I. Das Novum in der gegenwärtigen Weltpolitik
Krieg und Frieden beherrschten mit ihrem Wechselspiel die Jahrhunderte abendländischer Geschichte. Krieg und Frieden erwiesen sich auch als typischer Charakterzug des pluralistischen Staatensystemes. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg machten sich Tendenzen bemerkbar, welche die so selbstverständliche Polarität in Frage stellten, weil nicht mehr rückgängig zu machende technologische Prozesse eintraten, die das Bild der Weltpolitik von Grund her umgestalteten. Noch im 19. Jahrhundert und am Anfang des 20. Jahrhunderts bestimmte das „Konzert der Mächte" die Grundlinien der Weltpolitik. Der Außenpolitik fiel im Zeitalter der Pentarchie, der Hexarchie und des Achtmächtesystems der Primat zu. Mit Hilfe geschickter politischer Kombinationen bildeten sich im System Koalitionen, welche ihr Gewicht gegen jene Mächte ausspielten, die nach Hegemonialstellungen strebten. Die Gleichgewichtspolitik war das Mittel der beteiligten Hauptmächte, sich die Freiheit zu erhalten. Niemals stellte sich das Problem der absoluten Stärke und nie stand die physische Auslöschung der Staaten zur Debatte. Die Zerstörungskraft war begrenzt und die Frage einer Overkill-Fähigkeit trat überhaupt nicht in Erscheinung
Doch die traditionelle Gleichgewichtspolitik hörte nach dem Zweiten Weltkrieg auf zu existieren. Mit der Erfindung der Atomwaffen zeichnete sich zum erstenmal in der Geschichte die Gefahr ab, die menschlichen Kulturleistungen zu vernichten, weil die Zerstörungskapazitäten immer größer wurden. Nie zuvor hatten sich Politiker mit dem Problem der Selbstauslöschung beschäftigt. Doch jetzt tauchte es mit der fortschreitenden technologischen Entwicklung auf. Zwar betraf das Problem nur die beiden Supermächte, denn nur sie entwickelten ein absolutes Zerstörungspotential. Die Bedrohung für den Weltfrieden beruhte auf dem weltpolitischen Gegensatz, der sich nach der Niederlage des Faschismus zwischen den beiden Hauptmächten herausbildete. Die Erde wurde in zwei große Blöcke eingeteilt, die sich mit unterschiedlichen Ideologien bekämpften, wobei jede Seite versuchte, der anderen ihr Konzept aufzudrängen. Die demokratische Ordnungsvorstellung konkurrierte mit der kommunistischen. Man stellte die übrigen Nationen vor die Alternative, sich für den Osten oder für den Westen zu entscheiden, so daß ideologische Frontlinien die Welt in die beiden großen Lager teilte.
Doch das ideologische und soziale Moment bildet nicht das Novum, von dem hier zu sprechen ist und das unserer Gegenwart den Stempel aufdrückt, denn die polare Zweiteilung der Welt hatte schon mit dem Jahre 1917 begonnen: mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg und mit dem Ausbruch der russischen Oktoberrevolution. Das ideologische Moment bestimmte die Zäsur von 1917, denn nun wurden die Konflikte nicht mehr mit nationalen Argumenten begründet, sondern sie brachen aus sozialen Gegensätzen hervor, die über die nationalen Grenzen hinwegreichten. Die ideologischen Frontlinien sind heute nicht mehr das Charakteristische. Am Ende des Ersten Weltkrieges zeichnete sich bereits ein Doppeltes ab: die polare Zweiteilung und die globale Einheit, die durch den Völkerbund repräsentiert wurde.
Hans Rothfels hat diesen Gedanken knapp und treffend formuliert: „Schon 1918 ist im Grunde die Antithese Washington—Moskau eine sehr reale gewesen. Sie tritt zurück in den 20er und 30er Jahren, als Demokratie, Faschismus und Kommunismus gleichsam im Dreieck nebeneinander bestehen, in mannigfachem Gegen-und Zusammenspiel, bis sie seit 1945 sich wieder herauszuarbeiten beginnt."
Die Entwicklung der Nuklearwaffen und die Fortschritte in der Raketentechnik veränderten das strategische Denken grundlegend, denn beide Supermächte bauten ihr Zerstörungspotential so aus, daß der Nuklearkrieg als Mittel der Konfliktschlichtung heute sinnlos wird. Da es bei solchen Auseinandersetzungen nicht mehr Sieger und Besiegte geben kann, weil auch der „Sieger" mit hohen Verlusten zu rechnen hat, wird ein zivilisiertes Leben fraglich. Die gewaltsame Konfliktschlichtung in dieser Form läßt nur noch die Möglichkeit eines verstümmelten, lebensunwerten und barbarischen Lebens offen.
Was die Kriege als letztes Mittel bisher nie vermochten: Totalzerstörung und Vernichtung des Kontrahenten, muß heute als Realität mit einkalkuliert werden. Die Möglichkeit einer Selbstauslöschung der Menschheit ist also gegeben. Das ist das Novum, dem wir uns im Zeitalter gegenseitiger Abschreckung gegenübersehen. Die technologische Komponente, real ausgedrückt in den ABC-Waffen, verändert die Situation fundamental. Insofern haben wir eine neue geschichtliche Zäsur überschritten, die mit dem Beginn der Kennedy-Administration anzusetzen ist, weil die Politiker erkennen, daß der Weg von der Konfrontation zur Kooperation zu beschreiten ist. Es entsteht der Zwang, wenigstens partielle Schritte gemeinsam zu tun und in bestimmten Fragen das Feinddenken aufzugeben, denn die Lage verlangt ein Denken in „neuen" Dimensionen.
Wir wissen, daß die Prozessualität so schnell vor unseren Augen ablief, daß wir uns mit unserer Bewußtseinshaltung im Nachhinken befinden, weil viele nur schwer begreifen, was dieses Novum für die Menschheit bedeutet. Zwei wichtige Probleme harren ihrer Lösung: Ergründung der Bedingungen, unter denen Völker, Nationen und supranationale Gemeinschaften auf dieser Erde menschenwürdig existieren können, und Beginn mit der Planungsarbeit, die eine „Welt ohne Krieg" anstrebt. Die technologische Komponente, die das Novum induziert, wird sich in Zukunft noch ver-das strategische Denken — nachhaltig beeinflussen. Krieg und Frieden erscheinen als antiquierte Begriffe, sobald man sich bewußtseinsmäßig auf die „neuen" Dimensionen einstellt. Daß hierzu auch bestimmte Erziehungsund Lernprozesse nötig sind, bleibt unbestritten. Damit tritt die Möglichkeit ein, die Margaret Mead so ausdrückte: „Jetzt haben wir erstmalig eine reale Chance, weltweite Herrschaft von Gesetz und Ordnung zu errichten. Wenn früher von Frieden gesprochen wurde, meinte man eigentlich Waffenstillstand."
Wir leiten daraus die Erkenntnis ab, daß ein dauerhafter und positiver Frieden zum ersten-mal in den Bereich der Realität tritt. Bisher befanden wir uns stets in kriegerischen Aktionen, die durch Waffenstillstandsvereinbarungen unterbrochen wurden, welche neue Revanchegefühle auslösten und den Krieg vorbereiteten. Erst jetzt geraten wir in die Lage, den vollen Sinn des Wortes „Frieden" zu verstehen. Konfliktlösungen durch Aggression und Gewalt sind auf Grund der fortschreitenden technologischen Entwicklung nicht vertretbar, so daß man selbst die Spekulation über das Undenkbare wird aufgeben müssen, weil sich das Überleben-Können immer problematischer gestaltet
Doch wer vermag sich schon auf diese „neuen" Dimensionen bewußtseinsmäßig einzustellen und danach praktisch zu handeln? Verantwortliche Wissenschaftler, die den technologischen Prozeß durch ihre Forschungen beschleunigen, haben ihre Mahnungen deutlich ausgesprochen und ihre Zeitgenossen aufgefordert, der neuen „Qualität" des Novums im Denken und Handeln gerecht zu werden. Doch Appelle an die Menschheit genügen nicht! Die konsequente Analyse und Kritik unseres gegenwärtigen Zustandes ist vonnöten, damit sich eine Bewußtseinslawine in Gang setzt, welche die ganze Weltbevölkerung erfaßt. Radikale Aufklärungsarbeit ist zu leisten im Rahmen der politischen Bildungsarbeit. Dazu bedarf es eines bisher nie gekannten Einsatzes von pädagogischen Fähigkeiten, um zu dieser Bewußtseinserhellung einen adäquaten Beitrag zu leisten. Der Auftrag ist klar: Menschen für eine waf-* fenlose und kriegslose Welt zu erziehen. Doch die Durchführung dieses Auftrages stößt in unserer Gegenwart auf fast unüberwindbare Schwierigkeiten. Es gibt noch keine verbindliche Friedenspädagogik in der Welt und kaum politische Pädagogen, die systematisch und konsequent in ihrem Wirkungskreis die Menschen für eine Welt ohne Krieg und Gewalt, das heißt für eine dauerhafte Friedenswelt erziehen könnten.
Wir befinden uns in einer Diskrepanz, denn technologisch eilen wir mit Riesenschritten der Zukunft entgegen und bewußtseinsmäßig verharren die Weltbürger noch in ihrer Vergangenheit. Daher sind andere und höhere Bewußtseinsformen nötig, um das Leben in der Zukunttsgesellschaft zu formen, die freilich nicht ärmer an Problemen und Konfliktlagen sein wird als unsere gegenwärtigen Gesell-schaftssyteme
Aber ein Abschreckungsfrieden ist ungeeignet, die Probleme zu lösen, die uns aufgetragen sind, denn er vermag nicht die Welt dauerhaft zu sichern. Diese „negative" Friedensform, die uns heute die Abschreckung beschert, verlangt nach einem „positiven" Frieden, der nicht zu-letzt mit geistigen Mitteln zu erkämpfen ist. Das Unbehagen in unserer Gegenwart ist groß, weil wir Riesensummen in die Rüstungsforschung und das Wettrüsten investieren, um damit ein negatives Resultat zu erzielen: ein System der Abwesenheit vom Krieg, das die geistige Kriegsbereitschaft nicht abbaut
In dieser Situation hat die politische Bildung ihr determinierendes Ziel zu erkennen: Aufklärungsarbeit für den positiven Weltfrieden zu leisten, Erkenntnisprozesse in Gang zu setzen, die sich so bewußtseinsfördernd auswirken, daß jedermann gewillt ist, seinen Beitrag für ein „befriedetes Dasein" der Menschen zu leisten
Auch die Vergangenheit hatte ihre Friedens-wünsche und entwickelte zahlreiche Friedens-pläne. Aber diese Friedensstimmen setzten sich letztlich nicht durch, obwohl sie unterschiedliche Friedensmodelle zur Diskussion stellten
Manche erhofften sich vom Freihandel eine friedensstiftende Wirkung, weil er Fortschritt, Reichtum und Humanität förderte. Man vertraute auf die Wunderkraft der Wirtschaft. Multipolarität und ökonomischer Austausch galten als Kriterien für die Erhaltung des Friedens und der Freiheit. Doch mit den Schattenseiten der Industrialisierung traten Klassenkämpfe auf, welche die Gesellschaft polarisier-ten. Die Weltwirtschaft nivellierte nicht die großen sozialen Unterschiede, die nun zwischen Industrie-und Agrarstaaten auftraten und die neue soziale und politische Konflikte hervorriefen. Den Kapitalismus und Imperialismus traf der Vorwurf, wegen wirtschaftlicher Profite die Welt in den Krieg zu stürzen. Lenin lieferte mit seiner Imperialismusthese eine ökonomische Theorie des Krieges. Er lehnte die Auffassung von der wirtschaftlichen Interdependenz, die Wohlstand und Frieden schuf, schroff ab, so daß diese Theorien sich konträr gegenüberstanden.
Aber auch dort, wo der politische Sozialismus zur Herrschaft gelangte und wo er seine Vorstellungen durchzusetzen vermochte — Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmittel —, schuf er kein „befriedetes Dasein". Die großen Hoffnungen erfüllten sich nicht mit der proletarischen Revolution. Die sozialistische Friedensvorstellung, die klassenlose Gesellschaft, blieb Utopie. Selbst die demokratische Friedenstheorie pazifizierte die Welt nicht, obwohl man gegen ungerechte Kriege moralisch zu Felde zog und alle Aggressionen verpönte. Man berief sich auf Kant, um die Kluft zwischen Politik und Moral zu schließen
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg scheiterten alle Friedenskonzepte, so daß wir die Fest
Stellung treffen müssen, daß weder eine faschistische, bolschewistische noch eine demokratische Friedensidee der Welt ein befriedetes Dasein bescherte. Weder Hitlers Idee vom Imperialfrieden noch die Utopie der klassenlosen Gesellschaft, aber auch nicht die demokratischen Friedensorganisationen, der Völkerbund und die Vereinten Nationen, schufen einen dauerhaften Frieden. Bis zur Gegenwart entzündeten sich Bürgerkriege und konventionelle Kriege aus heterogenen Interessenlagen heraus, ohne daß die Vernunft oder politische Moral ein wirksames Mittel zur Verhinderung der Zusammenstöße hätte sein können.
Aber bereits Kant sah das Problem, das uns gegenwärtig bewegt, weil es zum Novum unserer heutigen Konstellation geworden ist. Er spekulierte mit der Möglichkeit, daß der geschichtliche Ablauf wegen der Fortschritte in der Kriegstechnik den Menschen eines Tages zwingen werde, eine vernunftgemäße Organisation der Staatenwelt vorzunehmen
Diese Probleme stellen sich der politischen Bildung: die Kluft von Technologie und Moral und den unfruchtbaren Antagonismus zu durchbrechen. Die Entfaltung politischer Vernunft, die den Weltfrieden sichert, wird zur Grundbedingung künftiger Existenzerhaltung der Völker. Die politische Pädagogik muß friedliche Kooperationsformen entwickeln, damit der Weltfrieden geschaffen wird
Das technologische Novum, das die Gefahr der Selbstzerstörung mit sich bringt, verlangt nach Bewußtseinsveränderungen, die von einer Friedenspädagogik und Friedenserziehung zu leisten sind. Dabei geht es um die Entwicklung neuer Formen menschlicher Verbundenheit, die dem sich vereinheitlichenden Lebensstil gerecht werden. Die globale Interdependenz wächst trotz aller gegensätzlichen Prozesse, die sich in der Gegenwart abspielen. Noch sind die Konflikte zwischen Hunger und Überfluß, die Konflikte zwischen Weltanschauungen und Rassen nicht geschlichtet. Aber sie verlangen nach Analyse und Aufklärung und einer bewußten politischen Bildung, weil die Existenzgefährdung zu politischer Vernunft zwingt. „Wir sind auf Gedeih und Verderb an diesen winzigen Stern und seine Bewohner — unsere Mitmenschen — gekettet und müssen mit dieser unabänderlichen Tatsache fertig werden."
