Vorbemerkung
Die Friedensforschung ist in Gefahr, zur scheinwissenschaftlichen Mode zu werden, noch bevor ihre Vorhaben, ihre Methoden, ihre Möglichkeiten unter den Friedensforschern selbst geklärt sind. Die ersten Ergebnisse einzelner Institute und Wissenschaftler, die zur Absteckung der Ziele und Grenzen der Friedensforschung beitragen könnten, sind über den Kreis der Fachleute hinaus kaum bekannt geworden.
Die Friedensforschung kann weder dem Politiker noch dem einzelnen souveränen Staatsbürger die Verantwortung für Krieg und Frieden abnehmen. Sie kann keine Wunder voll-bringen. Friedensforschung ohne Friedenspolitik bleibt eine rein akademische Angelegenheit. Friedenspolitik ohne Friedensforschung andererseits ist unmöglich. In unserer von Wissenschaft und Technik bestimmten, komplexen Welt muß sich die Politik der wissenschaftlichen Beratung bedienen.
Diese knappe Übersicht über Möglichkeiten, Grenzen und erste Ergebnisse der Friedens-forschung soll anregen, die angegebene weiterführende Literatur zu einzelnen Gebieten zu benutzen, weiterzudenken und — vor allem — einige der ausgewählten Erkenntnisse und Einsichten der Friedensforschung in Politik und Pädagogik umzusetzen.
I. Friedensforschung
Der Streit über die Frage, ob die Friedensforschung eine alte oder eine neue Wissenschaft sei, ist müßig. Friedensvorschläge und Friedensprogramme, Schriften über Krieg und Frieden, gab es schon im Altertum. Die moderne Friedensforschung konnte erst entstehen, als die Wände zwischen den traditionellen Fakultäten fielen, als Forscherteams aus Vertretern verschiedener Fachrichtungen mit der gemeinsamen Arbeit begannen, als die Notwendigkeit multidisziplinärer Forschung erkannt und verwirklicht wurde. Die moderne Friedensforschung hat ihre Väter bei Völkerrechtlern und politisch engagierten Naturwissenschaftlern, ihre Vorväter bei Philosophen und Theologen.
Der Friede als Bedingung und Ziel jeder politischen Handlung ist heute eine Selbstverständlichkeit. Friede gilt als erstrebenswerter Normalzustand im Zusammenleben der Völker. Krieg ist die zu verhindernde Ausnahme. Das war nicht immer so. Lange Zeit sahen Philosophen den Krieg als ein unabwendbares Schicksal an. Der Friede war Geschenk oder Gnade
Neben Vorläufern moderner Friedensforscher unter den alten Philosophen (Plato, Aristoteles) gab es bedeutende Denker, die den ewigen Krieg nicht nur hinnahmen, sondern ihn sogar priesen. Der vorsokratische Philosoph Heraklit von Ephesus wird heute noch als Verherrlicher des Krieges zitiert. Sein Ausspruch „Kampf ist der Vater von allem, die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien"
Philosophen, die den Krieg verherrlichen, erscheinen heute — nach zwei Weltkriegen und angesichts der Möglichkeit, daß in einem künftigen Weltkrieg die ganze Erde durch Kernwaffen zerstört werden könnte — mit ihrer Meinung als überholt und seltsam abwegig. Doch leben viele ihrer Gedanken noch in den Vorurteilen unaufgeklärter Zeitgenossen weiter. Die Auffassung, daß es immer Kriege geben werde, weil Kriege für die Entwicklung der Menschheit nun einmal notwendig seien, ist noch weitverbreitet. Sogar die Meinung, Kriege seien nötig, um die scheinbar unaufhaltsame Bevölkerungsexplosion auf der Erde einzudämmen, wird gelegentlich am Biertisch geäußert. Auch wirtschaftliche Gründe für Kriege und Rüstung werden genannt, technischer Fortschritt durch Abfallprodukte der Waffenentwicklung wird beschworen. Von interessierten Gruppen wird die Möglichkeit einer waffen-und soldaten-losen Zukunft als absurd ausgeschlossen
Die ersten Hoffnungen auf die Umkehrung des Gesetzes vom ewigen Kriege zur Hoffnung auf den ewigen Frieden kamen auf durch die Interpretation des biblischen Mythos vom Paradies und durch die christliche Friedensbotschaft. Doch die Theologen in der Nachfolge des Heiligen Augustinus verhießen den Frieden erst für das Jenseits. Die Philosophen dagegen forderten den Frieden schon auf Erden. Erasmus von Rotterdam ruft in seinem Traktat „Klage des Friedens, der bei allen Völkern verworfen und niedergeschlagen wurde" (1517) den einzelnen Menschen zum Umdenken auf: „Gehe in dich: dann wirst du finden, daß dich Zorn, Ehrgeiz und Torheit, nicht Notwendigkeit (zum Kriege) verleiten!"
Der Italiener Albericus Gentilis (1551— 1611), Professor in Oxford, war der erste bedeutende Philosoph, der den Krieg in untheologischer Weise erörterte. Verteidigungskriege, auch Präventivkriege, stufte er als gerechte Kriege ein. Bündnispflicht und subjektiver Irrtum des Kriegführenden erkannte er als Kriterien des gerechten Krieges an. Das Naturrecht verbündete sich mit der Machtpolitik. Rechtslehrer wie Gentilis lieferten die ideologische Rechtfertigung 9a). Moralische Friedensaufrufe mehrten sich bis zur Gegenwart, ausgelöst durch die immer härter werdenden Kriege und die Verweltlichung der Politik, die den Frieden nicht mehr als bloße Jenseitshoffnung begriff, sondern als irdische Aufgabe. Aber alle Friedens-aufrufe, von der Bibel über die Theologen, Philosophen und Völkerrechtler des ausgehenden Mittelalters, über den deutschen Philosophen Immanuel Kant, der in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" (1784) einen Muster-Friedensvertrag veröffentlichte und den Frieden als „höchstes politisches Gut" und „Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" betrachtete
Der krieglose Zustand im überwiegenden Teil der Erde beruht nicht auf der Befolgung von Friedensmahnungen, sondern auf der Balance von Kriegsdrohungen. Diese Kriegsdrohungen durch riesige Heere und Waffen unvorstellbarer Zerstörungskraft sind paradoxerweise nach den internationalen Verträgen der einander feindlich gegenüberstehenden Macht-blöcke allerdings keine Angriffsdrohungen, (sondern nur äußere Erscheinungen von Frie(densbemühungen.
In der Präambel zum Nordatlantikvertrag (NATO) vom 4. April 1949 heißt es: „Die Pari feien dieses Vertrages bekräftigen erneut ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und allen Regierungen in Frieden zu leben. . . Sie sind entschlossen, ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen."
In der Präambel des Warschauer Pakts vom 14. Mai 1955 steht: „Die vertragschließenden Staaten haben be
In Artikel 1 des Vertrages verpflichten sich die Partner ausdrücklich, sich in den internationalen Beziehungen der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt zu enthalten und ihre internationalen Streitfragen mit friedlichen Mitteln so zu lösen, daß der Weltfriede und die Sicherheit nicht gefährdet werden 13). Weder zeitgeschichtliche Erklärungen noch ideologie-kritische Untersuchungen können am gegenwärtigen Zustand einer Anhäufung von Kriegsmaterial auf der Erde etwas ändern. Die Abschreckungsideologie hat zu einem System organisierter Friedlosigkeit geführt, das zwangsläufig immer weiter ausgebaut werden muß, um die Glaubwürdigkeit der Vergeltung aufrechtzuerhalten und dem Gegner keine Blöße zu bieten. Dieter Senghaas beschreibt die gegenwärtige internationale Ordnung durch Gewalt als einen Zwangs-mechanismus: „Während im herkömmlichen System, bedingt durch vergleichsweise harmlose Dimensionen von Gewalt und einer relativ maßvollen Gestalt von Politik, ein Friedenszustand . .. sich zeitweilig aufrechterhalten ließ, die Unterscheidung von zivilem und militärischem Bereich streckenweise sinnvoll und realistisch war, läßt sich heute nicht nur diese Unterscheidung nicht mehr treffen, Frieden und Krieg gehen über in den Zustand des Terrorfriedens. Terrormodelle sind der ihm adäquate Ausdruck." 14) Tatsächlich sind heute Rüstung und Wirtschaft, Abschreckung und wechselseitige Verteufelung der Gegner, Außenpolitik und Stärke so eng miteinander verbunden, daß die Bezeichnung „Terrorfrieden", die Senghaas für den gegenwärtigen Zustand benutzt, zutrifft.
Erklärungen in internationalen Verträgen und politische Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Trotz der Friedensmahnungen von Einzelpersonen, Gruppen, Organisationen und der Friedensbemühungen der Vereinten Nationen 14a), trotz internationaler Verhandlungen über Abrüstung und Rüstungskontrolle, gibt es im Augenblick auf der Erde mehr Waffen mit größerer Zerstörungswirkung als je zuvor in der Geschichte der Menschheit, betragen die Rüstungsausgaben mehr als 820 Milliarden DM pro Jahr, zum größten Teil von den hochindustrialisierten Ländern aufgebracht
Friedensforschung und Einzelwissenschaften Die Friedensforschung, mit mehr oder minder exakten wissenschaftlichen Hilfsmitteln betrieben, nahm in den letzten Jahren, fast im selben Maße wie die Steigerung der Rüstungskosten, gewaltigen einen Aufschwung. In einer im Dezember 1967 abgeschlossenen Bibliographie der wichtigsten, überwiegend englisch-und deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Friedensforschung
Für den letzten erfaßten Zeitabschnitt nennen die Autoren 150 Veröffentlichungen von Bedeutung. Inzwischen hat die Flut von Aufsätzen und Büchern weiter zugenommen 16a). Die Friedensforschung wird zur Mode. Der Verdacht auf einen Zusammenhang zwischen der weite-* ren Zunahme der Weltrüstung und der sprunghaften Entwicklung der Friedensforschung liegt nahe. Zwei zunächst rein spekulative Gründe ließen sich anführen: Der Rüstungswettlauf der Militärmächte mit steigenden Kosten und immer größerer Zerstörungskapazität führt zur Einsicht, daß mit konventionellen politisch-militärischen Mitteln der bedrohlichen Entwicklung nicht mehr beizukommen ist und wissenschaftliche Unterstützung benötigt wird. Der andere Grund setzt bei der häufigen Alibi-Funktion der Wissenschaft bei der Politik-Beratung
Für die Entwicklung der Friedensforschung ist die Beschreibung des inhaltlichen Trends ergiebiger als die bloße Feststellung ihrer Ausweitung, gemessen nach Instituten und Ver- Öffentlichungen. Die UNESCO hat eine Untersuchung gefördert, in der 70 Institute, die sich mit Problemen der Friedensforschung befassen, über ihren Aufbau und ihre Forschungsvorhaben befragt wurden. Die Institute nannten als wichtigste Einzeldisziplin für die Friedensforschung folgende Disziplinen (nach ihrer Bewertung): Politikwissenschaft, die Lehre von den Internationalen Beziehungen, Soziologie, die Wirtschaftswissenschaften, Sozial-psychologie, Geschichte, Völkerrecht, Psychologie, Militärwissenschaft, Biologie, Demographie und Geographie. Die Frage nach den Forschungsvorhaben ergab folgende Liste (in Klammern der Prozentsatz der Institute, die sich für die einzelnen Vorhaben engagieren): a) allgemeine Konflikttheorie (68 °/o) b) außenpolitischer Entscheidungsprozeß (63 °/o)
c) Rüstungskontrolle und Abrüstung (60 °/o) d) öffentliche Meinung und Außenpolitik (60 °/o)
e) Gleichgewicht der Kräfte (59 0/o) f) wirtschaftliche Folgen der Abrüstung (56 °/o)
g) Diplomatie (54 0/o)
h) Rolle der Eliten in außenpolitischen Entscheidungen (53 °/o) i) Quellen und Komponenten des Nationalismus (52 °/o)
k) Rolle der Massenmedien (51 °/o)
1) UN-Sicherheitsstreitmacht (50 °/o)
Mari Holmboe Ruge, die im Juli 1965 auf der ersten Generalkonferenz der „International Peace Research Association" in Groningen über die Trends der Friedensforschung berichtete, hob hervor, daß in den jüngeren Instituten der Mitarbeiterstab vielfältiger zusammengesetzt sei und daß die zu erwartende Entwicklung der Friedensforschung auf eine immer weitere Zerstreuung der Disziplinen zusteuere
Schwierigkeiten bereitet die wissenschaftssystematische Einordnung der Friedensforschung. Ist sie eine eigene Wissenschaft, unterstützt von zahlreichen Hilfswissenschaften? Gehört sie mit ihrem Schwerpunkt in den Zuständigkeitsbereich der Politikwissenschaft, Unterabteilung „Internationale Beziehungen", wie Ernst-Otto Czempiel meint
„Friedensforschung ist zweckbestimmt, man forscht nicht um der Forschung willen, sondern um ein dringliches Problem zu lösen. . Friede'wird als ein Wert anerkannt, genau wie . Gesundheit'in der Medizin. Er wird gewöhnlich als dauernder Verzicht auf Gewaltanwendung zwischen den Staaten definiert."
