nächsten Wählervotum im Jahre 1934 die . Talsohle'durchschritten zu haben. Eine Bedrohung seiner Position durch die öffentliche Meinung war nicht zu befürchten, solange eine echte Alternative fehlte und die Gegner Brünings aus weltanschaulich sehr unterschiedlichen Lagern kamen.
Ein weiterer wichtiger Faktor im Machtgefüge des Weimarer Staates war die Reichswehr. Lange Zeit „Staat im Staate", gelangte sie mit dem Aufstieg der Offiziersgruppe um Schleicher immer stärker in den Vordergrund und wurde in Spekulationen um neue, andersartige Regierungsformen mit einbezogen. Das Anwachsen des Radikalismus auf der Linken und Rechten, das einen Putschversuch in den Bereich des Möglichen rücken ließ, hatte ein gefährliches Ansteigen des politischen Einflusses der Armee zur Folge. Brüning hatte sich gegenüber der Reichswehr mehrfach abgesichert. Er wähnte sich im Besitz des vollen Vertrauens des Reichspräsidenten, der den Oberbefehl über die Reichswehr verfassungsgemäß innehatte, unterhielt ein sehr freund-schaftliches Verhältnis zu Groener, dem verantwortlichen Minister, und war stets bemüht, die Interessen und Wünsche der Generalität im politischen Kalkül zu berücksichtigen.
Es mußte den Kanzler sehr befremden, als ausgerechnet der Reichspräsident Ende September für einen unüberhörbaren Mißklang sorgte. Hindenburg verlangte vom Kanzler, die der Rechten besonders mißliebigen Minister Curtius (Äußeres), Wirth (Inneres) und von Guerard (Verkehr) „durch andere Persönlichkeiten zu ersetzen"
Die Wahl des Reichspräsidenten
Die Amtszeit des 84jährigen Reichspräsidenten lief im Frühjahr 1932 aus. Da das höchste Staatsamt mit der Herausbildung des präsidialen Systems sehr stark aufgewertet worden war, seinem Träger im parlamentarischen Prozeß eine Schlüsselrolle zufiel, mußte sich Brüning der Präsidentenfrage in verstärktem Maße zuwenden. Grundsätzlich boten sich dem Kanzler drei Möglichkeiten an: Er konnte nach einem geeigneten Nachfolger Ausschau halten und ihn rechtzeitig zur Wahl aufbauen, er konnte die Amtszeit Hindenburgs durch verfassungsänderndes Gesetz zeitlich begrenzen oder auf Lebenszeit verlängern lassen oder aber den Präsidenten zur Wiederkandidatur bewegen.
Es ist bezeichnend für das angeschlagene Selbstbewußtsein des republikanischen Lagers, daß keine Partei den Mut fand, einen ihrer führenden Politiker als Kandidat für das Amt des Reichspräsidenten zu nominieren. Zu groß schien allen Verantwortlichen das Risiko einer Niederlage gegen einen Kandidaten der „nationalen Opposition". Dabei war es längst nicht ausgemacht, ob nicht Männer wie Braun, Severing, Dietrich oder auch Brüning selbst ohne Chance gewesen wären. Zaghafte Versuche seitens der Bayerischen Volkspartei, den Kanzler zur Kandidatur zu veranlassen, scheiterten. Man sah in Hindenburg den einzigen Mann, der mit einiger Sicherheit die erforderliche Mehrheit erringen konnte, wenn es zur Konfrontation mit der extremen Rechten kam.
Gerade das aber wollte Brüning auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise möglichst vermeiden. Ein Wahlkampf mußte die Spaltung, die durch das deutsche Volk ging, vertiefen, mußte neue, gefährliche Emotionen wecken, konnte das Reich an den Rand eines Bürgerkriegs führen. Aus diesen Gründen setzte Brüning lange, vielleicht zu lange, auf die zweite Lösung, die Amtszeitverlängerung für Hindenburg. Bereits im Frühjahr 1931 hatten konservative Kreise, die dem Grafen Westarp nahe-standen, darauf hinzuwirken versucht, Hindenburg zum Reichspräsidenten auf Lebenszeit zu machen. Der Plan implizierte eine Wiedereinsetzung der Hohenzollern nach dem Ableben des greisen Präsidenten. Auch der Kanzler stand eine Zeitlang diesem Gedanken nahe. Er hat wahrscheinlich geglaubt, ein schwarz-weiß-roter Damm könnte die braune Flut zurückhalten. Endgültig fallen ließ er diesen Plan erst, als Hindenburg überraschenderweise nicht auf ihn eingehen wollte.