Friedenspädagogik unterscheidet sich von jeder traditionellen politischen Pädagogik, weil sich diese mehr oder weniger in den Dienst der politischen Systeme stellte und sie damit den einzelnen Ideologien diente. Die Verantwortung ist aber heute unteilbar, wenn wir aus dem gegenwärtigen Zustand des „Gleichgewichtes des Schreckens" durch Reform-und Bewußtseinsprozesse herausfinden wollen. Dieter Senghaas hat den Schlüsselbegriff „organisierte Friedlosigkeit" geprägt
Wir sollten daher lernen, daß wir unsere vorhandenen geistigen und materiellen Ressourcen dafür einzusetzen haben, daß. Hunger und Elend, soziale Ungerechtigkeit und Unterdrük-kung, Unwissenheit und nationale Leidenschaften einzudämmen und zu beseitigen sind, wenn die Friedensbereitschaft wachsen und das Feinddenken eliminiert werden soll. Das verlangt nach pädagogischer Aktivität und Aufklärungsarbeit, die mithilft, die fatalen Entwicklungen für jedermann sichtbar zu machen und die jene Strukturformen enthüllt, welche die organisierte Friedlosigkeit als Terrorfrieden erscheinen lassen
Friedenspädagogik bewährt sich in der Enthüllung von Zusammenhängen, die den Frieden gefährden, und in der Aufdeckung von Ideologien, die den Status quo oder die Stabilisierung bestehender Herrschaftsverhältnisse betreiben. Diese analytische und kritische Fä-higkeit soll den Blick für Kategorien öffnen, die dem Frieden förderlich sind
Die dominierenden sozialen und politischen Wertdifferenzen machen eine Friedenspädagogik zu einem schwierigen Unterfangen, das sehr leicht in Selbsttäuschung einmünden kann, weil sich erheblicher Widerstand gegen den nötigen Bewußtseinswandel einstellt. Die traditionellen Denkweisen sind nicht von heute auf morgen abzubauen und die herrschenden Gruppen sind wenig geneigt, Erziehungstendenzen zuzulassen, die ihren Interessen zuwiderlaufen. Wie sind mutige Schritte zu vollziehen, die eine gewaltfreie Welt vorbereiten? Die politische Pädagogik der Vergangenheit konnte keine befriedigende Antwort auf die gestellte Frage erteilen, weil sie sich an anderen Grundkategorien orientierte. So ließen sich apologetische und ideologische Tendenzen nur schwer vermeiden, weil sich ein „bewußtes Handeln bewußter Menschen auf der Grundlage wissenschaftlich abgesicherter Forschung"
Die soziale Homogenität wird zu einem entscheidenden Kriterium, das über den Frieden auf der südlichen Hälfte des Globus entscheiden wird. Der Zwang, von der Konfrontation zur Kooperation überzugehen — und dieser Zwang ist nicht rückgängig zu machen —, verlangt auch nach pädagogischen Konsequenzen, die verdeutlichen, daß wir nicht mehr über die Alternative von Krieg und Frieden verfügen. Das technologische Novum ist die Ursache dafür, die Chancen zu nutzen, die für den Aufbau eines dauerhaften Friedens gegeben sind. Es liegt heute im Interesse der Supermächte, sich einer Friedensforschung nicht hemmend in den Weg zu stellen, die eine Basis für die Friedenspädagogik bildet, deren Aufgabe es ist, die geistigen Zielsetzungen zu beschreiben, damit neue Bewußtseinsformen sich durchsetzen, die den Zukunftsaufgaben gerecht werden. Hier kam es zunächst darauf an zu zeigen, daß das technologische Novum eine Friedenspädagogik nötig macht, deren kritische Inhalte noch zu erörtern sind.
II. Politische Pädagogik im Wandel der Zeit
Solange sich die politische Pädagogik in den Dienst bestimmter politischer Systeme stellte und sich zur Apologetin der Politik machte, konnte sie die grundsätzliche Aufgabe einer Friedenspädagogik nicht erfassen. Ein Blick in die Geschichte genügt, um uns davon zu überzeugen, daß es keine reale Chance für eine Friedenserziehung gab. Gewiß zeichneten sich Ansätze dazu nach dem Ersten Weltkrieg ab. Jedoch die ideologische Staatspädagogik
Foerster entwickelte Ideen, die wir heute für eine Friedenspädagogik als einem neuen Denkansatz unserer politischen Pädagogik erneut fruchtbar machen müssen, weil sie sich in seiner Zeit nicht durchsetzten. Das Mitmenschliche, die gegenseitige Ergänzung, die Beseitigung des moralischen Rückstandes, die systematische Erziehung der Völker, die Betonung der Individualrechte, die Überwindung des unfruchtbaren Freund-Feind-Verhältnisses, überhaupt das Problem der Aggressivität werden von ihm mit aller Klarheit angesprochen. So dachte er weit über seine eigene Zeit hinaus, ohne daß diese sich von seinen Gedanken überzeugen ließ, weil sich breite Bevölkerungskreise in Deutschland dem nationalen Denken verschrieben. Foerster blieb als Pazifist und Utopist ein Außenseiter der Pädagogik. Im Rückblick verstehen wir die Worte seines Biographen Franz Pöggeler, der ihn als einen „der ganz wenigen Pioniere einer internationalen Ausweitung der politischen Erziehung" bezeichnete
Hier ist ein Programm formuliert, das stimulierend wirken sollte, denn die internationale Ausweitung der politischen Erziehung ist heute eine conditio sine qua non, wenn die Freiheit und sittliche Würde für den einzelnen erhalten und wenn ein Weltgemeinwohl entwickelt werden soll. Als Kritiker jeder Macht-und Gewaltpolitik geißelte er vor allem den Entsittlichungsprozeß, der sich mit ihr breit-machte, und brandmarkte alle falschen Idole in der Politik. Die Würde eines Staates beruhe nicht auf seiner Machtstellung, sondern auf der Qualität seiner Ordnung. Friedenserziehung habe die Aufgabe, Aggressivität, Haß, Fanatismus und Antagonismus zugunsten einer Versöhnung zu überwinden
Foersters Idee einer Friedenserziehung wurde von der von Hegel beeinflußten Staatspädagogik verworfen. Die politische Pädagogik forderte den nationalen Aspekt politischer Erziehung. Staat, Nation und Volk galten als grundlegende Werte, die der Heranwachsende zu verstehen hatte. Mitmenschlichkeit und Frieden hielt man für utopische und schwärmerische Vorstellungen, die mehr in das Reich der Phantasie als in realpolitische Erwägungen gehörten. Der Staatsbegriff als Grundkategorie politischer Erziehung konnte vom Friedensbegriff nicht verdrängt worden. Die staatsbürgerliche Erziehung erhielt ihren Primat. Sie wurde von bestimmten nationalen Kreisen, die vom romantischen Geist beeinflußt waren, angefochten, weil diese sich auf eine „volksbürgerliche Erziehung" beriefen. So konnte man Wilhelm Stapel
Weder die Staatspädagogik noch die Volks-pädagogik erkannte die Chance, die in einer Friedenserziehung lag. Spranger übersah trotz seiner hohen Gesinnungs-, Pflicht-und Opfer-ethik, die er vom einzelnen forderte, daß der Staat, den er unter sittliche Normen stellte, nicht immer gewillt war, diese anzuerkennen. So lag ihm der natürliche Gedanke des Machtmißbrauches durch den Staat völlig fern. Die idealistische Staatspädagogik hatte keine Antwort für den Tatbestand, daß politische Führungsgruppen bedenkenlos sittliche Maßstäbe mißachteten. Und Stapel förderte den Volks-mythos, indem er das Volk heroisierte. Die Schöpferkraft des Volkes bewährte sich im Hervorbringen des Genies, das stellvertretend für das Volksganze handelte. Hier wurde der Keim zu einer Geniekultlehre gelegt, die sich später im „Führerkult" manifestierte.
Die politische Pädagogik entwickelte mit diesen Ideen und mit dieser Bewußtseinshaltung keine demokratische Tugenden. Hier führte keine Brücke in die Lebenswirklichkeit des demokratischen Staates. Sie folgte in Deutschland anderen Leitbildern und verfocht auch andere Zielvorstellungen. Das Friedensproblem wurde in diesem Denkansatz nicht gesehen. Pazifismus war verpönt; er galt als eine pathologische Erscheinung, als ein Gift, das man von der Jugend fernhalten wollte. Daß Frieden zum entscheidenden Grundproblem politischer Pädagogik werden würde, lag nicht im Bereich der Denkmöglichkeiten dieser Theoretiker. Foerster blieb in der Tat ein vergessener Außenseiter
In Deutschland triumphierte das totalitäre Erziehungsideal. Ideologische Verblendung war das Resultat dieser Pseudo-Erziehung, die ein exaltiertes Kampfethos predigte, das allein kriegerische, militärische und heroische Tugenden propagierte: Härte, Zähigkeit, Wagemut, rücksichtsloser Einsatz, fanatischer Glaube an die Ideologie und Führertreue. Dieser totalitäre Tugendkanon wurde zum Lehrinhalt totalitärer Erziehung, wobei jede geistige Spontaneität und jedes kritische Bewußtsein zugunsten eingeimpfter ideologischer Formeln unterdrückt wurde. Das Freund-Feind-Modell förderte das dichotomische Denken: einerseits das Volksgemeinschaftsdenken und andererseits das bewußte Feinddenken. Die Kampf-theorie konnte doch nur Glauben finden, wenn sich der Feind personalisieren ließ. Die totalitäre politische Pädagogik legte den Nachdruck auf ihre besonderen Liebes-und Haßobjekte. Man verherrlichte das Kollektiv als Volks-gemeinschaft und verunglimpfte den Feind. Volksgemeinschaft bedeutete Glück und Geborgenheit und der Feind stellte die Inkarnation des Bösen dar. Alle Mittel der Propaganda setzte man für dieses dichotomische Denken ein. Und damit mobilisierte die politische Pädagogik Kollektivgefühle, die sich auf die bevorzugte Gruppe richteten, um die Schlag-und Kampfkraft zu erhöhen. Andererseits aktivierte man irrationale Feindgefühle, um die Geächteten mit destruktiver Kraft zu treffen, denn die Ideologie brauchte den „Feind", um die Stoßrichtung des Kampfes zu signalisieren
Die nationalsozialistische Pädagogik ist nur ein typisches Beispiel für totalitäre Weltanschauungen und für Ideologien, die zu allen Zeiten solche oder ähnliche Freund-Feind-Bilder entwarfen. Ernst Krieck und Alfred Baeum-ler setzten sich im Dritten Reich für das Ziel-bild des „politischen Soldaten" ein, weil es die Gewähr bot, daß Hitlers „Lebensraumpolitik"
sich realisieren ließ. Der junge Volksgenosse sollte lernen, sich dem Führerbefehl treu und bedingungslos zu unterstellen. Das persönliche Gewissen hatte zu schweigen, wenn der „Held" durch Krieg und Zerstörung, durch Blut und Tod schritt.
Totalitäre Erziehung bedeutete aktive Kriegs-erziehung, weil der Krieg als das reinigende „Stahlbad" empfunden wurde, als die höchste Bewährungsprobe, die es überhaupt gab. Der Krieg diente einer ganzen Nation, war „Schule der Nation". Totalitäre Erziehung verlieh dem kriegerischen Geschehen einen positiven Wertakzent
funktioniert
Die totalitäre politische Pädagogik verkennt die Aggressionsproblematik und überspitzt das Freund-Feind-Verhältnis; sie möchte die politische Bildung für ideologische Zwecke gebrauchen und daher völlig in ihren Dienst stellen. Auch hier triumphiert das antagonistische Denken. Ob die politische Pädagogik ins Schlepptau von Nationalisten oder Imperialisten gerät, ob Faschisten oder Marxisten sie benutzen, immer wird sie zur Magd der Politik degradiert, denn das antagonistische Denken stellt bewußt den Grundsatz der Parteilichkeit in den Mittelpunkt. Der Staats-und Volksbegriff, der Rassen-und Klassenbegriff dienen als Grundkatagorien einer politischen Pädagogik, die sich nicht vom Grundsatz der Parteilichkeit zu lösen vermag. Bewußte Parteilichkeit und Aggression, das Denken in den Kategorien von Freund und Feind zementieren einen Antagonismus, auf dessen Boden sich keine Friedenspädagogik entwickeln läßt, weil ja ihre Aufgabe gerade darin besteht, unfruchtbare Haßfronten abzubauen, die durch Schablonen und Klischees, durch Ressentiments und Stereotype nur aufrechterhalten werden
Ideologisches Konfliktdenken konzentriert sich auf den Feind und Widersacher, von dem man behauptet, daß er allein der Störenfried der vernünftigen Ordnung sei. Erst nach der Ver-nichtung des Gegenspielers dürfe man hoffen, Krieg und Revolution als Mittel der Politik zu begraben. Solche bequemen Sündenbocktheorien haben bis heute jedenfalls getrogen, denn Aggression und Gewalt erbten sich von Generation zu Generation fort. Keine siegreiche Klasse oder Nation konnte bisher der Welt einen dauerhaften Frieden bescheren, weil man die Menschen politisch so erzog, daß man sie in aktuelle Freund-Feind-Fronten einspannte. Man kam aus dem dichotomischen Denken nicht heraus, weil man politische Bildung mit von vornherein fixierter Haltung und mit einseitiger Loyalität verwechselte
Aggression und Revolution, subversiver Krieg, Bürgerkrieg und Intervention gehören nach wie vor zu den Mitteln, mit denen man hofft, politische Konflikte zu lösen. Die gewaltsame Konfliktlösung beherrscht noch vielfach das Denken der entscheidenden Politiker und Staatsmänner. Gewiß hat man eine Fülle von Vorschlägen zur Rüstungskontrolle, zur Abrüstung und Entspannung eingebracht und langwierige Konferenzen darüber abgehalten, aber die Ergebnisse sind bisher bescheiden geblieben. Und dennoch vollzog sich ein gewisser Wandel, denn die traditionelle Unterscheidung von Krieg und Frieden, die scharfe Differenzierung dieser gewohnten Begriffe hat sich in der Gegenwart verwischt. Darauf zielt die Bemerkung von Dieter Senghaas ab: „Dem Begriff des Krieges und dem Begriff des Friedens entsprechen in der Politik und Gesellschaft keine eindeutigen Sachverhalte mehr."
Kriege und begrenzte Konflikte ausgetragen werden. Wir leben in einem „paradoxen Frieden".
Die Supermächte setzen sich aus Furcht vor dem atomaren Selbstmord an den Verhandlungstisch, obwohl sie sich zugleich in einem ideologischen, ökonomischen und strategischen Konkurrenzverhältnis befinden, denn beide Partner wissen, daß sie einen Atomkrieg im Angesicht des „Gleichgewichtes des Schrekkens" nicht führen können, weil ein solcher das Ende der politischen Vernunft bedeuten würde. Und dennoch — und hier zeigt sich die Paradoxie — erhält man den Antagonismus aufrecht
Die Hoffnung auf gegenseitige Aushilfe und Ergänzung, auf einen vernünftigen, für alle Seiten tragbaren Kompromiß im Ost-West-Geschehen scheint bei dem Stand der Dinge — trotz mancher Ansatzpunkte: Verhandlungen über ein kollektives Sicherheitssystem und über Gewaltverzicht — nicht in Reichweite zu liegen. Das rationale Denken, das so große Triumphe in Wissenschaft und Technik feiert — in der Atom-und Raketentechnik, in der Automation und Kybernetik —, konnte bisher noch nicht zur planenden Vorbereitung für die Änderung unserer gegenwärtigen Bewußtseinsstrukturen verwandt werden. Gerade im Schatten dieser technologischen Rationalität wuchern noch in üppiger Weise ideologische Vorstellungen, die ihren schärfsten und unversöhnlichen Akzent in den totalitären Systemen erhalten.
Noch haben wir nicht die tieferen Gründe dafür erschlossen, warum unser 20. Jahrhundert zu einer Zeit des Völkermordes, der Massenvernichtung und Massenaustreibung, engstirniger Ideologien, des Terrors und der Konzentrationslager wurde. Das Problem so vieler Dehumanisierungsprozesse brennt auf unseren Nägeln. Wir müssen ergründen, warum sich die politische Vernunft nicht entfalten läßt, die eine nötige Voraussetzung für die Lernund Erziehungsprozesse ist, die eine Welt der Zukunft gestalten. Zur Ergründung solcher Probleme bedürfen wir einer Friedensforschung, die in interdisziplinärer Kooperation jenes Wissen zur Verfügung stellt, das uns ein Vorausdenken ermöglicht. Dieses futurologische Wissen kann nicht zuletzt die politische Pädagogik beflügeln, ein Mehr an breiter Aufklärungsarbeit zu leisten, als es heute den Disziplinen Völker-recht, Internationale Politik, Politologie und Soziologie, Sozialpsychologie und Psychotherapie gelingt. So nützlich und unverzichtbar alle diese Einzelbeiträge sind, sie müssen zu einem „Friedenswissen"
Aber die politische Pädagogik hat noch nicht jene Reflexionsstufe erreicht, die für solche Zielsetzungen Grundlage wäre. Ein Rückblick auf die Geschichte der politischen Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg kann beweisen, daß wir hierzu erst in den Anfangsüberlegungen stehen. Die weltpolitische Konstellation spiegelt sich nicht zuletzt in der politischen Pädagogik. Diesen Tatbestand gilt es nun zu veranschaulichen und zu skizzieren.