Friedensforschung sollte als die Gesamtheit der wissenschaftlichen Bemühungen, die Bedingungen des „Friedens" zu erforschen, verstanden werden. Eine Einigung über den Friedens-Begriff ist bisher nicht möglich gewesen. Eine Wissenschaft, die nach ihrem Forschungsgegenstand fragt, stellt sich selbst in Frage. Der scheinbare Mangel stellt sich als Gewinn heraus. Die Friedensforschung tut gut daran, ihr Forschungsziel und ihre Methoden ständig in Frage zu stellen. Wegen der engen Bindung der Friedensforschung an den Friedens-Begriff, die fast alle Friedensforscher direkt oder indirekt spüren, wäre bei einem allgemein verbindlichen Friedens-Begriff die Gefahr der Ideologiebildung in der Friedensforschung gegeben. Die Offenheit des Friedens-Begriffs, über die im folgenden Abschnitt berichtet wird, bedeutet die Rettung der Friedensforschung vor der Gefahr, mit ideologischen Scheuklappen die Verwirklichung einer einzigen Friedensidee wissenschaftlich begründen und politisch fordern zu müssen.
Bisher liegen keine umfassenden Forschungsergebnisse vor, denen die Mitwirkung eines größeren Teams von Wissenschaftlern verschiedener Fachgebiete anzumerken wäre. Die Wissenschafts-Organisation liegt auch hier im argen. Die Einzeluntersuchungen zum Problemkreis Krieg und Frieden, die jeweils ein überschaubares Tatsachenfeld erforschen oder abgegrenzte theoretische Fragen behandeln, bereichern in stärkerem Maße die Einzelwissenschaften als die komplexe Friedensforschung. In der Bescheidenheit der Forschungsvorhaben liegt im Augenblick jedoch auch ihr Nutzen. Dieter Senghaas schreibt: „Die Friedens-forschung ist keine Wissenschaft, die von heute auf morgen alle relevanten Fragen formulieren und jene praktischen Antworten entwickeln könnte, ohne die die Menschheit in ihrem Leben permanent gefährdet bliebe. Wer diese Forschung in den vergangenen Jahren in ihrer Entwicklung beobachtete, wird bestätigen, daß in ihr mit viel methodischem Skrupel und theoretischer Umsicht gearbeitet wurde."
Forschungen über Vorurteile und ihre Rolle bei der Entstehung des Feindbildes
Die Friedensforschung ist keine „wertneutrale Wissenschaft" im Sinne rein akademischer Beschäftigung. Für sie gilt, was Eugen Kogon auf der Tagung der Politologen im Jagdschloß Waldleiningen Mitte September 1949 zur Neu-begründung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik sagte: „Gegenstand der politischen Wissenschaft sind die Elemente, die Mittel und die Methoden des Ringens um die optimale Verwirklichung des Allgemeinwohls. .. Was das Erkenntnisziel unserer Wissenschaft anlangt, ist es der Gegenstand selbst."
Denkbar und wünschenswert wäre eine allgemeine Theorie des Friedens und der Friedens-forschung als Voraussetzung ihrer Wissenschafts-Organisation. Eine Theorie des Friedens sollte die gesicherten Forschungsergebnisse aller beteiligten Einzelwissenschaften zusammenfassen, neue Fragestellungen erarbeiten und die ständige Information von Politikern, Pädagogen, Publizisten und der Öffentlichkeit gewährleisten. Bis heute ist eine Theorie des Friedens noch nicht in Sicht, trotz mehrerer Werke, die im Titel mit diesem Anspruch auftreten. Wenn einmal der Rahmen der Friedenswissenschaft, wahrscheinlich unter dem Dach eines großzügigen Friedensforschungs-Instituts als Clearing-Stelle aller Friedens-Informationen, gefunden sein wird, muß auch ein bisher vernachlässigter Zweig der Friedens-forschung weiterentwickelt sein: die systematische Untersuchung der Rückwirkungen der Friedensforschung auf die gesellschaftlichen Realitäten und ihre politischen Auswirkungen.
II. Aspekte des Friedens
„Frieden ist ein so durch und durch . gutes'Wort, daß man sich vor ihm in acht nehmen soll. Für die verschiedenen Menschen hat es seit jeher die allerverschiedensten Dinge bedeutet. Sonst könnten sich nicht alle so bereitwillig und allgemein auf den Frieden einigen", meint C. Wright Mills
„Frieden" als „Seelenfrieden", als „Ruhe und Frieden", als privater Frieden also, mag für individualpsychologische Ansätze der Friedensforschung fruchtbar sein, etwa in der Fragestellung, ob eine friedliche Gesinnung Voraussetzung für den Friedens innerhalb und zwischen Gruppen sein kann, und in der weiteren Fragestellung der Konflikttheoretiker, ob in einer dynamischen Gesellschaft Konfliktvermeidung oder Konfliktaustragung wünschenswert sei
Der Völkerrechtler Hugo Grotius definierte in seinem Werk „De iure belli ac pacis" (1625) den Frieden als die Abwesenheit des Krieges. Diese sehr nüchterne, negative Definition galt lange Zeit als verbindlich. Heute genügt sie nicht mehr und bedarf der Erweiterung. „Angesichts von Guerilla-und Polizeiaktionen, von Grenzzusammenstößen und subversiven Unternehmungen mit den uns bekannten Über-läufer-, Kollaborations-und Flüchtlingserscheinungen (hat diese Definition) kaum noch Gültigkeit", meint Hans J. Haferkorn zu Recht
Eine weitere Einschränkung, und zwar die wichtigste, gegen den formalen Friedens-Begriff bringt Dieter Senghaas vor. Er bezeichnet den gegenwärtigen Zustand als „Terrorfrieden": „Die Menschheit durchlebt heute eine Epoche intensivierten kollektiven Unfriedens. Zwar gibt es verschwindend wenige Oasen des Friedens und immer noch Grade des Un-friedens, doch bestimmt sich der Gang der Geschichte in diesen Jahrzehnten und auf absehbare Zukunft durch Gesellschaften, deren gegenseitiges Verhalten sich zu einem System organisierter Friedlosigkeit zusammengeschlossen hat. Es ist eine Welt des Terrorfriedens, eine Welt, die sich in permanenter Angstspannung reproduziert: eine Welt, in der Gewalt und Angst eine Symbiose eingegangen sind."
In der modernen Friedensforschung wird die alte Grotius-Definition des Friedens als Abwesenheit von Krieg nur noch mit Einschränkungen benutzt. Johan Galtung schlägt vor, „Krieg" als „organisierte Aggression zwischen Gruppen" zu verstehen, wobei er unter Aggression „jede Verhaltensfolge" versteht, „deren Ziel die Verletzung der Person -ist, gegen die sie sich richtet". Was mit Verletzung der Person gemeint sei, kann nach Galtung verschieden gedeutet werden. Eine Verletzung kann durch physische Gewalt-einwirkung erfolgen, aber auch durch gesellschaftliche Mittel wie Wirtschaftsboykott, Rassentrennung oder Rufmord. Galtung zählt auch die „psychologische Kriegführung" zu den Mitteln der Verletzung der Person
Kriegsverhinderung genügt nicht; es kommt auf die Beschreibung und wissenschaftliche Erforschung eines gewünschten Friedenszustandes an, soweit das als Zukunfts-Entwurf möglich ist. Diese Frage ist schon ein Problem der Friedensforschung, nämlich als Suche nach dem „positiven Frieden". Eine Welt ohne Krieg und ohne Kriegsgefahr, der „positive Friede", ist ein Utopie im guten Sinne, eine Herausforderung, die Phantasie und Kreativität verlangt. Alexander Mitscherlich hat die These aufgestellt, daß der positive Friede unbewußt von den Menschen gefürchtet werde: „Das Gefühl, der Möglichkeit kollektiver aggressiver Äußerungen beraubt zu sein, wird unbewußt als ein äußerst bedrohlicher, schutzloser Zustand aufgefaßt; das reflektiert sich auch in der vagen Unlust, mehr als deklamatorisch sich mit dem Frieden zu befassen, und mag einer der Gründe sein, warum das Wort Weltfrieden in so manchem Munde hohl und unaufrichtig klingt."
Margaret Mead versucht, die „Psychologie des Menschen in einer Welt ohne Krieg" zu beschreiben. In einer friedlichen Welt sind durchaus nicht alle Probleme des menschlichen Zusammenlebens automatisch gelöst, sondern neue Probleme stellen sich ein: „In einer Welt ohne Krieg wird eine große Anzahl ungelöster Probleme plötzlich mit aller Deutlichkeit zutage treten. Ob sie nun alt sind oder neu, sie stellen eine Herausforderung dar und garantieren, daß die Menschen nicht in Häuslichkeit und stumpfsinniger Sicherheit versinken werden. Im Gegenteil: die Drohung der nuklearen Katastrophe und Vernichtung produziert heute Apathie und Resignation. . . Nur ein wiederhergestelltes Vertrauen in die Zukunft, ein erneuertes Verständnis für Kontinuität kann den Menschen die Kraft und den Willen zurückgeben, die harte Arbeit, eine lebensfähige Welt zu bauen, auf sich zu nehmen."
Die Friedensforschung muß beide Wege zugleich gehen, den der Untersuchung der Bedingungen des „negativen Friedens" als Abbau der Spannungen und Rüstungen und den des „positiven Friedens" zu Entwürfen einer künftigen Weltordnung neuer Qualität. Der Streit über den richtigen oder falschen Friedensbegriff bringt nichts ein. Der „negative Friede" als Abwesenheit von Gewalt mit allen zeitgemäßen Erweiterungen ist leichter zu beschreiben als der „positive Friede". Eine genauere Beschreibung des positiven Friedens, einer friedlichen Weltordnung, wird erst möglich sein auf einer höheren Stufe gesellschaftlicher Entwicklung zu diesem positiven Frieden hin. Aus einer friedlosen, von Abschreckung paralysierten Welt heraus lassen sich die gesellschaftlichen Realitäten eines künftigen Friedens nur ahnen.
Die Verkrampfungen des von Leistungsdruck und Angst gelähmten Bewußtseins müssen durch kühne Zukunftsentwürfe gelockert werden. Eine präzise Beschreibung des zu verwirk-liebenden positiven Friedenszustandes ist nicht möglich. Die Propagierung einer einzigen, verbindlichen und detailliert geplanten friedlichen Welt bedeutet nur eine neue Verkrampfung. Deshalb fordert Robert Jungk immer wieder den Entwurf mehrerer Zukunftsmodelle, das Be-schreiten vieler verschiedener Pfade in der sozialen Phantasie 41a). Er fordert „Werkstätten für Zukunftsmodelle", in denen friedliche, menschenfreundliche Neuerungen erdacht werden sollen 41b), die Voraussetzungen für den positiven Frieden.
III. Wege der Friedensforschung
Die Friedensforschung ist in ihrer Konzeption und in ihrer Institutionalisierung interdisziplinär
In einem kurzen Überblick sollen einige wichtige Zweige der Friedensforschung vorgestellt werden, von individualpsychologischen Ansätzen bis zum Postulat und der Kritik einer Weltregierung. Im ersten Abschnitt wird einiges Material über die Erforschung der Kriegsursachen vorgetragen, im zweiten erste Ergebnisse der umgekehrten Fragestellung nach den Bedingungen des Friedens. 1. Kriegsursachen Die Ursachen des Krieges sind bisher fast ausschließlich von Historikern und Politik-wissenschaftlern beschrieben worden. Macht-ansprüche, Interessenkollisionen von Staaten oder genauer: von Herrschenden, die sich in jüngster Zeit die „öffentliche Meinung" zunutze machten, ehrgeizige Pläne elitärer Gruppen oder von Einzelpersonen führten zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Die Clausewitzsche Formel vom „Kriege als einer Fort-Setzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel"
Konrad Lorenz schlägt gesellschaftliche Betätigungsmöglichkeiten in Spiel und Wettbewerb vor, um die seiner Meinung nach zum Menschen wie zum Tier gehörende Aggressivität unter Kontrolle zu bringen. Alexander Mitscherlich fordert die Schaffung neuer Lebensbedingungen für den Menschen
Talcott Parsons baut seine — von Dahrendorf angegriffene — Konflikttheorie auf der Hypothese auf, daß Aggressivität eher aus Schwäche und Benachteiligung erwächst als aus biologischer Stärke. Er schreibt: „Wie immer das Erbpotential auch beschaffen sein mag und welche Bedeutung ihm auch zukommen mag, so ist doch jedenfalls unendlich viel Material dafür daß sich aggressive Muster erbracht worden, in der Kindheit dann entwickeln, wenn die Sicherheit des Kindes in irgendeiner Form, meist in den Beziehungen zu den Mitmenschen, bedroht ist und realistische Befürchtungen in neurotische Angst übergehen." 49a) Die Mobilisierung der latent vorhandenen Aggressivität, die Stärkung des „Kampfeswillens" 49b), wird offenbar durch sozialpsychologische Mechanismen begünstigt.
Ganz gleich, ob die Aggressivität im Menschen angelegt ist oder ob sie erst durch das Zusammenleben der Menschen unter bestimmten gesellschaftlichen Einflüssen entsteht, gefährlich ist der Glaube an die Unabänderlichkeit der gewaltsamen Äußerung menschlicher Aggression. Denn der Glaube an die Unabänderlichkeit der offen ausgetragenen Aggression führt zwangsläufig zu der Meinung, Krieg zwischen Gruppen von Menschen sei ein Naturgesetz. Krieg wird als Ventil des Triebüberdrucks angesehen.
Krieg ohne den Willen der beteiligten Individuen, den Gegner und seine Mittel zu zerstören, Krieg ohne offene Aggressivität! ist nicht denkbar. Nur zur Aggression neigende Menschen sind bereit, ihnen als Feinde erscheinende Mitmenschen zu töten. Offenbar können fast alle Menschen — wie die totalen Kriege der jüngsten Vergangenheit zeigten — zu aggressiven Handlungen mobilisiert werden. Die Aggressionsbereitschaft in der hochindustrialisierten Gesellschaft ist groß, wie Alexander Mitscherlich in seinen Untersuchungen festgestellt hat.