Das Ziel einer zeitlich begrenzten Verlängerung der Amtsperiode Hindenburgs verfolgte Brüning jedoch weiter. Dazu war eine Änderung des Art. 41 RV notwendig, die bei der erforderlichen Zweidrittelmehrheit im Reichstag nur zu erreichen war, wenn Hugenbergs DNVP und möglichst auch Hitlers NSDAP zur Zustimmung bereit waren. Bis in den Januar 1932 hinein hegte Brüning berechtigte Hoffnungen, die notwendigen 385 Stimmen im Parlament zusammenzubringen. Sein Optimismus gründete auf einer schriftlichen Zusage Hitlers, die dieser erst am 25. Januar unter dem Eindruck der Intransigenz Hugenbergs und dem Einfluß der NS-Vasallen im Lande in einem neuerlichen Schreiben an Brüning mit fadenscheiniger Begründung offiziell zurückzog. Als die Deutschnationalen eine Zustimmung zur Verfassungsänderung von Vorleistungen abhängig machten, auf die sich Brüning jedoch nicht einlassen konnte, mußte der Kanzler dem Präsidenten, der die Verhandlungen mit großem Interesse verfolgt hatte, das Scheitern seiner Bemühungen eingestehen.
Nun blieb nur noch der dritte Weg, die Wiederkandidatur Hindenburgs. Dieser war dazu nur bereit, wenn seine Wiederwahl sicher war und ihn etwa dieselben Kreise unterstützten wie 1925. Auf Hitler und seine Partei konnte er verzichten, auch auf Hugenberg und dessen Kreis. Er hoffte aber fest auf den Stahlhelm, den Kyffhäuserbund sowie auf Deutschnationale wie den alten Januschau, dessen Verbindungen zum Palais relativ gut geblieben waren.
Am 16. Februar 1932 fiel die Entscheidung. Nach einer Adresse des parteilosen Berliner Oberbürgermeisters Dr. Sahm, der die Initiative ergriffen und in der ersten Februarhälfte eine Pro-Hindenburg-Kampagne großen Ausmaßes ausgelöst hatte, erklärte sich der Präsident mit dem ihm eigenen Pathos bereit, ein zweites Mal für das Amt des Präsidenten der Republik zu kandidieren. In den Tagen darauf klärten sich die Fronten. Alle Parteien der Brüningschen Quasi-Koalition setzten sich in Aufrufen und Presseverlautbarungen mehr oder weniger enthusiastisch für eine Wiederwahl Hindenburgs ein. Die SPD zögerte keinen Augenblick, die Parole „Schlagt Hitler! Wählt Hindenburg! ” auszugeben. Einige führende Zentrumspolitiker schreckten nicht davor zurück, das Hindenburg-Bild zu mystifizieren.
So sprach der Parteivorsitzende Prälat Kaas von Hindenburg als dem Würdigsten, „den eine deutsche Mutter für die Notzeit geboren hat"
Die Rechte konnte sich wider Erwarten nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Während Stahlhelm und DNVP den Zählkandidaten Duesterberg nominierten, ließ die NSDAP durch Goebbels am 22. Februar nicht nur die Kandidatur, sondern auch gleich den Sieg Hitlers verkünden.
Der Kanzler, der sich bei den Bemühungen um die Zustimmung Hindenburgs zur Wiederkandidatur zurückgehalten hatte, setzte sich nach dem 16. Februar mit ganzer Kraft für dessen Wiederwahl ein. Er war sich bewußt, daß eine Niederlage Hindenburgs gegen Hitler auch das Ende seiner Kanzlerschaft bedeuten würde. In der letzten Reichstagssession vor dem Wahltag beschwor er das deutsche Volk, am 13. März zu beweisen, daß noch „Ehrfurcht, Achtung vor der Geschichte, vor der Tradition und Größe eines Mannes vorhanden"
Es war nicht zuletzt sein Verdienst, wenn Hindenburg bereits im ersten Wahlgang 49, 6 % aller Stimmen auf sich vereinigen konnte und damit alle anderen Kandidaten, auch Hitler (30, 1 °/o) weit hinter sich ließ. Da aber an der notwendigen absoluten Mehrheit ein halbes Prozent fehlte, kam es abermals zu einem vierwöchigen Wahlkampf, der wiederum mit aller Härte geführt wurde. Das Ergebnis des zweiten Wahlganges bestätigte in etwa die Erkenntnisse des 13. März: nur ein gutes Drittel (36,
Die von vornherein aussichtslose Kandidatur Duesterbergs war im zweiten Wahlgang zurückgezogen worden. Hugenberg konnte sich aber auch jetzt noch nicht dazu durchringen, eine Empfehlung für Hindenburg auszusprechen. Ein aufrichtiges, wenn auch verspätetes Ja der Deutschnationalen hätte auf die Haltung Hindenburgs in den folgenden Wochen nur positiv wirken können. Der wiedergewählte Präsident verhielt sich allen Gratulanten gegenüber sehr distanziert; er bemerkte beispielsweise dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun gegenüber, man dürfe jetzt nicht erwarten, er werde im Sinne der Parteien Politik machen, die ihn gewählt hätten 8). Brünings Glückwünsche und dessen routinemäßiges Rücktrittsangebot quittierte er mit dem Satz, der Kanzler möge vorläufig im Amt bleiben, mit einer Rechtsregierung sei in Kürze zu rechnen. Nur mit Mühe gelang es Brüning, das „vorläufig" aus dem Text zu streichen, den das Palais nach der Wahl der Presse übergab.