III. Partnerschaft, Konflikt und Frieden als Grundkategorien politischer Pädagogik
Der schroffe Ost-West-Konflikt trug nach dem Sieg über den Faschismus dazu bei, daß die politische Pädagogik in der Bundesrepublik das Demokratie-Totalitarismus-Modell in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung rückte. Man wollte sich mit den einzelnen Formen des Totalitarismus, besonders mit dem Nationalsozialismus und dem Marxismus-Leninismus, auseinandersetzen. Durch eine komparative Analyse ließ sich der qualitative Wert der Demokratie erfassen, der in der Erziehung zur Mündigkeit und Freiheit führte. Im Rückblick auf die eigenen Erfahrungen mit der totalitären Vergangenheit hieß es bei einer Neubesinnung auf die demokratische Ordnungsform die Fehlentwicklungen zu vermeiden, welche die Deutschen in ihre selbstverschuldete Un-mündigkeit gestürzt hatten. Mit gutem Recht kritisierte man jede Form von „Unterwerfungspädagogik", welche sich der Aufklärung der Bürger widersetzte, weil sie ideologische Gläubigkeit als Tugend verkündete. Die prinzipielle Unterscheidung von demokratischer und totalitärer Erziehung diente dazu, unverlierbare Erfahrungen zu formulieren. Durch die Erkenntnis der Differenz eines freiheitlichen Lebensstiles und einer diktierten Einheitsideologie, welche mittels antizipierter Fixierungen rationale Argumentation unterdrückte, hoffte man, demokratisches Wertbewußtsein zu för41 dem, indem man Konsequenzen aus den Lehren des Totalitarismus zog
Der Wille zur Neuformung der Demokratie in der Bundesrepublik gab der Politikwissenschaft entscheidende Impulse, die sich als engagierte Demokratiewissenschaft verstand. Die Verwirklichung demokratischer Ordnungsprinzipien verlangte nach einer Beteiligung der politischen Pädagogik, die sich für kritische Offenheit, für ein Differenzierungsvermögen und ein Qualitätsbewußtsein unterschiedlicher Ordnungsformen einzusetzen hatte. Friedrich Oetinger erkannte demokratisches Leben als partnerschaftliche und kooperative Verhaltensweise. Freiheitliche Ordnung erforderte Mit-verantwortung und Mitbestimmung. Oetingers Partnerschaftspädagogik betonte Solidarität, Toleranz und Kompromißbereitschaft. Sie wandte sich kritisch gegen die Fehlansätze der Vergangenheit: gegen die idealistische Staats-pädagogik und gegen das nationalpolitische Erziehungsideal, wie es Krieck und Baeumler entwarfen
Oetinger wollte daher eine neue Grundkategorie des Politischen entwickeln. Mit gutem Recht hob er hervor: „Im Zeichen der staatsbürgerlichen Bildung sind wir in den Ersten, im Zeichen der nationalpolitischen Schulung in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen worden. Wir müssen offensichtlich aus dem Zirkel der Vorstellungen dieser beiden pädagogischen Systeme heraus, wenn wir von den deutschen Schulen und Universitäten überhaupt noch einen wirksamen Beitrag zur politischen Zukunft der Welt erwarten wollen."
Oetinger baute sein Partnerschaftsideal auf dem Gedanken auf, daß mit elementarer Gewalt das Soziale in die Politik einbrach und die formale Staatsidee verdrängte. „Mit gleicher Urgewalt hat sich unter unseren Augen auch das Bild der . Menschlichkeit" durch die Idee des Sozialen erfüllt, bereichert, vertieft. Und so begegnen sich heute zum ersten Mal in der Geschichte des modernen deutschen Staats der Begriff des Politischen und der Begriff des Menschlichen auf der Ebene unseres sozialen Schicksals."
Mit der starken Betonung des Sozialen wollte Oetinger die praktische und nüchterne Aufgabenbewältigung beschreiben, die das Leben stellte. Der Mensch sollte durch Erfahrung wachsen und sich nicht an ein Glaubensdogma verlieren, denn auf seine praktische Betätigung kam es an. Die neue Grundkategorie für die politische Pädagogik hieß „Partnerschaft", die ihre Substanz aus der sozialen Bestimmung des Menschen zog. Der pragmatische Charakter guter Partnerschaft zeigte sich im Prozeß der Kooperation. So rückte der Begriff der Kooperation in den Mittelpunkt der Untersuchung
Oetingers Ziel war, aus dem Feind den Partner, aus dem Untertan den Vollbürger zu machen. Deshalb verurteilte er — wie Foerster — alle Gewalt und Willkür, die ihre höchste Steigerungsform im Totalstaat erfuhren
Oetinger wandte sich gegen die Militarisierung des öffentlichen Lebensstiles und trat für die Beseitigung von Kollektivurteilen ein, die den Blick verengten. Er wehrte sich daher mit Recht gegen eine Machtvorstellung, die sich allein auf kriegerische Gewalt bezog. Er kritisierte das falsche Pathos der Männlichkeit, das dem militärischen Geist eigen war, und er stellte die provokatorische Frage: Wann werden wir statt des Kampfes die Zusammenarbeit, statt des „Stahlbades des Krieges" den „Mut im Frieden" preisen?
Oetinger gab eine Antwort auf diese Frage: Er wollte die Deutschen ganz unpathetisch in das demokratische Bewußtsein einführen. Zur Demokratie erziehen konnte nur derjenige, der selbst an sie glaubte. Freilich dürfe man für die Deutschen nicht eine „Extrademokratie''zurechtstutzen, in der das verboten war, was andere Demokratien hüteten: ein Bedürfnis nach Einheit und nach Frieden. Insofern trat er für eine Heroisierung des Friedens sein, ohne in einen doktrinären Pazifismus zu verfallen. In Deutschland hatte man nach dem Ersten Weltkrieg die wahren Friedenskräfte gelähmt. „Der Friede war bereits wenige Jahre nach dem Ende des Kriegs zu einer abstrakten Idee geworden, und die ganze Friedenserziehung der zwanziger Jahre blieb ohne eigentlichen Einfluß auf die Volksbildung."
Oetinger versuchte, die Selbsttäuschung und eine doppelte Moral zu vermeiden. Deshalb dachte er an keine „prinzipielle moralische Verfemung des Krieges", weil das Gegendemonstrationen hervorrief. Man gewann die Menschen für den Frieden, wenn sie die Erfahrung machten, „daß jede Störung des Friedens den Sinn unserer Arbeit vernichtet". In sozialen Handlungen sollte man aktiv werden, mitverantwortlich teilnehmen: das war der Weg zur Heroisierung des Friedens, der mit Hilfe der Zivilcourage, sich der Aufgabenerfüllung zu stellen, angetreten wurde
Die „Partnerschaft" als Grundkategorie politischer Pädagogik brachte das Miteinanderleben in den Blick, trat für das friedliche Zusammenleben ein, wobei die politische Gemeinschaft die Vervollkommnung des einzelnen ebenso betrieb, wie sie ein Leben „in der konkreten sozialen Fülle" ermöglichte und Störungen entgegenwirkte. Die Kraft und Fähigkeit des Vermittelns konnte man durch das Gespräch der Partner in Gang halten. Der Prozeß des gemeinsamen Handelns zielte auf Entwicklung, auf Aktivität in der Kooperation
Damit war ein neuer Weg beschritten, der nicht zu einer staatsidealistischen und totalitären Haltung führte, sondern zu einer partnerschaftlichen, die den demokratischen Geist verstärken sollte. Die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart trat deutlich in Erscheinung. Aber man fragte sich in den fünfziger Jahren, in denen sich der Ost-West-Konflikt verschärfte, ob ein solches liberaldemokratisches Harmoniemodell geeignet war, den nackten Realitäten der Politik gerecht zu werden. Erfaßte man das Politische durch die Grundkategorie der Partnerschaft?
Zweifellos räumte die Partnerschaftspädagogik mit antiquierten Vorstellungen auf: Sie wollte das Feinddenken ersetzen durch Zusammenarbeit und Mitmenschlichkeit, sie wandte sich gegen jedes überstiegene Pathos, trat für eine aktive soziale Haltung ein, die nüchtern und pragmatisch blieb und jedes herrschaftliche Denken, vor allem aber die Herrschaftsverhältnisse im öffentlichen Leben, anprangerte. Sie enthielt vor allem ein Prinzip der Mäßigung des Machtkampfes, das die Kritiker zu wenig würdigten, denn Partnerschaft eröffnete die Möglichkeit, die politischen Machtkämpfe zu zügeln. Gewiß jagte Oetinger nicht dem Phantom des ewigen Friedens nach! Aber er begriff — wie Foerster nach dem Ersten Weltkrieg —, daß man den Krieg, den Kampf, den Konflikt nicht verabsolutieren dürfe. Insofern blieb die Einsicht bis heute unübertroffen: „Die Partnerschaftserziehung beruht auf der Erfahrung, daß es zur Katastrophe führt, wenn man Macht sich selbst überläßt."
Oetingers Kritiker griffen seine Partnerschaftspädagogik scharf an, weil er der Illusion Vorschub leistete, als ließe sich der Kampf zugunsten eines ewigen Friedens elimieren. Der Ablauf der Geschichte aber zeigte ein anderes Bild. Die Reduktion des Politischen auf das Soziale verzerrte den Begriff des Politischen. Die Kritiker schienen auch im Recht zu sein, wenn sie auf die mannigfachen Konfliktsituationen, die ja Tag für Tag auftraten — in Gesellschaft und internationaler Politik —, hinwiesen. Es gab einfach kontroverse Konkurrenzprobleme, die man nicht adäquat mit „Partnerschaft" erklärte. All die Kämpfe des Alltages, Gegensätze und Widerstreit, Macht-, Interessen-und Wertkonflikte, entzündeten sich und führten zum Zusammenprall der Kontrahenten. Kampf und Streit gehörten zum Bild des Politischen ebenso wie Partnerschaft. Wenn man den Akzent allein auf „Partnerschaft" verlegte, so geriet man zweifellos in eine Position, die Kritik herausforderte. Man mußte dem Konfliktgeschehen im sozialen und politischen Bereich gerecht werden
Besonders Litt, Weniger und Weinstock interpretierten das Politische als Kampf und Auseinandersetzung, als Kontroverse und Konflikt. Im Kampf sollte der Andersdenkende nicht durch Intoleranz denunziert werden. Konflikte verlangten nach Regelung und Schlichtung, weil sie sich sonst stabilisierten und die politische Ordnung gefährdeten. Diese Kritik an der Partnerschaft lenkte den Blick auf den „Konfliktbegriff", der in der politischen Bildungsarbeit sträflich vernachlässigt wurde, weil man dort das Harmoniemodell weiter praktizierte. Besonders Giesecke, Lingelbach und Engelhardt erwiesen sich als Kritiker eines Politikunterrichtes, der sich in traditionellen Bahnen bewegte. Insofern traf man einen wunden Punkt der Partnerschaftserziehung, die in ihrem Begriffssystem zwar Kooperation und Solidarität betonte, aber dem Konflikt und dem Kampf zu wenig Beachtung schenkte
Konflikte signalisierten antagonistische Ordnungsvorstellungen, die im Kampf lagen und die sich durchsetzen wollten
Es gibt Ideologien in der Gesellschaft und in der internationalen Staatenwelt, die den Konflikt als Ausgangsbasis für ihre Umsturzversuche benutzen. Mit dem Konflikt soll eine radikale Negation bestehender Ordnung zum Ausdruck kommen. Hier geht es gewöhnlich uni Herrschaftskonflikte, die mit äußerster Vehemenz ausgetragen werden, weil ja niemand von sich behaupten kann, nur er besäße das richtige Ordnungsverständnis
Unterschiedliche soziale Bedingungen sind die Ursache für die Ideologienbildung, die wiederum die Konfliktsituation heraufbeschwört. Manifeste Konflikte stützen sich geradezu auf soziale oder politische Ideologien, die ein Reflex sozialer oder politischer Strukturen sind
Konflikte entstehen aus der Natur des Menschen oder aus seiner Umwelt heraus. Man kann ihnen unterschiedliche Funktionen beimessen. Bei den Konfliktpädagogen erwächst der Eindruck, daß sie eine besonders positive Funktion besitzen
Auch in dieser Auseinandersetzung zeigt sich ein Dilemma theoretischen Denkens, von einem Extrem zum anderen hin und her zu schwanken. Der weitverbreiteten Auffassung, Konflikte als pathologisch zu kennzeichnen, mußte kritisch begegnet werden. Und Dahrendorf hat sich als Vertreter der Gegenposition deutlich qualifiziert, wobei er den Konflikten eine „schöpferische Kraft" zuspricht, die allen sozialen Wandel erst in Gang bringt. Seine Kritik trifft besonders die strukturell-funktionale Gesellschaft, die sich als „perfekte Gesellschaft" empfindet, in der jeder einzelne seine Rolle und Funktion ausübt und die daher keiner Konfikte bedarf. Wir wissen aus Erfahrung, daß dies das Bild einer totalitären Gesellschaft ist, denn die pluralistische Industriegesellschaft kennt erhebliche Interessengegensätze
Bei aller Bejahung der Konflikte darf ihre unterschiedliche Wirkung nicht unbeachtet bleiben. Sie können progressive, aber auch regressive Tendenzen beinhalten, schöpferisch, aber auch sinnlos sein
Die Ideologisierung des Konfliktes führt zu seiner Verschärfung. Wer den Konflikt bewußt intensiviert, nimmt ihm seine schöpferischen Möglichkeiten, weil er eine Konfliktregelung blockiert, die sich anderer Mittel als der Gewalt bedient. Diese Katastrophentheoretiker knüpfen an den Konflikt die fatale Hoffnung, daß sich nach der Katastrophe eine neue und bessere Ordnung aufbauen lasse. Daher vermeiden die die Revolution befürwortenden Theoretiker eine rationale Konfliktregelung, weil ein rationaler Ausgleich ohne Gewaltanwendung Toleranz, Kompromißund Friedensbereitschaft impliziert. Radikale Konfliktverfechter treten für den sozialen Befreiungskrieg ein, der die Probleme schlagartig lösen soll, ohne eine mühevolle Evolution zu durchlaufen. Sie verwerfen alle erprobten und anerkannten Spielregeln der Konfliktschlichtung und negieren gewaltlose Aktionen, weil diese keine ausreichende Effektivität in ihren Augen auslösen. Sie halten daher an der gewaltsamen Konfliktlösung fest.
Die Beschäftigung mit der Konfliktproblematik im Politikunterricht hat ihren guten Sinn, wenn man die Konfliktfälle analysiert, um damit ausdrücklich zur Beseitigung der Konflikte beizutragen. Bei den Konflikttheoretikern in der politischen Pädagogik, die sich auf Litt und Dahrendorf stützen, wird aus einem politisch-pädagogischen Engagement heraus der Konflikt für nützlich erachtet, wobei zunächst weniger die Konfliktbeseitigung im Mittelpunkt steht. Der Konflikt wird zum Grundbegriff politischer Bildung erhoben
Demokratische Gesellschaften sind bereit, Konflikte als existent anzuerkennen. Die Konflikt-theoretiker in der politischen Pädagogik teilen die optimistische Meinung, daß Konflikte der freien Entfaltung des Menschen nützlich sind. Ihr Optimismus beruht auf der Dahrendorf-sehen Einstellung, daß Konflikte über eine schöpferische Komponente verfügen. So wird der Konflikt zu einem „Schlüsselbegriff" des politischen Geschehens
Damit deuten wir die Tendenz an, die sich bei Giesecke und Lingelbach feststellen läßt, daß ein theoretischer Monismus zu Schwierigkeiten führt, weil man nur den einen Aspekt in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, der als universales Erklärungsprinzip dient
Dahrendorf verschob den Akzent auf die Konflikttheorie, weil man die Gleichgewichtstheorie so stark überbetont hatte. Damit erhielt die Konflikttheorie außerordentliche Bedeutung. Daß sich Giesecke auf Dahrendorf beruft, ist für den ganzen Sachverhalt symptomatisch. So begrüßenswert das Verständnis für Konflikte ist, eben weil man sie verschwieg oder nur als pathologisch betrachtete, so einseitig ist es, im Konflikt einen Grundbegriff oder Schlüsselbegriff politischer Pädagogik zu sehen und diesem Begriff einen schöpferischen Wertakzent zu verleihen, weil dann nur der funktionale Aspekt im streng demokratischen Sinne zum Ausdruck kommt. Konflikte sind aber ein Symptom dafür, daß sich ein innen-oder außenpolitisches Gleichgewicht zu verschieben droht. Sie signalisieren daher Antagonismen, die man um der Ordnung willen regeln oder schlichten muß, damit nicht Dysfunktionalität entsteht. Hier fällt der Blick auf das Ordnungsproblem, weil es verschiedene Ordnungstypen gibt, die sich in der Weltpolitik realisieren.