Im einzelnen hat Friedrich Hacker im 33. Bergedorfer Gespräch im Juli 1969 die aggressionsverstärkenden Faktoren unserer Gesellschaft aufgezählt: In der Erziehung wird der Verzicht auf Gewaltausübung durch Gewalt erzwungen. Das verhärtete Vorurteil von der notwendigen Gewalt verhärtet den Status quo der Machtverteilung auf der Erde und in der einzelnen Gesellschaft und schafft damit die Voraussetzungen neuer Gewaltanwendung. Gewalt, die als Verbrechen verboten ist, wird als Strafe angewendet. In nationalen Feiern werden Gewalttaten verherrlicht. In Feindbilder wird Gewalt projiziert. Der Fetischismus der Faktizität führt-zur Gewalt-Eskalation. Massenmedien stimulieren und reflektieren in Krimis und Western Gewalt; die empfohlenen gesellschaftlichen Gewaltsublimationen — etwa im Sport — sind häufig nur stellvertretender Ausdruck latenter Gewalt und stärken das Aggressionspotential
Alexander Mitscherlich analysiert die sozialpsychologischen Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Organisation der modernen Industriegesellschaft und der zu Kriegszwecken mobilisierten Aggressivität: „Da ist die Frustration der aggressiven Bedürfnisse auf fast allen Schauplätzen der modernen Industriegesellschaft; da ist die in ihrem Aktionsraum eng abgezirkelte, Aggression wie in einem Brennspiegel sammelnde . isolierte Kernfamilie’, und da sind die Frustrationen, die aus der Unmöglichkeit zur aktiven Beteiligung in den mechanisierten und rigiden Arbeits-und Organisationsstrukturen des Großbetriebes resultieren. Diese Häufung entmutigender Erfahrungen stimuliert die Regression zu infantilen Allmachtsphantasien. Das Individuum wird nun erst recht schutzlos und sieht sich vielleicht, ohne es zu überblicken, in kollektive aggressive Prozesse verwickelt, die seinen individuellen Todestrieb provozieren, denen gegenüber es aber ausgeliefert bleibt, weil eben diese verlockenden aggressiven Parolen die Sprache infantilen Omnipotenz der sprechen und hinter sich das Risiko verstecken."
Im zwischengesellschaftlichen Verkehr führt eine Verstärkung von gegenseitigen Verdächtigungen und Fehleinschätzungen zur Verschärfung der internationalen Spannungen und zur wachsenden Kriegsbereitschaft der Bürger. Nicht nur die unaufgeklärten Massen sind diesem Mechanismus unterworfen, sondern auch die herrschenden Eliten
Die Aufzählung der aggressionsverstärkenden Einflüsse innerhalb und zwischen Gesellschaften ließe sich leicht fortsetzen. Es soll nur noch auf Leistungsdruck und Wettbewerbszwang, Stärkung staatlicher Institutionen als Folge von Liberalisierungsforderungen
Psychologische Kriegsfaktoren, zu denen unter dem Sammelbegriff „Aggressivität" auch Feindseligkeit, Rivalität, Voreingenommenheit und Vorurteil, Haß, Sadismus, Übertragung eigener Unzulänglichkeiten auf den Feind gehören, außerdem Frustrationserscheinungen in der hochtechnisierten Überfluß-und Ordnungsgesellschaft, könnten um eine Liste von Haltungen und Einstellungen erweitert werden, die in anderen Situationen positiv bewertet werden: Opfersinn, Nächstenliebe, Gemeinschaftssinn und Missionierungswille
Große theoretische Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und Krieg gibt es in der westliehen Literatur nicht. Westliche Analysen gehen streng empirisch vor. Erst nach Auswertung von Erfahrungstatsachen erfolgen vorsichtige Ansätze einer Theoriebildung. Michael Haas hat Einzeluntersuchungen über die innere Stabilität von Staaten, über politische Systeme, Wirtschaftsentwicklung, Wirtschaftsdruck, innerkulturelle Spannungen, soziale Konflikte, Tätlichkeiten und Wirklichkeitsflucht (Selbstmord und Alkoholismus) zusammengetragen und sie in Beziehung zu den kriegerischen Verwicklungen gesetzt, in die die untersuchten Staaten gerieten
Haas fand heraus, daß Demokratien zum Frieden neigen, wirtschaftlich schwächere Länder weniger konfliktanfällig sind als reiche Länder. Wirtschaftlicher Druck steht in Beziehung zu internationalen Konflikten, allerdings nur bei städtischen Kulturen. In Agrarkulturen erzeugt Druck Tätlichkeiten im Inneren, ohne sich auf äußere Konflikte auszuwirken. Bei Druck auf politisch mobilisierte Bevölkerungsschichten werden innere soziale Konflikte erzeugt, die sich nach außen nicht auswirken. Michael Haas fordert gründliche Untersuchungen der sozialen Lage der Führungsgruppen und des Einflusses gesamtgesellschaftlicher Phänomene auf ihr Verhalten, um zu aktuelleren Aussagen über die Kriegsanfälligkeit von Staaten zu gelangen. Das Ergebnis seiner Untersuchung, mit der gebotenen Vorsicht ausgenommen, überrascht nicht: „Ein internationales System, das nur aus Demokratien besteht, zeigt sicher größeren Willen zum Frieden als ein System von Autokratien oder armen isolationistischen Staaten mit geringem Konsensus im Lande selbst. Länder auf dem Wege zur Verstädterung stiften Unruhe, insbesondere wenn ihre Entwicklung so schnell vor sich geht, daß die ungesetzlichen Reaktionen darauf — Wirklichkeitsflucht oder Selbstzerstörung —• zunehmen."
Nicht nur die Untersuchung der Eliten, die Haas gefordert hat, könnte zu neuen Erkenntnissen des Zusammenhangs von Gesellschaft und Krieg führen, sondern auch die Erforschung einzelner gesellschaftlicher Gruppen. Als Beispiel soll auf eine Untersuchung des kanadischen Friedensforschungsinstituts aus dem Jahre 1963 hingewiesen werden, in dem die Ansichten der kanadischen Bevölkerung zu Kernwaffen, Vereinten Nationen, Kommunismus, Abrüstung erfragt wurden. Bildungsstand, Intelligenz, Verantwortungsgefühl, Einstellung zum Wohlfahrtsstaat und religiöse Überzeugung wurden in Relation zur Meinung über Krieg und Frieden in der gesamten differenzierten Fragestellung gebracht. Das Ergebnis, stark vereinfacht, ist erstaunlich: Christen sind kriegsbereiter als Nichtchristen. Je dogmatischer die Christen sind, desto größer ist ihre Kriegsbereitschaft. Katholiken wünschen Kernwaffen mehr als Protestanten, Protestanten mehr als Glaubenslose. Von allen untersuchten Gruppen zeigten die Kirchgänger eine stärkere Tendenz, an die militärische Macht als Mittel der Konfliktlösung als an Verhandlungen und Kompromisse zu glauben
Die Untersuchungen über die Zusammenhänge inner-und zwischengesellschaftlicher Erscheinungen und Kriegsanfälligkeit stehen erst am Anfang. Umfangreiche Datensammlungen stehen zur Verfügung: die Statistiken der Regierungen. Sie müssen — ergänzt durch demoskopische Untersuchungen und differenziertere Fragestellungen — mit Hilfe von Computern sinnvoll ausgewertet werden. Die kontinuierliche Beobachtung von gesellschaftlichen Trends einzelner ausgewählter Staaten und ihres wechselnden Verhältnisses zueinander wäre wünschenswert. c) Ideologie und Krieg Ideologische Unterschiede und Gegensätze, wie sie in radikaler Form zwischen den politischen Eliten in Ost und West bestehen, in gradueller Form, dabei nicht weniger hart vorgetragen, zwischen den Moskau-Kommunisten und den China-Kommunisten, in jüngster Zeit auch zwischen den Moskau-Kommunisten und den Reform-Kommunisten in einzelnen Ostblockstaaten, werden als mögliche Kriegsursachen immer wieder angeführt, jedoch nicht eingehend genug untersucht. Das ist erstaunlich, denn der gegenwärtige Stand des hoch-gerüsteten Abschreckungs-Systems beruht letztlich auf unüberbrückbaren ideologischen Gegensätzen, auf den ideologisch begründeten Expansionsansprüchen des Kapitalismus und des Kommunismus. Christian Graf von Krokkow hat darauf aufmerksam gemacht, daß die beiden großen Ideologien sich nicht gegeneinander abschirmen können, sondern einen expansiven, prinzipiell universalen Ausgleichsanspruch gegeneinander erheben müssen. Der Kapitalismus kann keine Begrenzung anerkennen, da er sich nach dem Gesetz des Wettbewerbs immer weiter ausdehnen muß. Zugleich hat der Kapitalismus ein starkes politisches Sicherheitsbedürfnis, das nur durch die universale Ausdehnung oder zumindest durch das Vorherrschen seiner gesellschaftlichen Organisationsform befriedigt werden kann
Zwar meint Otto Heinrich von der Gablentz, daß der Westen keine Ideologie habe und auch keine Ideologie haben dürfte
Selbst John F. Kennedy war erfüllt von dem amerikanischen Missionierungsgedanken, der ganzen Welt die Freiheit amerikanischer Prägung bringen zu müssen
Der Absolutheitsanspruch des Kommunismus ist mit der Lehre von der Weltrevolution verkündet worden. Friedrich Engels erklärte 1847 in den „Grundsätzen des Kommunismus", daß die kommunistische Revolution in allen zivilisierten Ländern gleichzeitig vor sich gehen und auf die übrigen Länder in der Welt eine bedeutende Rückwirkung ausüben werde:
„Sie ist eine universelle Revolution und wird daher auch ein universelles Terrain haben."
auf dem 22. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion am 17. Oktober 1961 in Moskau ausführlich rechtfertigte
Von drei verschiedenen ideologischen Positionen wurde die These von der friedlichen Koexistenz heftig kritisiert. Der ideologische Konkurrent tat die Verkündung der „friedlichen Koexistenz" als reine Propaganda ab. Paul Henri Spaak, damals NATO-Generalsekretär, schrieb: „Die .friedliche Koexistenz“, so wie Moskau sie versteht, hat die Atlantischen Verbündeten vor eine gebieterische Forderung gestellt. Weil Moskau das Streitfeld zwischen Ost und West auf alle Gebiete ausdehnt, zwingt es die NATO, ihre Zusammenarbeit entsprechend zu vergrößern. Der globalen Herausforderung der sowjetischen Welt muß die Allianz eine globale Antwort entgegensetzen .. . Die Propagandaformel der Sowjets von der friedlichen Koexistenz“ erfordert eine Intensivierung der Zusammenarbeit innerhalb der NATO, machte diese aber auch schwieriger."
Die chinesischen Genossen reagierten ebenfalls kritisch auf die Koexistenz-Formel. Als Antwort auf die These von der Vermeidbar-keit von Kriegen, die Chruschtschow aufgestellt hatte, erklärte LuTing-yi in seiner Lenin-Gedenkrede am 22. April 1960: „Die modernen Revisionisten sind infolge der imperialistischen Politik der Erpressung mit Atomkrieg von Panik ergriffen. Aus Angst vor dem Krieg entsteht bei ihnen Angst vor der Revolution, aus fehlender Bereitschaft zur eigenen Revolution der Widerstand dagegen, daß andere Völker Revolutionen ausführen."
Die Kritik aus der dritten Position gegenüber der Koexistenz-Formel ist die der enttäuschten Kommunisten, die ähnlich wie, wenn auch differenzierter, als die Chinesen argumentieren. So schreibt Ursula Schmiederer in ihrer sehr gründlichen Untersuchung der sowjetischen Theorie der friedlichen Koexistenz: „Die Notwendigkeit, den Krieg zu vermeiden, wird nicht motiviert mit einer neuen Struktur der Klassenkonflikte, sondern mit der militärisch-technischen Entwicklung von Wasserstoffbomben und Trägersystemen. Die Frage von Krieg und Frieden wird aus dem Zusammenhang des internationalen Klassenkampfes gelöst und unter der machtpolitischen Abschreckungsperspektive gesehen."
Kapitalismus und Kommunismus stehen einander nach wie vor als antagonistische Ideologien gegenüber. Ihr Gegensatz ist die Ursache der weltweiten Aufrüstung. Unter dem Bann der gegenseitigen Abschreckung wurde zwar bisher die bewaffnete Auseinandersetzung verhindert, doch wurden im „Kalten Krieg" neue Formen der Austragung von Konflikten eingesetzt: ultimative Drohungen, Wirtschaftsdruck, Blockaden und Boykotts, massive Einmischung in die Angelegenheiten von Ländern der Dritten Welt durch Verknüpfung von Wirtschaftshilfe und politischem Wohlverhalten, Versuche zur Sprengung der Allianzen durch Herausbrechen einzelner Mitglieder, Militärhilfe, militärische Beratung bis zur Unterstützung begrenzter Kriege.
Alastair Buchan sieht im überhandnehmen des Nationalismus überall in der Welt (afrikanischer, asiatischer, karibischer, arabischer Nationalismus) wachsende Kriegsgefahren für die siebziger Jahre. Nicht nur die Ideologien des Marxismus und des Maoismus, sondern auch die des Rassismus (Schwarz gegen Weiß, Süd gegen Nord) werden seiner Meinung nach das Konfliktpotential auf der Erde anwachsen lassen 72a).