Es war Hindenburg natürlich nicht verborgen geblieben, daß das Gros seiner Wähler aus der Mitte und von der gemäßigten Linken, dem „marxistischen Lager", stammte. Es fiel den allmählich stärker hervortretenden außerverfassungsmäßigen Beratern nicht schwer, dem , alten Herrn'einzuflüstern, „daß er das Opfer eines wahrhaft jesuitischen Drehs geworden und infamerweise auf die falsche Seite bugsiert worden sei"
Das SA-Verbot
Lange Zeit stellte die Führung der Reichswehr für Brüning eine äußerst wichtige und zuverlässige Stütze dar. Groener, Schleicher und Hammerstein standen untereinander und mit dem Kanzler in engem, freundschaftlichem Kontakt. Nicht immer einheitlich, zeitweise gar widersprüchlich war ihre Einstellung zur Hitler-Bewegung. Zwar wäre eine illegale Machtergreifung durch die NSDAP vor 1933 niedergeschlagen worden, doch gab es sehr unterschiedliche Auffassungen über das Ob, Wie und Wann eines Vorgehens gegen die Partei, solange sie im Gewände der Legalität auftrat.
Ihre besondere Aufmerksamkeit richtete die Reichswehrführung auf die paramilitärischen Verbände der Partei (SA, SS), die nach den Vorstellungen der Militärs zu gegebener Zeit entpolitisiert und als Wehrsportverbände oder Miliz in das Heer eingegliedert werden sollten. Die Notwendigkeit einer Verstärkung der numerisch schwachen Reichswehr wurde unter Hinweis auf eine angebliche Bedrohung des Reiches durch Polen in Ostpreußen und Schlesien immer wieder hervorgehoben. Solange der Versailler Vertrag die Ist-Stärke limitierte, glaubte man, auf derartige Organisationen, deren Ausbildungsstand relativ gut war, nicht verzichten zu können. Im Laufe des Jahres 1931 traten die „Sturmabteilungen" der NSDAP immer militanter auf. Die etwa 400 000 Mann umfassende SA nahm mehr und mehr den Charakter einer Privat-armee an. Da entschloß sich Brüning, von Groener und überraschenderweise auch von Schleicher unterstützt, nach Rücksprache mit der SPD Vorbereitungen für eine Unterdrük-kung der Nazipartei auf lange Sicht zu treffen. Als Termin für ein Einschreiten war der Abschluß der Lausanner Reparationsverhandlungen, die für den Januar 1932 zu erwarten waren, vorgesehen. Hindenburg hat seine Zustimmung zu rigorosen Maßnahmen gegen die NSDAP immer wieder von gleichzeitigen Aktionen gegen die Kommunisten abhängig gemacht. Mit der Verschiebung der Lausanner Konferenz wurde es auch um die Pläne zur Bekämpfung der Hitler-Bewegung zunächst wieder still.
Nach dem Wahlkampf um das Amt des Reichs-präsidenten, in dem die Länderpolizei in zahlreiche Auseinandersetzungen mit der SA verwickelt worden war, wurde der Ruf nach einer Reichsinitiative immer lauter. Die sensationellen Resultate einer preußischen Polizeiaktion gegen die NSDAP vom 17. März 1932, die Enthüllungen der bayerischen Gendarmerie sowie besorgniserregende Störungen des Landfriedens in fast allen Teilen des Reiches bewogen Reichsinnenminister Groener, auf einer Konferenz mit den Länderinnenministern am 5. Apri
Groener, bedrängt von den maßgebenden Beamten des Innenministeriums, kam an einer Entscheidung nun nicht mehr vorbei. Die großen Länder Preußen, Bayern und Württemberg hätten ansonsten selbständig gehandelt. Groener hätte lieber die Preußenwahlen vom 24. April abgewartet, um den Nationalsozialisten keine Argumente für den Wahlkampf an die Hand zu geben. Ob eine Verschiebung des Verbotes um zwei Wochen den Aufstieg der NSDAP in Preußen von neun auf 162 Sitze, der faktisch das Ende der gut funktionierenden SPD-Zentrum-DDP-Koalition bedeutete, hätte verhindern können, ist eine offene Frage.