Wir wissen, daß sich besonders ideologische Konflikte als sehr gefährlich für die Ordnungsverhältnisse in der Welt erweisen, weil in einer instabilen Lage eine schnelle Eskalation des Konfliktes denkbar ist. Revolutionäre Konflikttheorien bilden Gefahrenherde für die Weltsicherheit und damit für den Weltfrieden. Weil im Konflikt — man denke nicht zuletzt an ihre große Variationsbreite vom Streitgespräch bis zum Nuklearkonflikt — sich unterschiedliche Tendenzen bemerkbar machen, funktionale und dysfunktionale, konstruktive und destruktive, ist es wichtig, Konflikte auf der Grundlage eines Minimumkonsenus zu regeln und auch zu schlichten. Der Konflikt
Schlichtung kommt eine große Bedeutung zu, denn durch Verhandlungen und Vermittlungen, durch freiwillige und verbindliche Schlichtung lassen sich Konflikte im rationalen Dialog eindämmen, die zwar auch dann noch nicht immer verschwinden werden
Durch den Konflikt kommen Antagonismen zum Ausdruck, die sich auf großer Bandbreite realisieren: von der parlamentarischen Debatte bis zu den Protesten und Streiks, den Bürgerkriegen und möglichen Nuklearkonflikten. Der Antagonismus kann verschiedene Gründe haben. Stets bilden sich zwei Konflikt-seiten heraus, die einen bestimmten Bewußtseinsgrad entwickeln. Es gibt mannigfache Konfliktarten, die man vom psychologischen Konflikt bis zu den internationalen Konflikten unterscheiden könnte, wobei die sozialen Konflikte gewöhnlich im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Unsere gegenwärtige politische Lage zwingt uns, auch den internationalen Konflikten mehr Bedeutung in der politischen Pädagogik beizumessen, als es geschieht. Eingedenk des technologischen Novums erhält das Konfliktproblem eine neue Akzentuierung, denn die Politik bewährt sich in Zukunft in ihrer friedlichen Ordnungsaufgabe, der es gelingt, alle Aggressionsabsichten zu sublimieren, das heißt in nicht gewaltsame Formen umzulenken, damit Destruktion und Dysfunktionalität vermieden werden
Konflikte gehören zu einer freiheitlichen Ordnung, weil sich auf Grund der Pluralität unterschiedliche Ideen und Wertvorstellungen ausbilden. Die entscheidende Erkenntnis, die wir heute auf Grund unserer weltpolitischen Lage in der politischen Pädagogik zu vertreten haben, besteht in der Tatsache, daß wir uns die gewaltsame Lösung von Konflikten nicht mehr leisten können, ja mehr noch, daß das Starren auf den Konflikt uns nicht weiter bringt. Besonders die ideologischen Konflikte erweisen sich als starre Barrieren für den Fortschritt der Menschheit, gefährden wegen der Heftigkeit und Intensität ihres Austrags Stabilität und Sicherheit. Frieden und Freiheit, menschenwürdige Ordnung und Verantwortung hängen heute davon ab, ob es gelingt, starre Konflikt-fronten aufzulösen, indem man zu kooperativen Aktionen ermutigt, die zu vernünftigen Arrangements führen, damit Konflikte nicht verhärtet werden und eskalieren. Die Konfliktträger müssen davon überzeugt werden, daß sie nicht nur ihre Sonderinteressen zu vertreten haben, sondern daß der Prozeß der globalen Interdependenz die Berücksichtigung eines Weltgemeinwohls erforderlich macht.
Unter diesem Aspekt entstehen für die politische Pädagogik neue Überlegungen, die sich im Rahmen der Partnerschaftsund Konfliktpädagogik nur bedingt erörtern lassen. Sie kann sich in Zukunft nicht mehr zur Apologetin einer bestimmten Ideologie machen, denn von ihr wird eine Ausgleichsfunktion erwartet. Sie soll heterogene Standpunkte, die aufeinanderstoßen, auf einer höheren Bewußtseinsform und Bewußtseinsebene, welche Kooperation und Kompromiß ermöglichen, zu einem Arrangement führen, das die Konflikt-fronten auflöst oder wenigstens von unbedachten Schritten abhält. Besonders konfligierende Ideologien dürfen nicht destruktive Aktionen auslösen, nur weil unterschiedliche Bewußtseinsformen systematisch herangezüchtet werden, welche die Mißverständnisse stabilisieren wollen. Die politische Pädagogik hat daher für ein geistiges Niveau zu sorgen, das in der Lage ist, die Gründe und Motive für Konflikte sichtbar zu machen. Konfliktanalyse, Konflikt-kritik und Konfliktregelung werden zu beherrschenden Aufgaben einer auf den Frieden hin orientierten politischen Pädagogik, weil der Friede die conditio sine qua non ist. Der Friedensbegriff gehört in der politischen Pädagogik von nun an ins Zentrum oder sollte dorthin gerückt werden
Es gehört zur analytischen Aufgabe einer Friedenspädagogik, die Starrheit des Konfliktdenkens zu überwinden und das Bewußtsein so zu fördern, daß die Konfliktgründe — Machtbewußtsein, ökonomische Interessen, Wertkonflikte — deutlich zutage treten, damit man den hemmenden Tendenzen entgegenwirkt, weil Konflikte oft aus verkehrter Bewußtseinseinstellung heraus entstehen. Solche Verkrampfungen müssen durch entspannende Bemühungen gelockert werden, damit kooperative Prozesse in Gang kommen. Die Konfliktregelung dient dem Frieden. Sie verlangt vor allem Vernunft von allen Beteiligten. Nicht der brutale Machteinsatz, sondern die entwickelte Vernunft ist die Garantie für ein besseres Weiterleben. Eine Friedenspädagogik hat das Umschlagen der Konflikte in offene Aggressionen zu verhindern, damit die Menschheit nicht in unlösbare Krisen hineintaumelt.
Von diesem Aspekt her gesehen haben sowohl die Partnerschafts-wie die Konfliktpädagogik ihre Verdienste, weil sie partnerschaftliches und kontroverses Denken vermittelten. Konflikt und Kooperation sind Tatbestände des Politischen, die sich jederzeit verifizieren lassen. Daher ist es nötig, daß man diese Aspekte mit gleichem Nachdruck betont. Das Verschweigen konkreter Konfliktlagen ist ebenso töricht wie eine maßlose Kritik an Partnerschaft. Unter dem Friedensaspekt sind heute alternative Strategien zu entwickeln, die der Mannigfaltigkeit der verschiedenen und heterogenen Konfliktarten gerecht werden. Es gibt Konfliktarten, die geringfügig sind und die sich im Dialog lösen lassen, wenn die nötige Einsicht auf beiden Seiten vorherrscht; wir leiden andererseits an ideologischen Konflikten und an Machtkonflikten, die unsere Überle-benschance bedrohen. Hier können rationale Verhandlungen scheitern und die Konfliktlage verschärfen.
Die Friedenspädagogik hat daher die Aufgabe, den Blick auf die supranationalen Schlichtungsinstitutionen zu werfen und die Probleme zu erörtern, warum es nicht gelungen ist, solche Institutionen so wirksam auszugestalten, daß sie internationale Konflikte zu regeln verstehen. Die Praxis der Vereinten Nationen leidet daran, daß nicht alle Staaten an ihr verantwortlich beteiligt werden und daß nicht zuletzt der Konflikt der Supermächte die Entscheidungen der Weltorganisation mit beeinflußt. Die Unzulänglichkeiten dieses Systems dürfen eine Friedenspädagogik nicht davon abbringen, in der Assoziation und in der weltweiten Partnerschaft eine Quelle der Integration und damit eine Friedenschance zu entdecken
Die Heranwachsenden sind politisch so zu erziehen, daß sie gewaltsame Aktionen als Mittel der Politik ablehnen. Das verlangt von der politischen Pädagogik, daß sie junge Menschen auf eine höhere Bewußtseinsebene hebt, damit sie die elementaren Konfliktursachen durchschauen. Erst die Klarheit über Gründe und Motive, die internationale Streitfagen in Revolutionen und Kriege einmünden läßt, wird die Haltung schaffen, die menschlichen Aggressionsneigungen zu enthüllen. Die radikale Aufhellung solcher Ursachen läßt auf ein neues Aufklärungszeitalter hoffen, das mit der Friedenspädagogik ein wichtiges Instrument erhält. Der Friede wird zu einer grundlegenden Kategorie politischer Erziehungsarbeit, wobei die konfligierenden und kooperativen Kräfte sorgfältig zu analysieren sind, weil sie neue Ordnungsbedingungen schaffen, die auf Kompromiß, Partnerschaft, Kooperation und in einer vernünftigen Ausgleichspolitik zu sehen sind. Die freiheitliche Friedensordnung für die Weltgemeinschaft, die das Weltgemeinwohl beachtet, ist die große Zielvorstellung der Friedenspädagogik.
Wir wissen, daß die heranwachsende Generation noch nicht über die skizzierte Bewußtseinsstufe verfügt und daß es noch keine Theorie einer Friedenspädagogik gibt, die aktiv und systematisch mit ihrer Arbeit beginnen könnte. Aber um die Einsicht, daß wir auf Grund des Wandels der Weltpolitik eine solche Theorie zu erarbeiten haben, kommen wir nicht mehr herum, und die ersten Schritte auf diesem Wege sind von uns zu leisten
IV. Weltpolitik von der Konfrontation zur Kooperation
Als sich die Niederlage Hitlers im Zweiten Weltkrieg abzeichnete, richtete sich Roosevelts Sorge auf die künftige Friedenssicherung und auf die Aufgabe einer neuen Friedensgestaltung. Er faßte diesen Gedanken in der One-World-Idee zusammen. Als Schüler Wilsons wußte er, daß solche Pläne auch scheitern konnten. Dennoch bedurfte es einer Organisation, welche die Gewähr bot, daß die Verhältnisse im alten Staatensystem überwunden wurden. Roosevelts Verhandlungen mit Stalin in Jalta
Gewiß konnte dieses kollektive Sicherheitssystem funktionieren, wenn die beiden Haupt-partner sich loyal verhielten und alle Konflikte vermieden. Dann erschien in der Tat jede Gleichgewichtspolitik überflüssig zu sein. Das „Konzert der Mächte" ließ sich durch den „Bilateralismus" ersetzen, der die Weltfriedensordnung garantierte und die One-World-Idee realisierte
In der Reaktion auf die fehlgeschlagene Friedenspolitik nahmen die Amerikaner die neue Konfrontation an, die sie nun zum Widersacher des Kriegsverbündeten machte. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ein neues politisches Bewußtsein aufzubauen, weil die Realität sie dazu zwang. So entwickelten sie die berühmte Containment-Politik
Ideologische und ökonomische Solidarität schweißte den Block zusammen, weil die gleiche Interessenlage die Idee der Partnerschaft förderte, zumal das Bewußtsein gegenseitiger Abhängigkeit sich stark ausprägte. So entwikkelte sich eine zu beachtende Interdependenz in den Blöcken, für die es keine geschichtliche Parallelität gab. Kooperationsund Integrationsprozesse vollzogen sich rasch, weil die Konfrontation der Hauptmächte sich zunehmend verschärfte
Die in Amerika einflußreiche „realistische Schule", die von Hans J. Morgenthau geführt wurde, kritisierte den „pazifistischen Idealismus" und machte deutlich, daß man mit solchem Denken nicht dem aktionsbereiten Totalitarismus widerstehen konnte
Das Blockdenken festigte die Ideologien, die den Ost-West-Konflikt stabilisierten. Für länger als ein Jahrzehnt überschattete der Konflikt der Supermächte die gesamte Weltpolitik. Die Blöcke wetteiferten miteinander, ihre Friedens-und Ordnungsvorstellungen zu proklamieren, aber gerade das Blockdenken verhinderte jede Friedenserörterung
Die neutrale Staatenwelt weigerte sich auf den Dualismus der Supermächte einzuschwenken, weil sie den starren Konflikt nicht noch weiter potenzieren wollte. So entstand eine neue Politik: die der Bündnislosigkeit, welche einen neuen Block neben die fixierten Blöcke zu setzen gedachte. Diese Non-Alignment-Front offenbarte ein Selbständigkeitsstreben, das sich im prinzipiellen Neutralismus ausdrückte mit dem weltpolitischen Ziel, die Starrheit der Bipolarität zugunsten einer gelockerten Haltung aufzulösen. Nehru, Nasser und Tito begegneten sich in dieser Vorstellung und handelten kooperativ. Der Block der Blockfreien rückte die Aufweichungstendenz in den Bereich der Möglichkeit.
Die rasante Entwicklung der Kriegsindustrie, der Rüstungswettlauf mit den Nuklear-und Raketenwaffen schuf eine nukleare Parität, die zur gegenseitigen Neutralisierung, zum atomaren Patt führte und damit den Spielraum der Politik beträchtlich einengte. Eine Revitalisierung des politischen Handelns schien dringend erforderlich. Die Sowjets hatten sich mit ihrer „Koexistenz-Formel“, die von Chruschtschow vertreten wurde, schon früher als die Amerikaner um eine Position bemüht, die anzeigen sollte, daß man den „Kalten Krieg"
und die harte Konfrontation aufzugeben gedachte. Dulles vermied es, die Koexistenzpolitik der Sowjets eingehend zu testen, wie er auch die Blockfreiheit für amoralisch und kurzsichtig hielt
Erst in der Kennedy-Ära trug man dem atomaren Patt Rechnung und war gewillt, alte Grundsätze zu revidieren. Kennedys Ziel war, mit den Sowjets zu einem Arrangement zu kommen, zumal die USA nicht mehr unverwundbar blieb, wenn es zur Konfrontation kam. Er verdoppelte seine Anstrengungen, um eine politische und militärische Strategie zu entwerfen, welche lokale und globale Kriege verhinderte. Sein Ziel richtete sich auf eine glaubhafte Abschreckung der Sowjets, die es ihm ermöglichte, von einer Position der Stärke aus zu verhandeln. Das verhinderte zunächst nicht neue Spannungen, aber der Wille zur Entspannung nahm glaubhafte Formen an, der zu Belastungsproben mit den eigenen Partnern führte. Besonders nach dem Kuba-Debakel kündigte sich der Wille an, kooperative Schritte in Teilfragen zu unternehmen und es mit der Koexistenz-Politik zu versuchen.