Die Ideologieforschung, die nur in Ansätzen entwickelt ist, sollte die Zusammenhänge von Ideologie und Konflikten, von Ideologie und Kriegsbereitschaft, von Ideologie und sozialen, weltpolitischen und sozialpsychologischen Tatbeständen untersuchen, die Veränderung der Ideologien unter dem Einfluß von Wissenschaft und Technik und im Banne der weltweiten Abschreckung erforschen. Die Frage, ob nicht Ideologien häufig nur zur Tarnung und Rationalisierung machtpolitischer Interessen benutzt oder sogar erzeugt werden, bedarf dringend eingehender Analysen. Auch sollte die im Westen immer wieder geäußerte Vermutung eines notwendigen ideologischen Ausgleichs als Folge der technisch-ökonomischen Revolution, die sogenannte Konvergenz-Theorie, eingehend untersucht werden. Die mögliche Konvergenz wird im Machtbereich der UdSSR
„Internationale Politik ist, wie alle Politik, ein Kampf um die Macht", schreibt Hans J.
Morgenthau: „Wo immer die letzten Ziele der internationalen Politik liegen mögen, das unmittelbare Ziel ist stets die Macht." 73a) Während die Macht eines Staates früher Ansehen und Einfluß des Herrschers vermehrte und sich kaum auf die Lebensbedingungen der einzelnen Bürger auswirkte, bedeutet Macht heute als militärische Macht und als wirtschaftliche Macht direkte und indirekte Auswirkung auf das Leben jedes Staatsbürgers. Die militärische Macht schreckt den vermeintlichen Gegner ab. Die wirtschaftliche Macht gibt Vorsprung im internationalen Wettbewerb und ist die Voraussetzung eines hohen Lebensstandards. Militärische und wirtschaftliche Macht hängen zusammen; denn nur bei ausreichendem Wirtschaftspotential ist eine Rüstung möglich. Die Rüstung belastet die wirtschaftliche Macht und verringert den Lebensstandard. Die Ausweitung der Macht eines Staates auf wirtschaftlichem und auf militärischem Gebiet wird als Teilnahme am weltweiten Wettlauf gesehen, das soll bedeuten: was der eine Staat an relativer Macht hinzugewinnt, verliert der andere Staat. Der Wettlauf um die Macht ist das ständige Streben nach Veränderung der „Machtrangliste" auf der Erde. So entsteht die scheinbar unabänderliche Konkurrenz-Situation, verstärkt durch die ideologischen Gegensätze zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die im Machtzuwachs eine Bestätigung ihrer gesellschaftlichen Organisationsform sehen.
Raymond Aron gibt zu bedenken, daß die Beziehungen zwischen rivalisierenden Staaten „in normalen Zeiten" nicht einfach Ausdruck des Kräfteverhältnisses sind: „Solange man . spricht'anstatt sich zu . schlagen', sind die Gründe der Tat und des Rechts nicht ohne Einfluß auf den Unterhändler. Die Diplomatie als Ersatz des Krieges beschränkt sich nicht darauf, jeden Augenblick das beabsichtigte Ergebnis des Krieges gutzuheißen. 73b) Nach dem Gesetz des Terrorfriedens, unter dem die heutige Weltpolitik steht, spielen die Kräfteverhältnisse auf der Erde meiner Meinung nach eine Rolle, deren Gewicht die Möglichkeiten einer Diplomatie als unerheblich erscheinen läßt. Leistungsstreben unter internationalem Konkurrenzdruck und Rüstung unter dem Zwang des „Gleichgewichts des Schreckens" lassen der Diplomatie nur sehr geringen Spielraum. Auch Erfolge diplomatischer Initiativen, wie sie sich in der Ostpolitik der Regierung Brandt-Scheel abzuzeichnen beginnen, müssen im Zusammenhang der allgemeinen Macht-und Konkurrenzsituation gesehen werden, und zwar als Aktionen aus den noch immer bestehenden Machtblöcken Ost und West heraus. Eine Änderung der Machtsituation steht gar nicht zur Debatte.
Wirtschaftliche Macht beruht auf einer hoch-entwickelten Industrie, einer gut ausgebauten Infrastruktur, Verfügungsgewalt über Energie-und Rohstoffquellen. Militärische Macht besteht aus der Verfügbarkeit über Kriegs-material und Menschen, für einige Staaten (bisher: USA, UdSSR, Großbritannien, Frankreich und VR China) auch im Besitz von Nuklearwaffen und den dazugehörenden Trägerwaffen. Die internationale Konkurrenz war bisher die Hauptursache für Konflikte, die als Kriege ausgetragen wurden. Werner Levi stellt fest, daß das Streben nach Macht mit den daraus resultierenden Konflikten ein Kennzeichen des Nationalstaatensystems der modernen Welt sei. Er hält die Annahme für irrig, daß nur deshalb zwischen verschiedenen Staaten gewaltsam ausgetragene Konflikte auftreten, weil ihre Bürger aggressiv, militaristisch oder nationalistisch eingestellt seien.
Das Gegenteil ist seiner Meinung nach der Fall, nämlich die Ausbildung der genannten kriegsfördernden Haltungen und Einstellungen als Reaktion auf die Konkurrenz-Situation der Staaten: „Bürger nehmen diese Merkmale an oder werden auf die Kriegsführung vorbereitet, da reale Konflikte zwischen Staaten bestehen, die mit Gewalt gelöst werden könnten."
Läßt man die zwar einleuchtende, aber einseitige These bestehen, daß alle Konflikte zwisehen Staaten Machtkämpfe in einer Konkurrenz-Situation seien, so wäre eine Vorhersage möglicher Konflikt-Lagen nicht schwer. Wilhelm Fucks hat mit seiner Untersuchung der Macht-Konstellationen auf der Erde nach einer von ihm entwickelten mathematischen Formel, die die Macht ausdrücken soll, „Gefahrenpunkte" in der weiteren Entwicklung der Industriestaaten ermittelt. 1965 sagte er voraus, daß sich im Jahre 1970 die Macht-Kurve der Sowjetunion und der Volksrepublik China schneiden würden. Für 1974 sah er ein Gleichziehen der VR China mit den USA voraus
Unter dem Eindruck der weltpolitisch lähmenden Bedrohung durch Nuklear-und konventionelle Waffen mußten weitaus kompliziertere Berechnungen angestellt werden, um Konflikte vorhersagen zu können. Bescheidener im Gebrauch des Wortes „Macht" und zugleich umfassender in der Betrachtung der wirtschaftlichen Zukunftsentwicklung mit ihren Konflikt-möglichkeiten bei wachsender Konkurrenz sind Herman Kahn und Anthony Wiener. Aus ihren Untersuchungen des zu erwartenden künftigen Pro-Kopf-Einkommens in den einzelnen Staaten und Regionen der Erde ergibt sich die Einsicht, daß es in Zukunft zu einer weiteren Verschärfung der Konkurrenz-Situationen auf der Erde kommen wird. Global ausgedrückt, sagen Kahn und Wiener eine Vergrößerung der Lücke zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern voraus:
Pro-Kopf-Brutto-Nationalprodukt in US-Dollar
Im Sinne einer Stabilität durch Abschreckung, die nur bei gleicher Kräfteverteilung funktioniert, ist dabei die Verteilung der Nuklearwaffen ein weiterer Faktor der Instabilität. Die Nuklearwaffen befinden sich — bis auf die Ausnahme der Volksrepublik China — ausschließlich im Besitz der hochentwickelten Länder der Nordhalbkugel. Nach dem Gesetz der Abschreckung wäre ein Atomschlag in einer möglichen Nord-Süd-Auseinandersetzung nicht vom vernichtenden „second strike" (Gegen-schlag) gefolgt, der durch seine bloße Möglichkeit den „first strike" verhindert. Wir müssen annehmen, daß wegen der unübersteigbaren moralischen Barriere der hochentwickelten Industrienationen die Anwendung der Nuklearwaffen in einem Nord-Süd-Konflikt unmöglich wäre. Nach den Regeln des Abschreckungsfriedens, die innerhalb des Staatensystems der Nordhalbkugel entwickelt wurden, ist jedoch der einseitige Besitz von Massenvernichtungswaffen eine Gefahr für den Frieden. Unter diesem Aspekt wird die Reaktion der Volksrepublik China gegenüber dem Atomsperrvertrag und schon gegenüber dem Teststopp-Abkommen von 1963 verständlicher. In einem offiziellen chinesischen Kommentar zum Test-stopp-Abkommen vom 31. 7. 1963 heißt es: „Die Völker der Welt verlangen eine allgemeine Abrüstung und ein vollständiges Verbot von Nuklearwaffen; der Vertrag trennt die Einstellung der Nuklearversuche vollständig vom totalen Verbot der Nuklearwaffen und legalisiert die fortdauernde Herstellung, Lagerung und den Gebrauch von Nuklearwaffen durch die drei Nuklearmächte, was einer Abrüstung widerspricht. . . Die Völker der Welt verlangen die Verteidigung des Weltfriedens und die Beseitigung der Gefahr eines Nuklearkrieges; der Vertrag stärkt geradezu die Position der Nuklearmächte in bezug auf nukleare Erpressung und vermehrt die Gefahr, daß die Imperialisten einen Nuklearkrieg und einen Weltkrieg auslösen. .
Friedensmöglichkeiten Neben der Analyse der Kriegsursachen ist die Suche nach Möglichkeiten der Sicherung und Herstellung des Friedens ein Zweig der Friedensforschung. Die Freilegung der Kriegs-ursachen führt zu Vorschlägen ihrer Beseitigung. Die Aggressivität, ganz gleich, ob angeboren oder erworben, führt ungebändigt zur gewaltsamen Aktion. Sozial-und Bildungsreformen können helfen, Aggressionsstauungen abzubauen, gewaltlos Austragungsformen für Konflikte innerhalb der Gesellschaften und zwischen den Gesellschaften zu entwickeln. Da Kriege nicht zwischen jeweils einzelnen Menschen geführt werden, sondern zwischen organisierten Gruppen, ist der individualpsychologische Ansatz nicht ausreichend, menschliche Kriegsursacben und Friedensmöglichkeiten zu erforschen.
Machtkämpfe, ideologische Gegensätze, vor allem zwischen den Vertretern der herrschenden Schichten, die besondere Situation der Meinungsführer, scheinen im Augenblick noch wirksamere Faktoren zu sein als die Einstellung des Individuums. Erst bei zunehmender Beteiligung des einzelnen Bürgers an der Politik wird sich der Abbau des allgemeinen Aggressionspotentials durch Sozial-und Bildungsformen auf eine Friedenspolitik auswirken. Der Kreis schließt sich: Beteiligung des Bürgers an der Politik wird erst verwirklicht werden können, wenn durch Sozial-und Bildungsreformen die Voraussetzungen geschaffen worden sind. Ein Weg zur Sicherung des Friedens führt also über die Aktivierung des Bürgers, innerhalb der demokratischen Institutionen — Parteien, Verbände, Parlamente, Bei-rate — mitzuarbeiten. Von diesem Weg muß im Zusammenhang mit „Friedenspädagogik" und „Friedenspolitik" die Rede sein. Die Friedensforschung, wie sie bisher betrieben wurde, beschränkt sich fast ausschließlich auf die Kurierung der Symptome des potentiellen Krieges.
Die Friedensmöglichkeiten hängen ab von den ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, gespiegelt in den politischen Überzeugungen der Mächtigen. Die Möglichkeiten der Friedenssicherung sind ausschließlich Übereinkünfte und Überlegungen der Mächtigen und Eingeweihten. Sie reichen vom Abschreckungsfrieden, wie wir ihn gegenwärtig erleben, mit strategischen Rechnungen und simulierten Kriegen in Sandkasten und Computer, über Abrüstungsverhandlungen bis zu völkerrechtlichen Verträgen, regionalen Allianzen und dem Vorschlag einer Weltregierung als Garant des Weltfriedens. a) Frieden durch Abschreckung Die Gewalt ist die Grundlage zwischenstaatlicher Beziehungen. Max Weber prägte das heute in der Bundesrepublik wieder gebräuchliche Wort, daß der Staat das Monopol legitimer Gewaltanwendung besitze. Dieses Monopol auf Gewaltanwendung ist auch durch Gewaltaktionen von Guerillas nicht in Frage gestellt; denn im Falle ihres Sieges über die legitimen Vertreter der staatlichen Gewalt wird aus der illegitimen Gewalt legitime Gewalt
Unter der Drohung der Nuklearwaffen, deren Zahl und Intensität ausreichen würde, die Erde mehrfach zu zerstören, ist die überlieferte Anarchie des Ungleichgewichts eingeschränkt worden. Herbert von Borch nennt den gegenwärtigen Zustand einen „Frieden trotz Krieg". Unterhalb der Anwendung nuklearer Waffen dauert die Gewaltausübung an, vermehrt sich sogar noch; aber größere Formen des Krieges mit Massenvernichtungswaffen und weiterer territorialer Ausbreitung sind unmöglich geworden. „Das System der Angst, auf dem die Abschreckung beruht, arbeitet nicht schlecht, obwohl man sich nicht für immer darauf verlassen kann", meint von Borch
Als bisher wirksamstes Mittel der Friedenssicherung hat die Aufrüstung auf der Erde einen größeren Krieg verhindert. Die Weltpolitik der letzten Jahrzehnte scheint die Frieden-durch-Kriegsandrohungs-These zu stützen, denn die Hochrüstung der Erde hat nukleare Kriege verhindert, die nach dem Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im Sommer 1945 technisch möglich gewesen wären. Konventionelle Kriege wurden unter dem Eindruck der nuklearen Bedrohung zur Deeskalation und zum Waffenstillstand geführt, wie der Korea-Krieg zeigt und die weitere Entwicklung des Vietnam-Krieges erweisen dürfte Guerilla-Kriege im Inneren von Staaten werden durch die weltweite Gewaltlähmung begünstigt; denn das Eingreifen der Großmächte bedeutete eine gefährliche Störung des Gleichgewichts, das die Bedingung des Weltfriedens ausmacht. Die Guerilla-Tätigkeit der arabischen Untergrundkämpfer in Israel und in von den Israelis besetzten Gebieten, die Gegenschläge der Israelis auf arabischem Territorium sind nur unter dem Drohsystem der Großmächte lokal beschränkte Konflikte geblieben.