Brüning, der in den Tagen der Vorverhandlungen noch auf Wahlreise war, schaltete sich erst nach seiner Rückkehr am 10. April in das bereits weit vorangetriebene Vorhaben ein. Bei der für diesen Tag anberaumten Sitzung in der Reichskanzlei sekundierte er seinem Innenminister, wenn er auch später den Schritt gegen die SA einen voreiligen nannte 14). Schleicher, der nach zustimmenden Äußerungen gegenüber Groener und Brünings Staatssekretär Pünder am Vortage wieder . umgefallen'war, drang mit seinem Vorschlag, Hitler zunächst ein befristetes Ultimatum zu stellen, nicht durch. Verstimmt verließ er die Sitzung; nach der Niederlage auf dem Felde der Taktik war er nun auch gegen die Sache selbst eingenommen.
Obschon Groener am 9. April bereits das Einverständnis Hindenburgs eingeholt hatte, begab sich Brüning am Morgen des 11. April, einen Tag nach der Präsidentenwahl, erneut zum Vortrag ins Palais. Wiederum ging alles glatt. Erst am Nachmittag kam die unheilvolle Kunde, Hindenburg habe Bedenken geäußert. Beeinflußt durch seinen „in der Verfassung nicht vorgesehenen Sohn" Oskar, der die „Funktion eines gehobenen Kammerdieners bei seinem Vater" 15) ausübte, glaubte der Reichspräsident nun, nicht einseitig gegen die Rechte vorgehen zu sollen. Er nahm wohl an, die zur Unterschrift vorgelegte Verordnung könnte als eine Konzession an die Linke ausgelegt werden, und das zu einer Zeit, die endlich die seit langem geplante Rechtsschwenkung bringen sollte. Oberst Oskar von Hindenburg hätte die folgenschwere Intervention wohl nicht unternommen, wenn ihn nicht „das passive Verhalten des Generals von Schleicher darin bestärkt (hätte), seinen Vater zur Änderung des Entschlusses zu bewegen" 16).
Der Kanzler und sein Innenminister gaben noch nicht auf. Nach einer nochmaligen Rückfrage bei Braun und Severing wegen einer eventuellen Verschiebung des Verbotes begaben sie sich am 12. April wiederum zum Reichspräsidenten. Während Groener in seiner „Chronologischen Darstellung" 17) betont, Hindenburg habe „in keiner Weise eine grundsätzlich ablehnende Auffassung" gezeigt, kann man nach den Ausführungen Brünings im „Brief" auf einen stark widerstrebenden Hindenburg schließen. Brüning mußte wieder einmal seine Demission als Waffe einsetzen, um das Ja des Präsidenten zu erlangen. Abschlie-ßend urteilt der Kanzler dann: „Da ich ihn kannte, konnte ich keinen Zweifel darüber hegen, daß dies der Anfang eines Bruches zwischen mir und ihm bedeutete."
Am 13. April 1932 wurde die „Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung der Staatsautorität''verkündet. Die Reichsregierung hatte in den Augen vieler Republikaner nach dem Erfolg bei den Präsidentenwahlen die lange erwartete Maßnahme gegen den nationalsozialistischen Terror ergriffen. Nur wenige sahen, daß über die Schwierigkeiten beim Zustandekommen der Verordnung das Verhältnis des Kanzlers zum Präsidenten stark belastet worden war. Brüning und Groener hatten, wie Eschenburg zu Recht betont, Hindenburg eben nicht überzeugt, sondern lediglich unter starkem Druck überredet
Mit unguten Gefühlen trat Brüning kurz darauf die Reise zu den Abrüstungsverhandlungen nach Genf an. Er hoffte, daß es über die Frage des SA-Verbotes nicht zu einem offenen Konflikt kommen werde. Aber das „Bündnis der großen Vier", das über Monate hinweg vielen Stürmen getrotzt hatte, existierte praktisch nicht mehr. Wenngleich jeder der Beteiligten um die Konsequenzen wußte, unternahm niemand etwas, um das alte Vertrauensverhältnis wiederherzustellen. Hindenburg wurde dem Einfluß einer Kamarilla ausgeliefert, die durch die Namen Oskar von Hindenburg, Meißner und Schleicher gekennzeichnet ist. Groener sah, wie labil der Präsident geworden war, als er am 25. April an seinen Freund Gleich schrieb: „Wenn Hindenburg nicht wieder stark und zuverlässig wird wie Kaiser Wilhelm I., sehe ich schlimme Tage voraus."