Frankreich und China nutzten diese Möglichkeiten, um sich von der jeweiligen Führungsmacht zu distanzieren. Das Aufbegehren in den Blöcken stellte die Supermächte vor das Problem, wie sie mit ihren Partnern in den Blökken verkehren sollten, weil diese Mitsprache-und Mitbestimmungsrechte forderten. So zeichnete sich im Osten wie im Westen ein ähnliches Dilemma ab. Man war auf Grund des atomaren Patts dazu verurteilt, Kooperationsmöglichkeiten zu suchen. Zugleich mußte man sich mit dem wachsenden Eigenwillen der Partner auseinandersetzen. Diese doppelgleisige Politik rief jene multipolaren und polyzentristi-sehen Tendenzen
Mit dem Wachsen des Willens zum Arrangement vollzog sich ein neuer Prozeß, der den Supermächten den Vorwurf atomarer Komplicenschaft eintrug. Besonders China richtete heftige Angriffe an die Adresse der UdSSR und verdächtigte die Hegemonialmacht eines „imperialistischen Komplotts". Das Mißtrauen ging noch weiter: Man sprach von den Anfängen eines Weltkondominiums, das die brüderliche Aufteilung der Welt bezwecke, wobei man sich die Region zuteile, in der jede Supermacht für Frieden und Ordnung zu sorgen habe
Die Zuspitzung des Konfliktes zwischen Moskau und Peking nötigte die Sowjetunion zu einer Politik des Abwartens, die mal freundlichere und mal härtere Züge offenbarte, je nachdem, wie es die Staatsräson und die Ideologie erforderten. Diese typische Ambivalenz war seit Lenin und Stalin, aber auch unter und nach Chruschtschow erhalten geblieben. Gewiß hatte die Koexistenzpolitik nicht zuletzt die Aufgabe, den Westen zu beschwichtigen
Weil in der Tschechoslowakei der Grundsatz vom „Sozialismus in einer Region" bedroht schien und antisozialistische Kräfte den Marxismus-Leninismus angriffen, war es nach sowjetischer Auffassung die Pflicht der UdSSR, die gemeinsamen Interessen zu schützen, das heißt die osteuropäische Region in ihrer Substanz zu erhalten. Die osteuropäischen Verbündeten hatten die Minderung ihrer Souveränität hinzunehmen und sich zur verbindlichen Ideologie zu bekennen. Das hegemoniale Denken siegte über die Idee eines humanen Sozialismus, Sicherheitsinteressen und die Ideologie erwiesen sich als stärker als die Freiheit
Diese heterogenen Tendenzen in der gegenwärtigen Weltpolitik gestalten die Verhältnisse schwierig, denn wir beobachten weitere kooperative Schritte: die Unterzeichnung des Atomsperrvertrages und die sogenannten SALT-Gespräche
So verfolgen sie gemeinsame und sich widersprechende Ziele; sie streiten für den Atomsperrvertrag, um die nukleare Streuung zu verhindern und den Atomklub nicht auszuweiten, denn in ihren Blöcken bleibt die nukleare Exklusivität erhalten Die „friedensstiftende" Wirkung dieses Vertrages beruht noch offensichtlich auf einem „Element negativer Kooperation"
Die Tatsache aber, daß die starre Konfrontation des Kalten Krieges einer „negativen Kooperation" gewichen ist, läßt die Vermutung aussprechen, daß eine Interessenkonvergenz eher zunehmen als abnehmen dürfte, was unter bestimmten Aspekten eine „globale Kohegemonie" möglich macht, die freilich auch viele Staaten fürchten
Wir dürfen auf dem bisher erreichten Stand nicht stehen bleiben. Die politische Vernunft, die sich in vielen Handlungsweisen trotz der. zahlreichen Konfliktherde . auf dieser Welt immer wieder durchzusetzen vermochte, kann noch größere Triumphe feiern, um die Dialektik von Konfrontation und Kooperation im Sinne positiver Kooperation zu überwinden. Dazu ist die Einsicht nötig, daß der Frieden nicht nur ein institutionelles und ökonomisches Problem ist, sondern auch die Frage nach unserer geistigen Haltung mit einschließt. Wenn wir in der politischen Pädagogik mit Hilfe der Ergebnisse der Friedensforschung
Die Paradoxie und Heterogonie der gegenwärtigen Weltpolitik, ihre „organisierte Friedlosigkeit" verhärtet noch zu stark die bestehenden Fronten, was natürlich Rückwirkungen auf die politische Bildung in Ost und West auslöst, weil Auswege aus der Situation nur zögernd und abwartend vollzogen werden. Es ist an sich widersprüchlich, den Weltkommunismus und die Sowjetunion zu bekämpfen, gegen sie gerichtete Verteidigungsbündnisse in Funktion zu halten und doch mit ihr zu kooperieren und Verträge abzuschließen. Mißtrauen und Vertrauen mischen sich noch. Das gleiche Bild zeigt sich bei der Sowjetunion, die stets behauptet, den Kampf für Frieden zu führen, für die Unabhängigkeit der Völker zu wir-ken, und de facto ihren sozialistischen Partner-staaten die volle . Gleichberechtigung versagt und mit Interventionen droht, wenn sie auf mangelndes Wohlverhalten stößt. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker — ein „Aushängeschild der kommunistischen Ideologie" — hat wie auch andere ideologische Zielsetzungen die Aufgabe, die eigene Machtpolitik zu verhüllen. Ihre Machtpolitik steht vor der Ideologie. Dafür gibt es genügend Beweise
Wir stoßen damit auf ein Problem, das sich nicht zuletzt einer politischen Pädagogik stellt: die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ins Bewußtsein zu heben. Die nüchterne Analyse der Ideologie und der ihr folgenden politischen Praxis offenbart die angesprochene Diskrepanz, die sich nur durch eine erweiterte Bewußtseinsform beheben läßt. Ein konkretes Beispiel hierfür ist die Politik der Teilungen, die in unserem Jahrhundert unter ideologischen Gesichtspunkten typisch geworden ist und in der sich die antagonistische Bipolarität spiegelt. Diese Politik hat in Korea, in Deutschland und in Vietnam einen Status quo hergestellt, der für die beteiligten Völker als untragbar empfunden wird. Diese und andere Teilungsprobleme sind die Folge — mittelbar und unmittelbar — des atomaren Gleichgewichts
Revolutionäre und reaktionäre Tendenzen stoßen hart aufeinander, weil rückständige Herrschaftshierarchien und ungerechte Sozialordnungen den Fortschritt blockieren. Zweifellos gefährden diese als Krisenherd die Erhaltung des Friedens, weil sich die soziale Ungerechtigkeit ein Ventil im revolutionären Aufbegehren schafft, der Weltarmut den Kampf anzusagen. Die heute noch bestehenden Demarkationslinien, die weder eine historische noch eine geographische Berechtigung haben, und die Probleme der Weltarmut sind eine Herausforderung für die Supermächte und ihre Bündnispartner, Maßnahmen für eine Konfliktregelung zu ergreifen und eine gemeinsame Friedensstrategie zu entwerfen.
Nur wenn diese gemeinsam zu lösende Aufgabe im Osten und Westen erkannt wird, können die Zwiespälte dieser Welt überwunden werden. Es besteht kein Zweifel darüber, daß drastische Abrüstungsprogramme und die Umstellung der Rüstungsindustrie auf eine Friedensindustrie jene Mittel freisetzen würden, um wirksame Hilfsprogramme zu entwerfen. Voraussetzung für gemeinsames Handeln der nördlichen Industrienationen auf diesem Globus ist der Wandel des bisherigen Bewußtseins. Das verlangt zunächst eine erhöhte Anstrengung im politischen Bildungssystem, die Weichen vom antagonistischen Denken auf eine notwendige, durch die historische Epoche bedingte partnerschaftliche Kooperation zu stellen. Diese Aufgabe ließe sich von einer Friedenspädagogik bewältigen, die von den einsichtigen und die Probleme durchschauenden Eliten aus Verantwortung für die Zukunft zu konzipieren wäre.
In dem Augenblick, in dem die Supermächte den paradoxen Frieden nicht mehr stützen, weil andere Bewußtseinsvorgänge ihr politisches Handeln bestimmen, lassen sich auch Regelungen für den heute unbefriedigenden Zustand der Welt schaffen. So lange taktisch-ideologisches Denken die Politik beherrscht, die Sowjets zum Beispiel nicht willens sind, ihre These von den „gerechten Befreiungskriegen der unterdrückten Völker" aufzuheben, das heißt einer Friedensstrategie wegen den ideologischen Kampf abzubauen, damit unfruchtbare Haßfronten eingeebnet werden, solange läßt sich eine kooperative Humanität nicht realisieren, weil der revolutionäre Zündstoff erhalten bleibt und sich alle politischen Energien weiterhin gegen den Feind richten. Das Feind-und absolute Konfliktdenken, das dichotomische Denken, ist der wahre Grund dafür, daß sich Weltteilungslinien als Folge des atomaren Patts erhalten und daß bisherige Friedensstrategien zum Scheitern verdammt werden. Politische Dogmen und ideologische Strategie verhindern die neue Bewußtseinsformung, die bewußt auf den Frieden und die kooperative Humanität abzielt. Die Friedens-pädagogik ist die Chance, diesen Sachverhalt weltweit aufzuklären, damit die Ideologen nicht mehr zu den Verführern der Menschheit zählen. Revolution und Aggression gefährden die Welt, sie verwandeln sie nicht mehr im positiven Sinne. Die Welthungerkatastrophe erfordert heute jährlich mehr Opfer als die Revolutionskriege. Sie ist die Herausforderung an die heute lebende Menschheit, ihr politisches Verhalten zu verändern. Das verlangt nicht zuletzt nach einer geistigen Besinnung, die sich der Erkenntnis nicht verschließt, daß der Friede zur wahren Grundlage unseres politischen Denkens werden muß. Die Zeit, in der Ideologen sich des Friedensbegriffes als einer Phrase bedienten, ist vorbei. Die Grundkategorie der politischen Pädagogik heißt Frieden. Sie wird jene Tendenzen stützen, die auf dem gesamten Erdball einheitliche soziale Bedingungen in stets wachsendem Ausmaß schaffen. Die globale Interdependenz
V. Abschreckungspolitik und Friedenspädagogik
Der Weg von der Konfrontation zur Kooperation ist dornenreich. Es mag deshalb Zweifler geben, die sich starke Umformungsprozesse vom Geistigen her nicht vorstellen können, weil Rationalität und Technologie eine „negative" Seite enthüllen, die die Abschreckung wirksam beeinflußt. Viele meinen, daß dieser Prozeß irreversibel sei, weil allein das „Gleichgewicht des Schreckens" die reale Friedensgarantie darstelle. Der hohe Stand der Technologie erlaube den Aufbau eines lückenlosen Gewaltspektrums, das infolge vielfacher Abstufung ein Droh-und Gewaltsystem ermögliche, mit dem man vielschichtig reagieren könne. Diese Zweifler befürworten ihrerseits eine differenzierte Abschreckungstheorie mit dem Hinweis, daß eine totale Auslöschung und Vernichtung des Gegners nicht eintrete, da die Konfliktseiten den totalen Nuklearkrieg vermeiden möchten
Die Wahlmöglichkeiten eröffnen ein Verhalten, das auf gegenseitiger Abhängigkeit beruht, weil trotz der Härte des Konfliktes ein gegenseitiges Interesse eintritt, das die Kooperation auch unter Feinden herstellt, weil man dem Gegner klarmachen kann, daß er aus eigenem Interesse bestimmte Schritte zu unterlassen habe. So zeige sich auf allen möglichen Konfliktstufen auch immer noch ein kooperatives Verhältnis — „die eigenartige Verklammerung von Konflikt und Kooperation ..., die das Wesen der Eskalation bestimmen soll"
Das von Dieter Senghaas hervorragend beschriebene Abschreckungsdenken, das auf einer negativen Rationalität basiert und sich des Kooperationsbegriffes unter Feinden bedient, kann in der Tat nur Unbehagen auslösen, weil das ausgefeilte Drohsystem — von Hermann Kahn systematisch analysiert — einen Bewußtseinszustand offenbart, der von der Macht-und Interessenpolitik nicht abweicht. Macht und Interesse bleiben hier die Grundkategorien des Politischen. Aber „ein Lager von Bomben, Raketen und Kanonen ergibt keine größere Sicherheit als ein Pulverfaß", wie Amitai Etzioni treffend bemerkt
Riesensummen investiert man in ein System, das bestenfalls den Ernstfall verhindert, während man andere wichtige Weltprobleme, zum Beispiel die Lösung der Welthungerkatastrophe, als zweitrangig ansieht. Das entscheidende Motiv für die radikale Kritik dieses Systemes liegt in der „negativen Rationalität", die ins Irrationale überspringt, weil sie keine Überlegungen anstellt, wie man die ganze Drohpolitik vermeiden könnte. Dagegen wird „internationales Brinkmanship mit Atombomben und Bomben gespielt", wie Etzioni feststellt
Weil die Abschreckungssysteme hohe Kosten verursachen, reichen die Finanzmittel nicht aus, um die dringlichsten Probleme der Kultur-und Sozialpolitik zu erfüllen. Die notwendigen Friedenskosten werden von den Abschreckungskosten bei weitem überschritten. Mit anderen Worten: Der Frieden wäre nicht nur moralischer und vernünftiger, sondern auch viel billiger. Es ist daher an der Zeit, die ganze Schizophrenie des menschlichen Geistes sichtbar und bewußt zu machen, damit der Strom der Kritik anwächst und die „organisierte Friedlosigkeit" als System in ihrem Kern getroffen wird
Nüchterne Zahlen demonstrieren den Faktor Zeit. Von den rund drei Milliarden Erdbewohnern verhungern schätzungsweise 25 Millionen Menschen jährlich, 500 Millionen leben am Rande des Hungertodes, 1, 5 Milliarden leiden an Unterernährung. Die Bevölkerungsexplosion verschärft diesen Zustand noch. Dieser „unterprivilegierte Status" ist auf die Dauer nicht tragbar. Daher schmiedet man Revolutionstheorien, welche die „Städte der Welt" einkreisen sollen, um die „Entfremdung der Ökonomie", die sich in den Rüstungsausgaben* spiegelt, aufzuheben
So leicht sind ideologische Haßfronten in unserer Gegenwart nicht zu überwinden. Kapitalisten und Sozialisten, Imperialisten und Friedenskämpfer beschuldigen sich in gegenseitigen Propagandafeldzügen. Dabei geht es immer um den gleichen Tatbestand: Man möchte Affekte und Emotionen entfachen, indem man die eine Seite als „kapitalistisch" und „imperialistisch" brandmarkt und ihr die Allein-schuld für den mangelhaften Zustand in der Welt in die Schuhe schiebt. Durch mangelnde Information und durch bewußte Fremdtäuschung soll Existenzangst und Furcht erzeugt werden, die eine aggressive Haltung hervorrufen. Der Mangel an politischer Vernunft und gegenseitiges Mißtrauen sind unüberwindbare Hindernisse für Humanität und Frieden.
Diese Beobachtungen decken sich mit den Ergebnissen der Abschreckungsanalytiker unserer Tage. So hat Dieter Senghaas die Abschreckungspolitik als „technokratische Psychostrategie" bezeichnet, die zwar hilft, die Kräfteverhältnisse in der Welt zu stabilisieren, die aber damit einen Bewußtseinszustand fördert, der eben durch Furcht und Angst, Mißtrauen und Feindschaft, Haß und Aggressivität gekennzeichnet wird. Darum ergibt sich für eine Friedenspädagogik genau an diesem Punkt ein analytischer Ansatz
----------------N /Soziale und ökonomische, nationale und ideologische Konflikte halten die Völker und Nationen in Atem, indem sie heterogene Macht-, j Interessen-und Wertvorstellungen entwik-keln, die sich deshalb nicht friedlich schlichten lassen, weil man eine Kompromiß-und vernünftige Ausgleichspolitik weit von sich weist und als nicht akzeptabel erklärt. Gewaltakte sollen als Mittel der Konfliktlösung um jeden Preis erhalten bleiben. Diese antiquierte Denkweise der Abschreckungspolitik, die ja stets mit dem Versagen der Abschreckung rechnen muß, ist von den Theoretikern auch hinreichend gerügt worden, denn die Politik erfüllt nur noch ihren Sinn, wenn sie den Frieden zu erhalten und zu sichern vermag. Politik ist deshalb nur noch als Friedenspolitik zu rechtfertigen. Darum wird ja auch von der Wissenschaft gefordert, daß sie sich als Friedenswissenschaft zu betätigen hat und sich nicht von den Machthabern mißbrauchen lassen darf
Trotz mancher Abrüstungsschritte und auch bestimmter Abrüstungskonzeptionen konnten nur punktuelle Teilerfolge erzielt werden. Weder die Vorschläge der Unilaterialisten noch die der Gradualisten haben sich wirksam durchgesetzt, obwohl hier der ernsthafte Versuch unternommen wird, dem circulus vitio-sus zu entrinnen. Jedenfalls erkennen diese Theoretiker, daß die Droh-und Abschreckungspolitik der Ursprung des Übels ist. Nur wenn man die Rüstungsmentalität als den psycholo-141 gischen Grundtatbestand verändert, kann man erfolgreich sich dem Frieden nähern.