Das System der Abschreckung bringt aber Gefahren mit sich, die auf lange Sicht den Weltfrieden nicht sichern, sondern unmöglich machen müssen. Abschreckung bedeutet ständige Ausweitung und Modernisierung der Rüstung, Einbeziehung jedes Gebietes auf der Erde in das Drohsystem und — um die Drohung wirksam zu erhalten — ständige Propagierung von Feindbildern und Gefahr.
Der Rüstungswettlauf geht unabhängig von ideologischen Auseinandersetzungen oder Annäherungen nach eigenen Gesetzen weiter. Ideologische Gegensätze werden wahrscheinlich durch diese Gesetzmäßigkeiten verstärkt. Die Nuklear-Abschreckung als alleiniges Drohsystem, in dem jedem Gegner mit massiver Vergeltung gedroht wurde, erwies sich Ende der fünfziger Jahre als zu unsicher, denn nicht in jedem Falle schien die Androhung und Anwendung massiver Vergeltung mit der Gefahr der Selbstvernichtung die angemessene Antwort. Die Strategen der massiven Vergeltung sahen Schwierigkeiten für das Funktionieren des Drohsystems in dem Nachweis der Glaubwürdigkeit massiver Vergeltung
Technologische Entwicklungen, vor allem auf dem Gebiet der Trägerwaffen und der Raketenabwehr, führten zu einer Steigerung der Rüstungsausgaben auf der Erde. Im Augenblick kann der jährliche Rüstungsaufwand auf mehr als 820 Milliarden DM geschätzt werden. 1968 gab die US-Rüstungskontrollbehörde schon 720 Milliarden DM an
Der vielfältige Zusammenhang von Militär, Wirtschaft, Politik, Großindustrie und Rüstung bedarf genauer Untersuchungen. Im Herbst 1965 fand in Oslo ein internationaler Kongreß über die ökonomischen Aspekte weltweiter Abrüstung und weltweiter Abhängigkeiten statt, veranstaltet vom „International Peace Research Institute, Oslo“ (PRIO). Auf diesem Kongreß wurden nicht nur die Möglichkeiten der Abrüstung behandelt, sondern auch die Zusammenhänge von Rüstung und Wirtschaft. In einer eingehenden Untersuchung über die Last der nationalen Verteidigung von Emile Benoit und Harold Lubell, die dem Kongreß vorgelegt wurde, wird nicht nur deutlich, welche ungeheuren Kosten die Rüstung für einzelne Länder verursacht, sondern auch, welche Bedeutung die Rüstungsindustrie innerhalb der Volkswirtschaften hat
In der Studie „Hindsight", die im Auftrage des US-Verteidigungsministeriums von der RAND-Corporation erstellt wurde, wird festgestellt, daß 95 Prozent der Erfindungen und Entwicklungen der Rüstungsforschung ausschließlich der Rüstung zugute kommen
Nur in einer im Überfluß erstickenden Welt wäre die Produktion von Gütern für abstrakte Zwecke, wie es die Abschreckung, die den Einsatz der Waffen verhindern soll, ist, in wirtschaftlicher Hinsicht zu rechtfertigen. Wenn auch weiterhin Ausweitung der Produktion, technischer Fortschritt, Expansion der Gesamtwirtschaft die Ziele des Wirtschaftens sein sollten, könnte eines Tages die Herstellung nutzloser Gegenstände wie Waffen eine willkommene Beschäftigung sein. Voraussetzung ist allerdings, daß die Abschreckung wirksam bleibt, damit der Produzent weiterhin einen Sinn für sein Tun sieht. John Kenneth Galbraith und andere Theoretiker des westlichen Industriesystems sprechen jedoch von neuen Zielen der Gesellschaft, die sie nachindustriell nennen. Die wirtschaftliche Rechtfertigung der Waffenproduktion, die ja auch durch Produktion von Weltraumfahrzeugen und Weltraumstationen abgelöst werden könnte, entfiele. Die Abschreckung versperrt im Augenblick noch den Weg zu neuen gesellschaftlichen Zielen. Denn noch ist kein Ende des Rüstungswettlaufs abzusehen.
Die durch die weltweite Hochrüstung steigende Gefahr eines großen Vernichtungskrieges ist kein ausreichendes Argument gegen die Abschreckung. Denn es ist durchaus denkbar, daß bei steigender Rationalität auf der Erde ein lückenloses Abschreckungssystem den krieglosen Zustand befestigen könnte. Die Abschreckung hat aber wirtschaftliche, politische und soziale Folgen: Die Bindungen der Gesellschaft an immer leistungsfähigere und damit immer größere und notwendigerweise konzentrierte Rüstungsindustrien schaffen Abhängigkeiten der Arbeitnehmer und hemmen neue gesellschaftliche Zielsetzungen.
Wenn wir den Blick weiten und die Lage der Weltwirtschaft betrachten, müssen wir feststellen, daß die Weltgesellschaft sich keineswegs auf dem Wege in die nachindustrielle Überflußgesellschaft befindet, sondern daß — weltweit gesehen — Hunger und Elend zunehmen. Die Bevölkerungszahl in den Entwicklungsländern wächst schneller als das Bruttosozialprodukt. Unter diesem Aspekt erweisen sich die Rüstungsausgaben von über 820 Milliarden DM pro Jahr, die fast ausschließlich von den hochindustrialisierten Staaten aufgebracht werden, nur sehr vordergründig als Beitrag zur Sicherung des Friedens. Die Rüstungsausgaben unter der Abschreckungsdrohung der hochindustrialisierten Länder sind nur eine zeitlich begrenzte, regionale Friedenssicherung auf der Nordhalbkugel der Erde. Die Konfliktmöglichkeiten aber zwischen Nord und Süd, die durch großzügige Entwicklungshilfe eingeschränkt werden könnten, wachsen ständig. Die Ausgaben für Entwicklungshilfe betragen nicht einmal 10 Prozent der Rüstungskosten.
Die sozialpsychologischen Auswirkungen der Abschreckungspolitik hat Dieter Senghaas ausführlich erörtert. Er stellt fest, daß die Abschreckung zu einer Mobilisierung der Aggressivität führt, da die Rüstung notwendigerweise auf einen Gegner gerichtet sein muß. Senghaas meint: „Hier arbeiten Abschreckungspolitik, die ja Kriege verhindern soll, und die Krisen-und Kriegsaktivitäten der Großmächte rund um die Welt Hand in Hand. Während die Großmächte einerseits Stabilität, Koexistenz und Frieden anzustreben propagieren und Abschreckung als eine geeignete Grundlage und ein adäquates Mittel einer solchen Politik verstehen, stiften die gleichen Großmächte doch laufend zum Unfrieden an und verunsichern durch ihre offenen und subversiven Tätigkeiten die weltpolitische Szenerie."
Diese Einsicht mag die bisher erfolglosen Abrüstungsbemühungen
Die Spieltheorie, eine mathematische Disziplin, wurde auf internationale Konflikte und ihre Lösungsmöglichkeiten angesetzt
Bei aller Skepsis gegenüber strategischen Spielen muß festgestellt werden, daß die Entwicklung von Konflikt-Modellen und Kriegs-Szenarios auf der Grundlage der Spieltheorie, wie sie vor allem Herman Kahn betrieben hat
Deutsch kritisiert vor allem den Spieltheoretiker Thomas C. Schelling, der mit seinen Arbeiten über „Konfliktstrategie"
Die Spieltheorie ist nicht in der Lage, die Wirklichkeit im Laboratorium zu reproduzieren und stellvertretend für sie Konflikte in ihrem Entstehen zu verfolgen, Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, die weitere Entwicklung von Konflikten vorherzusagen und Rezepte für die politisch Handelnden zu erstellen. Ihr Wert ist dennoch unbestritten. Die politische Wissenschaft wird durch Anwendung mathematischer Methoden rationaler; exakte Kriterien und Begriffe sind nötig, um Konflikte zu simulieren. Ein Nebenprodukt von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist die Entwicklung von didaktischen Spielen, die zum Entscheidungstraining oder auch als Übung zum besseren Verständnis politischer Abläufe dienen können. Hartmut von Hentig beschreibt ein großangelegtes Spiel im Rahmen eines Kurses in „international relations", an dem etwa 50 Studenten teilnahmen, die innerhalb verschiedener Nationen verschiedene Rollen übernahmen
Abrüstungsvorschläge wurden nach dem letzten Weltkrieg wiederholt vorgelegt; Abrüstungskonferenzen
Amitai Etzioni nennt für die bisher erfolglos gebliebenen Abrüstungsbemühungen politische und ideologische Gründe: „Während die totale Abrüstung vom kommunistischen Block und erst in jüngster Zeit von weiten Kreisen im Westen befürwortet wird, ist die Rüstungskontrolle ein Plan, der vom Pentagon und seinen zivilen Beratern ausgedacht ist. ... Die Vereinigten Staaten sehen sich als Beschützer der unterentwickelten Länder vor dem sich ausbreitenden Kommunismus, eine Aufgabe, die oft die Anwendung von Waffen verlangt, auch wenn der Kommunismus sich hauptsächlich auf seine ideologische Stärke verläßt. Folglich sind die Vereinigten Staaten, zumindest gegenwärtig, stärker an Überwachung (die Rußland dem Westen öffnen würde) als an Abrüstung interessiert (die die unterentwickelten Länder der kommunistischen Expansion aussetzen würde). Aus den gleichen Gründen ist Rußland an Abrüstung interessiert, aber nicht an einer Überwachung."
Es folgte ein Hin und Her der Argumentationen, das von propagandistischen und strategischen Überlegungen bestimmt war, wobei weder über die Atom-Abrüstung (Denuklearisation) noch über die konventionelle Abrüstung, weder über den Modus der Kontrollen und Inspektionen noch über die Reihenfolge der Abrüstungsschritte Einigkeit erzielt werden konnte. Helmut Schmidt beschrieb die Entwicklung bis zum Jahre 1961, dem Erscheinungsjahr seiner ersten strategischen Untersuchung „Verteidigung oder Vergeltung", als kurzsichtiges Taktieren: „Rüstungspolitik wie Abrüstungspolitik streben nach demselben Ziel: nach Sicherheit vor Überraschung, Sicherheit vor qualitativer Unterlegenheit durch militärtechnische Durchbrüche eines möglichen Gegners und Sicherheit vor quantitativer Unterlegenheit. In dem Streben nach diesem Ziel haben die Regierungen trotz ungeheurer Risiken bisher mehr Vertrauen in das heute gegebene System von Abschreckungen und Gegen-abschreckungen als in die Möglichkeit, neue Systeme auf dem Wege gegenseitiger Verabredung zu schaffen, deren Risiken insgesamt bisher noch nicht ausreichend durchkalkuliert sind. Sie handeln nach dem Prinzip: was wir haben, wissen wir — was wir bekommen könnten, ist ungewiß und undurchsichtig. Diese Einstellung hat dazu geführt, daß alle am Abrüstungsgespräch beteiligten Regierungen zu stark von kurzfristig orientierten sogenannten . militärischen Notwendigkeiten'geleitet waren und zu wenig von langfristig orientierten politischen Notwendigkeiten."
Auf die notwendige Verknüpfung von Abrüstung und politischer Einigung weist Arnold Wolfers hin: „Man kommt ... zu der Schlußfolgerung, daß stillschweigende oder ausdrückliche Abkommen über die proportionale Verminderung der Militärmacht — sofern sie getreulich ausgeführt werden — den Frieden durch die Verminderung der einem Wettrüsten innewohnenden Gefahren zu festigen geeignet wären, obgleich solche Abkommen dadurch, daß sie den zugrundeliegenden Konflikt ungelöst bestehen lassen, für sich allein die Unbeständigkeit des Friedens nicht beseitigen könnten und die Bemühungen um eine über das Gebiet der Rüstung hinausgreifende Schlichtung nicht überflüssig machen würden." 109a) Zu den von Helmut Schmidt genannten langfristig orientierten politischen Notwendigkeiten gehört vor allem die politische Einigung, als deren Folge die allgemeine Abrüstung erst eine Chance und Auf bekäme. Politische Spannung -rüstung sind andererseits voneinander abhängig. so daß Entspannung und Abrüstung zugleich betrieben werden müssen, um eine erfolgreiche Friedenspolitik zu begründen. Willy Brandt nennt in „Friedenspolitik seinem Buch in Europa" ausdrücklich politische Aktionen, die mit Rüstungsbeschränkungen, dem Rückzug fremder Truppen und der Ablösung der Bündnisse durch vertragliche Sicherheitsregeln parallel laufen sollten: Austausch von Gewaltverzichts-Erklärungen, Schaffung einer gerechten europäischen Friedensordnung, Verstärkung der Zusammenarbeit 109b).
Der erste nennenswerte Fortschritt weltweiter Abrüstungsverhandlungen ist der Atomteststopvertrag von 1963, der allerdings keine Kontrolle in den Unterzeichnerstaaten vorsieht, sondern nur eine Überwachung von außen.