Gleiches läßt sich dagegen nicht von Groeners „Wahlsohn" Schleicher sagen. Im Gegenteil: Dessen Verhalten in diesen Tagen grenzt an Hochverrat (Eschenburg). Wie er seinen Vorgesetzten und langjährigen Intimus bei Hindenburg diskreditierte, wie er es zuließ, daß hinter dem Rücken des zuständigen Ministers Material aus der Bendlerstraße ins Palais geschafft wurde, um diesen zu desavouieren, wie er seine Kontakte zu .den Nationalsozialisten aufrechterhielt, deren wichtigste Organisation man gerade verboten hatte, das alles wirft kein gutes Licht auf den General, der im Juni 1934 auf Befehl Hitlers umgebracht wurde.
Brünings letzter Sieg
Zunächst ließ sich Groener von den Vorgängen um ihn nicht beeinflussen. Weder ein Schreiben Hindenburgs vom 16. April, das durch Publikation in der Presse den Minister kompromittierte, noch die undurchsichtigen Machenschaften im Reichswehrministerium gegen den politischen Chef konnten ihn zum Rücktritt bewegen. Ihm war klar, daß sein Sturz nur das Vorspiel zum Frontalangriff auf das gesamte Kabinett sein würde. In dem bereits zitierten Brief an seinen Freund Gleich heißt es an anderer Stelle: „Daß ich nicht kapitulieren werde, kannst Du mir glauben; aber es ist möglich, daß Hindenburg den Kanzler und mich eines schönen Tages hinauswirft, indem er unter den Daumenschrauben seiner alten Standesgenossen . . . die Forderung stellt, daß eine neue Regierung gebildet werden müsse."
Die Reichstagssitzung vom 10. Mai mußte die Entscheidung bringen. Groeners weiteres Schicksal hing davon ab, ob ihm dort eine überzeugende Rechtfertigung des SA-Verbots gelang. Bekam er eine respektable Mehrheit bei der Ablehnung des von rechts zu erwartenden Mißtrauensvotums, konnte der drohende Konflikt noch vermieden werden. Groener war kein guter Redner. Nach der Rundfunkaufzeichnung machte er teilweise einen hilflosen und resignierenden Eindruck
Tags zuvor hatte Brüning im Parlament noch einmal zu den großen Zielen seiner Politik Stellung genommen. Obschon in seinen Ausführungen zum Abrüstungs-und Reparationsproblem, zur Wirtschaftskrise und zu den Plänen bezüglich einer staatlich gesteuerten Arbeitsbeschaffung nichts wesentlich Neues anklang, vermochte er durch objektive Darstellung und große Schlagfertigkeit erneut zu überzeugen. Zweimal gebrauchte er in seiner Rede, die häufig vom stürmischen Beifall der Mitte und teilweise auch der SPD unterbrochen wurde, Bilder, die von einer gewissen Vorahnung seines Sturzes zeugten: „Nur nicht in den letzten fünf Minuten weich werden!" und die berühmt gewordenen „letzten hundert Meter vor dem Ziel"
Die Auseinandersetzungen um den Siedlungsentwurf
Am 12. Mai, einen Tag nach Brünings großer Rede vor der Volksvertretung, fuhr Hindenburg zum Pfingsturlaub nach Neudeck. Er verließ Berlin, ohne daß es zwischen ihm und dem Kanzler oder Groener zu einer Wieder-annäherung gekommen wäre. Das Verhältnis blieb gespannt. Dabei wäre gerade zu diesem Zeitpunkt ein ständiger Kontakt zum Reichs-präsidenten dringend notwendig gewesen. Nie war Hindenburg, der mehr und mehr seinem hohen Alter Tribut zollen mußte, für Einflüsterungen anderer zugänglicher als jetzt. Die . Kamarilla', durch Oskar von Hindenburg bestens informiert und durch Kurt von Schleicher dirigiert, wußte das nur zu genau und wartete auf einen geeigneten Anlaß, um die letzten Bindungen zwischen Präsident und Kanzler zu zerstören. Dieser Anlaß schien mit dem Entwurf zur Förderung landwirtschaftlicher Siedlung im Osten des Reiches gekommen.