Charles Osgood, einer der wichtigen Theoretiker des Gradualismus, entwickelte einige Thesen, über die auch eine Friedenspädagogik reflektieren sollte. Immer weniger Menschen kümmern sich noch um das moderne Waffenpotential, das stets gefährlicher wird. Es entschwindet ihrem Gesichtskreis, obwohl immer größere Summen dafür investiert werden, die ernsthafte Friedensprogramme blockieren. Die Supermächte beteuern ihren Friedenswillen, ohne daß eine wirksame Begrenzung der Waffensysteme eintritt. Doch je größer diese werden, um so mehr verliert die Politik an Flexibilität. Eine Neuorientierung politischen Denkens kann auf dieser Grundlage schwerlich gefunden werden. Eine Entschärfung der internationalen Konflikte ist bei dieser „Neandertaler-Mentalität” nicht möglich
Deshalb haben die Unilateralisten einseitige Abrüstungsmaßnahmen vorgeschlagen, um eine „Durchbrechung der Mißtrauensbarriere" zu erzielen, und zwar durch Opfer und nicht nur durch Gesten. Hier wird die Ablehnung der Gewalt nach ihrem Motto „Krieg ist eine veraltete soziale Institution" als Instrument der Politik benutzt. Solange sich Drohung und Gegendrohung begegnen, sind weder Fortschritte im Geistigen noch im Praktischen zu vollziehen. Erich Fromm, der prominente Unilateralist, will die geistige Elite wachrütteln, etwas gegen die Irrationalität des Wettrüstens zu tun. Darum sein Vorschlag, daß eine der beiden Supermächte einseitig mit der Abrüstung beginnen solle
Dagegen möchte Amitai Etzioni das Risiko einseitiger Abrüstung vermeiden. Er hofft darauf, daß sich Schritt für Schritt eine Atmosphäre des Vertrauens aufbauen lasse, wobei man die Einzelschritte von der Gegenseite honorieren könnte, so daß auf diese wechselseitige Aktion und Reaktion der Durchbruch erzielt werde. Die Gradualisten operieren in ihrer Theorie wesentlich vorsichtiger als die Unilateralisten. Beide wollen die Abschreckungsmentalität, die Stagnation bedeutet, eliminieren, weshalb sie eine Initiative der Supermächte empfehlen. Mit einseitigen oder graduellen Schritten soll eine Eindämmung und schließlich ein wer-Rüstungsstopp erzielt den
Die Friedenspädagogik kann aus diesen Theorien die Erkenntnis ableiten, daß die Abschrek-kungsmentalität durchbrochen werden muß, weil sonst Friedensschritte illusorisch sind. Das Drohsystem leistet Widerstand gegen alle qualitativen Veränderungen; es verewigt den Status quo und nimmt damit die Form der Stagnation und Unmündigkeit an. Ein solches Beharrungsvermögen vereitelt jeden Neuordnungswillen und blockiert mündiges Denken. Die Abschreckungsmentalität begünstigt eine Unterwerfungspädagogik, die in den Kategorien Atomkrieg, Macht, Interesse denkt und damit unserer historischen Entwicklungsstufe nicht mehr gerecht wird. Die schöpferische Ordnungsaufgabe der Politik verliert unter diesem Gesichtspunkt ihren Sinn. Das spüren nicht zuletzt die Supermächte selbst, die in einen Zwiespalt geraten: in eine Dialektik von Konfrontation und Kooperation. Deshalb werden auch Anstrengungen zur Konfliktregelung auf bestimmten Teilgebieten unternommen, die zu gewissen Teilerfolgen führten. Man sollte über die Teilerfolge nicht mit Geringschätzung hinweggehen, weil sich der Wille der Supermächte dokumentiert, die Verkrampfung des Abschreckungsdenkens zu lockern. Dabei handelt es sich zunächst um mehr punktuelle kooperative Schritte als um systematische Abrüstungsplanung. Doch wenn sich diese Tendenz verstärken ließe, würde der Weg aus der Konfrontation heraus zur zunehmenden Kooperation führen
Die radikale Kritik an der Abschreckungstheorie wird ein politisches Bewußtsein erziehen, das erkennt, daß die bisherigen Einstellungen und Loyalitäten eine Erziehung zum nationalen Hochmut und zur ideologischen Überheblichkeit begünstigten und daß es zur weltweiten Verständigung und Versöhnung nur kommen kann, wenn man die nationalen und ideologischen Grenzen überschreitet, um den Weg für neue Loyalitäten zu ebnen. Die Kommunikationsmöglichkeiten sind rapide gewachsen. Sie können als Hilfe zu verstärkter Solidarität benutzt werden. Die wesentlich komplexer gewordene Weltgemeinschaft — die Mitgliederzahl der UNO stieg 1968 auf 126 Staaten — erfordert es, daß ein angemessenes Verständnis für diese Völker und Nationen entfaltet wird. Die immer größer werdende staatliche Differenzierung scheint einer politischen Vereinheitlichung im Wege zu stehen. „Jedenfalls gehen zwei Prozesse", wie Theodor Schieder hervorhebt, „in der Formung der modernen Welt dauernd nebeneinander her: die Konzentration politischer Macht und zugleich eine immer größere staatliche Differenzierung."
Der Staatenpluralismus, der ein Problem in unserer Zeit darstellt, darf nicht zur Zersplitterung beitragen. Gewöhnlich beruht der Pluralismus auf den Prinzipien von Gleichgewicht und Unabhängigkeit; es hat aber den Anschein, als ob mit diesen Prinzipien eher eine politische Ordnung aufgelöst wird als erhalten bleibt. Das Gleichheitsprinzip der Staaten erwächst aus dem Souveränitätsprinzip. Aber es wird doch andererseits eingeengt durch den faktischen Tatbestand, daß sich der Unterschied der Mächte nach ihrer qualitativen Seite hin nicht aufheben läßt und insbesondere die Großmächte von ihrem Ordnungsrecht Gebrauch machen: durch „ideologische Interventionsdoktrinen" oder einfach durch „expansive Großmachtpolitik"
Es wird ergänzt durch die Blockbildungen mit gleicher sozialer Struktur, die als Mittel der Selbstbehauptung und zur Sicherheit der Globalmächte eingesetzt werden, wobei den jeweiligen Partnerstaaten, die sich bedroht fühlen, Sicherheit und innere Autonomie gewährt wird. Das Blockdenken ruft verengte und einseitige Loyalitäten hervor, es verstärkt das Abschreckungsdenken.
Eine Friedenspädagögik tut gut daran, wenn sie auf die Frage eingeht, welche konkreten Schritte nötig sind, um aus dieser Situation hinauszuführen, das heißt mit anderen Worten, sie hat dafür Sorge zu tragen, daß vielfältigere Loyalitäten entstehen als nur nationale und ideologische. Sie muß sich darüber bewußt werden, daß eben Ideologien und Mythen, Traditionen und Symbole der Nationen von Generation zu Generation reproduziert werden und somit den Zustand allgemeiner Aufklärung verhindern. Information und freier Gedankenaustausch erweitern und öffnen den Horizont des einzelnen und geben ihm Orientierungshilfen für eine sich verändernde Welt. Zur Gewinnung solcher vielfältigen Loyalitäten sind daher auch organisatorische Schritte nötig, um parteiliche Gesichtspunkte zu überwinden. Weil wir wissen, welche Konfliktrollen nationale, ideologische, aber auch Klassendifferenzen im politischen Leben der Völker bisher gespielt haben und welche Kontroversen auf Grund unterschiedlicher Interessenlagen daraus entstanden, deshalb muß es für eine Friedenspädagogik förderlich sein, wenn sie bewußt ihren Blick auf internationale Zusammenschlüsse und Organisationen richtet. Hier bieten sich Lernmöglichkeiten an, die man bisher nicht in dem Maße nutzte, wie es für die Sache des Friedens erforderlich gewesen wäre.
Viele Theoretiker sind für Kooperation und die Beseitigung von Trenngräben eingetreten und haben die Bildung supranationaler Gemeinschaften als einer ersten Phase globaler Integration empfohlen
Besonders der Nutzen wirtschaftlicher und kultureller Integration —-weltweiter Handel ohne Beschränkung und ohne politische Auflagen, weltweiter Kulturaustausch, wissenschaftliche Arbeitsteilung — bietet Möglichkeiten, um den neuen Feinden der Menschheit gemeinsam zu widerstehen. Die Überwindung des Feinddenkens, die manche als verhängnisvoll ansehen, weil dann der Wille zur Solidarisierung gegen eine Bedrohung geschwächt würde
Sie richtet sich nur nicht mehr gegen den „Mitmenschen", sondern gegen die großen Herausforderungen der Zeit.
Dieser Umformungsprozeß gibt der Friedens-pädagogik einen wirklichen politischen Auftrag. Das Feinddenken läßt sich sublimieren, indem man das Denken auf die großen politischen Aufgaben lenkt und dafür alle Kräfte aktiviert und konzentriert. Dabei können alle ihren Anteil an der Friedensstrategie übernehmen, denn der positive Frieden, den vernünftige Menschen heute fordern, fällt uns nicht in den Schoß, wenn wir in der sich anbahnenden Weltzivilisation ein „befriedetes Dasein" schaffen wollen.
Weltverantwortung für den globalen Frieden im wissenschaftlich-technischen Zeitalter und ein „befriedetes Dasein" als Ziel künftiger Entwicklung erfordern Bewußtseinsprozesse auf der individuellen, gesellschaftlichen und internationalen Ebene, die bis heute nur schwer in Gang zu setzen sind, um lähmende und pathologische Erscheinungen wirksam zu eliminieren. Die Eskalationsgefahren verlangen gebieterisch, daß wir zunächst eine Verbesserung friedlicher Konfliktregelung herbeiführen. Keine Friedenspädagogik darf dieses Thema übersehen. Die Ursachen für das Entstehen gewaltsamer Konflikte und die Hintergründe für das Aufrechterhalten von Rüstungsgesellschaften sind Probleme, die zu lösen sind. Hier darf es nicht an politischer Phantasie fehlen, Methoden der Konfliktregelung zu ersinnen, die allgemeine Anerkennung finden, weil sie gewaltlose Formen entwik-keln
Ein System, das uns nur die Abwesenheit von Krieg beschert, das an eine Auffächerung von Gewaltformen glaubt, bleibt im Terrorfrieden stecken, der sich auf Macht und Interesse stützt. Man will die ideologische und soziale Ungleichheit erhalten, damit die Konfliktfronten nicht eingeebnet werden. Konfliktgruppen verhindern zuallererst die Reform ihrer Erziehungsinstitutionen. Hier liegt aber ein ganz entscheidender Punkt, auf den Hartmut von Heutig hinwies, als er forderte, die Denkgewohnheiten unserer Erziehungssysteme zu reformieren, damit die Haßfronten beseitigt und Kriege als „geistiges Unvermögen", ja mehr noch als „Bewußtseinsdefekt" erkannt werden
Das verlangt nach einem Typ von Erziehern in allen Nationen, die in der Lage sind, Affekte und soziale Vorurteile zu überwinden und nationale und rassische sowie ideologische und klassenspezifische Gebundenheiten als geistiges Unvermögen Schritt für Schritt abzubauen, um Klischees und negative Einstellungen, die sonst von Generation zu Generation vererbt werden, zu beseitigen. Wir stimmen Hartmut von Hentig zu, der bemerkte: „Viele Krisen, die die Welt in Atem gehalten haben, sind einst und jetzt auf dem Feuer einer tiefen irrationalen Irritierung gekocht worden — der Haß zwischen Deutschen und Franzosen, zwischen Pakistanis und Indern, zwischen Türken und Griechen, Tirolern und Italienern.".
Die Aggressivität durchzieht nicht nur die internationale Staatenwelt, sie findet auch im nationalen Bereich ihren Ausdruck in den sozialen Gegensätzen und ist auch ein höchst individuelles Problem. Wir könnten auch von einer politischen, sozialen und psychologischen Aufgabe sprechen, die sich der Friedenspädagogik damit stellt, denn die große Masse der Menschen folgt ihren Trieben und wird von der angeborenen oder erworbenen Aggressivität gesteuert. Zu gern berufen sich deshalb die Politiker auf das wenig stichhaltige Argument: „Weil die Menschen ohnedies dumm, brutal und egoistisch sind, muß ich für Gewalt sorgen."
VI. Menschliche Aggression und Friedenspädagogik
Es gibt Forscher, die Aggressivität als die psychische Normalausstattung des Menschen bezeichnen. So äußert Konrad Lorenz in seinem Buch „Das sogenannte Böse" den Zweifel, daß man friedliebende Menschen , züchten'könne. Die meisten Menschen folgen ihren Trieben mehr, als daß sie sich von rationalen Erwägungen leiten ließen. Für Lorenz gibt es nur die Möglichkeit, „die Aggression in ihrer ursprünglichen Form an Ersatzobjekten abzureagieren" und durch Sublimierung zur „Entspannung des gestauten Aggressionstriebes" beizutragen. Lorenz hält es aber für aussichtslos, daß man erstens „auslösende Reizsituationen vom Menschen fernhält" und daß man zweitens „ein moralisch motiviertes Verbot über sie (die Aggression) verhängt". Mit anderen Worten: Wir müssen mit unserem Aggressionstrieb leben. In vielen Verhaltensweisen ist die Aggression als motivierender Faktor mit enthalten. Für die Lösung großer Aufgaben und Probleme, für die Erreichung bestimmter Ziele scheint Aggression, die zwar gefährlich bleibt, doch vonnöten zu sein
Aber hier geraten wir bereits in gewisse Schwierigkeiten, weil viele die Aggression von Anbeginn auf die zerstörerischen Handlungen begrenzen und die Bedingungen für unser aktives und produktives Verhalten nicht genügend untersuchen
Freundschaft, in welchem Rahmen sie auch stattfindet, nimmt dem Aggressionstrieb die Spitze und persönliche Bekanntschaft wirkt aggressionshemmend, während Anonymität aggressives Verhalten auslöst. Dieser Einsicht kann man einen-politischen Aspekt abgewinnen, der für eine Friedenspädagogik nutzbar ist, weil gestörte Kommunikation, das Abbrechen von Kontakten zwischen den Nationen und Gesellschaftssystemen gewöhnlich feindselige Haltungen hervorruft. Demagogen und Kriegshetzer versuchen Gräben aufzureißen, um die aggressive Stimmung anzuheizen. Wir kennen diese Taktik, welche Aggressionsgelüste mit Hilfe falscher Begeisterung schürt. Auch hier vermag die Friedenspädagogik einen analytischen Dienst zu erfüllen, indem sie die begeisterungsauslösende Reizsituation beschreibt, um sichtbar zu machen, welche Gegebenheiten vorhanden sein müssen, damit Aggressionen entstehen. Lorenz hebt drei voneinander unabhängige Merkmale hervor: „Erstens etwas zu Verteidigendes, in dem man einen Wert sieht, zweitens ein Feind, der diesen Wert bedroht, und drittens soziale Kumpane, mit denen man sich eins fühlt. . ." Dazu kann noch ein Führer kommen, der zum „heiligen" Kampfe aufruft
Besonders totalitäre Systeme benutzen die Feindattrappe. Wer diese Zusammenhänge kritisch durchschaut, wird auf Personifizierungen des Bösen verzichten und seine durch die Kritik gelenkte Begeisterung auf humane Werte richten und dazu beitragen, daß der Völkerhaß vermindert wird. Aber auch ohne solche Personifizierungen kann Feindschaft durch Begeisterung für ein eng begrenztes Ideal entstehen. Wir erinnern an die nationale Identifizierung, die nach Lorenz deshalb so gefährlich ist, weil sie so scharfe Grenzen zieht. „Es gilt also die Zahl der Identifizierungen zu vermehren, und das kann nur durch eine Hebung der allgemeinen Bildung der Jugend bewirkt werden. Liebevolle Beziehung zu Menschheitswerten hat Lernen und Erziehung in Schule und Elternhaus zur Voraussetzung."