Dieser Vertrag gehört, wie schon erwähnt, in den Bereich der Arms Control, nicht den der Abrüstung. Ähnlich verhält es sich mit dem Atomsperrvertrag, dessen erste Fassungen aus dem Jahre 1965 dem 18-Mächte-Abrüstungsausschuß der Vereinten Nationen in Genf vorgelegt wurden. In der Präambel des jetzt schon von über 100 Staaten unterzeichneten und von einer für das Inkrafttreten ausreichenden Zahl von Staaten ratifizierten Vertrages wird immerhin die Absicht der Vertragschließenden zum Ausdruck gebracht, „zum frühest möglichen Zeitpunkt die Beendigung des nuklearen Wettrüstens herbeizuführen und auf die nukleare Abrüstung gerichtete wirksame Maßnahmen zu ergreifen". Im Artikel VI verpflichtet sich jeder Unterzeichnerstaat, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer Kontrolle"
Die Sowjetunion hat durch ihre Teilnahme an den Verhandlungen über die Begrenzung strategischer Waffen „Strategie Arms Limitation Talks" (SALT) am 17. November 1969 in Helsinki ihr grundsätzliches Interesse an einer Rüstungsbegrenzung zu erkennen gegeben. Der schon beschlossene Ausbau des amerikanischen Anti-Raketen-Systems (ABM = antiballistic missiles) und die zu erwartende Reaktion der UdSSR könnten zu einem technologischen Rüstungswettlauf führen, der — vor allem für die UdSSR — wirtschaftlich kaum mehr tragbar sein dürfte
Wenngleich die politischen Voraussetzungen für Arms Control und Abrüstung der Supermächte USA und UdSSR günstig zu sein scheinen, so bleibt zunächst doch noch die Tatsache, daß der Rüstungswettlauf durch den Ausbau das ABM-System vorläufig noch stark beschleunigt wird. Neben den politischen Faktoren spielen — wie sich bei allen Abrüstungsbemühungen zeigte — die strategischen Überlegungen eine dominierende Rolle. Die Sicherheit durch Abschreckung erfordert Maßnahmen, die von den Politikern nicht mehr kontrolliert werden können. So stellt Helmut Schmidt in seinem neuesten Buch fest: „All dies mutet an wie Wahnsinn. Vielleicht ist es das auch. Aber der Wahnsinn hat Methode, und die beiden mächtigsten Nationen der Welt stehen mit ihrer Wirtschaftskraft und mit ihren wissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten hinter diesen Anstrengungen. Wer in Beziehung zu den USA und zur Sowjetunion seine Politik zu erwägen hat, der muß die Bedingungen kennen, unter denen diese beiden Weltmächte ihre Politik und ihre Strategie entfalten, und die Instrumente, die sie sich dazu schaffen."
Die bisherigen Vorschläge zur Abrüstung leiden alle unter dem Mangel, ausschließlich politisch oder ausschließlich strategisch zu argumentieren. Rein politisch sind die Vorschläge der sogenannten Gradualisten, die eine stufenweise wechselseitige Rüstungsverminderung vorsehen
Arms Control, Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle, werden angesichts der längst vorhandenen „overkill" -Kapazität der Waffen, die eine mehrfache Vernichtung des Gegners ermöglichen, populärer. Abrüstung stößt noch auf psychische Barrieren, die im Rahmen einer breit angelegten „Friedensstrategie" abgebaut werden müssen. Auch wirtschaftliche Gründe werden häufig in den westlichen Staaten gegen die Abrüstung angeführt. Fritz Vilmar zitiert das makabre Wort „defense-prosperity" (Verteidigungs-Wohlstand) aus den USA
Für die UdSSR, die vor allem auf dem Gebiete der Konsumgüterindustrie einen gewaltigen Nachholbedarf gegenüber den hochindustrialisierten westlichen Ländern hat, wäre die Umrüstung auf friedliche Industrieprodukte dringend nötig. Die Widerstände gegen eine Abrüstung kommen vor allem aus militärischen Kreisen, die in einer starken Rüstung die Voraussetzung der Herrschaft der Kommunistischen Partei sehen
Die Friedensforschung wird sich im Zusammenhang mit der Abrüstungsproblematik mit psychologischen, wirtschaftlichen, ideologischen, politischen und strategischen Problemen befassen müssen. Um Abrüstungsideen zu entwikkeln, die durchsetzbar sind, bedarf es einer umfassenden Friedens-Strategie, eines breit angelegten Plans. Abrüstungskonferenzen allein, die fast ausschließlich von politischen Weisungen unterworfenen Beamten besucht werden, sind kein Hebel, das starre Abschreckungs-System, in dem wir leben, zu sprengen. Konferenzen können aber dazu beitragen, daß der Informationsfluß zwischen den beteiligten Staaten besser wird, daß Ziele klarer hervortreten und gemeinsame Interessen entdeckt werden. Friedensstrategien, die Abrüstung zum Ziel haben, müssen an vielen Stellen und auf vielen Ebenen ansetzen. Peter Menke-Glückert fordert zur Koordination aller Friedensbemühungen eigene „Ministerien für Friedensplanung"
Die Schriften der ersten Völkerrechtler bestätigen das „ius ad bellum", das Recht auf Krieg, als Bestandteil der Souveränität. Sie enthielten auch schon Ansätze des „ius in bello"
Nach den Kriegen gegen Napoleon und dem ersten großen internationalen Kongreß in Wien, auf dem eine neue Ordnung des Zusammenlebens der Staaten gefunden wurde, begann die „Epoche des europäischen Konzerts" (Kimminich). Industrialismus und Massenproduktion, Massenkonsum und Emanzipation der niederen Schichten brachten Demokratie und Sozialismus hervor. Die europäischen Staaten fielen jedoch in ihrem zwischenstaatlichen Verkehr auf Formen zurück, die vor dem Wiener Kongreß bestimmend waren. Nationalismus und Expansionsdrang, rapide Weiterentwicklung der Kriegstechnik und der wachsende Einfluß der Rüstungsindustrie auf die Staatsführung ließen eine allgemeine positive Haltung zum Kriege als „ultima ratio" des zwischenstaatlichen Verkehrs aufkommen. Einige völkerrechtliche Regelungen wurden durch die Bemühungen von Henri Dunant erreicht, vor allem das Los der Verwundeten und Gefangenen, später auch der Zivilpersonen im Kriege betreffend. Eine internationale Konferenz beschloß am 22. September 1864 die Genfer Konvention, die Grundlage des Roten Kreuzes, die in weiteren Abkommen 1906, 1929 und 1949 ergänzt wurde. In der Pariser Erklärung von 1856 wurde die maritime Kriegsführung eingeschränkt; die Petersburger Erklärung verbot den Gebrauch von leichten Geschossen, die mit Explosivstoffen oder entflammbaren Substanzen geladen waren. Die Haager Erklärung von 1899 anläßlich der 1. Haager Friedenskonferenz untersagte die Anwendung von Dum-Dum-Geschossen. Spätere Verträge sprachen sich gegen den Einsatz von Gas, chemischen und bakteriologischen Kampfstoffen aus
Höhepunkt der neueren völkerrechtlichen Bemühungen um eine stabile Friedensordnung war die 1. Haager Friedenskonferenz, auf Initiative des russischen Zaren im Jahre 1899 einberufen, die dem Wettrüsten ein Ende machen sollte. Ein völkerrechtlicher Vertrag sollte die internationale Schiedsgerichtsbarkeit einführen, um den Krieg als Mittel, Recht zu begründen, auszuschalten. Im Schatten der allgemeinen Weltlage brachte die Konferenz für das „ius ad bellum" und seine Einschränkung im t zwischenstaatlichen Verkehr keine Einigung. Eine internationale Schiedsbarkeit könne nur in Bagatellfragen wirksam werden, erkannten die Vertreter der Nationalstaaten, die auf ihrer Souveränität bestanden..
Nur auf dem Gebiet des „ius in bello", des Kriegsrechts, führten die erste Konferenz von 1899 und die zweite von 1907 zu Vereinbarungen, als „Haager Landkriegsordnung" bis heute gültig
Nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte die „kopernikanische Revolution im System der internationalen Beziehungen" (Kimminich) durch das Völkerrecht. Die Satzung des Völkerbundes von 1919, dem die Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges außer den USA, die wichtigsten neutralen Mächte und später auch Deutschland beitraten, enthält die Bestimmung, daß jeder Krieg Sache des Bundes sei, nicht mehr Angelegenheit des einzelnen Mitgliedstaates. Die Souveränität der Staaten, zu der das Recht auf Krieg ohne Rechenschaftspflicht gegenüber anderen Staaten gehört, wurde eingeschränkt. Ein weiterer Schritt war der Briand-Kellog-Pakt von 1928, der auf gemeinsame Initiative des französischen Außenministers und zeitweiligen Regierungschefs Briand und des US-Präsidenten Kellog zustande kam. Die Vertragsstaaten verzichteten auf den Krieg als Instrument der internationalen Politik. 15 Staaten, unter ihnen Deutschland, unterzeichneten den Vertrag, dem sich später zahlreiche weitere Staaten anschlossen. Der Briand-Kellog-Pakt vom 27. August 1928 und der nach dem damaligen argentinischen Außenminister benannte Saavedra-Lamas-Pakt vom 10. Oktober 1933 mit ähnlichen Bestimmungen gelten noch heute.
Die jüngste Geschichte registrierte jedoch zahlreiche Vertragsbrüche, vom Überfall sowjetischer Streitkräfte jenseits der mandschurischen Grenze auf chinesisches Gebiet im Jahre 1929 über die Eroberung Abessiniens durch Italien bis zum Zweiten Weltkrieg. In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen führte der britische Anklagevertreter aus, daß die völkerrechtlichen Bestimmungen nicht deshalb ihre Verbindlichkeit verlören, weil sie vorübergehend keine tatsächliche Wirksamkeit zu entfalten vermöchten
Die Wirkungslosigkeit der völkerrechtlich begründeten Abrüstungs-und Friedensbemühungen der Vereinten Nationen 130a) rührt nach Meinung von Wilfried Daim von der scheinbaren oder tatsächlichen West-Orientierung, speziell der Orientierung nach den USA, her. Er schlägt eine Verlegung des Sitzes der UNO von New York nach Berlin oder Wien vor 130b). Daims Vorschlag von 1962 stand offenbar unter dem Eindruck des Ost-West-Gegensatzes. Heute empfiehlt sich eher ein Standort zwischen der Nord-und Südhalbkugel, und zwar wegen der Mehrheitsverhältnisse in der Vollversammlung der Vereinten Nationen, die sich zugunsten der Länder der Dritten Welt entwickelt haben, und wegen des berechtigten Mißtrauens der nichtwestlichen Länder gegenüber dem VölkerrechtsVerständnis der UNO, das eindeutig aus der westlichen Rechtstradition stammt. Ein neutraler Standort der UNO könnte ein erster Schritt zur Stärkung der Vereinten Nationen sein, dem eine allmähliche Neukonzeption des Weltrechts folgen müßte.
Kritiker des Völkerrechts als friedensstiftender Kraft weisen darauf hin, daß schon die Satzung des Völkerbundes und der Briand-Kellog-Pakt sowie zahlreiche internationale Verträge sich als unwirksam erwiesen hätten, weil die Politik der Staaten sich über das Völkerrecht hinwegsetzen könnte. Auch die Satzung der Vereinten Nationen, die nicht nur die Anwendung, sondern sogar die Drohung mit Gewalt ächtet und die die Abrüstung als Ziel der Vereinten Nationen nennt
Zwei wichtige Faktoren, durch den technischen Fortschritt erst in letzter Zeit entstanden, unterstützen die Tendenz des modernen Völker-rechts, den Krieg als Mittel der Politik zu bannen: die Existenz von Atomwaffen, die den Weltfrieden zum Postulat der Politik macht
Völkerrechtliche Lösungen des Friedensproblems — losgelöst von den politischen Interessen und Bedingungen der betroffenen Staaten — sind solange nicht möglich, solange es noch mehr oder minder souveräne Staaten auf der Erde gibt, die über eigene Rüstungen verfügen und auf der Durchsetzung ihrer vermeintlichen Rechte pochen. Die Errichtung einer Weltregierung, der die Souveränitätsrechte der bisherigen Staaten übertragen werden müßten, wäre ein völkerrechtlicher Akt, mit dem das Völkerrecht in ein neues Stadium treten würde. Völkerrecht wäre nicht mehr ein Geflecht zwischenstaatlicher Vereinbarungen, sondern einheitliches Weltrecht mit einer Weltgerichtsbarkeit, die die bisherigen Schiedsgerichte auf freiwilliger Basis ablösen müßte, und einer Exekutive, die für die Einhaltung des Rechts verantwortlich wäre. Aber auch im Falle der Aufgabe des Gedankens der Weltregierung, die in den letzten Jahren immer häufiger gefordert wird, wird das Völkerrecht noch eine wichtige Rolle spielen. Die Konstruktion neuer Pakte, die Formulierung allgemein akzeptabler Verträge und der Entwurf eines allgemein verbindlichen Weltrechts in Fortführung der Charta der Vereinten Nationen und der Europäischen Menschenrechtskonvention sind Aufgaben des zukünftigen Völker-rechts. e) Frieden durch eine Weitregierung?
In den vierziger und fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts wurden Pläne für eine Weltregierung lebhaft diskutiert. Während des Zweiten Weltkrieges erschienen die ersten modernen Entwürfe einer neuen Weltordnung als Alternative zum System kriegerischer Nationalstaaten, die sich gerade im bisher heftigsten Krieg menschlicher Geschichte befanden. Die Grundlage der Idee der Weltregierung, die schnelle Verbreitung fand, legten Oscar Newfang, Mortimer Adler und Emery Reves.