Durch den Versailler Vertrag war besonders die Wirtschaft Ostpreußens hart getroffen worden. Der Korridor trennte die agrarisch ausgerichtete Provinz vom übrigen Reich. Dieser Umstand, aber auch die sich allgemein verschlechterte Lage der Landwirtschaft hatten schon in den zwanziger Jahren eine Ostpreußenhilfe des Reiches und Preußens erforderlich werden lassen. Die Ostpreußenhilfe wurde mehr und mehr zu einer allgemeinen Osthilfe. Mit ihr sollten all die Betriebe „eine individuelle Hilfe aus öffentlichen Mitteln" erhalten, die „infolge der Wirtschaftskrise... in finanzielle Not geraten und aus diesem Grunde nicht mehr in der Lage waren, aus eigenen Mitteln ... im Interesse der Volksernährung"
Die ostelbischen Lobbyisten der „Grünen Front" hatten in Hindenburg seit dessen Amtsantritt einen prominenten Fürsprecher. Als er 1927 zum 80. Geburtstag das ostpreußische Gut Neudeck zum Geschenk erhielt, war er vollends für eine mehr oder weniger protektionistische Standespolitik gewonnen. Die Reichsspende für Neudeck, die hauptsächlich durch Beiträge agrarischer und großbürgerlicher Kreise aufgebracht worden war, begann in reichlichem Maße Zinsen abzuwerfen. Brüning war durch den Präsidenten bereits am 28. März 1930 auf die Osthilfe „vereidigt" worden. Sein Ja war eine Hypothek, die er niemals abtragen konnte und die seinen Aktionsradius stark einschränkte. Kein Wirtschaftszweighat am Anfang der dreißiger Jahre eine so weitgehende Förderung erhalten wie die Landwirtschaft, vornehmlich die des Ostens. Trotz der katastrophalen Etatsituation des Reiches flossen jährlich viele Millionen an Subventionen in die bäuerlichen Großbetriebe östlich der Elbe. Nachdem unter Treviranus im ersten Kabinett Brüning (bis Oktober 1931) die von den demokratischen Parteien gewünschten strukturellen Verbesserungen durch Ansiedlung von Kleinbauern in den unterbevölkerten Ostgebieten nur zögernd in Gang gekommen waren, ruhten die Erwartungen ab November 1931 auf Schlange, der zum Reichskommissar für die Osthilfe bestellt worden war.
Obschon selbst Großgrundbesitzer, galt Schlange wegen seines „konservativ begründeten sozialen Radikalismus"
Am 21. Mai veröffentlichte Staatssekretär Pünder ein Kommunique der Kabinettssitzung vom Vortage, durch das die Grundtendenzen des verabschiedeten Siedlungsprogramms sehr schnell bekannt wurden. Bereits wenige Tage später brachte die Presse massive Proteste agrarischer Verbände. Auch in Neudeck lief eine ganze Fülle von Einsprüchen gegen das Gesetzesvorhaben ein. Als besonders typisch kann der Brief des Grafen Kalkreuth, des Präsidenten des Reichslandbundes, gelten. Nach seinen Worten ginge die von der Regierung erstrebte Zwangsversteigerungsbefugnis „weit über die Methoden der Volksbeauftragten hinaus"
Ursprünglich hatte Brüning selbst mit den im Kabinett beratenen Vorlagen, die Ende Mai zu einer Notverordnung zusammengefaßt werden sollten, nach Ostpreußen fahren wollen. Man bedeutete ihm jedoch durch Meißner, daß Hindenburg geschont werden müsse und im übrigen mit einer vorläufigen Information durch seinen Staatssekretär zufrieden sei. Dahinter braucht nicht unbedingt eine Brüskierung des Kanzlers gesehen zu werden, denn um diese Zeit (22. Mai) war der Sturz Brünings für Hindenburg noch keine beschlossene Sache. Es ist aber nicht völlig auszuschließen, daß Schleicher bei diesem Beschluß bereits beteiligt war, damit „der konzentrische Angriff auf das Brüning-Kabinett"
Staatssekretär Meißner schaltete sich in die beginnende Auseinandersetzung nach seiner Rückkehr von Neudeck am 26. Mai mit folgenden Maßnahmen ein: Er beantwortete das Schreiben von Gayls vom 24. Mai
In den Nachkriegsjähren haben Vertreter der ostelbischen Landwirtschaft mit einem gewissen Erfolg jede Einflußnahme auf Hindenburg während seines Aufenthalts in Neudeck bestritten. Nach den Publikationen von Quellen-material in jüngster Zeit fällt es ihnen jedoch immer schwerer, an ihrem Alibi festzuhalten.