Aggression wird bei Lorenz zu einem Schlüsselbegriff, der mehr bedeutet als bloße Kampfeslust oder rücksichtsloser Kampf des Stärkeren; Lorenz stößt entgegen jeder vulgär-darwinistischen Lehre, die ja nur den rücksichtslosen, blindwütigen Streit sieht, immer wieder auf die gestaltende und auch erhaltende Kraft der Aggression. Daher ist es sinnlos, die Vernunft gegen die Instinkte zu mobilisieren. Die Vernunft hat sie in die richtige Bahn zu lenken: Abreaktion an Ersatzobjekten, Um-lenkung in Formen der Mitmenschlichkeit und Kommunikation. Mit anderen Worten: Die Vernunft hat etwas „Positives" daraus zu entwickeln und darf vor der Zerstörungskraft der Aggression nicht kapitulieren. Der Optimismus von Lorenz beruht auf der rationalen Einsicht des Menschen, auf der Fähigkeit zur Besserung, zum Ausgleich von Vernunft und Instinkt, auf der Erkenntnis und Beseitigung von Instinkt-Ungleichgewichten, die unkontrollierbare und destruktive Energien freisetzen. „Die Einsicht in die Ursachenketten unseres eigenen Verhaltens kann unserer Vernunft und Moral tatsächlich die Macht verleihen, dort lenkend einzugreifen, wo der kategorische Imperativ, auf sich allein gestellt, hoffnungslos scheitert."
Sobald das triebliche Gleichgewicht einseitig gestört wird und keine Aggressionshemmungen mehr eintreten, zeigt sich die „intraspezifische Aggression" mit ihrer destruktiven Gewalt. Der Mensch hört dann auf, ein vernünftig handelndes Wesen zu sein; er wird wirklich böse und zum Vernichter seiner Mitmenschen. Das Böse zeigt sich als irrationale Gewalt, die sich elementar auf den sogenannten Feind stürzt. Lorenz hofft, daß mit zunehmendem Wissen um die Natur und ihre Gesetze die verderbliche Seite des Aggressionstriebes und seine Hypertrophie zu überwinden ist
Auch Sigmund Freud geht von Grundtrieben im Menschen aus
Leben bedeutet nach Freud Schmerzen, Enttäuschungen und unlösbare Aufgaben. Damit wir es ertragen, benötigen wir Linderungsmittel: Ablenkungen, Ersatzbefriedigungen, auch Rauschstoffe, die uns für das Leiden unempfindlich machen. Die Menschen aber fordern vom Leben Glück, denn sie wollen glücklich sein. Dieses Glücksstreben hat zwei Seiten: das Erlebnis starker Lustgefühle und die Abwesenheit von Schmerz und Leid, denn sie bedeuten Unglück. Das Leiden hat drei Quellen: den Körper, die Außenwelt und die Beziehungen zu anderen Menschen. Durch den Druck des Leidens bildet sich das Lustprinzip in das bescheidenere Realitätsprinzip um, weil man sich schon glücklich preist, wenn man das Leid überwindet. Leidvermeidung drängt das Lust-prinzip in den Hintergrund
Diese Argumentation bezeichnet Marcuse als zu „glatt" und erhebt eine Reihe von Einwänden. Nicht jede Arbeit bedeutet Desexualisierung und Triebverzicht, denn in ihr und im Kampf gegen die Lebensnot werden aggres-sive und libidinöse Impulse auf dem Wege der Sublimierung befriedigt. Die Kulturarbeit nutzt aggressive Impulse und stellt Arbeit in den Dienst des Eros. Aber die Arbeit, die eine Basis für die Kultur erst schuf, war stets entfremdete Arbeit, mühselig, schmerzlich, elend und durch die Not auferlegt. Entfremdete Arbeit löst kaum libidinöse Impulse aus; dagegen aber künstlerische und wissenschaftliche Arbeit, weil man diese als „erfreulich" bezeichnet. Wichtig bleibt allein die Vorstellung: „Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung . . .". Sie ist ein von der Kultur erzwungenes Triebschicksal, weil sie den Triebverzicht, die Nichtbefriedigung mächtiger Triebe, zur Voraussetzung hat
Die Kultur verlangt nicht nur das Opfer an Sexualbefriedigung, sie will auch starke Identifizierungen unter den Mitgliedern der Gemeinschaft herstellen, sie libidinös miteinander verbinden, das heißt, sie stellt die Forderung, den Menschen als Helfer und als Mitgenossen zu erblicken. Aber dabei zeigt sich, daß der Mensch nicht nur eine Triebbegabung, sondern auch eine Aggressionsneigung besitzt, denn er möchte seine Aggression am anderen befriedigen, dessen Arbeitskraft ausnützen, ihn enteignen und demütigen. „Homo homini lupus; wer hat nach all den Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?"
Die Aggressionsneigung stört das Verhältnis zum Nächsten, weil dadurch Feindseligkeit entsteht, welche die Kultur in Frage stellt. „Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten", sagt Freud. Also nicht nur der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung legt die Kultur Opfer auf, so daß es dem Menschen schwer fällt, sich in ihr beglückt zu fühlen
Freud erläutert dazu, daß es zwei Ursprünge des Schuldgefühles gibt: die Angst vor der Autorität, die den Triebverzicht durchsetzt, und die Angst vor dem Über-Ich, welche ein Schuldgefühl hervorruft. Angst vor der Autorität und Gewissensangst bewirken Triebverzicht und jeder Triebverzicht steigert die Intoleranz des Gewissens, so daß sich Freud zu dem paradoxen Satz bekennt: „Das Gewissen ist die Folge des Triebverzichts; oder: Der (uns von außen auferlegte) Triebverzicht schafft das Gewissen, das dann weiteren Triebverzicht fordert."
Andererseits kommen wir nach Freud nicht über die Annahme hinweg, daß das Schuldgefühl der Menschheit aus dem Ödipuskomplex stammt und bei der Tötung des Vaters erworben wurde, denn dort wurde die Aggression nicht unterdrückt, sondern ausgeführt. Hier gewann das Triebbedürfnis eine solche Stärke, daß es sich gegen das Gewissen durchsetzte. Das Schuldgefühl ist damit einmal als die Folge unterlassener Aggression und zum anderen einer ausgeführten Aggression zu erklären. Im letzteren Fall sprach Freud von einem Schuldgefühl aus Reue; denn nachdem die Aggression befriedigt war, kam in der Reue über die Tat die Liebe zum Durchbruch. Die Identifikation mit dem Vater richtete das Über-Ich auf, das die Wiederholung der Tat verhüten sollte. Das Schuldgefühl erscheint als der „Ausdruck des Ambivalenzkonfliktes", als der ewige Kampf zwischen den antagonistischen Grundtrieben. Dieser Konflikt entsteht, sobald sich die Aufgabe des Zusammenlebens stellt
Die individuelle Entwicklung tendiert nach zwei Bestrebungen hin: nach dem Glück, das egoistische Ziele verfolgt, und nach Vereinigung mit anderen Menschen, nach Gemeinschaft. Anders verläuft der Kulturprozeß, der die Einheit herstellen möchte, wobei das Ziel der Beglückung in den Hintergrund tritt. Beide Prozesse ähneln sich insofern, als Freud behauptet, daß auch die Gemeinschaft ein überleb ausbildet, unter dessen Einfluß sich die Kulturentwicklung vollzieht, denn das Kultur-Über-Ich stellt Idealforderungen auf, deren Nichtbefolgung durch Gewissensangst bestraft wird
Wir stehen damit vor dem Problem, daß Gebote erlassen werden, welche die Menschen nicht zu erfüllen vermögen. Man verkennt einfach die menschliche Natur. Solange sich Tugenden nicht schon auf Erden lohnen, wird die Ethik sie vergeblich predigen. Der Idealismus jedoch übersieht diesen Zusammenhang. Jedenfalls bleibt es die Aufgabe der Kulturentwicklung, des menschlichen Aggressions-und Selbstvernichtungstriebes Herr zu werden. Und das gilt besonders für eine Zeit, wie wir im einzelnen darstellten, die sich selbst auszurotten vermag
Eine Überwindung des Aggressionstriebes scheint Freud sehr problematisch zu sein. Der Gegensatz von Lieben und Hassen bleibt erhalten; er sieht jedenfalls keine Möglichkeit, die aggressive Neigung im Menschen abzuschaffen. Zwang und Aggression, Streit und Krieg sind verhütbar, wenn den Menschen die Einsetzung einer Zentralgewalt gelingt, die einen Richtspruch über alle Interessenkonflikte fällen dürfte. Eine übergeordnete Instanz, ausgestattet mit der nötigen Macht, könnte einen zwingenden Einfluß ausüben. Eine politische Gemeinschaft wird nach Freud vom Zwang und von Gefühlsbindungen der Mitglieder zusammengehalten. Fällt der Zwang weg, dann müßte eine Idee, ein Gemeingefühl, eine Identifizierung eine solche Autorität einsetzen. Aber jeder Versuch, Macht durch die Macht der Ideen auszuüben, ist bisher in der Geschichte fehlgeschlagen
Selbst die Bolschewisten, welche die menschliche Aggression auf dem Wege der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse abschaffen wollten und die Gleichheit aller verkündeten, haben dieses Ziel nicht erreicht. „Vorläufig sind sie auf das sorgfältigste bewaffnet und halten ihre Anhänger nicht zum mindesten durch den Haß gegen alle Außenstehenden zusammen", bemerkte Freud in seinem Brief an Einstein
Herbert Marcuse ist als Kritiker des Realitätsprinzipes aufgetreten. Freuds Nachweis, daß Glück und Freiheit nicht ein Werk der Kultur seien, weil eben der Zivilisationsprozeß Beschränkungen und Unterdrückung auferlegt, Triebwünsche verdrängt und zu Repressionen führt, erklärt das Hervortreten des Realitätsprinzipes zuungunsten des Lustprinzipes. Das Realitätsprinzip wird identisch mit dem Prinzip des Fortschritts. Mit seinem Leistungswillen erscheint es als repressiv, denn die Opfer, die den Individuen auferlegt werden, nehmen zu. Das steht aber im Widerspruch zur Liberalitätsthese der modernen Gesellschaft
Dieses Kollektiv wird weniger der politischen Gewalt als der Rationalität des Apparates unterworfen, der die öffentliche und private Existenz der einzelnen gestaltet. Die technologische Rationalität beeinflußt auch das Innere des Menschen, die Triebe und die Intelligenz. Von einer brutalen Gewaltanwendung ist nicht mehr die Rede, denn das Kollektiv, das beherrscht wird, widerspricht nicht, weil laufend Verbesserungen im Apparat als „manipulierbares Kollektiv" vorgenommen werden, so daß die antagonistischen Interessen als ein Kollektivinteresse erscheinen. „Herrschaft tendiert dazu, neutral, auswechselbar zu werden, ohne daß durch solchen Wechsel sich das Ganze selbst verändert; Herrschaft ist nur noch bedingt durch die Fähigkeit und das Interesse, den Apparat als Ganzes zu erhalten und zu erweitern", sagt Marcuse
Marcuse bemüht sich, jene wachsende globale Interdependenz mit der Gleichschaltung der psychischen Struktur zu vergleichen: die Vereinheitlichung von Ich und Über-Ich herauszustellen. Die technologische Rationalität entspricht in der Gesellschaft einer Automatisierung und Verdinglichung des Ich in der psychischen Struktur. Und dieser Parallelvorgang findet seine Kritik, denn die wachsende Produktion verlangt nach immer strengeren Trieb-verboten, weil das Ich an das Uber-Ich ausgeliefert wird und diese Repression die Kraft des Eros schwächt, um den Destruktionstrieb zu binden. Produktion und Destruktion gehören zusammen. Triebverbote befestigen die soziale Herrschaft und diese offenbart sich in der Organisation der Arbeit, die entfremdete Arbeit bleibt. Diese wird für eine repressive und destruktive Produktion eingesetzt. Es ist die These von Marcuse, daß steigende Produktivität an steigende Repression gebunden ist. Das Realitätsprinzip erscheint als das „Prinzip produktiver Entsagung", weil es den Menschen als Träger des Lustprinzips in ein Arbeitsinstrument verwandelt
Das Realitätsprinzip als Leistungsprinzip fordert hohe Opfer, weil Triebenergie in nützliche Arbeitsenergie zu transportieren ist. Für Marcuse erhebt sich jedoch die Frage, ob man der an sich pessimistischen Theorie von Freud weiter folgen müsse. Nachdem die Triebunterdrückung ihre Funktion erfüllte und der Zustand der Lebensnot durch Überproduktion bewältigt wurde — zumindest in den Überflußgesellschaften —, seien jetzt die Bedingungen für den Aufbau einer freien Gesellschaft gegeben. Er will daher die Freudsche These einer entscheidenden Korrektur unterziehen, weil die Automation uns in die Lage versetzt, große Teile von Triebenergie freizusetzen, die für die entfremdete Arbeit benötigt wurden. Diese Energie ließe sich für die Lebensenergie nutzbar machen. Mit anderen Worten: Das Leistungsprinzip schuf reale Voraussetzungen für ein „qualitativ anderes, nicht unterdrückendes Realitätsprinzip"
Die fortschreitende Automation ist die Chance, die auf unlustvolle Tätigkeit verwendete Triebernergie in erotische Energie zurückzuverwandeln und damit neue Verhaltensweisen zu ermöglichen, die von dem repressiven Realitatsprinzip blockiert werden. „Hiervon wäre die Konsequenz . . ., daß die Sublimierung nicht etwa aufhörte, sondern als erotische Energie zu neuen kulturschaffenden Kräften* sich steigerte", wie Marcuse erläuternd bemerkt
Die von Freud aufgestellten Voraussetzungen werden bei Marcuse der Kritik unterzogen: Die Lebensnot, der Kampf ums Dasein, der Zwang und die Herrschaft sind nicht unabänderliche Tatsachen. Der Zivilisationsprozeß und die Triebentwicklung können sich von Hemmungen befreien, äußere und störende Kräfte eliminieren. Der Ansicht, daß viele der Triebe von sich aus „asozial" seien, daß sie unabhängig von Mangel und Überfluß Beschränkungen auferlegen, begegnet Marcuse mit dem Hinweis, daß die Triebe „historisch erworben" sind
„Innerhalb dieses antagonistischen Systems ist der seelische Konflikt zwischen Ich und überleb, zwischen Es und Ich gleichzeitig auch ein Konflikt zwischen dem Individuum und seiner Gesellschaft."
Marcuse entwirft die Hypothese einer „repressionslosen Ordnung", in der sich die Arbeit in das freie Spiel menschlicher Fähigkeiten, in eine würdige Menschenexistenz verändert
Hier schließt sich nun der Kreis unserer Betrachtung. Die wachsende Steigerung des Realitätsprinzipes hat sich auf die Aggressionskräfte ausgewirkt, so daß der äußere Feind als die Bedrohung erscheint, die von einer Gesellschaft eine permanente Mobilisierung verlangt. Diese verdichtet sich in einer weltweiten Abschreckung des Feindes. Diese Abschreckungsmentalität erweist sich als eine „Agentur des herrschenden Realitätsprinzips"
Eine Friedenspädagogik müßte diesen Zusammenhang von Frustration und Aggression deutlich machen und zeigen, was zur Schwächung und Hemmung des Ich führt. Ich-geschwächte Individuen, die sich in der Masse vereinigen, entwickeln brutale und grausame Tendenzen, in denen sich die aufgestauten Unlustgefühle abreagieren, die sich angesammelt haben und die sich auf den äußeren Feind als Inkarnation des Bösen ergießen. Die Homoge-nisierung der Öffentlichkeit erfolgt mit erstarrten ideologischen Formeln. Das heißt aber nichts anderes, als daß die nach außen gerichtete Aggression zugleich den Herrschaftsinteressen des bestehenden politischen Systemes dient. Zu leicht wird der einzelne zum Spielball und Objekt von jenen Mächten, die seine Aggressivität ausnutzen, weil er nicht das Bewußtsein entwickelt, das zu einer Ichleistung führt, die ihn vor der Gefahr der Unterwürfigkeit bewahrt. Nur ein an Ichleistungen gewöhntes Individuum kann den Frustrations-Aggressionsmechanismus durchbrechen und damit die irrationalen Handlungsweisen eindämmen und kontrollieren.