„The Anatomy of Peace" von Reves wurde in über 15 Sprachen, auch ins Deutsche, übersetzt
Die verschiedenen Weltregierungs-Pläne unterscheiden sich nicht nur dadurch, daß die Autoren verschiedene Wege zur „einen Welt" propagieren, sondern auch in der Konzeption der Weltregierung, ihrer Organisation, ihrer Rechte, ihrer Machtmittel, ihrer Zuordnung zur Welt-Legislative und zur Welt-Judikative. Sollte die Weltregierung nur Mittel zur Befriedung der Welt sein oder mehr?
Es gibt grei große Lager der Weltregierungs-Anhänger. Die Föderalisten meinen, durch Weiterentwicklung des internationalen Rechts, Revision der UN-Charta und weltweite Verfassungsänderungen zur „one world" zu kom-men. Die radikale Weltregierungs-Bewegung lehnt den föderativen Weg über die nationalen Regierungen ab. Sie appelliert an die Bevölkerung der Welt und fordert eine vom Volk gewählte verfassungsgebende Versammlung zur Verabschiedung einer Weltverfassung. Die dritte Gruppe ist heterogen. Eva Senghaas-Knobloch zählt zu ihr die Kampagnen zur Ausdehnung internationalen Rechts, zur Erarbeitung immer neuer Weltverfassungsentwürfe
Das am häufigsten genannte und diskutierte Weltregierungs-Konzept entwickelten Grenville Clark und Louis B. Sohn mit ihrer Schrift „World Peace through World Law", die in erster Auflage 1958 erschien
Gesetzgebendes Organ ist die Generalversammlung, die aus der UN-Vollversammlung hervorgehen soll, in der jedoch alle Nationen der Erde Mitglieder sein sollen. Die Stimmen-zahl in der Generalversammlung ist — anders als bei der UN — nach Einwohnerzahl abgestuft. Aus dem jetzigen Sicherheitsrat der Vereinten Nationen soll der Exekutivrat werden, der der Generalversammlung unterstellt wird. Der Exekutivrat ist das Weltkabinett, die eigentliche Regierung. Das Veto-Recht der Großmächte, das die Aktionen des jetzigen UN-Sicherheitsrats hemmt, wird für den Exekutivrat nicht übernommen. Die schon genannten Kommissionen für die Abrüstungskontrolle, die Nuklearenergieverwaltung und die Weltraumkontrolle sind an den Exekutivrat angeschlossen.
In den späteren Auflagen des Clark-Sohn-Buches
Die Weltregierungs-Pläne, von denen als Beispiel der sorgfältig in alle Details entwickelte und maßvolle Clark-Sohn-Plan vorgestellt wurde, sind nicht nur begrüßt, sondern auch heftig kritisiert worden. Die Kritik kommt aus verschiedenen ideologischen Lagern, von Realisten (zu denen vielleicht Mitrany zu zählen wäre), Kommunisten und Utopisten.
Den Standpunkt der ideologischen Führung der Sowjetunion legte Mitte der fünfziger Jahre O. Bogdanov dar: „Die Schaffung irgendeines Typs von , Weltstaat'oder , Weltrecht'wäre unter den gegenwärtigen Bedingungen utopisch und inkompatibel mit dem Gang der sozialen Entwicklungen unserer Zeit. . .. Die objektiven Gesetze der Entwicklung schließen . . . prizipiell die Möglichkeit aus, das Konzept . supranationaler'Autorität und ein System . universalen'Rechts anzuwenden, das auf der Negation nationaler Souveränität beruht. Dies ist der Grund, warum die Idee einer , supranationalen'Methode, Beziehungen zwischen abgerüsteten Ländern zu arrangieren, wie sie durch die imperialistische Doktrin des internationalen Rechts propagiert wird, in der Tat ganz unakzeptabel ist".
An der autoritären zentralen Gewalt der Weltregierung mit ihren politischen und sozialen Folgen entzündet sich die heftigste Kritik. Inis Claude sieht in der Einschätzung des gegenwärtigen Weltzustandes als eines anarchischen, Zustandes mit der Notwendigkeit eines weltweiten gesellschaftlichen Vertrages, wie ihn schon John Locke im „Leviathan" forderte, die bittere Konsequenz, als einzig angemessene Lösung den Leviathan, den mächtigen Herrscher, zu akzeptieren
Karl Jaspers wandte sich schon im Jahre 1958 sehr heftig gegen die Idee eines Weltstaates: „Denkt man aber die abstrakte Illusion eines Weltstaates, der durch Vertrag errichtet würde, mit einer zentralen Polizei zur Aufrechterhaltung des Friedens, so würde unfehlbar irgendwann die Despotie derer entstehen, die diese Gewalt in Händen hätten." 142a) Jaspers forderte eine Konföderation. Hans Ekkehard Bahr wirft den deutschen Friedenstheoretikern Georg Picht und Carl Friedrich von Weizsäkker, die sich für eine Weltregierung einsetzen, vor, sie gelangten — ungewollt, aber zwangsläufig — zum Konzept eines technokratischen Zwangsfriedens
Im Vergleich'zur internationalen Friedens-theorie verspätet (nämlich erst Mitte der sechziger Jahre), entwickelte Carl Friedrich von Weizsäcker sein Friedensmodell, das eine philosophische Ableitung der Notwendigkeit des Friedens, keine Beschreibung der Organisation des Friedens und seiner Institutionen ist. Weizsäckers Vorstellungen lassen sich auf die vielzitierten Feststellungen reduzieren, der Weltfriede sei im Atomzeitalter notwendig, die bisherige Außenpolitik der Nationen müsse sich allmählich in Welt-Innenpolitik verwandeln, außerordentliche moralische Anstrengungen seien erforderlich
Hans Ekkehard Bahr forderte als Alternative zu Weizsäckers Idee von der Weltregierung die Suche nach einer gerechten Ordnung für die ganze Menschheit als Politik, nicht als technokratische Setzung. Bahr versucht, an die großen Revolutionen anzuknüpfen, die zur Emanzipation des Menschen beitrugen. Im Zwangsfrieden durch ein Machtmonopol sieht Bahr die Opferung der revolutionären Errungenschaften. Er fordert den „Beginn einer wechselseitigen Vermittlung eben dieser revolutionären Gesellschaften, nicht ihre Aufhebung in eine Superinstanz mit absolutem Waffenmonopol"
Die Kritik an der rein funktionalen Weltregierung erscheint berechtigt. Auch Carl Friedrich von Weizsäcker scheint von der Idee der notwendigen Weltregierung immer mehr abzurücken. In einem Vortrag auf der Jahrestagung des „Instituts für Strategie Studies" in London im September 1968 führte er aus: „Ich möchte den Gedanken des Weltstaats nicht im Sinne eines Ziels, sondern eines Kriteriums vortragen: den Weltfrieden zu stabilisieren ist ein wenigstens so schwieriges und wenigstens so anspruchsvolles Unternehmen wie es die Schaffung eines Weltstaates wäre. Es ist eine Herausforderung an unsere politische Erfindungsgabe, daß wir uns eine bessere Lösung des Problems einfallen lassen, als es der Weltstaat wäre."
In einem Interview in der ZEIT, Nr. 52/1 1969/70, erklärte von Weizsäcker auf die Frage, ob eine zukünftige Weltordnung das Waffen-monopol besitzen müßte: „Mir scheint ... eine supranationale Ordnung mit Waffenmonopol die konservativste der möglichen Lösungen. Alle anderen Lösungen setzen radikalere Änderungen in der menschlichen Gesellschaft voraus. Wenn man sich nämlich vorstellt, daß man die Gesellschaften so umstrukturieren kann, daß es dann überhaupt keine kriegführenden Staaten mehr gibt, dann brauchte man auch kein Waffenmonopol anzustreben." Auf die Frage, ob eine supranationale Weltordnung nötig sei, sagte von Weizsäcker: „Ich halte eine Institutionalisierung übernationaler Ordnungen — also irgendeine Art der Weltregierung — für die konservativste Methode." Indirekt spricht sich Carl Friedrich von Weizsäcker heute offenbar für eine radikale Änderung der gesellschaftlichen Bedingungen aus, ohne allerdings schon konkrete Vorstellungen zu entwickeln. f) Frieden, durch Integration Nüchterner als die Vertreter der Idee einer Weltregierung gehen die Integrationsforscher vor. Nicht von der Notwendigkeit einer bestimmten Organisation des internationalen Systems her, sondern von den Tatsachen und Tendenzen ausgehend beurteilen sie die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens der Völker. Die Integrationsforscher untersuchen die vielfältigen Verflechtungen von Staaten und Gruppen auf der Erde durch Pakte, Verträge, staatliche und nichtstaatliche Vereinigungen, das Kommunikationsnetz, Handelsbeziehungen, Tourismus, Austauschprogramme, wissenschaftliche, sportliche und kulturelle Zusammenarbeit. Die Integrationstheorie, wie sie vor allem Johan Galtung vertritt
Die Integration mehrerer Staaten zu Blöcken mit supranationalen Befugnissen gegenüber den Mitgliedstaaten haben tatsächlich im Innern der Blöcke zur Befriedung geführt, nach außen bedeutet aber die Organisation der Welt in große Blöcke eine Übersteigerung der Souveränität, die nicht mehr vom einzelnen Staat wahrgenommen wird, sondern vom Staatenblock. Die weltweite Kriegsgefahr ist durch die Bildung der großen Blöcke nicht gesunken, sondern gestiegen. Georg Picht folgert etwas zu schnell aus der Abschaffung von Staaten die Abschaffung des Krieges: „Kriege werden immer von Staaten geführt. Wenn es keine Staaten mehr gibt, so gibt es zwar immer noch mannigfaltige und zum Teil höchst bösartige Formen der Gewaltausübung, aber es gibt keinen Krieg."
Hinter Johan Galtungs Äußerungen über die Integration steht bereits eine Theorie. Diese Theorie bestimmt die Fragestellung und die Auswahl der Untersuchungsobjekte. In seinem Aufsatz „Uber die Zukunft des internationalen Systems"
Die Friedensbedingungen des Zusammenschlusses (assoziative Friedensbedingungen) vertritt Johan Galtung in drei Thesen: Er fordert entweder symbiotische oder symmetrische Kooperation, eine hohe Entropie zwischen den Akteuren und im Interaktionssystem und ein Netz von Supraorganisationen zwischen den Gruppen. Die Zusammenarbeit zwischen den Gruppen innerhalb und außerhalb der Staaten, auch der Staaten selbst als Gruppen, muß auf dem Gleichheitsgrundsatz beruhen, wobei die Zusammenarbeit zwischen Produktionssystemen, zwischen staatlichen Organisationen (IGOs = International Governmental Organizations) oder nichtstaatlichen Organisationen (INGOs = International Non-Governmental Organizations) erfolgt. Die Zahl der IGOs und INGOs hat in den letzten Jahren außerordentlich stark zugenommen:
Zunahme internationaler Organisationen
Unter Entropie versteht Galtung — wie in der Physik — einen niedrigen Ordnungsgräd, bzw. ein hochgradiges „Durcheinander", eine hohe Mischung. Auf das Zusammenleben von Gruppen und Staaten angewandt: keine klaren Fronten der einzelnen Handelnden und Gruppen, kein starkes ideologisches oder soziales Gefälle. Supraorganisationen, die Galtung in der dritten These nennt, sind einfache Zusammenschlüsse zwischen Gruppen und Super-Zusammenschlüsse auf höherer Ebene, auf der die Zusammenschlüsse zusammenarbeiten. Gleichheitsgrundsatz und häufiger Austausch, in diesem Zusammenhang etwa die paritätische Vertretung der Mitgliedsorganisationen in den Entscheidungsgremien aller Ebenen, sollten auch für die Supraorganisationen gelten.
Um Mißverständnissen zu begegnen, möchte ich betonen, daß Johan Galtung unter Integration nicht Einschmelzung in starre Blöcke meint, nicht Nivellierung von Meinungen und die Vereinheitlichung von Werten und Ideologien. Galtung strebt ein Netz der Kommunikation an zwischen Gruppen unterschiedlicher Wertsysteme, einen internationalen Pluralismus. Er übersieht dabei die Gefahr der Ansteckung von Ideologien, der Übermacht von Ideologien gegenüber seinen INGOs und IGOs, die ja nicht nur funktional, sondern auch als ideologische Gebilde denkbar sind.