Die dem Präsidenten während seines Pfingsturlaubs zugesandten Protestschreiben haben sowohl durch ihre aggressive Diktion wie auch durch den Zeitpunkt ihres Eingangs in Neudeck auf den noch unschlüssigen Präsidenten nachhaltig gewirkt. Vokabeln wie „Agrarbolschewismus", „Minderung der Wehrkraft" und „Gefährdung der nationalen Widerstandsfähigkeit" mußten und sollten beim Präsidenten Assoziationen auslösen, die den Unmut über die Politik des Kanzlers verstärkten.
Die letzten Tage des Kabinetts
über die folgenschweren Ereignisse der letzten Maitage existiert eine Fülle von Erinnerungen Beteiligter, Untersuchungen kritischer Betrachter und Rechtfertigungen Beschuldigter.
Neben der offiziösen „Niederschrift" aus dem Palais sind besonders die Ausführungen Brünings, Schlanges, Westarps, Pünders, Papens, Goebbels', Treviranus'sowie des überraschend -gut informierten britischen Botschafters Rumbold für den Historiker von Interesse. Sie tragen zum Teil jedoch stark apologetische Züge, so daß sie für eine Analyse der außerordentlich komplexen Tatbestände nur mit Vorbehalten herangezogen werden können. Auch der große zeitliche Abstand vieler Niederschriften zu den Ereignissen mindert ihren Wert für eine objektive Betrachtung.
Als besonders schwierig erweist sich eine abschließende Beurteilung der Rolle des Generals von Schleicher im Mai 1932. Es steht wohl außer Zweifel, daß er während des Aufenthaltes Hindenburgs in Ostpreußen sowohl mit der „Umgebung" des Präsidenten als auch mit den Nazis in enger Verbindung gestanden hat. Die aus Neudeck einlaufenden Informationen über den Stimmungsumschwung des „alten Herrn" waren Richtschnur für seine Verhandlungsführung mit der NSDAP. Während er als Morgengabe die Wiederaufhebung des SA-Verbots und eine baldige Auflösung des
Reichstags präsentierte, ließ er sich seinerseits mit vagen Versprechungen über eine vorübergehende Duldung einer neuzubildenden Rechts-regierung abspeisen. Seine von Freund und Feind bewunderte bzw. gefürchtete Meisterschaft im Taktieren und Paktieren verliert angesichts der verhängnisvollen Fehleinschätzung der Hitler-Partei viel von ihrem Glanz.
Schleicher wußte genau, daß der schwankende Präsident sich erst dann definitiv von Brüning lösen würde, wenn ein neuer Kanzler mit Aussicht auf eine rechte Parlamentsmehrheit zur Verfügung stand. Designierter Nachfolger Brünings war für Schleicher Franz von Papen, der weit genug rechts stand
Am 26. Mai bat Schleicher den angeblich völlig ahnungslosen Papen aus dem Saarland nach Berlin, um dem „Herrenreiter" am 28. und dann noch einmal am 30. Mai die Übernahme des Kanzleramtes schmackhaft zu machen. Eine praktikable Konzeption hatte Schleicher dem Rechtsaußen der Zentrumspartei nicht anzubieten, wohl aber formale Zusagen Hitlers. Der General schien geglaubt zu haben, das Zentrum werde eine Ablösung Brünings geduldig ----------------> und ohne Widerspruch hinnehmen und seine 87 Abgeordneten in ein Papen-Kabinett einbringen.