Die Friedenspädagogik hätte daher einen Erziehungsstil zu entwickeln, der den „Ichbedürfnissen" mehr entgegenkommt als es unsere Kulturentwicklung bisher erlaubte, die ja weitgehend von der väterlichen Autorität gestaltet wurde. Man gewinnt keinen sicheren Standort im Leben, wenn Verbote die Kraft der Einfühlung in den einzelnen verhindern und die harte Strenge des Vaters eine Trotzhaltung des Kindes hervorruft
Marcuse sprach von einer „eindimensionalen Gesellschaft", deren Hauptmerkmal er in der Integration der beherrschten Klasse beschrieb. Infolge einer gesteuerten Bedürfnisbefriedigung werde der Mensch zum unbewußten Verwaltungsobjekt. Diese Konstellation hebt die vielseitige Dynamik auf, welche das Individuum befähigt, ein Gleichgewicht zwischen Autonomie und Heteronomie, zwischen Lust und Schmerz zu halten. Die „Eindimensionali-tät" hat nach Auffassung von Marcuse zum „verwalteten Realitätsprinzip" geführt, das nur noch „statische Identifikation" des einzelnen mit seinesgleichen erlaubt. Wir wollen diesen Gedanken mit all seinen Implikationen nicht weiter verfolgen. Er macht jedenfalls deutlich, welche Konsequenzen für einen neuen Erziehungsstil zu ziehen sind. Wir haben mit der Triebstärke des Menschen zu rechnen und wissen, daß sich diese bis zur hypertrophen Lust des Machtrausches steigern kann. Die Notwendigkeit sozialen Zwangs ist unbestreitbar, wenn man ein Leben in politischer Gemeinschaft führen will. Aber starre Autoritätsformen, die allen Triebwünschen verständnislos begegnen, sind ebenso zu verwerfen, wie jene völlig enthemmten Formen einer „vaterlosen Gesellschaft", welche die Destruktion und Anarchie begünstigen müßte. Alexander Mitscherlich hat diesen Gedanken so formuliert: „Worum es geht, ist, welche Art von Sozialzwängen den Triebzwängen entgegengestellt wird. Dabei stehen weniger Ausmaß und Inhalt dieser Sozialzwänge zur Debatte als vielmehr das Maß von Einsicht, an das sie geknüpft sind und dessen Entwicklung sie trotz Zwang zulassen."
Es geht hier einfach um den Zwang zur Einsicht in die soziale Wirklichkeit, um sinngebende Entscheidung durch eine Leistung des Ich, die sich dadurch auszeichnet, daß sich das Ich nicht an ideologische Bilder verliert, sondern jene Ich-Stärke gewinnt, um sich von der Angst und Entfremdung, von aller Frustration und Ohnmacht zu befreien, ohne einen funktionalen Ersatz in einer Gewaltpolitik zu finden, die dem Chaos, niemals aber einer friedlichen Ordnung dienen würde.
Mit der fatalen Dialektik, wie sie Freud beschrieb, wird sich eine Friedenspädagogik insoweit beschäftigen, als sie zeigen kann, daß durch Stärkung der Ichleistungen sich Alternativen anbieten. Das Reich des befriedeten Daseins, das Marcuse mit Hilfe der hohen Arbeitsproduktivität kraft der Automation erreichen möchte, weil er impliziert, daß dann auch die menschlichen Triebschicksale sich verändern ließen, wird sich in absehbarer Zeit nicht realisieren, weil die Hindernisse im Zeichen der Ost-West-Spaltung noch sehr groß sind und weil nur ein kleiner Teil der Welt das hohe Produktionsniveau besitzt, das eine Freizeitgestaltung im Sinne individueller Entfaltung ermöglicht. Marcuses Zukunftsbild wird jedenfalls noch für geraume Zeit Utopie bleiben. Aber entscheidende Anregungen lassen sich für eine Friedenspädagogik aufnehmen, um die Formen der Gewaltherrschaft abzubauen und auf erträgliche Maße zu reduzieren. Das verlangt von einer Friedenspädagogik, daß sie sich für Kooperation und für eine Bewußtseinsform einsetzt, die dem einzelnen jene Stärke verleiht, welche es ihm ermöglicht, mit der Angst vor dem Atomtod fertig zu werden.
VII. Aufgaben und Inhalte einer Friedenspädagogik
Der Krieg hat sich bis in unsere Gegenwart hinein als ein unvermeidbares Phänomen erwiesen, das nur als irrationaler Voluntarismus, als unzureichende Einsicht und gescheiterte Versöhnungsfähigkeit zu kennzeichnen ist. Das Wort „Frieden" ist zwar in vieler Munde, aber das ist noch kein Beweis dafür, daß man den Willen besitzt, es im vernünftigen Sinn zu gebrauchen und alle aggressive Lust, die sich gegen andere richtet, einzudämmen. Das Problem der Friedlosigkeit und die unverbesserliche Menschennatur haben viele Denker und Theoretiker auf den Plan gerufen und zu unterschiedlichen Beurteilungen geführt. Viele machen die Gesellschaftsstruktur für alle Opfer und Leiden verantwortlich und entwerfen neue Sozialutopien, um der Menschheit bessere Wege zu weisen. So wichtig es* ist, vernünftige Sozialstrukturen aufzubauen und Bedingungen für ein „befriedetes Dasein"
zu schaffen, so problematisch erscheint es, einen aggressionsfreien Menschen, der auf egiostische Interessen und Maßlosigkeiten verzichtet, von heute auf morgen erziehen zu können.
Unser Leben ist von Kampf und Konflikten angefüllt und oft entsteht in ihnen eine aggressive Haltung, die nichts anderes bezweckt, als die Vernichtung des Kontrahenten. Eine solche extrem destruktive Verhaltensweise des Menschen wird zum Problem der Friedens-pädagogik, die sich darum bemüht, daß politische und soziale Lernprozesse eingeleitet werden, die den Menschen zur Einsicht in seine Unlustgefühle und destruktiven Aggressionsneigungen führen. Man kann den einzelnen durch provokatorisches Verhalten so frustrieren — und es geschieht auch in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft infolge der Arbeits-und Organisationsformen —, daß jede Form einer möglichen aktiven Betätigung abgeschnitten wird. Alexander Mitscherlich beschreibt uns diesen Vorgang: „Diese Häufung entmutigender Erfahrungen stimuliert die Regression zu infantilen Allmachtsphantasien. Das Individuum wird nun erst recht schutzlos und sieht sich vielleicht, ohne es zu überblik-ken, in kollektive aggressive Prozesse verwickelt, die seinen individuellen Todestrieb provozieren, denen es gegenüber aber ausgeliefert bleibt, weil eben diese verlockenden aggressiven Parolen die Sprache der infantilen Omnipotenz sprechen und hinter sich das Risiko verstecken."
Wir kennen aus der geschichtlichen und soziopolitischen Erfahrung, daß es aggressive Provokationen gibt, die keine Rückkehr mehr gestatten und so die tödliche Destruktion auslösen
Hinzu kommt eine weitere Erkenntnis, die sich die Friedenspädagogik bei ihrer Ausgangslage klarmachen sollte. Ein „befriedetes Dasein", wie es Herbert Marcuse beschreibt
Wir haben aber eine geschichtliche Zäsur überschritten, die den Frieden von uns kategorisch fordert. Wie soll die Idee eines Weltfriedens im Zeitalter der Abschreckung und einer menschlichen Triebstruktur, die sich als aggressiv darstellt, realisiert werden? Ist ein dauerhafter Frieden durch permanenten Verzicht auf Aggression durchführbar? Das sind entscheidende Fragen an eine Friedenspädagogik, die sich nicht davor herumdrücken darf, zunächst einmal die Fatalitäten zu beschreiben und zu analysieren, in denen sich die Menschheit bewegt. Darum steht die erhellende Aufklärungsarbeit an ihrer Spitze. Es wird zuerst eine Deskription und Analyse des internationalen Staatensystems, der jeweiligen Sozial-systeme und der Triebstruktur des Menschen gefordert. Die Tatsachen, daß bei diesen Analysen Antagonismen und Dualismen auftreten, die sich im Krieg, im Sozialkonflikt und in der Aggression äußern und konkretisieren, wirft die Frage auf, ob solche absoluten Gegensätze naturnotwendig bestehen oder ob sie sich durch Aufklärung und kritische Haltung mittels kooperativer Formen überwinden lassen
Wir dürfen bei unserer Betrachtung nicht außer acht lassen, daß eine systematische Konzeption einer Friedenspädagogik noch nicht erarbeitet wurde, obwohl sie vielen Betrachtern unseres Weltzustandes als bittere Notwendigkeit erscheint. Ebensowenig verfügen wir über eine ausgearbeitete Friedensforschung, für die es beachtliche Ansatzpunkte gibt. Dennoch haben Politik, Wissenschaft und öffentliche Weltmeinung noch nicht die erforderlichen Konsequenzen gezogen, die zu einer produktiven Veränderung führen könnten, zumal nicht wenige der Ansicht huldigen, daß man der Gewaltpolitik ebensowenig entflieht wie der menschlichen Aggressivität. Aber dagegen spricht einfach der Umstand, daß wir uns in einem geschichtlichen „Novum" befinden, welches von uns neue Verhaltensweisen verlangt, weil wir nur auf diesem Wege dem circulus vitiosus als Teufelskreis entgehen
Niemand gibt sich der Illusion hin, als ließe sich eine sprunghafte Verwandlung vollziehen. Der Übergang von der Abschreckung in einen tragbaren Friedenszustand muß durch eine Übergangsperiode, in der entscheidende Lernprozesse ablaufen, erkauft werden. In der Übergangszeit erhält die Friedenspädagogik ihren hohen Stellenwert, um weltweit für die politische Vernunft zu wirken. Dazu brauchen wir Friedenserzieher in allen Nationen, die sich auf ein einheitliches und verbindliches Erziehungsprogramm zu einigen hätten. Trotz der großen nationalen, rassischen und ideologischen Unterschiede, welche unsere Welt trennen, erscheint ein Konsensus über wesentliche Punkte möglich. Hartmut von Hentig erörterte in seiner sehr lesenswerten Studie zehn Punkte zur Friedenserziehung, die als Diskussionsgrundlage geeignet wären
Ich fasse sie in verkürzter und etwas modifizierter Form zusammen, um zu zeigen, daß sich auf solcher Grundlage ein breiter Konsensus im Sinne praktischer Friedenserziehung schaffen ließe. Erstens: Erziehung zum Leiden am Unrecht und gegen eine Mißachtung von Schmerz und Angst. Zweitens: Erziehung zur Gewaltlosigkeit und zu Formen der Gewaltlosigkeit. Drittens: Erziehung zur Erkenntnis der Schrecken des Krieges, insbesondere des nuklearen Krieges. Viertens: Erziehung zur Erkenntnis, daß der Frieden keine totale Harmonie bedeutet, denn das hieße einer Friedens-ideologie huldigen. Fünftens: Erziehung zu kritischer und skeptischer Haltung, insbesondere zum Mißtrauen gegen ideologische Dogmen. Sechstens: Erziehung zum Ungehorsam und Widerstand, zum Streit und Konflikt, wo repressive Ordnungen Opfer und Triebverzichte auferlegen, die den Menschen in seiner Triebnatur bewußt vergewaltigen. Siebtens: Erziehung zum Konflikt, weil starre Anpassung und Konformität den Freiheitsspielraum des einzelnen ungebührlich einengen. Daß die konfliktlose Welt nicht mit einer friedlichen Welt identisch ist, dürfte verstehbar sein. Achtens: Erziehung zu politischer Vernunft im Sinne kritischer Realitätsprüfung. Neuntens: Erziehung zum Veränderungswillen internationaler, nationaler, sozialer und seelischer Verhaltensweisen. Neue Bewußtseinsformen sollen antiquierte Begriffssysteme überwinden. Zehntens: Erziehung zum sozialen Weltfrieden, zur Entwicklungshilfe als weltweitem Lastenausgleich. solches Weltfriedenserziehungsprogramm vermittelt uns eine Vorstellung, was eine Friedenspädagogik im Unterschied zur traditionellen politischen Pädagogik zu leisten hätte. Sie dürfte sich nicht zur Sprecherin einer bestimmten Ideologie machen. An diesem Punkt erwachsen konkrete Schwierigkeiten, weil die politische Pädagogik in der Vergangenheit sehr oft als Apologetin bestimmter Herrschafts-und Sozialsysteme auftrat. Die Friedenspädagogik hat nicht als Magd der Politik zu funktionieren, sondern sich unabhängig von der Parteien Gunst und Ungunst zu halten. Das scheint utopisch zu klingen, aber es läßt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das uns auf den Nägeln brennt.
Die Welthungerkatastrophe versetzt uns in einen starken Zeitdruck, den sozialen Weltfrieden zu organisieren, den Gedanken des weltweiten Lastenausgleiches für jedermann verständlich zu machen
Die Politik und die öffentliche Weltmeinung, insbesondere die Vereinten Nationen, aber auch alle internationalen Organisationen, nicht zuletzt die UNESCO, könnten sich als große Fürsprecher einer weltweiten Friedenspädago-gik machen und ihre eigenen Institutionen schaffen, zum Beispiel in der Form von internationalen pädagogischen Instituten. Aber auch internationale Schulen und Universitäten wären geeignete Stätten, um ihr die Wirkungsmöglichkeiten zu geben, die sie benötigt und um ihr Hauptproblem zu lösen: antiquierte Haßund Gewaltfronten abzubauen, die einer Kooperation und Versöhnung entgegenstehen. Man könnte internationale Spielregeln entwickeln, die Konflikte in vernünftiger Weise zum Austrag und zur Lösung bringen.
Ich zweifle nicht daran, daß solche Wege in der Zukunft zu beschreiten sind. Die Beschreibung der konkreten Aufgabe der Friedens-pädagogik kann nach diesen Erörterungen versucht werden
3. Die Friedenspädagogik hat jede Form von politischem Irrationalismus, der sich auf die pure und bloße Macht-und Gewaltpolitik verläßt, zu entlarven und zu zeigen, daß Macht im Atomzeitalter nur noch als „gelähmte Macht" zu verstehen ist, weil selbst die Supermächte nicht mehr in der Lage sind, ihre vollen Machtpotentiale in die Waagschale zu werfen, wenn sie nicht in eine auch für sie destruktive Irrationalität zurückfallen wollen. 4. Die Friedenspädagogik hat zur konsequenten Gewaltlosigkeit zu erziehen, weil sich Konflikte nur noch in „gewaltlosen" Formen austragen lassen, wenn eine Eskalation politischer Unvernunft unterbleiben soll. Wir produzieren aber negative Einstellungen, um künstlich Feindschaft, Provokation und aggressive Aktion aufrechtzuerhalten. Diese „gemachten" Haltungen nehmen wir zum Anlaß des Konfliktes, um geistige Absperrung und Isolierung zu begründen, anstatt sie durch verstärkte Kommunikation zu überwinden. 5. Die Friedenspädagogik hat den sozialen Weltfrieden durch Einsicht in die Existenzlage der unterentwickelten Völker zu einem besonderen Anliegen zu machen. Die positive Einstellung zu einem „weltweiten