Weniger stark theoriebelastet wie die Galtungschen Untersuchungen, die eine Mischung von Theorie und Empirie darstellen, sind beispielsweise rein empirische Studien über sozialpsychologische Prozesse, in denen sich der Stand der Integration spiegelt und gemessen werden kann
Wodurch kann die auf die eigene Nation fixierte Loyalität abgebaut werden? Wie kann sie auf andere Staaten oder supranationale Einrichtungen übertragen werden? Die Vermittlung von Loyalität ist auf verschiedenen Wegen möglich. Harold Guetzkow hält den Einfluß der Massenmedien für wirkungsvoller als persönliche Kontakte
Die nationale und übernationale Loyaltiät ist nur eine Dimension der Integration, obwohl sich an ihr wahrscheinlich der Grad der Integration am besten messen läßt. Klaus Törnudd unterscheidet fünf Bereiche mit jeweils einer eigenen Skala der Integrationsstufen, die zusammen ein Bild der Integration ergeben: der ökonomische, militärische, funktionale, kommunikative und transaktionale, sowie den ideologischen Bereich. Josef Nye verwendet acht Unterkategorien für drei wichtige Bereiche, den politischen, den ökonomischen und den gesellschaftlichen Bereich. Beschreibende, mathematische, positivistische und strukturelle Kennzeichen der Integration werden diskutiert
Eine allgemein verbindliche Messung des Grades der Integration ist noch nicht möglich. Sie bedarf der Erhebung umfassenden empirischen Materials und der Auswertung mit Hilfe der Computertechnik. Die bisherigen Ergebnisse, auch die Folgerungen aus einer be-schreibenden Untersuchung der wichtigsten internationalen Organisationen von Eva Seng-haas-Knobloch
Die Integrationsforschung steht erst am Anfang; sie erscheint als der fruchtbarste Ansatz der Friedensforschung. Sie geht vom vorhandenen Integrationsnetz aus und zieht aus den bisherigen Erfahrungen Folgerungen für den weiteren Ausbau weltweiter Zusammenarbeit. Ob am Ende der Integration der Weltstaat als höchste Stufe jeder Integration stehen sollte, wie Amitai Etzioni
IV. Friedensforschungs-Institutionen
Die wissenschaftlichen Bemühungen um den Frieden gehen auf das moralisch-politische Engagement führender Naturwissenschaftler zurück, die sich nach dem Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki in Vereinigungen zusammenschlossen, erste wissenschaftliche Untersuchungen über die Folgen der Atomexplosionen anstellten und Proteste und Warnungen an die Regierungen richteten. Die meisten Friedensforschungs-Institute und Friedensforschungsgesellschaften, die es heute gibt, beruhen auf der Initiative einzelner Wissenschaftler. Die nichtstaatlichen Anfänge der Friedensforschung ließen nur wenige gut ausgestattete Institute entstehen. Die meisten Friedensforschungs-Institute werden aus privaten Spenden unterhalten und leben vom Idealismus ihrer Mitarbeiter. Die Ergebnisse der privaten Institute sind zwar am geringen Aufwand gemessen bedeutend, verglichen mit den wissenschaftlichen Erträgen der Rüstungsforschung, in die Milliardenbeträge investiert werden 160a), eher rührend. 1. Initiativen Schon vor Abwurf der ersten Atombomben legten sieben bedeutende Kernforscher dem US-Präsidenten den „Franck-Report" vor, in dem vor den politischen Folgen der Atombombe gewarnt wurde. Nach der Zerstörung Hiroshimas gründeten Atomwissenschaftler die Monatsschrift „The Bulletin of the Atomic Scientists", die bis heute eine wertvolle Dokumentation über Probleme der Atomrüstung ist. Bertrand Russell, Initiator zahlreicher Untersuchungen und Proteste, hielt am 28. November 1945 im britischen Oberhaus eine Rede, in der er die Zusammenarbeit aller Atomwissenschaftler der Erde forderte, um die Atom-kraft ausschließlich friedlicher Nutzung zuzuführen und in der er vorschlug, die Atombombe den Vereinten Nationen anzuvertrauen
Nach der Erprobung der Wasserstoff-Bombe am 1. März 1954, die eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen der mögliehen Folgen eines Wasserstoff-Bomben-Kriegs auslöste, wurde die von Wissenschaftlern angeführte Protest-Bewegung stärker. Auf Einladung des Grafen Bernadotte trafen sich Nobel-Preisträger auf der Insel Mainau im Bodensee (1955) und forderten den Verzicht auf Gewalt als Instrument der Außenpolitik. Linus Pauling entwarf eine Bittschrift an die Vereinten Nationen, in der er als ersten Schritt zur Abschaffung der Kernwaffen einen Vertrag über die Einstellung der Atombombenversuche forderte. 9235 Wissenschaftler schlossen sich dieser Forderung an, die im Januar 1958 dem UN-Generalsekretär überreicht wurde. Die Denkschrift wurde von zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen über die Gefahren der überirdischen Atomversuche unterstützt. Die indische Regierung veröffentlichte 1956 eine wissenschaftliche Untersuchung über „Nuclear Explosions and their Effects". 1955 war bereits die heute noch tätige Pugwash-Konferenz gegründet worden, die im kanadischen Ort Pugwash als internationale Wissenschaftler-Runde zum ersten Mal zusammentrat, um über Rüstungskontrolle, Probleme im Zusammenhang mit internationalen Konflikten, Fragen der Entwicklungshilfe zu diskutieren. In den fünfziger Jahren nahm die Zahl der Veröffentlichungen über Friedensprobleme sprunghaft zu. Ein deutlicher Trend von moralisch-appellierenden Schriften zu soliden Dokumentationen machte sich bemerkbar. Erst im Dezember 1964 wurde in London die „International Peace Research Association" (IPRA) gegründet, auf der als bundesrepublikanisches Mitglied die „Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e. V." vertreten war
Neben der schon erwähnten „Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e. V." mit Sitz in Hamburg gibt es in der Bundesrepublik außer zahlreichen Gesellschaften, die sich am Rande auch mit Friedensproblemen befassen, zwei wichtige und verdienstvolle Vereinigungen: die „Gesellschaft zur Förderung von Zukunftsund Friedensforschung e. V." in Hannover, deren Arbeit sich bisher auf die Veranstaltung von Tagungen und die Herausgabe der „Informationen" beschränken mußte, und die „Studiengesellschaft für Friedensforschung e. V." in München, die ihre Aufgabe darin sieht, Forschungsvorhaben der Friedenserziehung anzu-* regen und zu veröffentlichen, Dokumentationsmaterial zu sammeln und für die Publizistik und Pädagogik auszuwerten. Am 28. September 1968 wurde in Bonn eine „Arbeitsgemeinschaft für Friedens-und Konfliktforschung" gegründet, in der Einzelpersonen und alle Vereinigungen und Insitute zusammenarbeiten sollen, um den interdisziplinären Erfahrungsaustausch auszuweiten, Forschungsvorhaben anzuregen, Fachkonferenzen zu veranstalten, Dokumentationen zu erstellen und die Öffentlichkeit zu informieren. 2. Institute Johan Galtung hat mit Unterstützung der UNESCO eine Liste der im Jahre 1965 existierenden Friedensforschungs-Institute zusammengestellt. Sie enthält 58 Institute in 15 Ländern mit einem Gesamtpersonal von 1200 Personen
Die meisten Institute entstanden in den USA, auf Privatinitiative gegründet und zum Teil an Universitäten angeschlossen. Ich nenne als Beispiele bedeutender Institute in den USA „The Hoover Institution on War, Revolution and Peace, Stanford University/California", „Center for Research on Conflict Resolution, University of Michigan", „Institute of War and Peace Studies, Columbia University", weiterhin die Zukunftsforschungsinstitute, die friedensrelevante Forschung betreiben: „Hudson Institute, New York" und „RAND Corporation, Santa Monica/California“. Diese beiden Institute arbeiten kommerziell für private Auftraggeber und für die Regierung. Wichtige Institute sind das „Canadian Peace Research Institute" (CPRI) in Oakville/Ontario, in Europa das „Polemologisch Instituut" der Universität Groningen, das „Peace Research Institute" in Oslo (PRIO) und das Stockholmer Friedensforschungs-Institut SIPRI. Für die Dokumentation der Friedensforschung, die „Peace Research Abstacts" ist das kanadische Institut verantwortlich, das durch Spenden von kanadischen Firmen finanziert wurde. Das Osloer Institut unter Johan Galtung beschäftigt neben einem ständigen Stab von dreißig Wissenschaftlern auch zahlreiche Studenten. PRIO befaßt sich vor allem mit Problemen der Politikwissenschaft und der Soziologie im Zusammenhang mit der Friedensforschung. Der Themenkatalog der Forschungsvorhaben umfaßt Allgemeine Konflikttheorien, Soziale Aspekte der technischen Hilfe, Persönlicher Kontakt in Konfliktsituationen, der friedliche Gebrauch der militärischen Hilfsquellen, kultureller Konflikt und sozialer Wandel, Ursachen und Folgen von Rassenkonflikten, Rüstung, Abrüstung und Machtgleichgewicht, Intergesellschaftliche Folgen von Krieg und Frieden, Internationale Friedensstreitkräfte, nichtmilitärische Macht.
Claus Koch, von dem diese Informationen stammen, bemängelt die nicht ausreichend konkrete Themenstellung des Osloer Instituts, etwa im Vergleich zum Stockholmer Institut
Für strategische Probleme leistet „The Institute of Strategie Studies" in London in Ost und West geschätzte Arbeit. Die Veröffentlichungen des Instituts, vor allem die Jahresschrift „The Military Balance" sind Grundlagen für Friedensforschung und Politik. In der Bundesrepublik befassen sich verschiedene Institute mit Problemen der Friedensforschung. Ein spezielles Friedensforschungsinstitut gibt es noch nicht. Neben den erwähnten drei Gesellschaften sind zu nennen: „Forschungsinstitut für auswärtige Politik" in Bonn, „Stiftung Wissenschaft und Politik. Forschungsinstitut für internationale Politik und Sicherheit" in Ebenhausen/Isar, „Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft" in Heidelberg, „Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer" in Bonn und verschiedene Universitätsinstitute, die sich innerhalb der Fachrichtungen Politikwissenschaft, Soziologie, Psychologie, Völkerrecht mit Problemen der Friedensforschung beschäftigen
Nachdem Bundeskanzler Brandt, der sich in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 28. Oktober 1969 ausdrücklich für die Förderung der Friedensforschung ausgesprochen hatte
In einer Studie, die im Auftrag der Stiftung Volkswagenwerk entstand, stellt Karl Kaiser fest, daß trotz Erwähnung der Friedens-und Konfliktforschung im Forschungsbericht III (1969) des Bundesministeriums für Wissenschaftliche Forschung spezielle Förderungsmaßnahmen der Friedensforschung in der Bundesrepublik unterblieben. Kaiser setzt sich für ein Ubergangsprogramm ein, das aus der Errichtung kleinerer Institute für friedensrelevante Forschung, der Unterstützung von Einzelvorhaben sowie der Förderung eines bewußt als Ausbildungsstätte verstandenen Großforschungsinstituts bestehen könnte. Nach Kaiser sollte eine „Deutsche Stiftung für Friedensforschung" die Unabhängigkeit der Friedensforschung garantieren, ohne eine Monopolstellung zu begründen. Kaiser regt an, nach Erfüllung der Voraussetzungen in der BRD zwei Groß-Institute zu gründen mit nicht weniger als 50 hauptamtlich tätigen Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen. An einem der Institute sollte eine Datenbank eingerichtet werden, die alle Dokumente der Friedensforschung sammeln und allen interessierten Wisschenschaftlern zur Verfügung stellen sollte. Neben den Großforschungsinstituten sollten nach Kaisers Vorstellung zwei bis drei kleinere Institute entstehen. Für Berlin sieht er eine Hochschule für Friedensforschung vor, die nach einer Anregung des Geschäftsführers der „Arbeitsgemeinschaft für Friedens-und Konfliktforschung" Helmut Rosenfeld im ungenutzten ehemaligen Reichstagsgebäude untergebracht werden könnte.
Inzwischen ist bekanntgeworden, daß in West-Berlin bereits ein „Institut für Konflikt-und Friedensforschung", das von der Bundesregierung finanziert werden soll, in Zusammenarbeit mit den Universitäten entsteht. Im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft wird sich ein eigenes Referat mit der Förderung der Friedensforschung befassen. Eine Stiftung, wie sie Karl Kaiser anregte, wird noch im Jahre 1970 ins Leben gerufen.
Ich halte die Bedenken von Karl Kaiser gegen die sofortige Errichtung eines großen Friedensforschungsinstituts wegen unzulänglicher personeller Möglichkeiten in der Bundesrepublik und wegen der Anfangsschwierigkeiten der neuen Wissenschaft „Friedensforschung", die noch nicht überwunden sind, für durchaus berechtigt. Doch sollte meiner Meinung nach das in Gründung befindliche Berliner Institut durch ein großzügiges Gästeprogramm und durch die Vergabe von Forschungsstipendien an junge Wissenschaftler aus aller Welt sofort mit einer breit angelegten Forschungs-und Lehrtätigkeit beginnen.
Nach den internationalen Erfahrungen und ersten Forschungsergebnissen der Friedensforschung wäre ein deutsches Friedensforschungs-Institut mit drei Abteilungen wünschenswert: Dokumentation, Forschung und Pädagogik. Eine zentrale Dokumentation aller Forschungsergebnisse und Forschungsvorhaben ist für die Forschung unerläßlich. Die Dokumentationsstelle könnte den Anschluß der deutschen Friedensforschung an die internationalen Bemühungen herstellen und sollte auch der Politik und der der Publizistik als Informationszentrum zur Verfügung stehen. Die Forschungsvorhaben sollten sich mit möglichst bescheidenen, konkreten Themenstellungen befassen, etwa der Integrationsforschung, der Methoden und Wirkungen des „gewaltlosen Widerstandes" als Möglichkeit des Austra-gens von Konflikten (Demonstrationen, Proteste, Streiks etc.)
Die Abteilung Pädagogik sollte in Theorie und Praxis neue Formen der Friedenspädagogik suchen. Dieter Senghaas hat in einem kritischen Aufsatz über die bisherigen Bemühungen einer Friedenspädagogik das Dilemma der Erziehung zum Frieden in einer friedlosen Welt dargestellt
Die Schule, die von Milliarden von Menschen besucht wird, ist in ihrer Wirkung als meinungs-und einstellungsbildendes Massen-medium bisher viel zu wenig beachtet worden. Da die Friedensforschung nur sinnvoll ist, wenn sie — entweder direkt als Politikberatung oder besser noch indirekt über die Information der zu aktivierenden Staatsbürger — zur Politik wird, bietet sich die Schule im weitesten Sinne, vom Vorschulkindergarten bis zur Weiterbildung, als Anwendungsfeld an.