Brüning hat offenbar relativ spät von den Plänen der Kamarilla Kenntnis erhalten. Etwa zur gleichen Zeit, als Goebbels in sein Tagebuch notierte: „Die Ministerliste steht im großen ganzen fest: von Papen, Reichskanzler"
Der Rückkehr des Reichspräsidenten aus Neudeck sah Brüning mit nur geringen Erwartungen entgegen. Den Kanzler, das Kabinett, ja das ganze politische Berlin hatte eine große Unsicherheit ergriffen. So teilte Treviranus dem Grafen Westarp am 28. Mai telefonisch mit, „Brüning habe das Gefühl, daß der Vortrag beim Reichspräsidenten am nächsten Tage zu seinem Rücktritt führen werde; er könne sich einem Druck der Reichswehr und Kurt-chens (Telefonwort für Schleicher) nicht fügen“
Als Brüning im Laufe des Gesprächs ein-wandte, nach seinen Informationen sei in Neudeck schon eine neue Regierung zusammengestellt worden, gab Meißner nach Treviranus zu, daß die Nachfolge Brünings bereits diskutiert worden sei. Eine neue Rechtsregierung, mit deren Leitung Hindenburg gern den Grafen Westarp beauftragen möchte, werde bald Neuwahlen ausschreiben
Das entscheidende Gespräch zwischen Hindenburg und Brüning fand am 29. Mai 1932 um elf Uhr im Palais statt. Der Präsident war am Vorabend aus Neudeck zurückgekehrt. Man hatte ihm — sicherlich nicht ohne Grund — von drei Dingen Kenntnis gegeben, die die Brüningsche Verhandlungsposition sehr verschlechtern mußten:
1. Ein Schreiben Stegerwalds an Brüning, in dem sich der erstere gegen die Hindenburg-sehen Abänderungsvorschläge wendet. 2. Ein sehr vehementes Schreiben Schlanges an Hindenburg, das mit einer Rücktrittsdrohung schließt. 3. Eine bereits am 24. Mai gefaßte, aber wohl absichtlich erst am 27. Mai veröffentlichte Entschließung der DNVP-Fraktion, in der die Siedlungsvorlage strikt abgelehnt und mit Seitenblick auf Hindenburg von „vollendetem Bolschewismus"
„Es war ein unglückseliges Gespräch."
Nach der Niederschrift des Büros des Reichs-präsidenten hat Brüning nach einem Bericht über die politische Lage von Hindenburg Zusagen über das Aufhören „von Gegenarbeiten gewisser Stellen gegen ihn"
Pünders Notizen vom 29. Mai bestätigen in etwa diesen Gesprächsverlauf. Nach ihm hat der Präsident seine Vorstellungen über die zukünftige Regierungsarbeit von einem Zettel abgelesen
Erich Eyck übernimmt die Meineckesche Version („aus vertrauenswürdiger Quelle"), nach der Hindenburg eine stärker rechts orientierte Regierung und das Ende der Wirtschaft der Gewerkschaftssekretäre und des Agrarbolschewismus verlangt habe
Nach diesem Gespräch („kurz und ganz kühl und formell"
Im Palais lag der Kabinettsbeschluß bereits vor, als Brüning um 11.
Der Kanzler hatte zu diesem Zeitpunkt bereits resigniert. Er ließ den Botschafter wissen, er sei in Anbetracht der in wenigen Stunden bevorstehenden Demission des Gesamtkabinetts „nicht mehr befugt, die Botschaft anzunehmen"
Hindenburg war noch soweit Soldat geblieben, daß ihm ein militärisches Schauspiel wichtiger war als das Gespräch mit dem Mann, der 26 Monate lang „sein Kanzler" gewesen war. „So fiel unter den Klängen der Militärmusik der Vorhang und die Aera Brüning war zu Ende."
Diese dramatische Darstellung des Finales, wie wir sie bei Bracher, Eyck und Buchheim finden, stützt sich hauptsächlich auf Brünings „Brief". Auch Treviranus berichtet von einer kurzfristigen Terminverschiebung, läßt aber die Frage offen, ob es Absicht oder Zufall war. Vogelsang, der sich weitgehend auf Pünder und die Niederschrift des Präsidenten-büros verläßt, erwähnt nichts davon. In Pünders Aufzeichnungen vom 29. Mai ist von einer Fortsetzung des Gesprächs beim Präsidenten um 12 Uhr die Rede; die „Niederschrift" enthält nichts, was auf eine Verschiebung schließen ließe. Auch Eschenburg zweifelt die Richtigkeit der Brüningschen Erinnerung an. Die endgültige Klärung des Sachverhaltes steht bis heute aus.
Der plötzliche Tod Heinrich Brünings am 30. März 1970 im selbstgewählten Exil in den Vereinigten Staaten hat noch einmal das Leben und Wirken des Altreichskanzlers in den Blickpunkt rücken lassen. Die Flut von Kommentaren und Nachrufen in Presse, Rundfunk und Fernsehen hat gezeigt, daß auch 38 Jahre nach dem Abtreten Brünings von der politischen Bühne sein Gesamtbild „von der Parteien Haß und Gunst verzerrt"
Brüning selbst hat 1946 in einer vielbeachteten Rede Gedanken geäußert, die er bei der Beurteilung seiner Kanzlerschaft berücksichtigt wissen will: „Politik könnte mit einem Schachspiel verglichen werden, das nie zu Ende kommt, bei dem verschiedene Spieler aufeinanderfolgen und jeder das Brett so übernimmt, wie er es vorfindet. Um die Leistung eines Politikers zu würdigen, muß man wissen, wie das Spiel stand, als er es übernahm."